Ändert das, was euch kaputt macht!
Die Außerparlamentarische Opposition (APO), die sich seit 1960 in der Bundesrepublik entwickelte (68er) und nicht nur in Europa ausbreitete, spielt in der politischen Gegenwart keine Rolle, denn sie hat ihre Ziele innerhalb der Parlamente erreicht. Diese Parlamente sind es, die heute neue Ideen, die außerhalb der etablierten politischen Szene entstehen, in ähnlicher Weise wie ihre Vorgänger ignorieren. Damals ging es um die Grünen, heute um die radikaleren Ideen der »Letzten Generation« und den Umgang mit der extremen Rechten. Die Zusammenarbeit mit den Politikern der AfD wird auch in den Parlamenten, in die sie gewählt worden sind, von den anderen Parteien geschlossen abgelehnt und – anders als damals die Grünen – versucht niemand, sie zu integrieren. Diese neue Entwicklung ist ein guter Anlass, auf die 68er zurückzublicken und sich zu fragen, warum es damals gelungen ist, diese politischen Ideen parlamentarisch zu verankern und ob eine solche Möglichkeit nicht auch heute wieder besteht. Es ist der sehr persönliche Rückblick eines Rechtsanwalts, der die 68er auch aus ihren rechtlichen Perspektiven betrachtet.
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- 1. Eine persönliche Skizze
- 2. Kaputte Verhältnisse
- 3. Autorität und Gehorsam
- 4. Schuld und Scham
- 5. Der Urknall der Gefühle
- 5.1. Revolutionstheorien
- 5.2. Studenten und Proletarier
- 5.3. Professoren
- 5.4. Hierarchie, Autorität und Anpassung
- 5.5. Die Außerparlamentarische Opposition
- 5.6. Die Rote-Armee-Fraktion
- 5.7. Die Antwort auf die Schwarze Pädagogik: Antiautoritäre Erziehung
- 5.8. Die große Erleuchtung
- 5.9. Parallelgesellschaften
- 5.10. Sex and Silence
- 5.11. Kampfhunde und Oberlehrer
- 6. Wirkungen
- 7. Recht im Chaos
- 8. Nachwehen
- 8.1. Der Kampf der Straßenguerilla geht nicht weiter
- 8.2. Die fünfte Welle
- 8.3. Familien, Kommunen, Vaterland
- 8.4. The Winner Takes It All
- 8.5. Sturzhelm und Sterne-Küche
- 8.6. Neue Hakenkreuze, Hassprediger usw.
- 8.7. Die langweilige Politik
- 8.8. Warum die 68er am Ende doch gewonnen haben
- 8.9. Alles ist kompliziert
- 8.10. Not anything goes
- 9. 2020 ff.: Neue außerparlamentarische Oppositionen
»Unheimlich, wenn man ein langes Leben hinter sich hat, wie alle Erinnerungen durcheinander fluten, wie man kaum mehr Partei ergreifen, kaum mehr urteilen kann, nur noch staunen vor der Unheimlichkeit des menschlichen Geschicks, der völligen Sinnlosigkeit des politischen Geschehens, das immer auf einer so mittelmäßigen und deshalb so bösen Ebene in so völliger Unfreiheit ausgelöst wird.«2
1. Eine persönliche Skizze
Dieser Text ist keine »Kleine Geschichte der 68er«. Er ist eine subjektive Auswahl aus Impressionen, die mir heute beim Nachdenken zufliegen. Deshalb gibt er nicht alle wichtigen Ereignisse wieder und ist gewiss auch dort lückenhaft, wo Menschen oder Ereignisse damals Bedeutung für mich hatten, aber jetzt im Hintergrund verschwunden sind.
Ich habe die 68er also nicht »besenrein durchforscht«, wohl aber versucht, Thomas Manns Rat zu folgen, jeden Gedanken erst völlig auszudenken und ihn dann »bis auf den Grund zu empfinden«. Die »Richtigkeit« solcher Empfindungen habe ich dann allerdings an den großen Tragpfeilern der bekannten Geschichte überprüft. Nur so rechtfertigt sich die Vermischung der privaten mit der öffentlichen Geschichte, die aus den individuellen Erlebnissen ihre Anschaulichkeit gewinnt.
Ich habe aus der Perspektive eines Anwalts geschrieben. Anwalt wird man nicht erst, wenn man seine Zulassung bekommt, schon die erste Stunde in der Universität zeigt, worum es geht. Wenn ich politisch oder historisch denke, denke ich aus der Perspektive des Rechts und damit der Macht. Beide ergänzen und begrenzen sich. Die 68er bieten ein unendliches Anschauungsmaterial für dieses Spannungsverhältnis, denn jetzt musste sich das junge und für die Deutschen ungewohnte Rechtssystem einer harten Bewährungsprobe stellen. All diese Zusammenhänge konnte ich nur aus der eigenen Anschauung entwickeln, denn in meiner Familie gab es keine Anwälte. Aber ein rheinischer Notar – ein Verwandter, bei dem ich einige Jahre aufgewachsen war – hatte mir, ohne es zu wissen, eine wichtige Lehre mit auf den Weg gegeben. Ich durfte ihm gelegentlich beim Sortieren der Briefe helfen, ich hörte ihn telefonieren, sah, wie er mit seinem Personal umging, verstand, dass er Ordnung schaffen konnte und dachte mir: Juristen sind die Leute, die die Regeln der Macht kennen!
