Darf ein Gerichts-/Rentengutachten auch anderweitig verwendet werden?
In einem Rentenverfahren wurde ein Gutachten über die gesundheitlichen Einschränkungen und eine daraus resultierende Erwerbsminderung erstellt. Häufig schließt ein solches Gutachten mit dem Hinweis, dass es urheberrechtlich geschützt sei. Es stellt sich die Frage, ob der Kläger / der Rentenantragsteller dieses Gutachten auch in einem anderen Verfahren verwenden darf, zum Beispiel zur Feststellung eines Grades der Behinderung gegenüber dem Versorgungsamt. Angesprochen sind dabei Fragen des Urheberrechtes, wie beispielsweise: Was ist ein urheberrechtlich geschütztes Werk? Was konkret ist geschützt? Gibt es Schranken? Wann dürfen geschützte Werke trotzdem genutzt werden? In welchem Umfang dürfen sie genutzt werden? Der nachfolgende Beitrag wird sich im Speziellen mit der anderweitigen Verwendung eines Gerichtsgutachtens beschäftigen, gleichwohl jedoch in diesem Kontext auch allgemeine Fragen des Urheberrechtes beantworten.
1. Die Grundlagen
§ 1 UrhG (Urheberrechtsgesetz) bestimmt:
Die Urheber von Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst genießen für ihre Werke Schutz nach Maßgabe dieses Gesetzes.
(1) Zu den geschützten Werken der Literatur, Wissenschaft und Kunst gehören insbesondere:
1. Sprachwerke, wie Schriftwerke, Reden und Computerprogramme;
2. Werke der Musik;
3. pantomimische Werke einschließlich der Werke der Tanzkunst;
4. Werke der bildenden Künste einschließlich der Werke der Baukunst und der angewandten Kunst und Entwürfe solcher Werke;
5. Lichtbildwerke einschließlich der Werke, die ähnlich wie Lichtbildwerke geschaffen werden;
6. Filmwerke einschließlich der Werke, die ähnlich wie Filmwerke geschaffen werden;
7. Darstellungen wissenschaftlicher oder technischer Art, wie Zeichnungen, Pläne, Karten, Skizzen, Tabellen und plastische Darstellungen.
(2) Werke im Sinne dieses Gesetzes sind nur persönliche geistige Schöpfungen.
2. Das urheberrechtlich geschützte Werk
Das Gesetz zählt in § 2 Absatz 1 UrhG beispielhaft verschiedene Arten von Werken auf (siehe Ziffer 1), wobei die Aufzählung nicht abschließend ist.
Entscheidend ist jedoch, dass es sich bei dem Werk um eine persönliche geistige Schöpfung handeln muss, § 2 Abs. 2 UrhG.
Gemeint ist damit, dass das Werk
- aufgeschrieben, erzählt, also verkörpert sein muss
- Ausdruck einer Gestaltung ist
- eine individuelle Prägung aufweist.
„Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine persönliche geistige Schöpfung eine Schöpfung individueller Prägung, deren ästhetischer Gehalt einen solchen Grad erreicht hat, dass nach Auffassung der für Kunst empfänglichen und mit Kunstanschauungen einigermaßen vertrauten Kreise von einer "künstlerischen" Leistung gesprochen werden kann ... Dabei kann die ästhetische Wirkung der Gestaltung einen Urheberrechtsschutz nur begründen, soweit sie auf einer künstlerischen Leistung beruht und diese zum Ausdruck bringt ... Eine persönliche geistige Schöpfung ist ausgeschlossen, wo für eine künstlerische Gestaltung kein Raum besteht, weil die Gestaltung durch technische Erfordernisse vorgegeben ist ... Eine Gestaltung genießt daher keinen Urheberrechtsschutz, wenn sie allein aus technisch notwendigen oder allein aus zwar frei wählbaren oder austauschbaren, aber technisch bedingten Merkmalen besteht und keine künstlerische Leistung erkennen lässt ... Allein durch die Ausnutzung eines handwerklich-konstruktiven Gestaltungsspielraums oder durch den Austausch eines technischen Merkmals durch ein anderes entsteht noch kein eigenschöpferisches Kunstwerk ...“1
Geschützt ist damit die Art und Weise, wie etwas ausgedrückt, wie etwas dargestellt ist, nicht jedoch der Inhalt.
