BGH, 20.03.1990 - 1 StR 693/89
Wenn ein Zeuge in der Hauptverhandlung von seinem Zeugnisverweigerungsrecht als Angehöriger des Angeklagten Gebrauch macht, nachdem er in einem vorausgegangenen Sorgerechtsverfahren dem vom Vormundschaftsrichter mit der Überprüfung seiner Glaubwürdigkeit beauftragten Sachverständigen Angaben zum Tatgeschehen gemacht hatte, darf der Sachverständige nicht über den Inhalt der ihm gegenüber gemachten Aussage als Zeuge vernommen werden.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten wegen sexuellen Mißbrauchs eines Kindes in zwei Fällen, jeweils in Tateinheit mit sexuellem Mißbrauch einer Schutzbefohlenen, zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von einem Jahr bei Strafaussetzung zur Bewährung verurteilt.
Die Revision des Angeklagten führt mit einer Verfahrensrüge zur Aufhebung des Urteils. Die Beanstandung, der Sachverständige hätte nicht als Zeuge darüber vernommen werden dürfen, was ihm die Stieftocher des Angeklagten über den Tathergang berichtet hat, ist begründet.
1. Entgegen der ursprünglich geäußerten Ansicht des Generalbundesanwalts ist die Rüge der Verletzung des § 252 StPO in zulässiger Form erhoben worden. Richtig ist insoweit, daß sich aus der Revisionsbegründungsschrift nicht entnehmen läßt, auf wessen Veranlassung und in welchem Verfahren der Sachverständige die Stieftochter des Angeklagten befragt hat. Jedoch legt das angefochtene Urteil dazu dar, daß diese Befragung aufgrund einer Entscheidung des zuständigen Vormundschaftsrichters in einem Sorgerechtsverfahren erfolgte. Da der Senat diese Ausführungen aufgrund der erhobenen Sachrüge zur Kenntnis genommen hat, ist der mangelhafte Vortrag der Revision unschädlich (vgl. BGH bei Dallinger MDR 1956, 272; BGH StV 1981, 164; 1982, 55); einer ausdrücklichen Verweisung auf die Urteilsgründe bedurfte es nicht (anders BGH NJW 1982, 2738, wo aber eine Verweisung vorlag).
2. Die Stieftochter des Angeklagten hat in der Hauptverhandlung nach entsprechender Belehrung gemäß § 52 Abs. 1 Nr. 3 StPO die Aussage verweigert. Für diesen Fall ist in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs anerkannt, daß frühere Aussagen, die im anhängigen Strafverfahren gemacht worden sind, grundsätzlich einem Verwertungsverbot unterliegen. Eine Ausnahme gilt nur dann, wenn der verweigerungsberechtigte Zeuge vor der Hauptverhandlung nach vorschriftsmäßiger Belehrung von einem Richter vernommen worden ist; in diesem Fall kann der Richter als Zeuge über die Aussage vernommen werden (BGHSt 2, 99 [106]; 11, 338 [339]; 13, 394 [395]; 17, 324 [326]; 27, 231 [232]). Der Grund für die unterschiedliche Behandlung von richterlichen und nichtrichterlichen Vernehmungen wird nach der neueren Rechtsprechung im wesentlichen darin gesehen, daß schon das Gesetz - wie aus § 251 Abs. 1, 2 StPO zu entnehmen - richterlichen Vernehmungen ganz allgemein höheres Vertrauen entgegenbringt, ein Grund, der auch nach Einführung der Belehrungspflicht für Polizeibeamte und den Staatsanwalt durch § 161a Abs. 1, § 163a Abs. 5 StPO nicht weggefallen ist (BGHSt 21, 218 [219]).
Daraus folgt, daß der Sachverständige, der im anhängigen Strafverfahren tätig geworden ist, über von ihm erfragte Angaben zum Tatgeschehen und damit - nach dem ihm hier erteilten Auftrag - über Zusatztatsachen weder als Sachverständiger noch als Zeuge vernommen werden darf, wenn der Zeuge in der Hauptverhandlung gemäß § 52 StPO die Aussage verweigert (BGHSt 13, 1 ff.; 18, 107 [109]), ohne daß es darauf ankäme, ob der Zeuge vor seiner Anhörung durch den Sachverständigen richterlich über sein Aussageverweigerungsrecht belehrt worden war (vgl. BGHSt 11, 97 [99]; 13, 1 [4]).
3. Von dieser Rechtsauffassung geht auch das Landgericht aus. Es meint jedoch, hier dürfe der Sachverständige als Zeuge gehört werden, weil er die Zeugin in einem anderen, nämlich einem vormundschaftsgerichtlichen Verfahren exploriert hat. Die Begutachtung der Zeugin war durch einen Beschluß des Amtsgerichts - Vormundschaftsgericht - angeordnet worden; durch sie sollte eine Entscheidung über das Sorgerecht an der Geschädigten vorbereitet werden, nachdem die Beschuldigungen, die Gegenstand auch des vorliegenden Verfahrens sind, zunächst zur Kenntnis des Jugendamts und des Vormundschaftsgerichts gelangt waren.
Dem Landgericht kann nicht darin zugestimmt werden, in einem solchen Falle stehe § 252 StPO einer Verwertung der bei dieser Begutachtung gemachten Angaben der Zeugin nicht entgegen.
Der Zeuge, der im Zivilrechtsstreit oder in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit Aussagen zu machen hat, die geeignet sind, einen Angehörigen zu belasten, befindet sich in einer Lage, die derjenigen des Zeugen im strafrechtlichen Ermittlungsverfahren vergleichbar ist. Das Gesetz billigt deshalb auch in jenen Verfahren dem Zeugen das Recht zu, die Aussage zu verweigern, und schreibt vor, daß er darüber belehrt wird (§ 383 Abs. 1, 2, § 384 ZPO; § 15 Abs. 1 Satz 1 FGG i.V.m. § 383 Abs. 1, 2, § 384 ZPO).
