§ 2 SGB IX - Begriffsbestimmung Menschen mit Behinderungen (Kommentar)

(1) Menschen mit Behinderungen sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sie in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingten Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können. Eine Beeinträchtigung nach Satz 1 liegt vor, wenn der Körper- und Gesundheitszustand von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht. Menschen sind von Behinderung bedroht, wenn eine Beeinträchtigung nach Satz 1 zu erwarten ist.

(2) Menschen sind im Sinne des Teils 3 schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 156 rechtmäßig im Geltungsbereich dieses Gesetzbuches haben.

(3) Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen Menschen mit Behinderungen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des § 156 nicht erlangen oder nicht behalten können (gleichgestellte behinderte Menschen).

Hinweis: In allen hier verwendeten Beispielfällen haben die Protagonisten ihren Wohnsitz in Deutschland.

1. Inhalt der Regelung

§ 2 SGB IX definiert den Begriff Menschen mit Behinderungen (Absatz 1). Gleichzeitig grenzt die Regelung die Behinderung von der Schwerbehinderung (Absatz 2) und den den Schwerbehinderten Gleichgestellten (Absatz 3) ab.

Die Definition und Abgrenzung ist erforderlich, um diesem Personenkreis die Leistungen zu gewähren, die sie benötigen, um selbstbestimmt, gleichberechtigt, voll integriert und wirksam am Leben in der Gesellschaft teilhaben zu können sowie um Benachteiligungen zu vermeiden oder Nachteilen entgegenzuwirken, § 1 SGB IX.

2. Menschen mit Behinderungen, § 2 Abs. 1 SGB IX

2.1. Der Begriff Behinderung

Menschen sind behindert, wenn sie

  • körperliche Beeinträchtigungen
  • seelische Beeinträchtigungen
  • geistige Beeinträchtigungen oder
  • Beeinträchtigungen der Sinne

aufweisen, die sie an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern (können).

Der Begriff der Behinderung in § 2 Abs. 1 SGB IX orientiert sich an dem Behindertenbegriff der UN-BRK (UN-Behindertenrechtskonvention).

Neben den genannten Beeinträchtigungen spielt die Wechselwirkung zwischen der Person und der physischen/sozialen Umwelt eine maßgebliche Rolle. Das bedeutet, die Behinderung kommt in der Interaktion mit dem Umfeld zum Tragen, zum Beispiel durch bauliche und technische Barrieren, durch kommunikative Barrieren oder durch Vorurteile und Ängste des Umfeldes.

Der Behinderungsbegriff folgt dabei dem ICF der WHO (also der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO)). Dieser basiert auf dem bio-psycho-sozialen Modell, einer ganzheitlichen Betrachtungsweise.

Die ICF ist zunächst ein Kommunikationsmittel, um Beeinträchtigungen in Fachkreisen verständlich zu beschreiben. Es ist jedoch auch ein Konzept, um die Hilfen bieten zu können, die benötigt werden, um die Beeinträchtigungen auszugleichen.

Eine Behinderung ist danach nicht identisch mit der Erkrankung. Eine Behinderung setzt zwar ein Gesundheitsproblem voraus. Zur Behinderung wird ein Gesundheitsproblem jedoch erst dann, wenn Barrieren bestehen, die eine Teilhabe an der Gesellschaft erschweren oder unmöglich machen.

Eine Behinderung liegt demnach nur dann vor, wenn

  1. Körperfunktionen und/oder Körperstrukturen geschädigt sind,
  2. Beeinträchtigungen der Aktivität und/oder der Teilhabe gegeben sind
  3. Barrieren im Umfeld bestehen

und dadurch die Funktionsfähigkeit aufgehoben oder verringert ist. Die Funktionsfähigkeit orientiert sich dabei an einer allgemein anerkannten Norm, das heißt einem gesunden Menschen.

