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Erinnerungen an Otto Gritschneder

1Wenn ich heute einen Blick auf die jungen Anwälte werfe, die sich (aus guten Gründen) auch bei besten Qualifikationen kaum trauen, sich selbstständig zu machen, frage ich mich manchmal: Wie hat ein Anwalt (*1914), aus dem Krieg als Obergefreiter im Sanitätsdienst entlassen, bei Eröffnung seines Büros 1945 einunddreißig Jahre alt, damals seine Chancen beurteilt – wie etwa Otto Gritschneder aus München? Der glücklich war, in der zerbombten Stadt ein Telefon zu bekommen, aber, wie alle Rechtsanwälte, keinen Kopierer, ja nicht einmal ein Telex oder Telefax hatte, vom Internet oder juristischen Datenbanken ganz zu schweigen – immerhin: die Post kam zweimal täglich!

1. Herkunft, Schule und Studium

Die weitverzweigte Familie der Gritschneders stammt aus dem Einödhof Gritschenöd (nahe Mühldorf am Inn), er selbst ist am 11. Januar 1914 als Sohn eines Bahnbeamten in München geboren worden.2 Der begabte und fleißige Schüler kam auf dem Wittelsbacher Gymnasium ohne Schwierigkeiten bis zum Abitur, gefährdete das Examen aber durch einen demonstrativen Protest gegen die Nationalsozialisten auf einer Schulfeier vom 21. März 1933. Mit viel Glück bekam er dafür nur einen Verweis3, er konnte auch Jura studieren, bestand das erste Staatsexamen schon 1936 nach sechs Semestern und schrieb seine Promotion; weil er aber 1933 in die zwischenzeitlich verbotene Bayerische Volkspartei (später: CSU) eingetreten war, und auch sonst gegen die Nationalsozialisten opponiert hatte, versagte man ihm 1939 nach dem Zweiten Staatsexamen die Zulassung als Anwalt. Daraufhin schlug er sich als Nachhilfelehrer durch und wurde bei Kriegsbeginn eingezogen. Als Sanitätssoldat heiratete er mitten im Krieg, bekam einige Monate Sonderurlaub, um ein Examen als Diplom-Volkswirt abzulegen und hatte Glück, nicht verwundet zu werden.4

2. Unternehmensgründung in Ruinen

Marienplatz 1945
Marienplatz 1945

Als er 1945 seine Zulassung beantragte, verzögerte die Anwaltskammer seinen Antrag. Erst ein energisches Eingreifen der Besatzungsbehörden verschaffte ihm die Zulassung, und – was mindestens genauso wichtig war – einen Telefonanschluss und genügend Benzin für sein Motorrad.5 Anders lief es bei seinem fast gleichaltrigen Kollegen Alfred Kroth. Der war als junger Kommunist mit einer NSDAP-Mitgliedschaft getarnt in der Rechtsabteilung der Stadt München tätig und versah die in der Schweiz geflohenen genossen mit Informationen. Nach wenigen Wochen in der ersten Bayerischen Staatsregierung unter Hoegner wurde er von den US-amerikanischen Besatzungsmächten entlassen, seine Zulassung erhielt er gleichwohl.6 Beide hatten genug zu tun.

Otto Gritschneder Gritschneder wurde einer der bekanntesten Anwälte in München, unglaublich vernetzt und enorm stur, wenn es sein musste. Das hat er in seinem Leben vielfältig bewiesen, und zwar immer auf die widersprüchlichste Art und Weise.

Damals war es auch in den Großstadtkanzleien Bayerns üblich, das Büro durch einen Bürovorsteher führen zu lassen. Als der junge Rechtsanwalt Gritschneder 1945 so jemanden suchte, fand er Joseph Hilger, einen Jugendfreund und Verwaltungsbeamten der Stadt München, der in diesem Job der SS angehörte und jetzt keine beruflichen Chancen mehr vor sich sah. Den nahm er sofort und er blieb die nächsten Jahrzehnte.7 Schon diese Personalentscheidung zeigt die hohe Kunst des pragmatischen Blicks, den Gritschneder sich immer bewahrt hat.

