BVerfG, 25.10.1951 - 1 BvR 24/51
Der Grundrechtsteil des Bonner Grundgesetzes gilt auch in West- Berlin.
1. Beschluß
des Ersten Senats vom 25. Oktober 1951 gem. § 24 BVerfGG
– 1 BvR 24/51 –
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des A. H.
Entscheidungsformel:
Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.
2. Gründe
Der Beschwerdeführer rügt mit der Verfassungsbeschwerde die im Armenrechtsverfahren ergangenen Beschlüsse des Landgerichts Berlin vom 25. Februar 1950, bestätigt durch Beschluß des Kammergerichts vom 12. Juni 1950, und des Amtsgerichts Berlin-Schöneberg vom 21. September 1950, bestätigt durch Beschluß des Landgerichts Berlin-Schöneberg vom 27. Oktober 1950, in denen ihm das Armenrecht für zwei geplante Zivilprozesse verweigert worden ist.
Nach § 106 BVerfGG findet dieses Gesetz auch auf Berlin Anwendung, soweit das Grundgesetz für das Land Berlin gilt oder die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts durch ein Gesetz Berlins in Übereinstimmung mit diesem Gesetz begründet wird. Ein Gesetz Berlins hat die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts bisher nicht begründet. Nach dem Wortlaut des § 106 BVerfGG ist aber die Zuständigkeit des Bundesverfas-sungsgerichts schlechthin gegeben, "soweit das Grundgesetz für das Land Berlin gilt".
Nach Art. 23 Satz 1 in Verbindung mit Art. 144 Abs. 1 GG gilt das Grundgesetz zwar für Groß-Berlin. Im Genehmigungsschreiben vom 12. Mai 1949 haben aber die Militärgouverneure in Ziff. 4 einen Vorbehalt zum Ausdruck gebracht, der wie folgt lautet:
"A third reservation concerns the participation of Greater Berlin in the Federation. We interpret the effect of Articles 23 and 144 (2) of the Basic Law as constituting acceptance of our previous request that while Berlin may not be accorded voting membership in the Bundestag or Bundesrat nor be governed by the Federation she may, nevertheless, designate a small number of representatives to the meetings of those legislative bodies".
Damit stimmt überein, daß Art. 1 Abs. 1 und 2 der Verfassung von Berlin vom l. September 1950 (VOBl. I S. 433) ("Berlin ist ein Land der Bundesrepublik Deutschland" – "Grundgesetz und Gesetze der Bundesrepublik Deutschland sind für Berlin bindend") durch Anordnung der alliierten Kommandantura Berlin BK/O (50) 75 vom 29. August 1950 Ziffer 2 b (VOBl. I S. 440) "zurückgestellt" worden sind, und daß zu Art. 87 Abs. 3 der Berliner Verfassung ("soweit in der Übergangszeit die Anwendung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland in Berlin keinen Beschränkungen unterliegt, sind die Bestimmungen des Grundgesetzes auch in Berlin geltendes Recht. Sie gehen den Bestimmungen der Verfassung vor") dieselbe Anordnung der alliierten Kommandantura besagt: "Die Bestimmungen dieses Artikels (87) betreffend das Grundgesetz, finden nur in dem Maße Anwendung, als es zwecks Vorbeugung eines Konflikts zwischen diesem Gesetz und der Berliner Verfassung erforderlich ist". (Vgl. ferner Ziff. 2 des sogenannten kleinen Besatzungsstatuts vom 14. Mai 1949 bei Landsberg-Goetz, Kommentar zur Berliner Verfassung, Berlin o. J., S. 215.)
Es ist strittig, ob durch diese Vorbehalte (vgl. auch Art. 144 Abs. 2 GG) die Geltung des Grundgesetzes in Berlin einstweilen – abgesehen von der Möglichkeit Berlins, eine kleine Zahl von Vertretern zur Teilnahme an den Sitzungen von Bundestag und Bundesrat zu entsenden – völlig suspendiert oder nur auf gewissen Gebieten beschränkt ist (vgl. v. Mangoldt, Kommentar zum Bonner Grundgesetz, Berlin und Frankfurt o. J., Art. 23 Anm. 3; Kammergericht, 8. Aug. 1949 in DRZ 1949 S. 541 und in JR 1950. 157; Werthauer, JR 1949, 369; andererseits Drath, JR 1951. 385; Dennewitz, in Bonner Kommentar, Hamburg 1950, Art. 23 Anm. II 1; Maunz, Deutsches Staatsrecht, München-Berlin 1951, S. 263 ff.).