Mit dieser Vermutung habe ich Recht behalten, denn all die Soziologen, Politologen, Historiker und andere Wissenschaftler, die ich seither kennen gelernt habe, kennen zwar die Motoren und die Energie, die die Macht bewegen, aber sie können sie weder herstellen noch reparieren. Nur zum Zerschlagen reicht es immer.
2. Kaputte Verhältnisse
In diesem Kapitel werden die Taten und Untaten unserer Väter und Großväter von 1914 – 1945 nochmals beschrieben. Wer sie schon auswendig kennt, kann das überspringen.
Zwischen 1965 und 1985, also während eines Zeitraums von ungefähr zwanzig Jahren gab es in vielen Ländern der Welt von Washington bis Paris, Rom, Berlin, Prag, Peking und anderen Orten in allen Systemen ein politisches Aufbegehren, es gab intellektuelle und emotionale Auseinandersetzungen bis hin zur Stadtguerilla und Barrikadenkämpfe der Jüngeren gegen die Älteren – die 68er. Mehr als in anderen Perioden konnten wir während dieser Jahre erkennen, dass die Geschichte sich fast beliebig zwischen Tragödie und Farce hin – und her bewegt.
Ein tieferes Verständnis der 68er konnte erst entstehen, nachdem wir sehen konnten, was hinter einer Mauer des Schweigens verborgen war: der deutsche und der Europäische Bürgerkrieg3, der fast dreißig Jahre lang von 1917-1945 getobt hatte und dann in den kalten Krieg ausgelaufen war, wurde in allen Facetten sichtbar. Auch der Mord an den Juden lag am Ende der 68er in unfassbarer Deutlichkeit vor uns allen. Dadurch konnten wir ein gewisses Verständnis von Ursache und Wirkung und dem inneren Zusammenhang all dieser Ereignisse gewinnen. Vermutlich waren die Demonstrationen der außerparlamentarischen Opposition dazu notwendig, die Gewalttaten der RAF waren es nicht. Aber heute sind auch die meisten Terroristen begnadigt und wir können mit dem nötigen Abstand auf die Ereignisse zurückblicken.
Wir erinnern uns an die Diskussionen, die jeden erfassten, nicht zuletzt jene, die die ganze Entwicklung ablehnten. Um diese Entwicklung zu verstehen, musste sich erst eine Vielzahl von Fachleuten, auch außerhalb der historischen Spezialgebiete des Themas annehmen und eine Fülle journalistischer Arbeiten über die Zeit zwischen 1914 und 1945 entstand4. Wieder einmal waren die Bücher »die Äxte für das gefrorene Meer in uns« wie Franz Kafka einmal bemerkt hat. Ich zögere, dieses unendlich oft wiederholte Zitat zu verwenden. Aber niemals ist die Bedeutung der Bücher besser beschrieben worden als so:
»Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder vorstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns.”5
Die Bücher haben uns gezeigt, welche Terra incognita vor uns verborgen worden war.
2.1. Die Monarchie kommt zu Besuch nach Deutschland
Wütende Perser, die beim Besuch des Schahs am 2. Juni 1967 in Berlin mit Dachlatten auf Passanten einschlugen (von denen viele Leser der yellow press nichts anderes wollten, als ihm zuzujubeln!), waren der Anlass für einen offenen Ausbruch der Gewalt, den wir in Deutschland als Beginn der 68er Periode sehen können.
Dieser Ausbruch erfolgte wenige Stunden später an der Deutschen Oper. Die besondere Ironie daran: es war die Polizei, die ohne erkennbaren Anlass auf Demonstranten herunter prügelte und sich auf diese Weise selbst mit dem persischen Geheimdienst solidarisch erklärte. Unter den Polizisten befand sich Heinz Kurras, von dem damals keiner wusste, dass er Stasispion war, und dieser Mann erschoss ohne erkennbaren Grund den Studenten Benno Ohnsorg, der vor ihm floh. Für die Behauptung, es sei ein Mord gewesen, wurde Klaus Wagenbach 1975 zu Unrecht rechtskräftig verurteilt. Heute wissen wir, dass der Täter, der Polizeibeamte Heinz Kurras mit Sicherheit nicht in Notwehr gehandelt hat. Kurras wurde gegen wichtige und überwiegend unwiderlegte Argumente freigesprochen.