3. Eine Bewerbung ins Blaue hinein

Ich hatte fast während der gesamten Referendarzeit bei Sieghart Ott8 in München das Anwalts-Handwerk gelernt und wusste, wie eine Allgemeinpraxis funktioniert. Danach wollte ich in einer größeren Sozietät arbeiten und bewarb mich nach dem schriftlichen Examen im Februar 1972 bei Gritschneder, Weber & Hahn. Er rief mich persönlich an, ohne auf meine Unterlagen einzugehen und lud mich gleich für den nächsten Tag zum Weißwurstessen ein. Das war ein Faschingsdienstag und ich konnte mir schwer vorstellen, wie man an diesem Tag, bei dem das Weißbier bekanntlich schon ab 10 Uhr früh in Strömen fließt, Vorstellungsgespräche führen soll. Das hatte er aber gar nicht vor. Nicht nur hier setzte er sich über alle Regeln hinweg und stellte mich der versammelten Mannschaft, die mir fröhlich zuprostete, als den neuen Anwalt vor (der ich noch gar nicht war), ohne mir auch nur ein Wort über Gehalt, Bedingungen oder Verträge zu sagen. Das tat er auch später nie, denn wie die meisten Anwälte hasste er Verträge. Womit er taktisch gar nicht so falsch lag: Seinem Briefkopf-Sozius Hahn, einem hochbegabten Verwaltungsrechtler, der aber im Lauf der Jahre exzentrische Neigungen entwickelte, legt er eines Tages einen Zettel auf den Tisch: »Ich glaube, wir verstehen uns nicht mehr so richtig«. Da es keinen Sozietätsvertrag gab, sondern nur eine mündliche und jahrelang praktizierte Abrede über die Gewinnverteilung, war das die wirksame Kündigung eines »freien Mitarbeiters« – so damals das Landgericht München.

4. Das katholische Umfeld

Erst Jahre später habe ich erfahren, warum er mich sozusagen hinter meinem Rücken eingestellt hatte. Otto Gritschneder (damals: 59) war ein kämpferischer Katholik – aber nicht nur er! Sein Bruder Max war Jesuit, zeitweise der Finanzchef der Südprovinz. Ich hatte ein recht ordentliches Abiturzeugnis einer Jesuitenschule in Bad Godesberg und außerdem ist der Heilige Benno9, dessen Statue man am Rathaus findet, der Schutzpatron Bayerns und der Stadt München. Ohne es zu wissen, gehörte ich also zum Club. In München ist das für Anwälte nicht unbedeutend und Gritschneder brachte es geschickt fertig, sein konservatives politisches Profil, das ihm im Dritten Reich sehr geschadet hatte, für seine Mandate zu nutzen. Wer bei der im 17. Jahrhundert von der Gegenreformation erfundenen Fronleichnamsprozession – einer der ersten Straßendemonstrationen – auf den ersten hundert Metern hinter dem Allerheiligsten gehen darf (wie vermutlich Herr Gauweiler), der ist auch heute noch von 20-30 Männern umgeben, denen wesentliche Teile des Immobilienbesitzes im Zentrum Münchens gehören – der Kardinal gehört auch dazu!

Gritschneder lehnte das Konzept der Abtreibung absolut ab. Der gleiche Glaube hinderte ihn persönlich daran, Scheidungen anzunehmen. Gern gab er aber diese Mandate an seinen Sozius Weber weiter, mit dem er keine Bedenken hatte, die Honorare zu teilen. Als eine seiner Töchter einen reputierten – aber leider protestantischen – Richter heiratete, stimmte er der von der katholischen Kirche verbotenen Mischehe nicht zu. Wie im Büro erzählt wurde, hat die Mutter sich heimlich in die Trauerzeremoniell geschlichen, die in der protestantischen Kirche stattfand.

