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BVerfGE 20, 323; DB 1967, 74; JZ 1967, 171; MDR 1967, 187; NJW 1967, 195; Rpfleger 1967, 139

Daten

Fall: 
nulla poena sine culpa
Fundstellen: 
BVerfGE 20, 323; DB 1967, 74; JZ 1967, 171; MDR 1967, 187; NJW 1967, 195; Rpfleger 1967, 139
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
25.10.1966
Aktenzeichen: 
2 BvR 506/63
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • OLG Celle, 09.09.1963 - 3 W 79/63

Rechtsnormen

Seitennummerierung nach:

BVerfGE 20, 323

Seiten:


BVerfGE 20, 323 (323):
Der Grundsatz "nulla poena sine culpa" hat den Rang eines Verfassungsrechtssatzes.

  Beschluß

des Zweiten Senats vom 25. Oktober 1966

-- 2 BvR 506/63 --

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde der Firma B. ... GmbH, vertreten durch ihren Geschäftsführer Reinhard M. ..., - Bevollmächtigter Rechtsanwalt ... - gegen den Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 9. September 1963 - 3 W 79/63.

Entscheidungsformel:

Der Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 9. September 1963 - 3 W 79/63 - verletzt das Grundrecht der Beschwerdeführerin aus Artikel 2 Absatz 1 des Grundgesetzes; er wird aufgehoben.

Die Sache wird an das Oberlandesgericht Celle zurückverwiesen.

  Gründe:

  A. -- I.

1. Die Beschwerdeführerin, eine Firma des B...-Konzerns, betreibt den "B...-Lesering". Sie läßt die Werbung der Mitglieder dieses Leserings durch fremde von ihr unabhängige Werbeunternehmen, die sog. "Betreuungsfirmen", durchführen.

Eine der Betreuungsfirmen unternahm die Werbung in der Weise, daß die Werber Straßenpassanten durch Verteilen von Glückslosen veranlaßten, das Werbelokal aufzusuchen, um sie dort für den Lesering zu gewinnen.

Auf Antrag der Firma B... G... Verlagsgesellschaft mbH in Frankfurt (Gläubigerin) erließ das Landgericht Göttingen durch Beschluß vom 21. Februar 1961 eine einstweilige Verfügung, in der der Beschwerdeführerin "bei Meidung einer vom Gericht festzusetzenden Geld- oder Haftstrafe für jeden Fall der Zuwiderhandlung" untersagt wurde, "für die Mitgliedschaft in ihrem Lesering dadurch zu werben, daß Werber durch Anspre


BVerfGE 20, 323 (324):
chen oder Verteilen von Losen Straßenpassanten dazu veranlassen, ein in der Nähe gelegenes Ausstellungslokal aufzusuchen". Das Landgericht Göttingen hielt die einstweilige Verfügung im Widerspruchsverfahren aufrecht. Die Berufung der Beschwerdeführerin wurde durch Urteil des Oberlandesgerichts Celle vom 3. Januar 1962 zurückgewiesen. Die Gerichte waren der Auffassung, die von der Betreuungsfirma angewandten Werbemethoden stellten einen unlauteren Kundenfang durch "Anreißen" dar und verstießen gegen § 1 UWG.

2. Auf Antrag der Gläubigerin sind eine Reihe von Verfahren nach § 890 ZPO wegen Zuwiderhandlungen gegen die einstweilige Verfügung durchgeführt worden. In drei Fällen wurde die Beschwerdeführerin mit einer Geldstrafe belegt.

Durch Beschluß vom 14, Juni 1963 verurteilte das Landgericht Göttingen die Beschwerdeführerin wegen einer weiteren Zuwiderhandlung zu einer Geldstrafe von 15 000 DM. Auf die Beschwerde der Gläubigerin änderte das Oberlandesgericht Celle durch Beschluß vom 9. September 1963 den Beschluß des Landgerichts dahin ab, daß die Beschwerdeführerin wegen zweier Zuwiderhandlungen zu Geldstrafen von insgesamt 25 000 DM .verurteilt wurde.