Das alles geschah am in einem Innenhof der Krumme-Straße 66/67 gegenüber der Oper. Ich kannte den Ort gut, denn im Frühjahr 1965 hatte ich in Berlin begonnen, Jura zu studieren und wohnte dort in der Nähe. Beim Schah Besuch in Berlin war ich allerdings schon weit weg in München, startete gerade in das fünfte Semester mit den »Großen Scheinen«, fuhr – soweit Zeit dazu war – mit meinem Taxi umher, hatte Liebeskummer, musste Examen machen und habe so den Anfang der Revolution einfach verpasst.
Ab 1970 als Rechtsreferendar und während meiner ersten Anwaltsjahre war die 68er Revolte für mich ein wichtiges und beherrschendes Thema. Ich musste mich häufig fragen, ob die Ziele der 68er auch meine waren und bin meist zu einem negativen Ergebnis gekommen. Aber ich hatte Verständnis für viele dieser Ziele und habe eine Reihe von politischen Maßnahmen, die sich gegen die 68er richteten, nicht nur für falsch, sondern auch oft für verfassungswidrig gehalten. Auf dem Höhepunkt der Revolte, zehn Jahre später (1977 im »Deutschen Herbst«), war ich über den unsinnigen Guerillakampf der RAF vollkommen entsetzt und habe die Haltung der Regierung in jedem Punkt geteilt.
Als 1978 die Revolution im Wesentlichen zu Ende war, bekam ich gerade meine Zulassung zum Oberlandesgericht und gehörte, ob ich nun wollte oder nicht, in den Augen aller Jüngeren zum Establishment. Weder damals noch später habe ich allerdings an Demonstrationen teilgenommen, ich habe keine Vorlesungen bestreikt und bin nie gefragt worden, ob ich Terroristen übernachten lassen wollte. Als aber in Hamburg laut gerufen wurde: »Unter den Talaren, der Muff von 1000 Jahren«, wusste ich genau, wie der roch und als Fritz Teufel in der berühmten Szene vor dem Landgericht Berlin auf die Aufforderung des Richters, sich zu erheben, sagte: »Wenn es der Wahrheitsfindung dient!«, war ich wie so viele andere richtig begeistert: für einen Juristen war das nicht nur eine gelungene Provokation, wir spürten, dass unter diesem Satz eine viel tiefere Erkenntnis lag, die sich nicht einmal Fritz Teufel erschließen konnte6.
Formalitäten in rechtlichen Verfahren (wie etwa die Öffentlichkeit des Verfahrens oder das Tragen von Roben haben immer eine bestimmte Funktion, die dem Ziel des Prozesses dient, und zwar selbst dann, wenn sie überflüssig oder sogar lächerlich sein oder wirken kann – und das Ziel des Prozesses ist nun einmal die Wahrheitsfindung! Damals war das Tragen der Robe berufsrechtlich vorgeschrieben und die Regel wurde eingehalten, auch wenn man später (1987) erkennen musste, dass sie keine gesetzliche Grundlage hatte. Viele Anwälte haben sie für das falsche Signal gehalten, die Anwälte seien Teil der Staatsmacht, weil auch die Richter und Staatsanwälte schwarze Roben trugen. Ich habe immer dagegen plädiert: wenn wir die Robe ausziehen, werden wir schneller mit unseren Mandanten verwechselt, als uns lieb und für unsere Arbeit gut sein kann.
Kurz: ich war gerade in dieser Zeit immer hin und hergerissen zwischen Zustimmung und Ablehnung und hatte selten Boden unter den Füßen. Ganz am Anfang habe ich ignoriert, was mich kaputt macht. Ich hielt es für so abgestanden und alt, dass es in absehbarer Zeit ganz von alleine zusammenfallen würde. Auch Stalin war gestorben. Und außerdem wusste ich nicht, was ich hätte kaputtmachen können, ohne mir selbst den größten Schaden zuzufügen. Viele andere haben das anders gesehen.
Rainer Langhans hat die Ziele der 68er auf die Formel gebracht: »Wenn wir anders sind, kann auch alles andere ganz anders werden«. Nach der Revolution hat er viele Jahre damit verbracht, Telefongespräche wildfremder Menschen aufzeichnen, um so das Leben einzufangen, wie andere Leute es mit Vogelstimmen tun. Heute sieht man ihn in Trash-Sendungen wie dem Promi-Dinner bei Vox, aber er nutzt diese Folie ganz offenkundig, um sein »Anderssein« dadurch umso deutlicher zu beleuchten.
Rio Reiser und Band (Ton, Steine, Scherben) haben es 1971 direkter formuliert: »Macht kaputt, was euch kaputt macht!« Wer waren die anderen, was sollte anders werden und warum sollte es kaputt gemacht werden?
Ich habe das damals nicht gleich verstanden. Ich fand »die Verhältnisse« nicht ideal, kannte aber auch nichts anderes und konnte mit solchen Leerformeln nichts anfangen.