Er war der klassische Fall eines katholischen Anarchisten, schon früh geprägt vom »Misstrauen gegen den Staat«10, eine Haltung, an der Heinrich Böll – dessen Bücher er ablehnte – seine Freude gehabt hätte. Dieses Misstrauen entwickelte sich aus seinen ganz persönlichen Erfahrungen zunächst in der NS-Zeit, dann aber auch in den Nachkriegsjahren. Immer wieder weist er in seinen Memoiren darauf hin, wie viele NS-treue Politiker, Richter und Staatsanwälte nach 1945 eine Karriere gemacht haben, als ob es den NS-Staat nie gegeben hätte.

5. Bestattungsinstitute, Flughafen München und Mordfälle

Nachdem sich die lockere Runde vom Faschingsdienstag aufgelöst hatte, erinnerte Gritschneder mich an die Frühmesse vom Aschermittwoch. Gleich danach sollte ich ins Büro kommen. Das tat ich (ohne Aschenkreuz) und hatte kaum den Palandt und den Schönke-Schröder drapiert, als ich zu ihm ins Zimmer gerufen wurde. Es signierte gerade seine dreißig Jahre alte Dissertation, überreichte sie mir huldvoll als Antrittsgeschenk und stellte mir die Mandanten vor. Da saßen zwei gleich alt wirkende Personen auf dem Sofa, die sich als Mutter und Sohn herausstellten, Beerdigungsunternehmer waren und wettbewerbsrechtliche Beschwerde über die Berliner Firma Grieneisen führten: die hatten den Slogan »In Würde Abschied nehmen« zu »von Bürden Abschied nehmen« verändert. Das sei nicht nur eine wettbewerbsrechtlich unlautere Anlehnung, sondern schon wegen der Geschmacklosigkeit der Doppelbedeutung angreifbar. Nun sollte eine Einstweilige Verfügung her. Sowas hatte ich noch nie gemacht und geriet in Panik, als Gritschneder plötzlich aufstand: «Des da ist der Herr Doktor Heussen, der absolute Spezialist für die kleinen und die hoffnungslosen Fälle« sagte er, verschwieg damit kunstvoll, dass ich noch gar nicht Anwalt war und verließ in seinen Kamelhaarpantoffeln, die er im Büro zu tragen pflegte, grusslos den Raum. Er fühlte sich gelangweilt. Diesen schwarzen Humor, damals schon eine leichte Andeutung von Altersanarchismus, bewundere ich bis heute. Und erst jetzt habe ich herausgefunden, dass er mit seiner Bemerkung Thomas Mann aus seiner Novelle Tristan zitierte: »Übrigens ist, neben Herrn Doktor Leander, noch ein zweiter Arzt vorhanden, für die leichten Fälle und die hoffnungslosen. Aber er heißt Müller und ist überhaupt nicht der Rede wert.«11 Den zweiten Satz hat er mir erspart.

Ich zog mich durch intensives Zuhören aus der Patsche, konnte schnell feststellen, dass die Fristen für Eilbedürftigkeit einer Einstweiligen Verfügung ohnehin verstrichen waren und konnte mir für die Hauptsacheklage genügend Zeit lassen, um Wettbewerbsrecht zu lernen.

Schon wenige Tage später war ich in dem Team von Dr. Hahn, der den Flughafen München im Auftrag mehrer Gemeinden bekämpfte und von da zog der Meister mich gelegentlich ab ins Baurecht, ins Gesellschaftsrecht oder auch um ihm in einem Mordfall zu assistieren: Eine Taxifahrerin hatte ihren Mann mit dem Küchenmesser abgestochen, nachdem der ihr eine Glastür über den Schädel gezogen hatte: »I hob' des Messa imma kreisförmig vor mei'm Bauch bewegt und do iss er halt nei'glaffa« – beide im Vollrausch, sie seit Jahren Mitglied in einer militanten katholischen Frauenvereinigung – Täter wie Opfer alte Mandanten. Erfolg: Freispruch wegen Notwehr.

