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BVerfGE 17, 108; DÖV 1965, 286; JZ 1963, 751; MDR 1964, 23; NJW 1963, 2608

Daten

Fall: 
Hirnkammerluftfüllung
Fundstellen: 
BVerfGE 17, 108; DÖV 1965, 286; JZ 1963, 751; MDR 1964, 23; NJW 1963, 2608
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
25.07.1963
Aktenzeichen: 
1 BvR 542/62
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • LG Braunschweig, 31.08.1962 - 13 Qs 285/62

Rechtsnormen

Seitennummerierung nach:

BVerfGE 17, 108

Seiten:


BVerfGE 17, 108 (108):
Der Schutz des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit kann bei Anwendung des § 81a StPO eine bestimmte Gestaltung des konkreten Strafverfahrens notwendig machen; das BVerfG ist befugt, dies nachzuprüfen.
BVerfGE 17, 108 (109):
Beschluß

des Ersten Senats vom 25. Juli 1963

-- 1 BvR 542/62 --

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Dekorateurs Ingo K..., Bevollmächtigter: Rechtsanwälte ..., gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts Braunschweig vom 11. August 1962 -- 5 Ds 98/61; 5 Ds 216/61 -- und des Landgerichts Braunschweig vom 31. August 1962 -- 13 Qs 285/62.

Entscheidungsformel:

Die Beschlüsse des Amtsgerichts Braunschweig vom 11. August 1962 -- 5 Ds 98/61; 5 Ds 216/61 -- und des Landgerichts Braunschweig vom 31. August 1962 -- 13 Qs 285/62 -- verletzen, soweit sie eine Hirnkammerluftfüllung (Pneumoenzephalographie) anordnen, das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 2 Satz 1 GG; sie werden insoweit aufgehoben. Im übrigen wird die Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen.

Die Sache wird an das Amtsgericht Braunschweig zurückverwiesen.

Gründe:

A.

1. Gegen den bereits wiederholt zu Geldstrafen und kleinen Freiheitsstrafen verurteilten, 27 Jahre alten Beschwerdeführer ist wegen zweier Fälle des Betrugs das Hauptverfahren vor dem Amtsgericht eröffnet worden; in einem Fall wird ihm zur Last gelegt, Dekorationsmaterial im Werte von 350 DM eingekauft zu haben unter der Vorspiegelung, für einige Firmen zu handeln, für die er früher als Dekorateur gearbeitet hatte; im anderen Fall soll er Werbungsanzeigen im Rechnungsbetrag von 342 DM in Auftrag gegeben und dabei verschwiegen haben, daß er zur Bezahlung außerstande war.

In der Hauptverhandlung beantragte der Verteidiger sogleich, den Angeklagten auf verminderte Zurechnungsfähigkeit untersuchen zu lassen; die Staatsanwaltschaft schloß sich dem Antrag an. Ein daraufhin vom Amtsgericht eingeholtes Gutachten des Nervenarztes Dr. G. kommt zu folgender Beurteilung:


BVerfGE 17, 108 (110):
"K., der aus geordneten Familienverhältnissen stammt, ist schon früh durch zahlreiche Delikte aufgefallen, anfangs waren es Verkehrsdelikte, in der letzten Zeit Betrügereien. Er selbst gibt zu, daß er, nachdem er sich selbständig gemacht habe, wenig gearbeitet habe, er habe einen schlechten Freundeskreis gehabt und viel Geld für seine Vergnügen ausgegeben, außerdem habe er viel getrunken. Es handelt sich bei K. entweder um eine haltlose psychopathische Persönlichkeit oder um eine Hirnschädigung. Auch dabei kommt es zu einer Enthemmung, zur mangelnden verstandesmäßigen Steuerung und zu einer auffallenden Unbekümmertheit. Da K. mehrere Gehirnerschütterungen, dabei eine erste schwere mit 6 Jahren, durchgemacht hat, besteht durchaus die Möglichkeit, daß bei einer dieser Kopfverletzungen doch eine über eine Gehirnerschütterung hinausgehende Hirnschädigung eingetreten ist. Eine sichere Klärung der Differentialdiagnose ist durch ambulante Untersuchungen nicht möglich, ich empfehle daher eine klinische Beobachtung mit Vornahme einer hirnelektrischen Untersuchung, evtl. aber auch einer Luftfüllung der Hirnkammer (Luftenzephalographie)."