In dem Beschluß führte das Oberlandesgericht folgendes aus:

"Die Behauptung der Schuldnerin, daß sie an den weiteren Verstößen ihrer Betreuungsfirma Ringverlag Helmut C... keine Schuld habe, trifft zu. Die Schuldnerin hat durch Vorlage entsprechender Schreiben nachgewiesen, daß sie den Ringverlag Helmut C... nicht nur durch Schreiben vom 12. Januar 1962 auf das erlassene Verbot hingewiesen und um Unterlassung der bisher betriebenen Glücklos- oder Anrechtschein-Straßenwerbung gebeten hat, sondern daß sie solche Aufforderung mit Schreiben vom 14. Februar 1962 dringlich wiederholt und bei Nichteinhaltung des Verbots den Abbruch der geschäftlichen Beziehungen angedroht hat. Schließlich hat sie mit Schreiben vom 25. Oktober 1962 ihren Betreuungsfirmen bekannt gemacht, daß sie die schuldige Firma (nämlich den Ringverlag Helmut C ... ) mit der dritten gegen sie festgesetzten Strafe von 10 000 DM belastet habe und daß sie auch künftig ihre Betreuungsfirmen bei weiteren Verstößen auf dem Regreßwege in


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Anspruch nehmen werde. Unter diesen Umständen kann ein Verschulden der Schuldnerin an den weiteren am 29. November und 1. Dezember 1962 vom Ringverlag Helmut C... begangenen Verstößen nicht festgestellt werden.

Gleichwohl hat das Landgericht mit Recht wegen dieser Verstöße eine weitere Strafe gegen die Schuldnerin festgesetzt. Denn nach § 13 Abs. 3 UWG ist der Unterlassungsanspruch der Gläubigerin gegen die Schuldnerin auch begründet wegen Handlungen, die von Angestellten oder Beauftragten der Schuldnerin begangen worden sind. Es ist anerkannten Rechtes, daß § 13 Abs. 3 UWG nicht nur für das Erkenntnisverfahren, sondern auch für das Zwangsvollstreckungsverfahren gilt, also für die Straffestsetzung nach § 890 ZPO. Es genügt also für die Straffestsetzung, daß nicht der Betriebsinhaber selbst, sondern Angestellte oder Beauftragte gegen das Verbot verstoßen haben. Allerdings fordert § 890 ZPO als Voraussetzung für eine Straffestsetzung ein Verschulden. Hierbei kann es sich logischerweise nur um ein Verschulden dessen handeln, auf dessen Handeln es bei dem Unterlassungsanspruch ankommt. Im allgemeinen ist das im Anwendungsbereich des § 890 ZPO der Schuldner. In den Fällen des § 13 Abs. 3 UWG sind es aber auch die Angestellten und Beauftragten des Betriebsinhabers. Und wenn der Betriebsinhaber für das Erkenntnisverfahren für deren Handlungen einstehen muß, es also nicht darauf ankommt, ob er selbst gehandelt hat oder ob sie gehandelt haben, so muß das gleiche auch für die Zwangsvollstreckung gelten, so daß es auch hier hinsichtlich des erforderlichen Verschuldens nicht darauf ankommt, ob das Verschulden den Betriebsinhaber selber oder seine Angestellten oder Beauftragten trifft. Denn er hat hinsichtlich des Anspruchs des Gläubigers auf Unterlassung für sie einzustehen. Wollte man für die Zwangsvollstreckung ein eigenes Verschulden des Betriebsinhabers fordern, so würde durch solche Auslegung des Gesetzes dem Gläubiger durch Versagen der Vollstreckung bei Verschulden nur der Angestellten oder Beauftragten wieder genommen werden, was ihm im Erkenntnisverfahren nach dem Gesetz zugesprochen ist, nämlich ein Einstehen des Betriebsinhabers dafür, daß auch seine Angestellten und Beauftragten unterlassen, was der Titel verbietet."

II.