Erst viel später habe ich entdeckt: Kaputte Verhältnisse sind immer kaputte Personen, denn alle Verhältnisse werden von Menschen gemacht und von Menschen belebt. Und so habe ich einen genaueren Blick auf die Menschen geworfen, die uns damals umgaben, unsere Eltern und Lehrer, die Großeltern und Verwandten, die Professoren, die Geistlichen. Alle diese Erwachsenen waren, wie man auf den ersten Blick sehen konnte, ziemlich beschädigt Alle waren sie Vorgesetzte. Als Untergebene hatten sie zwar oft nur Kinder, aber das schien ihnen zu reichen. Und wenn man sie kritisch ansah, war »kaputt« nicht das falsche Wort.
Was war mit diesen Generationen los, die um uns herum nicht lebten, sondern ihre Pflicht taten? Meine lebenslustige Tante Helene, die jüngste der Geschwister meiner Mutter, war die Einzige, die offenbar am Leben Spaß hatte und das konnte wohl nicht an ihrer Arbeitsstelle liegen, der »Entstörungsstelle für Fernschreiber« bei der Deutschen Post in Koblenz, in die man sie schon im Krieg geschickt hatte.
Viele der 68er haben diese Frage früher gestellt als ich, und sie hatten die entscheidende Frage gefunden, die ins Zentrum des Problems der Autorität und der Machtverteilung zwischen den Generationen führt.
2.2. Die Zwischengeneration
Nach alter Tradition umfasst eine Generation eine Spanne von 30 Jahren, innerhalb deren sie sich selbst reproduziert. Eltern betrachten alle ihre Kinder als »Generation«, wer aber eine 15 Jahre ältere Schwester oder gar einen 20 Jahre jüngeren Bruder hat, wird Mühe haben, sie als »Geschwister« zu begreifen.
Schon ein Altersunterschied von wenigen Jahren kann in bewegten Zeiten einen großen Unterschied machen: wer 1942 geboren wurde, hat – wenn auch unbewusst – auf seine Weise den Bombenkrieg erlebt, schon 1945 aber gab es Leute, die nicht einmal vom Hunger etwas mitbekommen haben.
Ich gehöre mit meinen drei Brüdern auch zu ihnen, denn ich bin 1944 in einem sehr armen Schwarzwalddorf geboren. In diese entlegene Gegend im Tal der wütenden Ache7 (Wutach), unmittelbar an der Grenze zu der reichen, aber unerreichbaren Schweiz, lebte ein Pfarrer, der meinen Großvater kannte und bereit war, ihn und die aus Berlin geflohene Familie bei sich aufzunehmen. Wir haben nicht wie die Flüchtlinge aus Polen, Schlesien und der Tschechoslowakei alles verloren, sondern nur Hunger und Einsamkeit ertragen müssen.
So entstehen »Zwischengenerationen« und zu ihnen gehören die » 68er«. Ihre ältesten Mitglieder waren um 1930 geboren, die jüngeren etwa 15 bis 20 Jahre später: Ulrike Meinhof (1934), Bernd Rabehl (1938) Bernward Vesper (1938), Rudi Dutschke (1940), Rainer Langhans (1940) Andreas Baader (1943). Die älteren, also z. B. Klaus Wagenbach (1930) Alexander Kluge (1932) und Oskar Negt (1934) haben wohl Verständnis, aber auch genügend Abstand zum Kern der 68er, die Jüngeren, wie etwa Peter Sloterdijk (1947) gehen klar auf Distanz.
Unsere Generation hatte eines gemeinsam: beim Ende der großen Kriegshandlungen um 1945 waren wir entweder noch nicht geboren oder noch zu jung, um mit dem Krieg und seiner Vorgeschichte eigene Erfahrungen zu verbinden, wie es bei den 15-20 Jahre älteren (Helmut Schmidt, Franz Josef Strauß, Günter Grass etc.) der Fall war: die gehörten aus unserer Sicht zu einer anderen Generation!
Unter den 68ern fallen vor allem diejenigen ins Auge, die sich in herausragender Weise politisch betätigt haben und unter ihnen wiederum bevorzugt die »Linken«, deren Spektrum von Linksliberalen (zu denen ich mich selber rechne) bis zu militanten Leuten reichte, die zur RAF gehörten.
Aber auch diejenigen, die man zu den »Rechten« zählen konnte (zum Beispiel die Mitglieder des Ringes Christlich Demokratischer Studenten (RCDS) wie Ernst Benda) waren sich mit ihren politischen Gegnern völlig einig, dass das Verhalten ihrer Eltern und Großeltern untersucht und kritisiert werden musste.