Das Amtsgericht ordnete daraufhin an, daß der Beschwerdeführer bis zur Höchstdauer von 6 Wochen im Landeskrankenhaus beobachtet werde. Von dort entfernte sich der Beschwerdeführer am Tage nach seiner Aufnahme eigenmächtig mit der Begründung, einer Äußerung des Arztes entnehme er, daß ohne eine Luftfüllung der Hirnkammer eine Begutachtung nicht möglich sei; dem wolle er sich aber nicht unterziehen. Zugleich beantragte sein Verteidiger, die Anordnung der Unterbringung nach § 81 StPO aufzuheben. Zu diesem Antrag nahm die Staatsanwaltschaft Stellung:

"... Das Gericht muß von Amts wegen die Frage der Zurechnungsfähigkeit prüfen... M. E. müßte versucht werden, ohne Hirnkammerluftfüllung zu einem Ergebnis zu gelangen. Falls § 51 Abs. 1 StGB nicht auszuschließen ist, muß der Angeklagte freigesprochen werden."

Der Obermedizinalrat Dr. B. als erster Oberarzt des Landeskrankenhauses äußerte sich wie folgt:

"Die Wahrscheinlichkeit, daß eine frühere Hirnschädigung im Alter von 6 Jahren krankhafte Veränderungen bei K. hinterlassen hat, die jetzt seine Zurechnungsfähigkeit beeinträchtigen könnten, ist nicht sehr groß. Auszuschließen ist ein derartiger Defekt nicht allein


BVerfGE 17, 108 (111):
mit einer psychologischen Untersuchung. Es müßte zumindest eine hirnelektrische Untersuchung durchgeführt werden... Am eindeutigsten würde eine organische Hirnschädigung durch eine Hirnkammerluftfüllung (Pneumoenzephalographie) auszuschließen sein. Eine gesundheitliche Schädigung für den Untersuchten ist von dieser Methode nicht zu erwarten, die seit Jahrzehnten als Regeluntersuchung auch bei Säuglingen und Kindern ärztlich angewandt wird und bei regelrechter Durchführung dem Untersuchten höchstens kurzdauernde Kopfschmerzen bereitet.

Im Falle K. ist keineswegs mit der Anwendbarkeit von § 51 Abs. 1 StGB, sondern höchstens - und auch dies nur mit geringer Wahrscheinlichkeit - von Abs. 2 zu rechnen."

Unter Hinweis auf diese Äußerung stellte die Staatsanwaltschaft beim Amtsgericht den Antrag, "gemäß § 81a StPO zu verfahren".

Während aber die Staatsanwaltschaft nur eine hirnelektrische Untersuchung beantragte, ordnete das Amtsgericht mit Beschluß vom 11. August auch eine Hirnkammerluftfüllung an:

"Gemäß § 81a StPO wird zur Feststellung der für das Verfahren bedeutsamen Zurechnungsfähigkeit die körperliche Untersuchung des Angeklagten angeordnet. Zu diesem Zweck sind - auch ohne Einwilligung des Angeklagten - von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst eine hirnelektrische Untersuchung und eine Hirnkammerluftfüllung als zulässig vorzunehmen, wenn dadurch kein Nachteil für die Gesundheit des Angeklagten zu befürchten ist und wenn diese Maßnahmen zur abschließenden Begutachtung erforderlich sind."

Die sofortige Beschwerde des Verteidigers verwarf das Landgericht durch Beschluß vom 31. August 1962 als unbegründet:

"... Die Ausführungen des Angeklagten in seiner Beschwerdeschrift dahin, ob er sich überhaupt strafbar gemacht habe, sind für die vorliegende Entscheidung unerheblich. Das Amtsgericht hat mit Beschluß vom 18. Oktober 1961 das Hauptverfahren eröffnet. Der Angeklagte ist des ihm zur Last gelegten Betruges hinreichend verdächtig.