Eine Person ist danach – trotz Gesundheitsproblem – funktionsfähig, wenn sie wie ein gesunder Mensch

  • alles tun kann (Aktivität) und/oder
  • sich selbst verwirklichen kann (Teilhabe).
Daraus wird deutlich, dass der Begriff der Behinderung nicht statisch, sondern dynamisch ist. Das bedeutet, die Ausprägung und der Grad der Behinderung kann sich im Laufe der Zeit ändern, abhängig von den Wechselwirkungskomponenten (Körperfunktionen, Körperstrukturen, Aktivität, Teilhabe, Umweltfaktoren, personenbezogene Faktoren – dazu im Folgenden).
Beispiel:
Dem Patienten P wurde nach einem Unfall ein Unterschenkel amputiert. Er kann sich nur mit Mühe auf einem Bein fortbewegen. P erhält eine Unterschenkelprothese, wodurch sich seine Gehfähigkeit deutlich verbessert.

2.1.1. Körperfunktionen und/oder Körperstrukturen

Folgende Körperfunktionen und Körperstrukturen können geschädigt sein.

Körperfunktionen:

  1. Mentale Funktionen (zum Beispiel: Funktionen der Orientierung, der Intelligenz, des Schlafes, der Aufmerksamkeit)
  2. Sinnesfunktionen und Schmerz (zum Beispiel: Funktionen des Sehens)
  3. Stimm- und Sprechfunktionen (zum Beispiel: Funktionen der Stimme)
  4. Funktionen des kardiovaskulären, hämatologischen, Immun- und Atmungssystems (zum Beispiel: Funktionen des Herzens, des Blutdruckes)
  5. Funktionen des Verdauungs-, Stoffwechsel- und endokrinen Systems (zum Beispiel: Funktionen der Verdauung, der endokrinen Drüsen)
  6. Funktionen des Urogenital- und reproduktiven Systems (zum Beispiel: Funktionen der Blasenentleerung)
  7. Neuromuskuloskeletale und bewegungsbezogene Funktionen (Zum Beispiel: Funktionen der Gelenkbeweglichkeit, der Muskelkraft)
  8. Funktionen der Haut- und der Hautanhangsgebilde

Körperstrukturen:

  1. Strukturen des Nervensystems
  2. Auge, Ohr und mit diesen in Zusammenhang stehende Strukturen
  3. Strukturen, die an der Stimme und dem Sprechen beteiligt sind
  4. Strukturen des kardiovaskulären, des Immun- und des Atmungssystems
  5. Mit dem Verdauungs-, Stoffwechsel- und endokrinen System im Zusammenhang stehende Strukturen
  6. Mit dem Urogenital- und dem Reproduktionssystem im Zusammenhang stehende Strukturen
  7. Mit der Bewegung im Zusammenhang stehende Strukturen
  8. Strukturen der Haut und Hautanhangsgebilde

2.1.2. Aktivitäten und Teilhabe

Beeinträchtigungen von folgenden Aktivitäten beziehungsweise folgenden Partizipationen kommen in Betracht.

Partizipation bedeutet dabei, dass eine Person in einen Lebensbereich, in eine Lebenssituation einbezogen ist, zum Beispiel in das Familienleben, in das Arbeitsleben, in das Vereinsleben, und so weiter.

  1. Lernen und Wissensanwendung (zum Beispiel: Schreiben lernen, Probleme lösen)
  2. Allgemeine Aufgaben und Anforderungen (zum Beispiel: Aufgaben übernehmen)
  3. Kommunikation (zum Beispiel: Kommunizieren als Sender oder Empfänger von gesprochenen und/oder non-verbalen Mitteilungen, Konversation)
  4. Mobilität (zum Beispiel: Gehen, Gegenstände heben und tragen)
  5. Selbstversorgung (zum Beispiel: sich waschen, essen)
  6. Haushalt (zum Beispiel: einkaufen, Hausarbeiten erledigen)
  7. interpersonelle Interaktionen und Beziehungen (zum Beispiel: interpersonelle Aktivitäten, familiäre Beziehungen)
  8. Bedeutende Lebensbereiche (zum Beispiel: Schulbildung, bezahlte Tätigkeit)
  9. Gemeinschafts-, soziales und staatsbürgerliches Leben (zum Beispiel: Gemeinschaftsleben, Erholung und Freizeit)

2.1.3. Umweltfaktoren

Schließlich beeinflussen auch Umweltfaktoren eine Person und wirken auf sie ein. Dabei können Umweltfaktoren förderlich oder hemmend sein.