Einige, wie Horst Mahler sind den ganz radikalen Weg von der äußersten Linken zur äußersten Rechten gegangen Er gehörte bis 1956 der Schlagenden Studentenverbindung Thuringia an, wurde dort ausgeschlossen, als er Mitglied der SPD wurde, die ihn dann ebenfalls herauswarf, als er 1960 dem SDS beitrat. Mitglied der RAF wurde er 1970 und nach langer Haft landete er schließlich bei der NPD, die er 2003 verließ, weil er den Parlamentarismus selbst in dieser Form ablehnte. Seine jüngste Idee war die Gründung des »Vereins zur Rehabilitierung der wegen Bestreitens des Holocaust Verfolgten«, der alsbald nach seiner Gründung für verfassungsfeindlich erklärt wurde. Auch Bernd Rabehl will heute nicht mehr wissen, was damals »links« war: »So gesehen gehörten die "Nationalrevolutionäre" Dutschke und Rabehl zu keinem Zeitpunkt zur traditionellen Linken"8). Andere, wie Walter Jens und Günter Grass haben sich jahrzehntelang zur Jugendrevolte gerechnet und nicht nur auf den alten Nazis, sondern auf allen politischen Ideen herum geprügelt, die den Verdacht aufkommen ließen, der Staat könne wieder »faschistisch« werden: bis sie zu ihrem Schreck feststellen mussten, dass sie selbst wenigstens formal als Jugendliche zu den »Faschisten« gehört hatten. Solche extremen Seitenwechsel sind typisch für Umbruchzeiten und man sieht sie entweder bei eiskalten Karrieremenschen oder sensiblen politisch engagierten Denkern, den »Bürgern auf Irrwegen« (Thomas Mann), die zwischen den Fronten hin und her schwanken (zum Beispiel Arthur Koestler, Arnolt Bronnen).
Die »Kriegsgenerationen«, zu denen auch sie gehörten, umfassten in Europa nicht nur die Soldaten des Zweiten Weltkrieges, sondern auch deren Eltern, die etwa um die Jahrhundertwende geboren worden sind. Diese Generationen wurden durch die grundlegenden Umstürze zu einem gemeinsamen Schicksal verbunden, das Europa mitten aus der sich gerade entfaltenden Welt der Industrie herausriss, die letzten nahezu absolutistischen Monarchien stürzte und Millionen das Leben kostete. Beide Generationen haben über einen Zeitraum von dreißig Jahren hinweg nur »Krieg, Hungersnot und Pest« erlebt (wie mein Vater zu sagen pflegte) und hatten sich wohl stillschweigend verabredet, den Späteren darüber nichts zu erzählen, vielleicht aus Schonung, vielleicht aus Berechnung, vielleicht aus Scham über dieses Desaster.
Abgesehen von den typischen Frontschwein-Mythen, in denen vor allem die Kameradschaft (auch mit den Toten) gefeiert wurde und von Leistungsschilderungen der Mütter, wie sie unter schweren Bedingungen für das Überleben sorgten, wurde die Frage, wie es zu diesen Kriegen kommen konnte, wer aus welchen Gründen an ihnen teilnahm, was genau geschehen war usw. mit den Jüngeren nicht erörtert. Ich will diese Umstände hier wenigstens in den Umrissen skizzieren, denn wenn man keine klare Vorstellung von dem politischen, wirtschaftlichen, und kulturellen Umfeld dieser Jahre hat, kann man nicht verstehen, was da verschwiegen worden ist und warum die 68er die Diskussion darüber zum Teil mit Gewalt erzwingen mussten.
2.3. Ein missglückter Systemwechsel
2.3.1. Die guten alten Zeiten
Wenn die Kaiser, Könige und Fürsten, die sich mit Gottes Hilfe (der seltsamerweise allen Feinden gleichzeitig helfen sollte!) in den Ersten Weltkrieg stürzten, geahnt hätten, dass ihr eigener Untergang die Folge sein würde, hätten sie es wohl gelassen. Aber so intelligent waren sie nicht, denn sonst hätten sie spätestens seit 1848 die Gelegenheit genutzt, sich mit ihren Bürgern zu versöhnen und den überaus arroganten Hochadel (in Deutschland vor allem: die ostelbischen Junker, die keine Steuern zahlen wollten) in ihre Schranken zu weisen. Bismarck war mit der Reichsgründung, seinem Kirchenkampf, den Sozialistengesetzen und der anspruchsvollen Equilibristik seiner Außenpolitik zu sehr beschäftigt, um auch noch auf das »persönliche Regime« Wilhelms II. Einfluss nehmen zu können
Ab 1890 konnten wir förmlich einen Rückfall in die Zeit des Absolutismus beobachten: Wilhelm II. hat sich als Fürst gesehen, dem seine Bürger ebenso wie alle Ausländer hätten die Schuhe putzen sollen. Paul Lincke9 dichtete:
»Adelsprädikat bezweckt, dass kein Plebs uns naht
völlig wertlos so'n Subjekt ohne Prädikat«.
Von solchen Torheiten waren aber auch der Zar und der alte Franz Josef in Österreich nicht weit entfernt. Warum war die Bevölkerung ‑ darunter der gescheiterte Architekturzeichner Adolf Hitler -, warum waren viele Intellektuelle (zum Beispiel Ernst Jünger), warum waren die meisten beteiligten Länder beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges so begeistert?
Der deutsche Durchschnittsbürger sah die Dinge wohl so wie sein Kaiser (»jeder Tritt ein Brit‘, jeder Stoß ein Franzos‘, jeder Schuss ein Russ‘«), die Intellektuellen aber sahen mehr als die Monarchen: für sie war allein die Bewegung interessant, die frische Luft, die Musik, die die versteinerten Verhältnisse zum Tanzen bringen sollte. Die Russen, die Franzosen und Engländer hatten eigene Rechnungen mit den Deutschen auszugleichen und warteten auf ihre Chance.