Nicht geschützt sind demnach unter Anderem2:
- eine nicht zum Ausdruck gebrachte Idee
- die Wiedergabe von Tatsachen
- das Alltägliche, das Handwerksmäßige, das Routinemäßige
3. Das Rentengutachten
In einem Rentenverfahren spielen medizinische Sachverhalte eine herausragende Rolle. Da der Sozialrichter den Sachverhalt von Amts wegen zu erforschen hat (§ 103 SGG [Sozialgerichtsgesetz]) und ihm regelmäßig die medizinische Sachkunde fehlen wird, beauftragt das Gericht einen Sachverständigen. „Der Sachverständige soll als Gehilfe des Gerichts dessen fehlende Sachkunde auf einzelnen besonderen Gebieten des Wissens und der menschlichen Tätigkeit ergänzen.“3
Aus diesem Grunde hat das Gericht den Sachverständigen auch zu leiten und es kann ihm Weisungen erteilen (§ 404a ZPO, § 202 SGG). Dies erfolgt durch einen Beschluss, in dem die Begutachtung durch einen bestimmten Sachverständigen angeordnet wird und diesem konkrete Beweisfragen gestellt werden.
Im Falle eines Rentengutachtens werden dies Fragen
- zur Krankengeschichte,
- zu den Beschwerden des Antragstellers,
- zu den erhobenen und zu erhebenden Befunden,
- zu den gestellten und zu stellenden Diagnosen,
- zu den Gesundheits- und Funktionsstörungen,
- zum qualitativen und quantitativen Leistungsvermögen,
- zu den Auswirkungen der Störungen auf die Erwerbsfähigkeit
3.1. Tatsachen
Das Rentengutachten enthält nach dem soeben Ausgeführten Tatsachen (Krankengeschichte, Beschwerden, Befunde, Diagnosen, und so weiter). Tatsachen sind im Rahmen des Urheberrechts nicht geschützt.
3.2. Beantwortung der Beweisfragen
Das Gutachten beantwortet die vom Gericht gestellten Beweisfragen, regelmäßig Punkt für Punkt. Dies ist für die Schlüssigkeit des Gutachtens auch erforderlich, das heißt für seinen logischen Aufbau, seine Widerspruchsfreiheit und seine Nachvollziehbarkeit. Das Gutachten verwendet damit ein Schema. Die schematische Darstellung erfüllt die gutachterlichen Erfordernisse, zielt jedoch nicht auf eine ästhetische Wirkung. Eine persönliche geistige Schöpfung liegt damit nicht vor.
3.3. Urheberrecht
Da urheberrechtlich nicht der Inhalt, sondern die Art und Weise der Darstellung geschützt ist, ein Gutachten jedoch einem Schema folgt, um schlüssig zu sein, unterliegt ein Gutachten regelmäßig nicht dem Urheberrecht.
Etwas Anderes kann dann gelten, wenn die Darstellung eine individuelle „Handschrift“ trägt, zum Beispiel durch eine besondere Sprache, durch eine besondere Anordnung des Inhalts, durch eine besondere Übersichtlichkeit, durch eine besondere Verständlichkeit und sich dadurch als etwas „Eigentümliches“ von dem „Alltäglichen“ abhebt.
3.4. Zwischenergebnis
Ein Gutachten ist regelmäßig nicht urheberrechtlich geschützt, da es die notwendige Schöpfungs- beziehungsweise Gestaltungshöhe nicht erreicht. Das Gutachten darf auch für andere Zwecke verwendet werden.
3.5. Erlaubte Nutzung
Aber selbst wenn das Rentengutachten dem Urheberrecht unterfallen sollte, besteht ein Nutzungsrecht in bestimmten Ausnahmefällen.