Gegen diesen Beschluß des Oberlandesgerichts Celle vom 9. September 1963 wendet sich die Beschwerdeführerin mit der Verfassungsbeschwerde. Sie rügt Verletzung des Art. 103 Abs. 2


BVerfGE 20, 323 (326):
GG in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und führt hierzu aus:

Die Strafe des § 890 ZPO sei eine kriminelle Strafe, wenn auch ein vollstreckungsrechtlicher Einschlag vorhanden sein möge. Nach Art. 103 Abs. 2 GG müsse die Strafbarkeit einer Tat gesetzlich bestimmt sein. In dem Gesetz, nach dem bestraft werde, müßten also normiert sein: Der objektive Tatbestand und die Strafbarkeit (die subjektiven Elemente). Hieraus folge, daß jede Bestrafung Schuld des Täters voraussetze. An dieser Voraussetzung fehle es hier. Der angefochtene Beschluß beruhe daher auf der Verletzung eines Grundrechts.

III.

Der Niedersächsische Minister der Justiz hat von einer Äußerung abgesehen. Dagegen haben die Gläubigerin und der Bundesminister der Justiz zu der Verfassungsbeschwerde Stellung genommen.

1. Die Gläubigerin trägt vor:

a) Die Verfassungsbeschwerde sei mangels Erschöpfung des Rechtswegs unzulässig. Das einstweilige Verfügungsverfahren nach §§ 935 ff. ZPO sei nur ein vorläufiges Verfahren. Gemäß §§ 936, 926 ZPO könne der Schuldner den Gläubiger zwingen, in das ordentliche Verfahren überzugehen und eine Beseitigung der im einstweiligen Verfügungsverfahren ergangenen Entscheidung herbeizuführen. Dies könnte dazu führen, daß die Straffestsetzungsbeschlüsse des Landgerichts Göttingen und des Oberlandesgerichts Celle, die sich auf die einstweilige Verfügung stützen, nachträglich wegfielen.

b) Die Verfassungsbeschwerde sei aber auch unbegründet.

Das Oberlandesgericht Celle stelle zwar fest, daß die Beschwerdeführerin keine eigene Schuld treffe. In Wirklichkeit habe die Beschwerdeführerin aber ihrer Überwachungspflicht nicht genügt. Schon aus diesem Grunde müsse die angefochtene Entscheidung aufrechterhalten bleiben.


BVerfGE 20, 323 (327):
Im übrigen sei die Ansicht des Oberlandesgerichts Celle in der Sache selbst zutreffend. § 890 ZPO habe in der Hauptsache zwangsvollstreckungsrechtlichen Charakter. Wenn aber die Zwangsvollstreckung die entscheidende Aufgabe der Straffestsetzung nach § 890 sei und strafrechtliche Grundsätze nur insoweit Anwendung finden dürften, als sie diese Aufgabe nicht in Frage stellten, dann könne der Grundsatz "nulla poena sine culpa" hier nicht angewendet werden. Denn wenn der Gesetzgeber dem Gläubiger die

2. Der Bundesminister der Justiz führt aus: Die angefochtene Entscheidung sei nur dann bedenklich, wenn wegen der beiden Zuwiderhandlungen gegen die einstweilige Verfügung des Landgerichts Göttingen nicht Geldstrafen, sondern Haftstrafen verhängt worden wären. Gegen die Verhängung der Geldstrafen bestünden indes keine Bedenken.

a) Der Grundsatz, daß die Bestrafung eine Schuld voraussetze, lasse sich auf den außerstrafrechtlichen Bereich nicht unmittelbar übertragen. Nicht jeder Nachteil, der angedroht werde, stelle eine "Strafe" dar. Der Begriff der "Strafe" sei auch nicht so bestimmt, daß - außerhalb des eigentlichen Strafrechts - schon mit der gesetzlichen Bezeichnung einer Maßnahme als "Strafe" ihr krimineller Charakter feststünde. Die Ordnungsstrafe, die Beugestrafe oder die Vertragsstrafe stellten beispielsweise keine


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echten Strafen dar, wenn sie auch in einzelnen Beziehungen strafrechtlichen Charakter haben könnten. Es bedürfe jeweils einer Prüfung im Einzelfall, ob und inwieweit eine gesetzlich vorgesehene Maßnahme die wesentlichen Elemente einer Kriminalstrafe aufweise, ehe die für diese geltenden verfassungsrechtlichen Grundsätze angewandt werden könnten.

b) Die "Strafe" nach § 890 ZPO habe Doppelcharakter. Sie stelle einerseits die staatliche Reaktion auf eine Zuwiderhandlung gegen ein gerichtliches Gebot dar. Die repressive Ahndung einer bereits begangenen Zuwiderhandlung und die Art des angedrohten Übels stimmten mit dem Charakter einer echten Strafe überein.