Alle Europäer sind in diesem Krieg hineingeschlittert, weil sie ihn für einen Salonkrieg unter vielen hielten. Diese historische Wahrheit, die heute in unzähligen Studien herausgearbeitet worden ist, wurde damals vor allem von den Franzosen geleugnet: sie bestanden gegen den Widerspruch von USA und England darauf, im Versailler Vertrag die Alleinschuld der Deutschen festzuschreiben. Die antworteten mit dem Begriff »Kriegsschuldlüge«, die das Klima in Europa auf Jahre hinaus vergiftet hat.
Dabei war alles von Anfang an nur ein Irrtum gewesen. Es wurde kein Salonkrieg wie jener von 1870-1871, in dem Tod und Gelächter nahe beieinander lagen. Hier eine Szene aus den Vorstädten von Paris10:
»Wir waren angewiesen, im Notfalle (auch auf Zivilisten) zu schießen. Das mochte ich nicht befehlen … Spät erst kam (das Feuer) zur Ruhe, aber vor einer nahen Feldwache lag ein erschossenes Weib noch tagelang unter der Mauer; niemand holte den Leichnam hinein. Grenardier Rosmarinowitsch, Oberschlesier, war der Täter. Der Kompanieführer verhörte ihn: ›Aber auf Frauen schießt man doch nicht gleich?‹ ›Zu Befehl, Herr Hauptmann, aber Weib frech, zeigt sich Arsch, schießt sie Rosmarinowitsch kaputt‹. ›Na gut, … aber da schießt man doch vorbei‹. ›Herr Hauptmann, Rosmarinowitsch erste Schießklasse!‹«
Solche Kriege waren mit einem langjährigen Stellungskrieg nicht vergleichbar. Die Wirkung von Gas-und Panzerwaffen in diesen Schützengräben konnte niemand sich vorstellen. Einmal eingesetzt, änderten sie ab 1916 das Kriegsbild entscheidend: Es entstand der moderne Krieg, wie wir ihnen bis heute – nur sehr viel perfekter – kennen.
Spätestens 1916 beim Tod des alten Franz Josef dämmerte es zwar manchem, wohin die Reise führen werde, aber zu diesem Zeitpunkt waren sie alle schon handlungsunfähig und starrten nur noch auf ihr Ende. Gleichzeitig blieb aber jeder in seiner Stellung. Die Frühjahrs-Offensive der Deutschen 1918 war so erfolgreich, dass man ihnen immer noch den Sieg zutraute, nicht zuletzt, weil 1917 der Zwei -Fronten-Krieg gegen Russland beendet werden konnte. Erst der geschlossene Einsatz der Alliierten und die Hilfe der USA haben ihnen das Rückgrat gebrochen. Zweifellos wäre ein geordneter Rückzug möglich gewesen, aber es kam zu einem chaotischen Kollaps, der später die »Dolchstoßlegende« begründete – ein wesentliches Motiv für den Zweiten Weltkrieg.
2.3.2. Aufstand der Jugend
Der 68er-Aufstand gegen alle Autoritäten und Hierarchien, die wilden Gefühle, die damit verbunden waren, die Gewalt, die an vielen Stellen aufflammte, die unendlichen Diskussionen, die in allen Medien geführt wurden, haben das Bild unseres Landes in wenigen Jahren völlig verändert. Das geschah aber nicht zum ersten Mal. Der Zusammenbruch des Kaiserreichs hatte nach 1918 ebenfalls unglaubliche Umbrüche ausgelöst, die man wie in einem Spiegel auch nach 1945 beobachten kann. Diese Umbrüche erfolgen – wie stets – immer aus den jüngeren Generationen11 heraus.
Sie spülten eine Menge junger romantischer Naturen nach oben, wie es immer geschieht, wenn ein System zusammenbricht und die bisher von allen akzeptierten Grenzen und Riten auseinanderfallen. Als Hitler 1920 seine politische Karriere begann, war er genauso jung wie Jesus zu Beginn seiner Predigten (31); als er 1933 die Macht übernahm, war er erst 44 und bei weitem der älteste in seiner Mannschaft (Hermann Göring als nächst Ältester war auch erst 40), und als Baldur von Schirach 1931 Reichsjugendführer wurde, war er erst 24 Jahre alt. Wenn man die politisch einflussreichen Nationalsozialisten ab 1933 in ihren Altersschichten untersucht, wird man feststellen, dass außer Hitler und Göring kein älterer Soldat mehr etwas zu sagen hat. Alle Führungspositionen waren mit 30-Jährigen besetzt, die es zum Beispiel auch an den Universitäten geschafft haben, fast die gesamte ältere Generation zu beseitigen. Carl Schmitt und Martin Heidegger gehörten dazu. Auf der anderen Seite, bei den Kommunisten, sah es ganz ähnlich aus: 1933 war Ernst Thälmann 47 Jahre alt, Walter Ulbricht 40 und Werner Scholem 38. Und auch hier war der später einflussreichen Nachwuchs wie Erich Mielke (24) und Erich Honecker (21) schon politisch sichtbar.