6. Der Pressedienst

Schon 1953 war ihm aufgefallen, dass die meisten Presseberichte über Prozesse inhaltlich falsch waren: ständig wurde Berufung und Revision verwechselt, keiner konnte Amtsgericht und BGH auseinanderhalten oder die juristischen Fachbegriffe in verständliches Deutsch übersetzen usw. Gritschneder sagte sich: wenn ich die Fachzeitschriften ohnehin lesen muss, dann kann ich daraus auch kleine Zusammenfassungen schreiben – was ihm leichtfiel – und im Abonnement an Zeitschriften vertreiben. Das war eine ungewöhnliche und sehr erfolgreiche Geschäftsidee, die auch heute noch trägt. Er verdiente damit mindestens so viel wie als Anwalt und jetzt sah man den Anwalt Dr. Klaus Boele, der selbst während seiner Ausbildung im Pressedienst gearbeitet hatte, mit 2-3 Referendaren in den Redaktionsräumen sitzen. Da schrieben sie die abstracts für den STERN, die BUNTE oder »Wild und Hund«. Daneben betrieb Boele andernorts sein eigenes Büro.

Es gab IBM-Kugelkopfmaschinen und der riesige IBM Kopierer der Presseagentur wurde auch von den Anwälten benutzt (Synergie-Effekte!) – so dass es dort schon 1972 kein Durchschlagpapier mehr gab. Andere Anwälte haben sich dazu erst zehn Jahre später durchgerungen.

7. Konservatives Presserecht

Als Herausgeber des Pressedienstes erhielt Gritschneder häufig Mandate aus der Welt der Zeitungsverlage, die dort seine Kunden waren. Bei Sieghart Ott hatte ich gelegentlich auch Pressesachen bearbeitet, stand aber immer auf der Seite von Künstlern, vor allem Karikaturisten, die Politiker beleidigt haben sollten. Franz Josef Strauß, der jeden verfolgte, der ihn schräg ansah, war Dauermandant von Ossmann & Kreiner, gegen die wir oft zu kämpfen hatten. Von Gritschneder wusste ich, dass er 1962 Rudolf Augstein gegen Strauß während der Spiegelaffäre vertreten hatte, dem er den »Ruch der Korruption« unterstellte. Diese Behauptung musste Augstein 1970 widerrufen. Als sich dann Jahre später im Umfeld der »Amigo-Skandale« begründete Zweifel gegen Strauß ergaben, widerrief Augstein diesen Widerruf – und niemand verklagte ihn deswegen.12

Gritschneder war absolut unbestechlich und hatte nie ideologische Scheuklappen: Als die katholische Presse ihn 1967 wegen seiner Vertretung Augsteins angriff, antwortete er mit einer Klage, erreichte eine lange Gegendarstellung und ein erhebliches Schmerzensgeld.13 Auch zögerte er nicht, die politischen Verirrungen des Kardinals Faulhaber anzuprangern14. Günter Grass verteidigte er gegen Angriffe der katholischen Kirche (»Pornograph«) ebenso wie den Baron von Finck gegen das Fernseh-Magazin Panorama.15

Manchmal ging mir durch den Kopf, der Zufall müsste Gritschneder und Ott doch einmal in einer Sache gegeneinander führen und ich hätte Gelegenheit zu sehen, wer gewinnt. Natürlich hätte ich auf beide gesetzt! Beide waren große Individualisten, große Kämpfer und große Schriftsteller.

8. Gritschneder als Manager

Gritschneder war auch in seine Büroorganisation extrem pragmatisch. Das Volkswirtschaftsstudium hatte ihm einen klaren Blick für die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen des Managements eines Anwaltsbüros verschafft. Er empfand eine instinktive Abneigung gegen die Anwaltstätigkeit als l'art pour l'art und betrachtete sie als Handwerk, das man in vieler Hinsicht optimieren konnte. Das merkte man sofort, wenn man einen Blick für Management und Büroorganisation hat, den ich von Ott – wenn auch unter ganz anderen Rahmenbedingungen – mitbrachte. Das Büro war – wie damals überall üblich – eine General Practice, hatte aber einen besonderen Ruf im Presserecht, im Bankrecht und im Wettbewerbsrecht. Später auch im öffentlichen Planungsrecht, auf das sich Rechtsanwalt Hahn konzentriert hatte (Flughafen München – Erding).