Die Maßnahme sei andererseits jedoch ein zwangsvollstreckungsrechtliches Mittel, durch das einer gerichtlich anerkannten zivilrechtlichen Verpflichtung für die Zukunft Beachtung verschafft werden solle. In diesem Zweck liege ein Unterschied gegenüber den allgemeinen Funktionen einer Kriminalstrafe, selbst wenn deren spezialpräventive Funktion in Betracht gezogen werde. Während diese auf den Delinquenten allgemein abschreckend wirken solle, wolle die Maßnahme nach § 890 ZPO die Einhaltung einer ganz bestimmten zivilrechtlichen Einzelverpflichtung gewährleisten. Daß es auf die Erzwingung einer speziellen Unterlassungs- oder Duldungspflicht mit Wirkung für die Zukunft ankomme, ergebe sich aus § 890 Abs. 3 ZPO, wonach der Schuldner zur Bestellung einer Sicherheit für den durch fernere Zuwiderhandlung entstehenden Schaden verurteilt werden könne.

§ 890 ZPO selbst verlange nach seinem Wortlaut nicht unmittelbar, daß einer Unterlassungs- oder Duldungspflicht schuldhaft zuwidergehandelt worden sei. Er stelle vielmehr eine Blankettvorschrift dar, die im Zusammenhang mit der jeweiligen Norm, aus der die zu beachtende Verpflichtung hergeleitet werde, zu betrachten sei.

c) Insbesondere § 13 Abs. 3 UWG begründe - auch im Hinblick auf das Zwangsvollstreckungsverfahren - eine Haftung des


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Betriebsinhabers für die Handlungen seiner Angestellten und Beauftragten. Mit dieser in dem ersten Wettbewerbsgesetz vom 27. Mai 1896 noch nicht enthaltenen Bestimmung habe im Interesse einer wirksamen Bekämpfung des unlauteren Wettbewerbs eine Lücke geschlossen werden sollen, die darin bestanden habe, daß eine Haftung des Geschäftsherrn für seine Angestellten nur über § 831 BGB in Betracht gekommen sei. Der schmale Bereich zwischen der Nichtanwendbarkeit des 278 BGB und der Möglichkeit des Entlastungsbeweises nach 831 BGB sei in früheren Zeiten der Boden für den unlauteren Wettbewerb gewesen. Der Gesetzgeber sei deshalb zu der Auffassung gelangt, "man müsse unter allen Umständen verhindern, daß der Prinzipal sich hinter seine Angestellten verkrieche".

  B.

Die Verfassungsbeschwerde ist zulässig.

1. Der Rechtsweg ist erschöpft; der Beschwerdeführerin steht ein Rechtsmittel gegen die angefochtene Entscheidung des Oberlandesgerichts Celle nicht mehr zur Verfügung (§ 567 Abs. 3 Satz 1 ZPO). Daß die Beschwerdeführerin gegebenenfalls in einem weitem Verfahren die Aufhebung der der Bestrafung zugrunde liegenden einstweiligen Verfügung betreiben kann, ist unerheblich, da sich die Verfassungsbeschwerde nicht gegen das die einstweilige Verfügung bestätigende Urteil des Oberlandesgerichts Celle richtet.

2. Die Beschwerdeführerin rügt ausdrücklich nur Verletzung des Art. 103 Abs. 2 GG und des Art. 1 Abs. 1 GG. Aus ihrem Vorbringen ist jedoch zu entnehmen, daß sie auch rügen will, die angegriffene Entscheidung verletze sie in dem Grundrecht auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit im wirtschaftlichen Bereich, indem sie unter Verstoß von rechtsstaatlichen Prinzipien bestraft worden sei, obwohl sie an dem festgestellten Wettbewerbsverstoß keine Schuld treffe. Das Grundrecht der Beschwerdeführerin auf freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit kann nach dem vorgetragenen Sachverhalt durch die angegriffene Entscheidung verletzt


BVerfGE 20, 323 (330):
sein. Die Verfassungsbeschwerde ist damit zulässig, ohne daß es darauf ankäme, ob eine Verletzung der von der Beschwerdeführerin ausdrücklich bezeichneten Verfassungsnormen in Betracht kommen kann (vgl. BVerfGE 3, 58 [73]).