2.3.3. Die Zeit der Anarchie
Weil die Schiffe der Monarchie in Russland, Österreich und Deutschland gleichzeitig und völlig unerwartet untergingen, war die Anarchie am Kriegsende und die völlige Zerstörung der Welt unserer Großväter unvermeidbar. Einige von ihnen haben darauf mit der richtigen Portion Ironie reagiert. Der Berliner Bankier Carl Fürstenberg, blickte 1918 aus seiner Stadtvilla auf eine Horde Spartakisten, die die Straße entlang rannten und fragte seinen Diener: »Kannst du mir sagen, was der Unsinn da soll?« »Das ist die Revolution, Herr Direktor « sagte der Diener »wir sind jetzt Volksgenossen und es wäre mir sehr recht, wenn sie künftig »Sie« zu mir sagten!« »Du bist ja bekloppt« sagte der Bankier »umgekehrt wird' n Stiefel draus: ab jetzt nennste mich Carl!«. »Sehr gern Herr Direktor!«, sagte der Diener.
Wir haben später oft den Satz gehört, niemand habe von Kultur und Luxus eine wirkliche Ahnung, der nicht die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg selbst erlebt habe. Wie stets bei solchen Rückbetrachtungen zählt man sich selbst automatisch zur Welt der herrschenden Klasse und vergisst, dass man in der gleichen Zeit nicht gern als Bergarbeiter gelebt hätte.
Die herrschenden Klassen aber hatten ihre Chance vergeben. In Sankt Petersburg, in Kiel und überall, wo sonst die Revolutionen ausbrachen, hätte schon damals auf den Fahnen stehen können: »Macht kaputt, was euch kaputt macht!«
Die Räterepubliken, die so in einer Reihe deutscher Städte entstanden sind (Bremen, Mannheim, Braunschweig, Fürth, Würzburg, München etc.), sind über das Stadium der Debattierclubs nie hinausgekommen. Der Slogan »Alle Macht den Räten« hatte sich in der Praxis als Unsinn erwiesen, denn Räte sind nun einmal Leute, die über irgendetwas beraten und vielleicht auch zu einem Vorschlag kommen – für die Umsetzung aber braucht man Macht und Führung. Die ist in den Räten schon wegen ihrer Struktur stets zersplittert und darf selbst dann nicht gezeigt werden, wenn sie unter der Oberfläche vorhanden ist.
Die Räterepubliken und mit ihnen die Anarchie sind so schnell untergegangen, wie sie entstanden und wurden durch Regierungen ersetzt, die sich nicht nur mit den Kriegsfolgen beschäftigen mussten, sondern darüber hinaus alle Hände voll zu tun hatten, Demokratie zu lernen. Die Demokratie muss einen ständigen Widerspruch in den Griff bekommen: alle müssen alles sagen dürfen, aber keiner darf nach Belieben so handeln, wie er spricht! Es dauert lange Zeit, bis man das lernt (die Engländer und Franzosen haben mindestens 100 Jahre dafür gebraucht). Die Deutschen hatten diese Zeit nicht – und außerdem sehr schlechte Rahmenbedingungen:
Der Friedensvertrag von Versailles missachtete alle psychologischen Regeln für eine faire Verhandlungsführung, weil die Franzosen den Deutschen etwas heimzuzahlen hatten und der US-Präsident Wilson war viel zu naiv, um auch nur annähernd vorauszusehen, dass seine Vorschläge Europa völlig destabilisieren mussten, anstatt für Ruhe zu sorgen.
Nicht nur deshalb hatte die Demokratie nach 1919 in Deutschland keine realistische Chance. Die Wirtschaftskrise, die Reparationszahlungen und viele andere unglückliche Umstände hätte man vielleicht in den Griff bekommen. Aber die ganze Bevölkerung war in so unendlich viele Lager gespalten, (vor allem: die Nationalisten und die Sozialisten), zwischen denen keine Einigung möglich war. Es gehört zu einer der instinktsicheren Handlungen Adolf Hitlers, seine Partei, die Nationalsozialisten, so zu nennen, dass sich beide Seiten in ihrem Namen wiederfinden konnten.
2.4. Der Europäische Bürgerkrieg
Zwischen Nationalisten und Kommunisten (die mit straffer Führung bald die stets zerstrittenen Sozialisten ausgeschaltet hatten) kam es nach 1917 zu dem »Europäischen Bürgerkrieg«, wie ihn Ernst Nolte 1989 unter großem Widerspruch bezeichnete.