Einen solchen Ausnahmefall regelt § 45 UrhG. Dieser bestimmt in Absatz 1:
(1) Zulässig ist, einzelne Vervielfältigungsstücke von Werken zur Verwendung in Verfahren vor einem Gericht, einem Schiedsgericht oder einer Behörde herzustellen oder herstellen zu lassen.
Dies bedeutet, der Rentenantragsteller darf das Rentengutachten selbst bei Bestehen eines Urheberrechtsschutzes in einem weiteren Verfahren, zum Beispiel zur Feststellung eines Grades der Behinderung, verwenden.
4. Lichtbilder
Abhängig von der Erkrankung des Antragstellers kann es vorkommen, dass der Sachverständige zu Dokumentationszwecken Bilder anfertigt.
Gemäß § 72 UrhG sind Lichtbilder per se geschützt.
Lichtbilder und Erzeugnisse, die ähnlich wie Lichtbilder hergestellt werden, werden in entsprechender Anwendung der für Lichtbildwerke geltenden Vorschriften des Teils 1 geschützt.
Lichtbilder unterliegen damit dem Urheberrecht und dürfen grundsätzlich nur mit Einverständnis des Urhebers genutzt werden.
Wie bereits oben ausgeführt (siehe Ziffer 3.5), ist jedoch eine Nutzung in Ausnahmefällen erlaubt. Für die hier behandelte Frage der anderweitigen Verwendung eines Gerichts-/Rentengutachtens betrifft dies § 45 Abs.1 UrhG, wonach es zulässig ist, einzelne Vervielfältigungsstücke zur Verwendung in Verfahren vor einem Gericht, einem Schiedsgericht oder einer Behörde herzustellen oder herstellen zu lassen.
Soll also das Gutachten einschließlich der Lichtbilder als Beweismittel in einem anderen Gerichts- oder Verwaltungsverfahren dienen, ist die Nutzung zu diesem Zweck erlaubt, ohne dass es hierfür einer Zustimmung durch den Urheber bedarf.
5. Besonderheiten im Kontext
Keinen urheberrechtlichen Schutz genießen Gesetze, Verordnungen, amtliche Erlasse und Bekanntmachungen sowie Entscheidungen und amtlich verfasste Leitsätze zu Entscheidungen, § 5 Abs. 1 UrhG.
Damit unterliegt eine gerichtliche Entscheidung (Urteil, Beschluss) in einem Rentenverfahren keinem Urheberschutz, unabhängig davon wie individuell der Inhalt dargestellt wurde. Die gerichtliche Entscheidung kann ohne gesondert erteilte Erlaubnis genutzt werden.
6. Einschränkung im Rahmen der erlaubten Nutzung
Auch bei einer erlaubten Nutzung dürfen keine Änderungen an dem Werk, hier dem Gutachten, vorgenommen werden, § 62 Abs. 1 UrhG.
Auch bei einer erlaubten Nutzung ist stets die Quelle deutlich anzugeben, § 63 Abs. 1 UrhG.
7. Zusammenfassung
- Die in einem Gerichts-/Verwaltungsverfahren eingeholten Gutachten sind regelmäßig nicht urheberrechtlich geschützt.
- Gerichts-/Verwaltungsgutachten fehlt es regelmäßig an der notwendigen Schöpfungshöhe, das heißt die Art und Weise, wie etwas ausgedrückt wird, hebt sich nicht vom Alltäglichen, Handwerksmäßigem ab.
- Der Inhalt des Gutachtens, also die erhobenen Daten, gehören nicht zum geschützten Gut des Urheberrechts.
- Werden im Rahmen des Gutachtenauftrags Lichtbilder gefertigt, unterliegen diese dem Urheberrecht.
- Dem Urheberrecht unterfallende Werke dürfen in Verfahren vor einem Gericht, einem Schiedsgericht oder einer Behörde verwendet werden.