  C.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet.

I.

Das Oberlandesgericht Celle hat ausdrücklich und eindeutig festgestellt, daß die Beschwerdeführerin in den, hier in Frage kommenden Fällen alles getan habe, was von ihr zur Behandlung von Zuwiderhandlungen verlangt werden mußte, und daß sie keine Schuld treffe an den von ihrer "Betreuungsfirma" begangenen Verstößen gegen die einstweilige Verfügung. Ob diese Feststellung richtig ist oder ob der Beschwerdeführerin nicht doch - wie die Gläubigerin meint - ein Verschulden vorgeworfen werden muß, hat das Bundesverfassungsgericht nicht zu entscheiden; es kann sich in der Würdigung des Sachverhalts nicht an die Stelle des Instanzgerichts setzen, sondern muß die tatsächlichen Feststellungen der angefochtenen Entscheidung zugrundelegen. Die Verfassungsbeschwerde ist nicht etwa schon deshalb unbegründet, weil die Verurteilung der Beschwerdeführerin auch dann gerechtfertigt wäre, wenn die Auffassung des Oberlandesgerichts über die Zulässigkeit einer Bestrafung ohne Verschulden nicht richtig sein sollte.

II.

Das Oberlandesgericht Celle gründet seine Auffassung über die Zulässigkeit der Bestrafung ohne Verschulden auf eine bestimmte Auslegung des § 890 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 13 Abs. 3 UWG.

Es ist anerkannt und das Bundesverfassungsgericht hat häufig betont, daß die Auslegung und Anwendung einfacher Gesetze grundsätzlich Sache der Instanzgerichte ist; sie bleibt der


BVerfGE 20, 323 (331):
Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen. "Eine Ausnahme von dieser Regel muß jedoch dann gelten, wenn, die fehlerhafte Anwendung des einfachen Gesetzes auf einer Grundrechtsverletzung beruht" (BVerfGE 4, 52 [58]). Dies ist hier der Fall.

Dem Grundsatz, daß jede Strafe - nicht nur die Strafe für kriminelles Unrecht, sondern auch die strafähnliche Sanktion für sonstiges Unrecht - Schuld voraussetze, kommt verfassungsrechtlicher Rang zu. Er ist im Rechtsstaatsprinzip begründet.

Das Rechtsstaatsprinzip ist eines der elementaren Prinzipien des Grundgesetzes (BVerfGE 1, 14 ff., Leitsatz 28). Zur Rechtsstaatlichkeit gehört nicht nur die Rechtssicherheit, sondern auch die materielle Gerechtigkeit (BVerfGE 7, 89 [92]; 7,194 [196]). Die Idee der Gerechtigkeit fordert, daß Tatbestand und Rechtsfolge in einem sachgerechten Verhältnis zueinander stehen. Die Strafe, auch die bloße Ordnungsstrafe ist im Gegensatz zur reinen Präventionsmaßnahme dadurch gekennzeichnet, daß sie - wenn nicht ausschließlich, so doch auch - auf Repression und Vergeltung für ein rechtlich verbotenes Verhalten abzielt. Mit der Strafe, auch mit der Ordnungsstrafe, wird dem Täter ein Rechtsverstoß, vorgehalten und zum Vorwurf gemacht. Ein solcher strafrechtlicher Vorwurf aber setzt Vorwerfbarkeit, also strafrechtliche Schuld voraus. Andernfalls wäre die Strafe eine mit dem Rechtsstaatsprinzip unvereinbare Vergeltung für einen Vorgang, den der Betroffene nicht zu verantworten hat. Die strafrechtliche oder strafrechtsähnliche Ahndung einer Tat ohne Schuld des Täters ist demnach rechtsstaatswidrig und verletzt den Betroffenen in seinem Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 6, 389 [439]; 7, 305 [319]; 9, 167 [169]; BayVerfGHE 3, 109 [114]; Dürig in Maunz-Dürig, GG Art. 1 Rdnr. 32; Nipperdey in: Die Grundrechte, Bd. II, 1954, S. 32; Wintrich, Zur Problematik der Grundrechte, 1957, S. 18; Schlosser, JZ, 1958, 526 [529]).