Die körperliche Untersuchung des Angeklagten ist für die Frage von Bedeutung, ob er - falls er des Betruges überführt wird - zurechnungsfähig oder vermindert zurechnungsfähig ist. Der Sachverständige Dr. med. B. vom Nds. Landeskrankenhaus Königslutter


BVerfGE 17, 108 (112):
hat in seiner Äußerung vom 9. April 1962 ausgeführt, daß zumindest eine hirnelektrische Untersuchung durchgeführt werden müßte und daß eine organische Hirnschädigung am eindeutigsten durch eine Hirnkammerluftfüllung auszuschließen sei. Der Sachverständige hat ferner erklärt, daß bei der Hirnkammerluftfüllung eine gesundheitliche Schädigung des Angeklagten nicht zu erwarten sei.

Da keine Nachteile für die Gesundheit des Angeklagten zu befürchten sind, hat zutreffend das Amtsgericht in dem angefochtenen Beschluß gemäß § 81a StPO die körperliche Untersuchung auch ohne seine Einwilligung, und zwar eine hirnelektrische Untersuchung und eine Hirnkammerluftfüllung, angeordnet..."

2. Der Beschwerdeführer greift mit der Verfassungsbeschwerde diese Beschlüsse wegen Verletzung des Grundrechts der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG) an. Vor der Anordnung der Untersuchungen sei nicht geklärt worden, ob sein Verhalten überhaupt einen strafbaren Tatbestand erfülle. Solange das aber nicht feststehe, sei es unzulässig, ihn den angeordneten Untersuchungen zu unterwerfen; das Interesse des Gerichts, die Hauptverhandlung ohne Unterbrechung durchzuführen, müsse hinter seinem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit zurücktreten. Die beabsichtigten Untersuchungen hätten erhebliche Beschwerden zur Folge.

3. Der Bundesminister der Justiz hat ausgeführt: Eine hirnelektrische Untersuchung und eine Hirnkammerluftfüllung seien Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, die nach Art. 2 Abs. 2 GG auf Grund eines Gesetzes angeordnet werden dürften. Dem genüge § 81a StPO. Seine Auslegung müsse aber dem im Grundgesetz ausgesprochenen Bekenntnis zur körperlichen Unversehrtheit Rechnung tragen; auf diese Bestimmung gestützte Anordnungen seien daher in den Grenzen des unumgänglich Notwendigen zu halten. Da eine Hirnkammerluftfüllung nicht ungefährlich und für den Betroffenen unangenehm und beschwerlich sei, dürfe sie nur in Ausnahmefällen und auch dann möglichst nur in Übereinstimmung mit dem Patienten vorgenommen werden. Gegen die hirnelektrische Untersuchung seien ähnliche Bedenken nicht zu erheben. Die Pneumoenzephalographie sei ein so


BVerfGE 17, 108 (113):
schwerwiegender Eingriff, daß ihre Anordnung nach § 81a StPO nur statthaft sei, wenn sie im konkreten Verfahren nicht entbehrt werden könne und zur Schwere der Tat in angemessenem Verhältnis stehe. Die Entscheidung hierüber setze u.U. eine Beweisaufnahme voraus. Unter diesen Umständen bestünden Bedenken gegen die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts jedenfalls insoweit, als sie die Ausführungen des Beschwerdeführers zu der Frage, ob er sich überhaupt strafbar gemacht habe, für unerheblich erkläre.

Auch der niedersächsische Justizminister will den von Rechtsprechung und Lehre zu § 81 StPO entwickelten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Zweck und Mittel im Bereich des § 81 a StPO angewendet wissen; es sei jedoch kein unangemessener Eingriff in das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit, wenn die körperliche Untersuchung vor Durchführung der Beweisaufnahme angeordnet worden sei.