Als Umweltfaktoren kommen in Betracht:

  1. Erzeugnisse und Technologien (zum Beispiel: Nahrung, Medizin, Transportmittel)
  2. Natürliche und vom Menschen veränderte Umwelt (zum Beispiel: Klima, Licht)
  3. Unterstützung und Beziehungen (Familie, Freunde, Kollegen, Hilfs- und Pflegepersonen)
  4. Einstellungen (zum Beispiel: individuelle Einstellungen der Familie, von Freunden, gesellschaftliche Einstellungen)
  5. Dienste, Systeme und Handlungsgrundsätze (zum Beispiel: Wohnungswesen, Gesundheitswesen, Rechtspflege, soziale Sicherheit)

2.1.4. Personenbezogene Faktoren

Personenbezogene Faktoren betreffen Eigenschaften einer Person. Dazu können folgende Merkmale gehören:

  • Alter Geschlecht
  • Bildung
  • sozialer Hintergrund
  • Lebensstil
  • Verhaltensweisen
  • Lebensereignisse
  • Vermögen

2.1.5. Behinderung im Sinne des SGB IX

Nach § 2 Abs. 1 SGB IX ist eine Person behindert, wenn

  • eine Beeinträchtigung des Körpers, der Seele, des Geistes oder der Sinne vorliegt,
  • die von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht,
  • der Zustand länger als sechs Monate anhält oder wahrscheinlich anhalten wird
  • und die Person dadurch an der (vollen) Teilhabe an der Gesellschaft gehindert ist.
Der Behinderungsbegriff ist damit im Teilhaberecht des SGB IX etwas enger als nach der UN-Behindertenrechtskonvention gefasst. Das bedeutet, nicht jede Behinderung führt zu einem Teilhabeanspruch.
Beispiel 1:
Patient P, 60 Jahre alt, vergisst manchmal Namen oder Termine. Das ist alterstypisch. Eine Behinderung im Sinne von § 2 Ab. 1 SGB IX liegt nicht vor.
Abwandlung:
Patient P, 60 Jahre alt, leidet unter Demenz. Er kann Namen und Personen nicht mehr zuordnen; er kann das, was er sagen möchte, nicht mehr ausdrücken; er kann Datum und Uhrzeit nicht mehr benennen. Diese Einschränkungen gehen über das Alterstypische hinaus. Eine Behinderung im Sinne von § 2 Ab. 1 SGB IX ist gegeben.
Beispiel 2:
Patient P, 20 Jahre alt, leidet aufgrund eines einmaligen übermäßigen Alkoholkonsums unter Verwirrtheit. Er ist nicht mehr in der Lage, Personen zuzuordnen, sich auszudrücken, Datum und Uhrzeit zu benennen. Nach Abklingen des Rausches haben sich die Beeinträchtigungen zurückgebildet. Der abweichende Gesundheitszustand dauerte nicht länger als sechs Monate. Eine Behinderung im Sinne von § 2 Ab. 1 SGB IX liegt nicht vor.

3. Schwerbehinderte Menschen, § 2 Abs. 2 SGB IX

Gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX sind Menschen schwerbehindert, wenn

  • bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und
  • sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des Schwerbehindertenrechts rechtmäßig in Deutschland haben.

Der Grad der Behinderung wird auf Antrag vom Versorgungsamt beziehungsweise dem Amt für Soziales festgestellt, § 152 SGB IX. Der Grad der Behinderung gibt dabei das Maß der Teilhabebeeinträchtigung wieder. Hierzu wird auf die Darlegungen unter Ziffer 2 verwiesen. Die Diagnose genügt demzufolge nicht. Vielmehr müssen weitere Tatsachen vorgetragen und dokumentiert sein, aus denen sich die Beeinträchtigung der Teilhabe an der Gesellschaft ergibt.