Macht der in solcher Weise anderweit vernommene Zeuge später in einem Strafverfahren von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch, so gebieten es der gemeinsame Grundgedanke und die gleichartigen Regelungen in § 52 StPO und § 383 Abs. 1 Nr. 1 bis 3, § 384 ZPO, die Vorschrift des § 252 StPO entsprechend anzuwenden. Das bedeutet, daß auch die früheren Aussagen im Zivilprozeß oder im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit einem Verwertungsverbot unterliegen, es sei denn, der Richter wird dazu vernommen (vgl. BGHSt 17, 324 [327]; BGH GA 1970, 153, 154).
Demgegenüber hatte das Reichsgericht zwar die Ansicht vertreten, es gebe keinen Grund, das Verbot des § 252 StPO auf Urkunden zu erstrecken, "die nicht eigentliche, im Verlaufe des anhängigen Strafverfahrens über eine verantwortliche Abhörung entstandene Vernehmungsprotokolle darstellen" (RGSt 35, 247 [252]). Der Bundesgerichtshof hat jedoch von jeher in § 252 StPO in Verbindung mit § 52 StPO nicht nur eine Einschränkung des Urkundenbeweises durch Ausschluß der Protokollverlesung, sondern ein Verwertungsverbot gesehen und daraus die Konsequenz gezogen, daß dieses Verbot grundsätzlich in allen Fällen gelten müsse, in denen der Zeuge seine Angaben nicht aus freien Stücken gemacht hat (BGHSt 17, 324 [327]; BGH GA 1970, 153, 154; BGH bei Miebach NStZ 1989, 15 mit Anmerkung Joachim NStZ 1990, 95).
Nun war die Stieftochter des Angeklagten im damaligen Sorgerechtsverfahren freilich nicht Zeugin, sondern Verfahrensbeteiligte; das ergibt sich schon daraus, daß sie nach § 50 b FGG in diesem Verfahren anzuhören war, sofern das Gericht eine Anhörung für geboten erachtete (vgl. Keidel/Amelung, FGG 12. Aufl. § 15 Rn. 18). Auch für diesen Fall muß jedoch das Verwertungsverbot des § 252 StPO gelten. Wird ein Kind in einem Sorgerechtsverfahren zu sexuellen Übergriffen seines Stiefvaters gehört, ist seine Interessenlage in den wesentlichen Punkten nicht anders als bei einer Vernehmung als Zeuge im Strafverfahren. In beiden Fällen kann ein Widerstreit bestehen zwischen dem Wunsch, aus verwandtschaftlicher Zuneigung mit Beschuldigungen zurückzuhalten, und dem Bestreben, Angaben zu machen und so eine häufig als unerträglich empfundene Situation zu beenden. Der Erfahrungstatsache, daß der Zeuge in dieser Lage häufig in seinen Entschlüssen schwankend ist, trägt § 252 StPO dadurch Rechnung, daß eine Festlegung auf früher gemachte Aussagen grundsätzlich ausgeschlossen ist; nach dem Grundgedanken der Regelung kann es dabei auf die formale Stellung bei der Anhörung - Zeuge oder Verfahrensbeteiligter nicht ankommen, so daß auch Aussagen, die ein Verfahrensbeteiligter in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit früher gemacht hat, in einem späteren Strafverfahren einem Verwertungsverbot unterliegen können.
Keiner Entscheidung bedarf die Frage, ob in solchen Fällen der Richter, der das Kind angehört hat, als Zeuge vernommen werden darf, weil hier der Vormundschaftsrichter nach den Urteilsgründen nur über Anlaß und Ablauf des vormundschaftsgerichtlichen Verfahrens gehört worden ist, offensichtlich also das Kind nicht zur Sache selbst angehört hat; soweit der Senat diese Frage in seinem Urteil vom 22. Dezember 1953 - 1 StR 16/53 - bejaht hat, lag dieser Entscheidung noch ein grundsätzlich anderes Verständnis des § 252 StPO zugrunde. Bedenken gegen eine Vernehmung des Richters könnten sich daraus ergeben, daß eine § 52 Abs. 3 StPO entsprechende Belehrung für Verfahrensbeteiligte im Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit nicht vorgesehen ist; andererseits ist kein Verfahrensbeteiligter verpflichtet, Angaben zu machen (Keidel/Amelung a.a.O. § 12 Rn. 178). Soweit der Bundesgerichtshof die Verwertung der Einlassung eines frühen Mitbeschuldigten im Verfahren gegen einen Angehörigen auch bei Vernehmung des Richters als unzulässig angesehen hat (BGH GA 1979, 144; vgl. BGHSt 20, 384 [385]), liegt dieser Fall jedenfalls anders, weil als der wesentliche Grund für das Verwertungsverbot angesehen wurde, daß für den Beschuldigten keine gesetzliche Verpflichtung besteht, die Wahrheit zu sagen.
Nach alledem wäre eine Verwertung der Aussage der Stieftochter des Angeklagten nur in Frage gekommen, wenn sie ihre Angaben aus freien Stücken gemacht hätte. Diese Ausnahmesituation lag hier aber nicht vor, weil das Kind in einem Verfahren der freiwilligen Gerichtsbarkeit angehört worden war und es sich daher in einer vernehmungsähnlichen Situation befand. Das Landgericht durfte diese Aussage im Rahmen der Beweiswürdigung daher nicht zum Nachteil des Angeklagten verwerten, wie es geschehen ist. Damit liegt eine Verletzung des § 252 StPO vor, die zur Aufhebung des Urteils zwingt.