Der Präsident des Bundesgerichtshofs hat Äußerungen des 4. und 5. Strafsenats vorgelegt. Beide Senate gehen davon aus, daß das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit eine behutsame Interpretation des § 81a StPO erfordere. Körperliche Eingriffe dürften daher nur angeordnet werden, wenn unverzichtbare überwiegende Gegeninteressen dies unabwendbar forderten, und stets nur in dem unvermeidbar geringsten Maße. Daher sei eine Pneumoenzephalographie, von der vorausgesetzt werde, daß sie im Einzelfall gefahrlos, aber nicht schmerzlos sei, nur zulässig, wenn das öffentliche Interesse an der Aufklärung im Einzelfall schwerer wiege als die Rücksicht auf die körperliche Unversehrtheit des Tatverdächtigen. Bei Ordnungswidrigkeiten und einfachen Straffällen wie bei Übertretungen könne ein solches Interesse höchstens ausnahmsweise bejaht werden. Bei Verbrechen und Vergehen müsse das Prinzip der Verhältnismäßigkeit aber darin zum Ausdruck kommen, daß der Richter vor Anordnung einer Pneumoenzephalographie prüfe, ob es auf die Schuldfähigkeit des Angeklagten überhaupt ankomme und nicht ihre Aufklärung mangels Beweises des äußeren Straftatbestandes sich erübrige.


BVerfGE 17, 108 (114):
Der Generalbundesanwalt hat grundsätzlich ausgeführt: Ob der Strafrichter das Vorhandensein der vollen strafrechtlichen Verantwortlichkeit des Beschuldigten vor der Feststellung des äußeren Tatbestandes klären dürfe oder, wie der Beschwerdeführer meine, hierauf erst eingehen dürfe, wenn der äußere Tatbestand erwiesen sei, sei eine Frage der Gestaltung des Strafverfahrens. Anwendung und Auslegung der Verfahrensordnungen unterlägen aber der Beurteilung des Bundesverfassungsgerichts nicht, soweit nicht spezifisches Verfassungsrecht verletzt sei. Willkürlich sei die Klärung der Zurechnungsfähigkeit vor der Feststellung des äußeren Tatbestandes nicht. - Im übrigen vertritt der Generalbundesanwalt einen ähnlichen Standpunkt wie der Bundesminister der Justiz und der Bundesgerichtshof; er äußert ebenfalls Bedenken gegen die angefochtenen Beschlüsse.

B.

Die - zulässige - Verfassungsbeschwerde ist begründet, soweit sie sich gegen die Anordnung einer Hirnkammerluftfüllung wendet, nicht dagegen hinsichtlich der Anordnung einer hirnelektrischen Untersuchung.

I.

Bei der hirnelektrischen Untersuchung (Elektroenzephalographie) werden die elektrischen Potentialschwankungen der menschlichen Gehirnrinde gemessen; hierzu wird die Stromtätigkeit des Gehirns durch Ableitung von der Schädeldecke ermittelt, verstärkt und registriert (Elektroenzephalogramm). Dabei wird weder die Kopfhaut - etwa durch Einstich von Nadeln - verletzt, noch werden dem Schädel elektrische Ströme zugeführt. Deshalb wird in der Fachliteratur durchweg die Harmlosigkeit dieser Untersuchungsmethode betont, die den Patienten in keiner Weise schädige und ihm keine Beschwerden verursache; als "duldungspflichtige" Untersuchungsmethode sei sie besonders wichtig, weil sie im "Gegensatz zu den eingreifenden diagnostischen Methoden der Enzephalographie und Arteriographie keine Beschwerden hervorruft und jedem zugemutet werden kann" (Jung und Meyer-


BVerfGE 17, 108 (115):
Mickeleit bei Fischer/Herget/Molineus, Das ärztliche Gutachten im Versicherungswesen, II. Band, 2. Aufl. S. 1076). Dementsprechend zählt auch die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 5. Juli 1955 (BGBl. I S. 402) die Elektroenzephalographie nicht unter den Eingriffen auf, die nur mit Einwilligung des Kranken vorgenommen werden dürfen.