Der behördlichen Feststellung zugrunde gelegt wird die Versorgungs-Medizin-Verordnung (VersMedV). Diese beinhaltet in Anlage 2 die versorgungsmedizinischen Grundsätze, welche den medizinischen Kenntnisstand wiedergeben. Sie dienen daher auch im gerichtlichen Verfahren als Grundlage der Entscheidung.
Beispiel 1:
Patient P leidet unter Asthma bronchiale. Die Lungenfunktion ist nicht dauerhaft eingeschränkt. P treffen mehrmals im Monat Anfälle, die er jedoch mit einem Spray behandeln kann. Das Treppensteigen strengt P an und ist mit kurzen Pausen verbunden, es ist jedoch noch möglich. Sportliche Betätigung ist in der Vielfalt eingeschränkt, aber dennoch machbar.
Ergebnis:
Bei P wird nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen ein GdB von 30 festgestellt.
Beispiel 2:
Patient P leidet unter einer chronisch obstruktiven Lungenerkrankung (COPD), Stadium II-III. P bekommt bereits bei nur leichter Belastung Atemnot. Das Treppensteigen ist bei acht Stufen limitiert. P benötigt dauerhaft Medikamente. Die Leistungsfähigkeit ist stark eingeschränkt.
Ergebnis:
Bei P wird nach den versorgungsmedizinischen Grundsätzen ein GdB von 50 festgestellt.

Wichtig:
Bei mehreren Funktionsbeeinträchtigungen werden die einzelnen Behinderungsgrade nicht zusammengerechnet. Vielmehr wird ein Gesamt-GdB gebildet, wobei sich der Grad der Behinderung nach den Auswirkungen der einzelnen Beeinträchtigungen in ihrer Gesamtheit unter Berücksichtigung ihrer wechselseitigen Beziehungen ergibt, § 152 Abs. 3 SGB IX. Bei der Bewertung wird geprüft, inwiefern die Beeinträchtigung mit dem höchsten Einzel-GdB durch das Hinzutreten einer weiteren Gesundheitsstörung (beziehungsweise auch mehrerer Gesundheitsstörungen) verstärkt wird.

4. Den Schwerbehinderten gleichgestellte Menschen, § 2 Abs. 3 SGB IX

4.1. Grundlagen

Gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX werden den schwerbehinderten Menschen Personen gleichgestellt,

  • die einen Grad der Behinderung von wenigstens 30 erreichen,
  • die ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des Schwerbehindertenrechts rechtmäßig in Deutschland haben,
  • die ohne die Gleichstellung infolge ihrer Behinderung keinen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne des Schwerbehindertenrechts erlangen oder behalten können.

Das Versorgungsamt beziehungsweise das Amt für Soziales muss einen Grad der Behinderung von wenigstens 30 festgestellt haben.

Die Gleichstellung muss anschließend unter Vorlage des Bescheides über den Grad der Behinderung bei der Agentur für Arbeit beantragt werden, § 151 Abs. 2 SGB IX.

Voraussetzungen für die Gleichstellung sind:

  • die Gleichstellung wird zum Erlangen und/oder zum Behalten eines Arbeitsplatzes benötigt,
  • die Notwendigkeit der Gleichstellung beruht auf der Behinderung (Kausalität),
  • der Arbeitsplatz muss geeignet sein und mindestens 18 Stunden wöchentlich umfassen.
Beispiel 1:
Patient P leidet unter einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (Colitis ulcerosa). Es ist ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt. P ist Buchhalter und ist als solcher beschäftigt. P wird gekündigt. P beantragt eine Gleichstellung bei der Agentur für Arbeit zur Erlangung eines neuen Arbeitsplatzes als Buchhalter. Er möchte nur noch 10 Stunden in der Woche arbeiten. Die Tätigkeit als Buchhalter ist grundsätzlich für P geeignet.
Ergebnis:
P hat keinen Anspruch auf Gleichstellung. Er möchte nur noch 10 Stunden in der Woche arbeiten.

Geschützt ist das Erlangen und/oder Behalten eines Arbeitsplatzes. Beide Alternativen können kumulativ vorliegen, das heißt der behinderte Mensch kann einen Arbeitsplatz inne haben und zugleich einen neuen Arbeitsplatz suchen. Es kann aber auch nur eine Alternative gegeben sein, indem der behinderte Mensch nur seinen Arbeitsplatz behalten oder nur einen anderen Arbeitsplatz erlangen möchte.