BVerfGE 20, 323 (332):
III.

Der angefochtene Beschluß verletzt dieses Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG.

1. Die Vorschrift des § 890 Abs. 1 ZPO enthält, obwohl sie sich im Abschnitt Zwangsvollstreckung der Zivilprozeßordnung findet, strafrechtliche Elemente. Sie wirken sich vor allem im subjektiven Tatbestand aus. Die Bestrafung setzt eine Schuld des Betroffenen voraus.

a) Schon der Wortlaut der Vorschrift läßt erkennen, daß die nach § 890 Abs. 1 ZPO verhängte Strafe ihrer rechtlichen Natur nach nicht lediglich ein Zwangsmittel, sondern gleichzeitig eine Sühne für eine begangene Zuwiderhandlung ist. Sie ist nicht eine Folge der auf Betreiben des Gläubigers erfolgenden Vollziehung der einstweiligen Verfügung, sondern die Folge eines von dem Schuldner zu verantwortenden Unrechts. Dem steht nicht entgegen, daß die Strafe gleichzeitig den Zweck der Willensbeugung verfolgt; denn dies ist mindestens zum Teil auch bei öffentlichen Strafen der Fall. Ebensowenig spricht gegen den strafrechtlichen Charakter einer Verurteilung nach § 890 Abs. 1 ZPO, daß sie einen Antrag des Gläubigers voraussetzt; denn auch das Strafrecht kennt Antragsdelikte. Die Strafsanktion aus § 890 Abs. 1 ZPO kann nicht mit der sog. "Vertragsstrafe" in Beziehung gesetzt werden. Die Vertragsstrafe soll nicht nur durch Abschreckung des Schuldners den Bedürfnissen des Gläubigers nach Sicherstellung gegen künftige Zuwiderhandlungen dienen, sondern diesem auch eine Schadloshaltung in erleichterter Form bieten; sie setzt den Eintritt eines Vermögensschadens nicht voraus und enthebt den Gläubiger des Nachweises eines Verschuldens des Schuldners (vgl. BGHZ 33, 163 [166]).

Besteht aber das Wesen der Bestrafung nach § 890 Abs. 1 ZPO darin, daß begangenes Unrecht geahndet wird, so gelten hierfür ungeachtet des zwangsvollstreckungsrechtlichen Einschlags strafrechtliche Grundsätze. Strafe setzt aber Schuld voraus. Dieser Grundsatz ist im modernen Strafrecht so selbstverständlich, daß der Bundesgerichtshof in seinem Plenarbeschluß zur Frage des


BVerfGE 20, 323 (333):
Verbotsirrtums von ihm als von einem "unantastbaren Grundsatz allen Strafens" spricht (BGHSt 2, 194 [202]). Dies gilt nicht nur Tür die Kriminalstrafen, sondern auch für strafähnliche Sanktionen. Das Bundesverfassungsgericht hat den Grundsatz ausdrücklich auch auf Ordnungswidrigkeiten angewandt (BVerfGE 9, 167 [169]). Der Satz "nulla poena sine culpa" ist demgemäß gleichfalls im Bereich des § 890 Abs. 1 ZPO maßgebend.