Es kann unter diesen Umständen dahingestellt bleiben, ob die Anordnung einer hirnelektrischen Untersuchung überhaupt in die körperliche Unversehrtheit im Sinne des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG "eingreift". Denn jedenfalls ist die etwaige Belästigung durch diese Untersuchung nur geringfügig und damit zumutbar (vgl. Jung in Handbuch der inneren Medizin, V. Band, Erster Teil, 4. Aufl. S. 1219). Daher bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken dagegen, daß im vorliegenden Fall eine hirnelektrische Untersuchung nach § 81a StPO angeordnet worden ist.

II.

Dagegen greift die Hirnkammerluftfüllung (Pneumoenzephalographie) in die körperliche Unversehrtheit erheblich ein.

1. Bei ihr wird durch Punktion des Wirbelkanals mittels einer langen Hohlnadel (Lumbal- oder Okzipitalpunktion) Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit (Liquor) entnommen, um durch Entleerung und Luftfüllung der Gehirnkammern (Ventrikel) zu erreichen, daß diese sich im Röntgenbild abzeichnen. Die Beurteilung dieses Eingriffs in Literatur und Rechtsprechung ist nicht ganz einheitlich.

Der Bundesgerichtshof hat die Pneumoenzephalographie für eine nicht ungefährliche Untersuchung erklärt, die für den Betroffenen unangenehm und beschwerlich sei und daher grundsätzlich nur in Ausnahmefällen und auch dann nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit dem Patienten vorgenommen werden sollte (Urteil vom 1. Oktober 1957 - 5 StR 203/57 -, anscheinend nicht veröffentlicht). Auch das Oberlandesgericht Hamm hält in seinem Beschluß vom 3. Februar 1960 (NJW 1960, 1400 mit weiteren


BVerfGE 17, 108 (116):
Nachweisen aus Rechtsprechung und Literatur) den Eingriff für erheblich. Dem Bundesverfassungsgericht lagen die Akten eines Falles vor, in dem eine Okzipitalpunktion - allerdings eines Hirnverletzten - durch Anstechen eines anomal verlaufenden Blutgefäßes zu einer Sickerblutung mit anschließendem Tod des Patienten geführt hatte.

Nach dem Urteil medizinischer Sachverständiger (vgl. etwa Bresser, NJW 1961, 250) ist mit der Pneumoenzephalographie bei kunstgerechter Vornahme eine Gefährdung der körperlichen und seelischen Gesundheit nicht verbunden; nur bei den sogenannten "raumbeengenden Prozessen des Gehirns", in erster Linie bei Hirngeschwülsten, Blutungen und Abszessen könne eine Pneumoenzephalographie gefährlich, vielleicht sogar lebensgefährlich sein. Doch könne diese Gefahr durch geeignete Untersuchungen im allgemeinen vermieden werden. Allerdings habe der Untersuchte je nach seiner Konstitution in den ersten zwei bis drei Tagen nach dem Eingriff häufig, aber nicht regelmäßig, gewisse Kopfbeschwerden, leichte Schwindelerscheinungen oder diffuse Allgemeinstörungen, die sich aber nur in ganz seltenen Einzelfällen als stärkere Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes auswirkten. Auch diese Beschwerden seien aber durch vorbeugende Behandlung weitgehend zu lindern. Dagegen betont Bresser nachdrücklich, daß der Erkenntniswert der Pneumoenzephalographie ganz eng begrenzt sei:

"Wir haben unter den im Rahmen der forensisch-psychiatrischen Tätigkeit gewonnenen Hirnkammerluftbildern keines gefunden, das uns über die sonstigen Untersuchungsbefunde hinaus für die strafrechtliche Fragestellung einen grundsätzlich neuen Aufschluß gegeben hätte. Die Einschätzung der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 oder 2 StGB wurde für uns niemals dadurch entscheidend beeinflußt. Selbst da, wo das Ergebnis der Enzephalographie im Einzelfall mehr diagnostische Sicherheit verschafft hat, blieb dies doch für das Urteil über die Zurechnungsfähigkeit praktisch immer ohne maßgebende Bedeutung."