Die Formulierung in § 2 Abs. 3 SGB IX spricht davon, dass eine Gleichstellung erfolgen „soll“. Gleichwohl besteht in der Regel ein Anspruch auf Gleichstellung. Nur in atypischen Fällen darf eine Gleichstellung versagt werden.
Beispiel 2:
Patient P leidet unter einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (Colitis ulcerosa). Es ist ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt. P ist Altersrentner, ist aber weiterhin in seinem erlernten Beruf als Buchhalter für 20 Stunden in der Woche beschäftigt. P wird gekündigt. P beantragt eine Gleichstellung bei der Agentur für Arbeit zur Erlangung eines neuen Arbeitsplatzes als Buchhalter. Die Tätigkeit als Buchhalter ist grundsätzlich für P geeignet.
Ergebnis:
P hat keinen Anspruch auf Gleichstellung. Es liegen außergewöhnliche Umstände vor, und zwar bezieht P bereits Altersrente. Damit bedarf P der Gleichstellung nicht. 1

4.2. Kausalität

Die Kausalität zwischen der Behinderung und der Notwendigkeit der Gleichstellung ist dann gegeben, wenn die Art und Schwere der Behinderung zu Schwierigkeiten führt, den Arbeitsplatz zu behalten, oder wenn der Mensch mit Behinderung gegenüber Nichtbehinderten in der konkreten Wettbewerbssituation besonders beeinträchtigt und schwer vermittelbar ist. Mit der Gleichstellung soll damit eine ungünstige Konkurrenzsituation auf dem Arbeitsplatz oder auf dem Arbeitsmarkt ausgeglichen und der Arbeitsplatz sicherer gemacht oder die Vermittlungschancen verbessert werden.2

Ein Ursachenzusammenhang fehlt daher und eine Gleichstellung ist ausgeschlossen, wenn die Schwierigkeiten nichtbehinderte Menschen ebenso treffen, zum Beispiel bei Rationalisierungsmaßnahmen, Auftragsmangel, Betriebsstilllegung. Aber auch Missverständnisse, Unverständnis, unfreundlicher Umgang genügen nicht.

Für die Prüfung der Kausalität müssen Tatsachen dargelegt und ermittelt werden, aus denen auf eine behinderungsbedingte Benachteiligung geschlossen werden kann.

4.2.1. Behalten-Können eines Arbeitsplatzes

Beim Behalten-Können eines Arbeitsplatzes bieten sich Anfragen an den Arbeitgeber oder die Betriebs- und Personalvertretung an. Hierfür bedarf es der Zustimmung des Menschen mit Behinderung.

Anhaltspunkte für eine behinderungsbedingte Gefährdung eines Arbeitsplatzes können nach den fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 2 SGB IX beispielsweise sein:

  • wiederholte/häufige behinderungsbedingte Fehlzeiten
  • behinderungsbedingte verminderte Arbeitsleistung (auch bei behinderungsgerecht ausgestattetem Arbeitsplatz)
  • dauernde verminderte Belastbarkeit
  • ein Bedarf an technischen Hilfen (ein derartiger Bedarf löst allerdings nicht bereits einen Anspruch auf Gleichstellung aus)
  • auf Dauer notwendige Hilfeleistungen anderer Mitarbeiter
  • behinderungsbedingte eingeschränkte berufliche und/oder regionale Mobilität
  • erkennbare Reaktionen des Arbeitgebers auf die behinderungsbedingten Einschränkungen (z. B. Abmahnungen oder Abfindungsangebote im Zusammenhang mit behinderungsbedingt verminderter Leistungsfähigkeit).3
Eine abstrakte Gefährdung des Arbeitsplatzes ist nicht ausreichend. Andererseits darf nicht abgewartet werden, bis der Arbeitgeber Maßnahmen bezüglich einer Beendigung des Arbeitsverhältnisses ergreift. Denn wenn der Arbeitgeber Maßnahmen zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses eingeleitet hat, käme eine Gleichstellung regelmäßig zu spät. Grundsätzlich muss nämlich im Zeitpunkt der Kündigung die Eigenschaft als schwerbehinderter Mensch beziehungsweise die Gleichstellung nachgewiesen sein, § 173 Abs. 2 SGB IX. Mindestens jedoch ist erforderlich, dass der Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft beziehungsweise der Antrag auf Gleichstellung zum Zeitpunkt der Kündigung seit drei Wochen gestellt ist, § 152 Abs. 1 S. 3 in Verbindung mit § 14 Abs. 2 S. 2 SGB IX.
Beispiel:
Patient P leidet unter folgenden Erkrankungen: Bronchialasthma, Schlafapnoe-Syndrom, Schwindel, degenerative Veränderungen der Wirbelsäule. Es wurde ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt. P beantragt bei der Agentur für Arbeit die Gleichstellung. P geht einer Beschäftigung nach, diese Tätigkeit kann P trotz seiner Einschränkungen weiterhin ausüben. Das Arbeitsverhältnis besteht ungekündigt fort; sein Arbeitsplatz ist jedoch aufgrund fehlenden besonderen Kündigungsschutzes gefährdet. Der Arbeitgeber gibt auf Nachfrage der Agentur für Arbeit an, dass die gesundheitlichen Einschränkungen des P bekannt sind und sich diese durch häufige Fehlzeiten auswirken; eine innerbetriebliche Umsetzung ist nicht möglich; das Arbeitsverhältnis ist ordentlich kündbar, eine Kündigung ist aber nicht ausgesprochen.
Ergebnis:
P, bei dem ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt ist, hat Anspruch auf Gleichstellung. Der Arbeitsplatz, den P inne hat, ist geeignet und für P nicht überfordernd. P bedarf der Gleichstellung, weil der Arbeitsplatz aufgrund der Behinderung von P gefährdet ist. P ist nicht mehr konkurrenzfähig. Das Arbeitsverhältnis kann jederzeit ordentlich gekündigt werden. Durch die Gleichstellung kann der Arbeitsplatz sicherer gemacht werden.4

Ein wesentliches Kriterium bei der Prüfung der Kausalität ist die arbeitsrechtliche Sicherung des behinderten Menschen, also dessen Kündbarkeit beziehungsweise die Beendbarkeit des Rechtsverhältnisses (dazu gehört auch die Befristung, zum Beispiel: Beamter auf Zeit). Regelmäßig bedürfen daher Beamte auf Lebenszeit oder Richter auf Lebenszeit aufgrund ihres erlangten Status keiner Gleichstellung. Dies gilt ebenso für tariflich unkündbare Arbeitnehmer. Allerdings können besondere Umstände in solchen Fällen eine Gleichstellung erforderlich machen, zum Beispiel wenn behinderungsbedingt eine Versetzung in den Ruhestand droht.

4.2.2. Erlangen-Können eines Arbeitsplatzes

Eine Gleichstellung zur Erlangung eines Arbeitsplatzes kommt vor allem dann in Betracht, wenn der behinderte Mensch

  • arbeitslos ist
  • gekündigt wurde
  • einen anderen Arbeitsplatz anstrebt (auch wenn er einen geeigneten Arbeitsplatz inne hat).

Anhaltspunkte für eine behinderungsbedingt mangelnde Wettbewerbsfähigkeit können sich ergeben

  • aus den Vermittlungsaktivitäten der Agentur für Arbeit beziehungsweise des Jobcenters, wenn der behinderte Mensch arbeitslos gemeldet ist,
  • in den übrigen Fällen aus den vom behinderten Menschen einzureichenden Nachweisen (dazu im Folgenden).