Gritschneder nahm jeden Fall persönlich an und delegierte ihn an andere Kollegen, wenn er ihn nicht interessierte, aber er kontrollierte alles, was nach außen ging, wenigstens durch seine zweite Unterschrift.

Außerhalb der Fristenkontrolle dürfte damals keine andere Münchener Sozietät eine so durchgeplante Ablauforganisation gehabt haben. Bei Gritschneder Weber Hahn trieb sie teilweise seltsame Blüten: Umfangreichere Schriftsätze befahl er zusätzlich in farbige Kartons zu heften, die ebenfalls mit dem Briefkopf und einem Titel versehen waren, um so den Wert der Argumente optisch zu steigern: Lange Schriftsätze sahen aus wie Bücher! Darüber ärgerten sich die Richter, weil sie die Aktenordnung durcheinanderbrachten, sodass die Umschläge – wie ihre Sekretärinnen uns wissen ließen – gleich bei Eingang wieder weggerissen worden.

Sehr viel erfolgreicher war seine Idee, nur noch IBM-Kugelkopf Schreibmaschinen zu verwenden, die einen Anschlagzähler hatten. Die Schreibsekretärinnen schrieben im Akkord und verdienten auf diese Weise manchmal mehr als die jungen Anwälte. Auch gab es rote und grüne Lampen an den Anwaltstüren gab: die rote durfte man einschalten, wenn man nicht gestört werden wollte, und daran hielten sich die meisten – außer Gritschneder selbst, der diese ganze Organisation nur deshalb so perfekt aufgezogen hatte, um sich selbst nicht daran halten zu müssen.

Und doch wurde auch bei Gritschneder wie in anderen größeren Kanzleien das meiste noch über Zuruf gemanaged. Das galt bis 1989 auch für andere große Sozietäten, etwa Bruckhaus, Düsseldorf (35 Partner), Boden Oppenhoff, Köln (29), Pünder Volhard, Frankfurt (25) und Ohle Hansen, Hamburg (16).

9. Journalist und Schriftsteller

Schon 1946 schrieb Gritschneder neben seiner Anwaltstätigkeit für die Presse. Mit den Themen, für die er sich interessiert, greift er weit über die Welt des Rechts hinaus in die Politik ein (eine kurzfristige Tätigkeit im Stadtrat München beendete er schnell). Wie umfangreich dieses Werk ist, zeigen zwei Bücher, die im Privatverlag erschienen sind und die in zahllosen Zeitungen und Zeitschriften erschienenen journalistischen Arbeiten zusammenfassen: »Randbemerkungen« (1978) und »Weitere Randbemerkungen« (1987), zusammen über tausend Seiten.

Mit etwa sechzig Jahren begann er, die jüngere Geschichte aufzuarbeiten. Wir verdanken ihm nicht nur »Anwaltsgeschichten«16, sondern auch die Darstellung des Hochverratsprozesses gegen Adolf Hitler, des Röhm-Putsches und viele zeitgeschichtliche und juristische Aufsätze17.

Persönlich trieb er absolut keinen Aufwand. In den siebziger Jahren hatte er es sich angewöhnt, als Fitnessprogramm den gesamten Weg von zu Harlaching zum Büro (ungefähr 9 km) zu Fuß zurückzulegen. Dazu zog er sich eine graue Winterjacke an und gute Wanderschuhe, die er im Büro mit Kamelhaar-Pantoffeln vertauschte. Oft ging er auch den Heimweg zu Fuß.