Wo sie in ganz seltenen Fällen erforderlich erscheine, solle sie nur im Einverständnis mit dem Patienten auf freiwilliger Basis


BVerfGE 17, 108 (117):
vorgenommen werden. Sarstedt (Löwe-Rosenberg, Strafprozeßordnung, 21. Aufl. Anm. 6a zu § 81a StPO) folgert aus diesen Ausführungen, daß im Hinblick auf die "zu geringe diagnostische Ergiebigkeit" die Pneumoenzephalographie kaum noch als zulässig angesehen werden könne.

2. Gegen § 81a StPO erhobene verfassungsrechtliche Bedenken sind nicht begründet: diese Bestimmung kann auch die Anordnung von Untersuchungen rechtfertigen, bei denen in die körperliche Unversehrtheit eingegriffen wird (Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 10. Juni 1963 - 1 BvR 790/58 -, BVerfGE 16, 194 [194], abgedruckt NJW 1963, 1597). Ob die mit der Vornahme der Pneumoenzephalographie verbundenen Unbequemlichkeiten, Beschwerden und Gefahren von solcher Bedeutung sind, daß sie auch bei Durchführung nach den Regeln der ärztlichen Kunst allgemein als unzulässig angesehen werden müßte, bedarf im vorliegenden Fall keiner Entscheidung, da die angefochtenen Beschlüsse bereits aus anderen Gründen aufzuheben sind.

3. Die Achtung vor dem Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit gebietet ganz allgemein, bei der Beurteilung der Zulässigkeit von Eingriffen in dieses Grundrecht das Prinzip der Verhältnismäßigkeit zu beachten. Davon gehen grundsätzlich auch die höheren Gerichte, insbesondere der Bundesgerichtshof, und der Generalbundesanwalt aus; ebenso wird in der Literatur dieser Standpunkt durchweg vertreten. Dazu genügt es nicht, daß der Eingriff auf einer gesetzlichen Grundlage beruht; denn das Gesetz, das den Eingriff erlaubt, muß seinerseits im Lichte der Bedeutung des Grundrechts gesehen werden (BVerfGE 7, 198). Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit fordert im Strafverfahren vor allem, daß die Maßnahme unerläßlich ist, daß sie in angemessener Relation zur Schwere der Tat steht und daß die Stärke des bestehenden Tatverdachts sie rechtfertigt. Insofern steht die Verfahrensgestaltung unter dem Gebot des Grundrechtsschutzes. Sie rückt damit aus dem Bereich des nur Zweckmäßigen hinaus. In diesem


BVerfGE 17, 108 (118):
Sinn kann die Verfassung eine bestimmte Verfahrensgestaltung erzwingen, wobei u.U. an sich beachtliche Gesichtspunkte zweckmäßigen Verfahrensablaufes hinter das Gebot des Grundrechtsschutzes zurücktreten und auch verfahrensrechtliche Unbequemlichkeiten in Kauf genommen werden müssen. In diesem Umfang ist das Bundesverfassungsgericht als Hüter der Grundrechte - entgegen der vom Generalbundesanwalt anscheinend vertretenen Auffassung - befugt, auch die konkrete Verfahrensgestaltung nachzuprüfen.

Die Anwendung dieser Grundsätze auf den vorliegenden Fall ergibt:

a) Die Beschwerdeentscheidung des Landgerichts beruft sich auf die Äußerung des Sachverständigen Obermedizinalrat Dr. B., eine organische Hirnschädigung sei "am eindeutigsten" durch eine Pneumoenzephalographie auszuschließen. Das reicht nicht aus, ihre Anordnung zu rechtfertigen. Der Sachverständige sagt selbst, er müsse "zumindest" eine hirnelektrische Untersuchung für geboten halten; er befindet sich dabei in Übereinstimmung mit dem Sachverständigen Dr. G., der ebenfalls in erster Linie eine klinische Beobachtung unter Vornahme einer hirnelektrischen Untersuchung und nur "eventuell" eine Luftenzephalographie empfiehlt. Solange aber nicht ausgeschlossen ist, durch andere, weniger einschneidende Methoden zu einer hinreichend zuverlässigen Beurteilung zu gelangen, etwa durch die noch nicht durchgeführte Anstaltsbeobachtung nach § 81 StPO und durch die von den Gerichten mit Recht angeordnete hirnelektrische Untersuchung, darf eine Pneumoenzephalographie nicht angeordnet werden, zumal nach medizinischer Ansicht ihr Erkenntniswert ohnehin eng begrenzt ist. Die angegriffenen Beschlüsse greifen daher ohne Notwendigkeit in das Grundrecht des Beschwerdeführers auf körperliche Unversehrtheit ein.