Es müssen Tatsachen dargelegt, ermittelt und nachgewiesen werden, die folgende Fragen beantworten:

  1. Welche konkrete Tätigkeit, welchen konkreten Arbeitsplatz strebt der behinderte Mensch an?
  2. Ist die angestrebte Tätigkeit, der angestrebte Arbeitsplatz geeignet; wird der behinderte Mensch durch die angestrebte Tätigkeit, den angestrebten Arbeitsplatz nicht überfordert?
  3. Hat der behinderte Mensch einen Wettbewerbsnachteil, das heißt konnte die Eingliederung in Arbeit bisher aufgrund der Behinderung nicht verwirklicht werden, und kann dieser Nachteil durch eine Gleichstellung ausgeglichen werden?5
Der Zweck der Gleichstellung, nämlich die Stärkung der Konkurrenzfähigkeit des behinderten Menschen um freie Arbeitsplätze, muss durch die Gleichstellung erreicht werden können.
Wichtig:
Eine abstrakte Betrachtung erfolgt nicht. Es muss die Erlangung eines konkreten Arbeitsplatzes angestrebt sein, das heißt, es muss klar sein, auf welche Tätigkeit / auf welchen Beruf sich die Stellensuche und die Vermittlungsbemühungen der Agentur für Arbeit im Falle der Arbeitslosigkeit beziehen.

4.3. Geeignetheit des Arbeitsplatzes

Geeignet ist ein Arbeitsplatz dann, wenn der behinderte Mensch die Arbeit grundsätzlich auf Dauer ausüben kann und durch die geschuldete Arbeit gesundheitlich nicht überfordert wird.6

Geeignet ist ein Arbeitsplatz auch dann, wenn der Arbeitsplatz durch Leistungen zur Teilhabe oder durch den Arbeitgeber so eingerichtet werden kann, dass dem behinderten Menschen die Erfüllung der Aufgaben an diesem Arbeitsplatz möglich ist.7
Beispiel 1:
Patient P leidet unter einem Katarakt (grauer Star). Seine Sehfähigkeit ist stark eingeschränkt. P ist Buchhalter. Um die Arbeit als Buchhalter ausüben zu können, benötigt P ein Bildschirmlesegerät.
Ergebnis:
Der Arbeitsplatz ist geeignet. Mit Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, der Zur-Verfügung-Stellung eines Bildschirmlesegerätes, kann P die Aufgaben als Buchalter erfüllen.

Nicht geeignet ist ein Arbeitsplatz, wenn sich die Behinderung bei einer Beschäftigung auf diesem Arbeitsplatz trotz möglicher Gestaltungsmaßnahmen zu verschlechtern droht.

Bei der Prüfung der Geeignetheit ist auf einen konkreten Arbeitsplatz abzustellen:

  • beim Behalten-Können auf den inne gehabten Arbeitsplatz,
  • beim Erlangen-Können auf den angestrebten Arbeitsplatz, das heißt auf den Beruf / die Tätigkeit, auf den sich die Stellensuche / die Vermittlungsbemühung bezieht.
Beispiel 2:
Patient P leidet unter einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (Colitis ulcerosa). Es ist ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt. P wird gekündigt. P beantragt eine Gleichstellung bei der Agentur für Arbeit zur Erlangung eines neuen Arbeitsplatzes. Er verweist allgemein auf eine eingeschränkte Wettbewerbsfähigkeit.
Ergebnis:
Eine Gleichstellung erfolgt nicht. Da P nicht sagt, welchen Arbeitsplatz / welche Tätigkeit er anstrebt, kann nicht geprüft werden, ob der (angestrebte) Arbeitsplatz für P konkret geeignet ist.
Abwandlung:
Patient P leidet unter einer chronisch-entzündlichen Darmerkrankung (Colitis ulcerosa). Es ist ein Grad der Behinderung von 30 festgestellt. P ist Buchhalter und ist als solcher beschäftigt. P wird gekündigt. P beantragt eine Gleichstellung bei der Agentur für Arbeit zur Erlangung eines neuen Arbeitsplatzes als Buchhalter. Die Tätigkeit als Buchhalter ist grundsätzlich für P geeignet.
Ergebnis:
P hat Anspruch auf Gleichstellung. Die Tätigkeit als Buchhalter ist geeignet. P bedarf der Gleichstellung zur Stärkung seiner Wettbewerbsfähigkeit.
Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Deutscher Bundestag Drucksache 18/9522
  • Die Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO) - Kurzeinführung – Deutsche Rentenversicherung
  • ICF-Praxisleitfaden 1, BAR Bundesarbeitsgemeinschaft Rehabilitation
  • Fachliche Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zu § 2 SGB IX