Für den vorliegenden Fall bedarf es nur der Entscheidung der Frage, ob die Grundrechtsnormen des Bonner Grundgesetzes, deren Verletzung nach § 90 BVerfGG jedermann mit der Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht rügen kann, auch in Berlin Geltung beanspruchen.
Sinn des Vorbehalts der Militärgouverneure ist es, eine unmittelbare organisatorische Einbeziehung Berlins in die westdeutsche Bundesrepublik mit Rücksicht auf die "fortdauernde internationale Spannung" vorerst aufzuschieben (Bundeskanzler Dr. Adenauer in der 13. Sitzung des Bundestags vom 21. Oktober 1949, StenBer. S. 309; vgl. v. Mangoldt, aaO. Art. 23 Anm. 3). Berlin soll nicht durch den Bund regiert werden, die Organe des Bundes sollen ihre Befugnisse nicht auch in Berlin ausüben. Diese Erwägung rechtfertigt es aber nicht, auch dem Grundrechtsteil des Bonner Grundgesetzes die Geltung für Berlin zu versagen, da der durch ihn gewährte Schutz des Einzelnen eine unmittelbare organisatorische Einbeziehung Berlins in das Gefüge der westdeutschen Bundesrepublik weder voraussetzt noch zur Folge hat.
Dieses Ergebnis stimmt auch mit der erwähnten Auslegung von Art. 87 der Berliner Verfassung durch die Berliner Kommandantura in der Anordnung vom 29. August 1950 überein, wenn sie dem Grundgesetz dort den Vorrang gibt, wo seine Anwendung zwecks Vorbeugung eines Konflikts zwischen dem Grundgesetz und der Berliner Verfassung erforderlich ist. Da die Grundrechtsnormen von Grundgesetz und Berliner Verfassung nicht in allem übereinstimmen, ist ein solcher Konflikt stets möglich und dem Grundgesetz in Übereinstimmung mit Art. 87 der Berliner Verfassung insoweit der Vorrang einzuräumen.
Gilt somit der Grundrechtsteil des Bonner Grundgesetzes auch in West-Berlin, so ist damit freilich die weitere Frage noch nicht beantwortet, inwieweit § 106 BVerfGG seinerseits mit Ziffer 4 des Schreibens der Militärgouverneure vereinbar ist, wenn § 106 schon vor Erlaß eines mit dem BVerfGG übereinstimmenden Berliner Gesetzes das BVerfGG insoweit als auf Berlin anwendbar erklärt, als "das Grundgesetz für Berlin gilt". Der Wortlaut des erwähnten Genehmigungsschreibens der Militärgouverneure mag bei wörtlichem Verständnis dagegen sprechen, da die Worte "nor be governed by the Federation" nach dem üblichen Verstand des Wortes "govern" auch die Tätigkeit der Gerichte, hier der Bundesgerichte, mitumfassen würde (vgl. Black, Law Dictionary 1933 s. v. "government" und Stokes v. United States (C. C. A.) 264 F. 18, 22; übereinstimmend offenbar Drath, S. 386 zu Note 4). Für die Entscheidung der vorliegenden Verfassungsbeschwerde kann diese Frage indes offen bleiben, da die Verfassungsbeschwerde selbst dann als unzulässig zu verwerfen wäre, wenn Entscheidungen von West-Berliner Gerichten im Rahmen der §§ 90 ff. BVerfGG der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht unterliegen sollten. Das Bundesverfassungsgericht hat in der Sache 1 BvR 18/51 entschieden, daß die Verfassungsbeschwerde gegen rechtskräftige Entscheidungen eines Gerichts nur zulässig ist, wenn diese nach dem 16. April 1951 wirksam geworden sind. Überdies hat der Beschwerdeführer auch nicht behauptet, durch die Entscheidungen der Berliner Gerichte in einem der in § 90 BVerfGG aufgeführten Rechte verletzt zu sein. Die Verfassungsbeschwerde war daher aus diesen Gründen nach § 24 BVerfGG als unzulässig zu verwerfen.