b) Der Beschwerdeführer hat den Gesichtspunkt in den Vordergrund gestellt, daß kein genügender Tatverdacht gegen ihn bestehe. Er hat die ihm zur Last gelegte Tat mit eingehenden Darlegungen bestritten. Das Landgericht hat dieses Vorbringen für


BVerfGE 17, 108 (119):
unerheblich erklärt: Gegen den Beschwerdeführer sei das Hauptverfahren eröffnet worden und damit sei er der ihm zur Last gelegten Handlungen "hinreichend verdächtig".

Dieser Ansicht kann nicht beigetreten werden; auch der Bundesgerichtshof teilt sie nicht. Zwar fordert § 203 StPO für die Eröffnung des Hauptverfahrens einen "hinreichenden Tatverdacht". Die Ermittlungsergebnisse werden aber im Eröffnungsbeschluß nur unter dem Gesichtspunkt gewürdigt, ob dem Angeschuldigten das Hauptverfahren zugemutet werden kann, nicht unter dem ganz anderen Gesichtspunkt, ob ein erheblicher körperlicher Eingriff wie die Pneumoenzephalographie angeordnet werden darf. Für eine solche Anordnung muß die Schwere des Verdachts selbständig und unter Anlegung eines strengen Maßstabes gewürdigt werden; der bloße Hinweis auf die Tatsache der Eröffnung reicht nicht aus.

Es könnte sogar die Frage aufgeworfen werden, ob eine Pneumoenzephalographie nicht überhaupt erst dann angeordnet werden darf, wenn die Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung den Nachweis eines strafbaren Tatbestandes ergeben hat, so daß nur noch die Schuldfrage offen ist. Das Gesetz setzt zwar für eine Anordnung nach § 81a StPO nicht einmal die Eröffnung des Hauptverfahrens, geschweige denn eine Durchführung der Beweisaufnahme voraus. Das ist bei der Vielfalt der nach § 81 a StPO in Betracht kommenden Eingriffe zwar unbedenklich, enthebt aber bei einem so erheblichen Eingriff wie der Pneumoenzephalographie die Strafgerichte nicht der Pflicht, unter dem Gesichtspunkt der Erforderlichkeit und Verhältnismäßigkeit auch zu prüfen, ob die Stärke des Verdachts die Anordnung rechtfertigt. Das bedeutet freilich nicht, daß unter allen Umständen vor Anordnung einer Pneumoenzephalographie die Durchführung der Beweisaufnahme zu fordern wäre. Es kommt stets auf die Lage des Einzelfalles an. Im vorliegenden Fall war nach dem Inhalt der Akten eine Beweisaufnahme unschwer durchzuführen, da es im wesentlichen nur noch auf die Vernehmung des Beschwerdeführers und eines von ihm benannten Zeugen ankam.


BVerfGE 17, 108 (120):
Bei dieser Sachlage widerspricht die Anordnung der Pneumoenzephalographie ohne vorherige Beweisaufnahme dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit.

c) Schließlich lassen die angefochtenen Beschlüsse auch eine Erörterung darüber vermissen, ob die Vornahme eines so schweren Eingriffs, wie ihn die Pneumoenzephalographie darstellt, im rechten Verhältnis zur Schwere der dem Beschwerdeführer zur Last gelegten Straftat steht (Bundesverfassungsgericht, Beschluß vom 10. Juni 1963, abgedruckt NJW 1963, 1597).

Aus diesen Gründen sind die angefochtenen Beschlüsse insoweit aufzuheben und die Sache an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).