10. Gritschneder, Gebhard Himmler und Alfred Andersch

»Ich saß 1926/27 neben Alfred Andersch in der 3b des Wittelsbacher-Gymnasiums, Fensterreihe, 3. Bank«18, erinnert sich Otto Gritschneder und gibt dabei den Text eines Leserbriefes an den SPIEGEL wieder19, nachdem er die im Sommer 1980 erschienene Novelle »Der Vater eines Mörders« von Alfred Andersch gelesen hatte. In dieser Novelle beschreibt Andersch eine Szene, in der der Direktor des Gymnasiums, Gebhard Himmler im Griechischunterricht eine Sonderprüfung vornimmt und dabei den Schüler Franz Kien (hinter dem sich der Autor verbirgt) so scharf und unfair prüft, dass er das Gymnasium verlassen muss. Der Direktor wird mit seinem Klarnamen (Himmler) genannt und darauf verwiesen, dass sein mit ihm verfeindeter Sohn Heinrich Himmler der Nazipartei nahestehe. So wird der Eindruck erweckt, der Vater habe seine sadistischen Charakterzüge auf den später als Massenmörder bekannt gewordenen Reichsführer-SS übertragen. Wie nicht nur Otto Gritschneder, sondern auch andere Mitschüler und Zeitzeugen in Leserbriefen an den SPIEGEL bestätigen, hat die Szene tatsächlich nicht stattgefunden. Der Direktor sei kein Sadist gewesen, sondern einfach ein konservativer »quittengelber« Schulmann, dem man noch ansah, dass er einst Prinzenerzieher gewesen war. In einzelne Benotungen habe er niemals eingegriffen. Petra Morsbach hat in einem Essay nachgewiesen, dass die Diskrepanz zwischen Erzählung und Wirklichkeit sich schon im Aufbau und der Sprache der Novelle zeigt: »Bei Anderschs Erzählung schloss ich auf ein Problem mit der Wirklichkeit, weil das Bemühen des Erzählers um Authentizität – also erlebte Wirklichkeit – am deutlichsten missglückt ist.«20

11. Seine Vision: Das Haus des Rechts

Gritschneder dachte – wie Alfred Gleiss in Stuttgart – darüber nach, ein »Haus des Rechts« zu gründen, in dem viele Anwälte, Wirtschaftsprüfer und Steuerberater in Bürogemeinschaft gemeinsam auf eine gemeinsame Infrastruktur zugreifen könnten, die sich jeder Einzelne nicht leisten konnte. Damals dachte man in erster Linie über die Verringerung der hohen Büromieten, auch der Personalkosten für die Servicedienste und in technischer Hinsicht über Telefon, Telex, Telefax nach. Das Thema ist heute, wo die Kosten für IT-Systeme und Künstliche Intelligenz unabsehbar steigen, von höchster Aktualität.

Wie ein solches Haus des Rechts von innen aussehen würde, konnte man bei Gritschneder schon jetzt bewundern: Privatsekretärinnen gab es keine. Die Akten ordnete jeder Anwalt sich selbst und selbstverständlich hat jeder unmittelbar telefoniert und ließ sich nicht gravitätisch von seiner Sekretärin durchstellen, wie es damals bei anderen Anwälten noch die Regel war. Über die berufsrechtlichen Probleme, die mit einer solchen Zusammenarbeit verbunden sind, hat man damals nicht tiefer nachgedacht – aber vermutlich könnte man sie heute lösen.

12. Abschied von Gestern

Ich hatte wenige Monate nach meinem Eintritt in die Sozietät meinen Freund Gunther Braun nachgezogen und natürlich dachten wir darüber nach, was in der Zukunft aus uns werden könne. Das blieb auch Gritschneder nicht verborgen und nach ungefähr eineinhalb Jahren kam es zu einem Gespräch: »Bei mir könnt Ihr nicht Partner werden«, sagte er »das hier ist ein Familienbetrieb« (einige seiner Söhne studierten Jura, oder hatten schon abgeschlossen). Gleichzeitig ermutigte er uns, ein eigenes Büro zu gründen und erlaubte die Übernahme eigener Mandate außerhalb seiner Räume. Die Grundkosten verdienten wir bei ihm und bearbeiteten in den Abendstunden genauso wie er 30 Jahre zuvor die Verkehrsunfälle und Scheidungen aus dem Bekanntenkreis im eigenen Schlafzimmer. Als wir uns dann endgültig trennten, gab er uns als Gastgeschenk noch zwei wertvolle Mandate aus dem Bau- und Immobilienrecht, ein Rechtsgebiet, das Justin von Kessel entwickelt hat und unser Büro auch heute noch prägt.21

Der Rest ist Geschichte.

Literaturverzeichnis
Zitierte Literatur: 
  • Siehe Fußnoten.