Die Auffassung, daß zwar die Verhängung einer Haftstrafe ohne Schuld nicht zulässig sei, dagegen die Auferlegung einer Geldstrafe u. U. auch ohne Schuld denkbar sein könne, ist nicht gerechtfertigt Auch die Geldstrafe wird dem Schuldner nach dem geltenden Recht als Sühne für begangenes Unrecht auferlegt. Der Charakter der Strafe kann sich nicht dadurch ändern, daß das Gericht statt der Haft eine Geldstrafe verhängt. Dabei kann nicht außer Betracht bleiben, daß in aller Regel die Strafandrohung in der einstweiligen Verfügung beide Strafarten vorsieht.

b) Die herrschende Meinung in Rechtsprechung und Literatur erkennt an, daß § 890 Abs. 1 ZPO ungeachtet seiner zwangsvollstreckungsrechtlichen Zweckbestimmung strafrechtliche Elemente enthält, und daß eine Bestrafung eine Schuld des Schuldners voraussetzt

Bei der Beratung der zwangsvollstreckungsrechtlichen Vorschrift in der Kommission des Reichstages wurde zwar betont, die darin vorgesehene Strafe sei keine echte Strafe, sondern ein Zwangsmittel (vgl. Hahn, Materialien zur ZPO, S. 860 ff.). Das Reichsgericht hat die gesetzliche Bestimmung aber schon frühzeitig dahin ausgelegt, die Straffestsetzung zur Erzwingung von Unterlassungen sei keine einfache zivilprozessuale Vollstreckungsmaßnahme, sondern "die Verurteilung zu einer wirklichen Strafe als einer Sühne für begangenes Unrecht", und es erscheine jedenfalls geboten, "die Regel anzuwenden, daß von einer Strafe da nicht die Rede sein kann, wo ein rechtsverletzender Vorgang niemandem zur subjektiven Verschuldung angerechnet werden


BVerfGE 20, 323 (334):
kann" (RGZ 36, 417 [418]). Das Reichsgericht hat diese Auffassung aufrechterhalten (RGZ 43, 396; 77, 217 [222]; 115, 84). Die Oberlandesgerichte sind der Rechtsprechung des Reichsgerichts im wesentlichen gefolgt und haben den strafrechtlichen Gehalt der Strafe nach § 890 Abs. 1 ZPO anerkannt (vgl. z. B. OLG 17, 343; 20, 370; 40, 415; JW 31, 3569; NJW 50, 113; NJW 55, 506; NJW 65, 1868). In der zivilprozeßrechtlichen Literatur wird einhellig der Standpunkt vertreten, daß die Strafe aus § 890 Abs. 1 ZPO eine öffentliche Strafe - unterschiedlich als "Ungehorsams- (Verwaltungs-) Strafe", "Rechtsstrafe", "Ordnungsstrafe" bezeichnet - ist und eine Schuld des Täters voraussetzt (vgl. z. B. Schönke-Baur, Zwangsvollstreckungs-, Konkurs- und Vergleichsrecht, 7. Aufl., § 35 III 4; Seuffert-Walsmann, Kommentar zur ZPO, 12. Aufl., Anm. 2 b zu § 890; Stein-Jonas-Schönke, Kommentar zur ZPO, 18. Aufl., Anm. I zu § 890; Wieczorek, ZPO, 1958, Anm. D zu § 890).

2. Daß bei einer Bestrafung aus § 890 Abs. 1 ZPO die Schuld des zu der Unterlassung oder Duldung Verpflichteten maßgebend ist, wird allgemein anerkannt. Streitig ist hingegen, ob der Verpflichtete im Bereich des unlauteren Wettbewerbs nicht für eine fremde Schuld auch im Rahmen der vollstreckungsrechtlichen Vorschrift einstehen muß. Die Frage ist zu verneinen.

a) § 13 UWG bestimmt, daß der Unterlassungsanspruch auch gegen den Inhaber des Betriebs begründet ist, wenn in einem geschäftlichen Betrieb gewisse nach dem Gesetz gegen den unlauteren Wettbewerb unzulässige Handlungen von einem Angestellten oder Beauftragten vorgenommen worden sind. Hieraus wird von einem Teil der Rechtsprechung und Literatur die Folgerung gezogen, daß auch für die Straffestsetzung im Zwangsvollstreckungsverfahren ein Verschulden des Angestellten oder Beauftragten, der die wettbewerbswidrige Handlung vorgenommen hat, genüge (vgl. z. B. OLG München, OLG 29, 253 [254]; OLG Celle, NJW 1959,1691 mit zustimmender Anmerkung von Rötelmann; LG Hamburg, GRUR 1962, 530; Baumbach-Hefermehl, Wettbewerbs- und Warenzeichenrecht, 9. Aufl., Einl. 346


BVerfGE 20, 323 (335):
UWG II; Rosenberg, Lehrbuch des deutschen Zivilprozeßrechts, 8. Aufl., § 209 II 2).

Dieser Standpunkt ist indes nicht gerechtfertigt. Die Anwendung des § 13 Abs. 3 UWG, einer materiell-rechtlichen Norm, im Bereich des § 890 Abs. 1 ZPO führt zu einem Ergebnis, das mit dem Verfassungsgrundsatz "nulla poena sine culpa" nicht vereinbar ist. Er hat zur Folge, daß jemand ohne eigene Schuld bestraft werden könnte.

b) Die dargelegten Grundsätze gelten auch für juristische Personen.

Die juristische Person ist rechtsfähig. Sie nimmt gleichwertig mit den natürlichen Personen am Rechtsleben teil. Sie kann Schuldnerin einer Unterlassungs- oder Duldungspflicht sein und zur Erfüllung in Anspruch genommen werden. Ein Unterlassungs- oder Duldungstitel wird gegen juristische Personen gleichfalls nach § 890 ZPO vollstreckt. Auch eine juristische Person ist also "wegen einer jeden Zuwiderhandlung" zu einer Geld- oder Haftstrafe zu verurteilen.

Die Bestrafung juristischer Personen ist dem geltenden deutschen Rechtssystem nicht fremd. So können z. B. nach § 5 des Wirtschaftsstrafgesetzes 1954 (BGBl. I S. 175) und nach § 41 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen vom 27. Juli 1957 - Kartellgesetz - (BGBl. I S. 1081) bei Verstößen gegen die gesetzlichen Bestimmungen auch gegen juristische Personen Geldbußen festgesetzt werden; in beiden Fällen ist ein schuldhaftes Verhalten eines zur Vertretung Berechtigten Voraussetzung für die Bestrafung. Die Anwendung strafrechtlicher Grundsätze ist also nicht grundsätzlich ausgeschlossen, wenn das Rechtssubjekt eine juristische Person ist (vgl. Schönke-Schröder, StGB, 12. Aufl., Vorbem. zu § 47 Anm. 53 mit weiteren Nachweisen).

Die Praxis der Gerichte trägt diesem Grundsatz dadurch Rechnung, daß in aller Regel in Unterlassungstiteln gegen juristische Personen nicht nur Geld- sondern auch Haftstrafen angedroht werden (so überwiegend auch das Schrifttum; vgl. z. B. Baum


BVerfGE 20, 323 (336):
bach-Lauterbach, ZPO, 1965, Anm. 3 D zu § 890; Wieczorek a.a.O. Anm. B IV a 3 zu § 890).

Die juristische Person ist als solche nicht handlungsfähig. Wird sie für schuldhaftes Handeln im strafrechtlichen Sinne in Anspruch genommen, so kann nur die Schuld der für sie verantwortlich handelnden Personen maßgebend sein. Die Frage, ob der Kreis dieser Personen auf ihre Organe beschränkt ist oder darüber hinaus auf weitere Personen innerhalb der Organisation der juristischen Person - etwa Prokuristen, Handlungsbevollmächtigte, leitende Angestellte - erstreckt werden kann, braucht hier nicht entschieden zu werden. Jedenfalls ist die sog. "Betreuungsfirma" ein selbständiger Vertragspartner. Ihre Handlungen sind nicht die Handlungen der juristischen Person; ihre schuldhaften Handlungen können im strafrechtlichen Bereich nicht ihrer Auftraggeberin zugerechnet werden. Eine Verurteilung der Beschwerdeführerin nach § 890 Abs. 1 ZPO wegen des schuldhaften Verhaltens einer "Betreuungsfirma" bedeutet daher die Bestrafung ohne eigene Schuld.

IV.

Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts steht das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG auch juristischen Personen zu (BVerfGE 10, 89 [99]). Die Beschwerdeführerin beruft sich daher mit Recht darauf, daß die Bestrafung ohne Schuld in dem angefochtenen Beschluß ein ihr zustehendes Grundrecht verletzt.