Nolte erklärte den Erfolg des Nationalsozialismus in den bürgerlichen Kreisen überwiegend als Reaktion auf die Ängste, die die kommunistische Revolution in Russland und vor allem der Anspruch, sie international auszubreiten ausgelöst hatten. Jedenfalls konnte man ihn so verstehen und wem daran lag, der konnte ihn auch missverstehen, denn in seinem Buch verkennt er keinesfalls die vielen Faktoren, die die politische Entwicklung in der Weimarer Republik bestimmt haben. Aber über die Schwerpunkte und die Interpretationen kann man natürlich streiten.
Im Historikerstreit hat vor allem Habermas ihn mit der Behauptung angegriffen, er relativiere mit seiner These die Einzigartigkeit des Judenmordes. Das war weit überzogen, denn ohne die geradezu panische (und berechtigte) Furcht des europäischen Bürgertums vor dem Kommunismus ist die politische Entwicklung von der Weimarer Republik bis zur Perestroika nicht erklärbar. Während des Krieges bestimmte er bis in die Schlussphase das Verhalten der Alliierten und nährte die Illusion führender Nazis, der Westen stehe »eigentlich« auf ihrer Seite, auch wenn er die Russen unterstütze.
Zu diesem Bürgerkrieg haben auch die Intellektuellen beigetragen, zum Beispiel Kurt Tucholsky oder Bertolt Brecht, die die Weimarer Republik in ihren schwierigen Phasen oft genug lächerlich gemacht haben. Es fällt mir schwer, diese Erkenntnis zu akzeptieren, denn wenn es jemanden gab, der mir schon sehr früh einen ganz neuen Blick auf die Welt des mittleren Bürgertums verschafft hat, dann waren sie es! Beide, Tucholsky in seiner Anlehnung an Heinrich Heine und Bert Brecht mit seinen Träumereien vom Sozialismus, der für ihn selbst, wie seine elitären Seiten deutlich zeigten, natürlich niemals hätte gelten sollen, gehören in die romantische Tradition, die unter hohem Außendruck in die Innerlichkeit flieht, in Zeiten des Umbruchs aber zur Revolte drängt. Wenn ein System fällt, hat die Vernunft keine Chance, dann regieren die Gefühle.
Hätten unsere Väter eine realistische Chance gehabt, den Zweiten Weltkrieg zu vermeiden, der nur 20 Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkrieges von Hitler ausgelöst wurde?
Nicht einmal das abgrundtiefe Entsetzen, das der Gas – und Panzerkrieg bei den Teilnehmern des Ersten Weltkriegs ausgelöst hatte, konnte das: während noch im Ersten Weltkrieg die Väter als »Zitterer« in den Nervenheilanstalten landeten, hatte man ihre Söhne schnell darauf trainiert, mit ihren Gasmasken in Guderians Panzer zu steigen und Polen, Franzosen und bald den Rest der Welt vor sich her zu jagen, solange das gut ging. Man hatte ihnen mit dem Drill, der schon in den Kindertagen begann, die Angst, das Zittern und noch eine Menge anderer Gefühle amputiert, bevor der Krieg bei vielen den Rest in Stücke riss. Kühl bis ans Herz hinan – das war eines der Ideale dieser Zeit.
Der Kampf gegen die alleinige Schuldzuweisung für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges wurde von sehr vielen Deutschen geteilt – Hitler war nur einer von tausenden, die dieses Argument auf ihrem Banner trugen. Auch der Anschluss Österreichs stieß auf breite Zustimmung, die Zerschlagung der Tschechoslowakei noch auf sichtbare Mehrheiten. Das kann man an den Reaktionen auf das Münchner Abkommen auch international deutlich sehen. Aber der Angriff gegen Polen löste Schweigen und Entsetzen aus und wurde nur noch vom Kern des nationalsozialistischen und deutschnationalen Umfelds begrüßt. Als dieser Krieg sich vom Nordkap bis Japan ausweitete, wurde er nur noch als Schicksal hingenommen.
Wieder standen Väter und Söhne gemeinsam an der Front. Mein Onkel Theodor, Notar in Ahrweiler, selbst Sohn eines Berufsoffiziers, war im Ersten Weltkrieg Leutnant bei der Artillerie gewesen. Ich bin bei ihm aufgewachsen und weiß, dass er ein gütiger und humorvoller Mann war. Einmal erwähnte er beiläufig, er sei Notar geworden, weil ihn die Aggressivität der Anwälte massiv gestört habe. (Vorher war er Anwalt in Köln). Im zweiten Weltkrieg war er schon über vierzig Jahre alt, und wurde jetzt als Kriegsrichter nach Norwegen eingezogen. Vielleicht bestand hier sein Beitrag ebenso wie der von Filbinger in Todesurteilen von Fahnenflüchtigen? Ich weiß es nicht, denn selbstverständlich sprach er wie alle anderen niemals über diese Zeit. Aber seine Pflicht hat er ganz gewiss getan und was man ihm als Pflicht zumutete, möchte ich lieber nicht wissen. Ich kann nicht einmal über den originellen Satz des Dadaisten Richard Huelsenbeck lachen: »Vom Land der Dichter und Denker zum Land der Richter und Henker«.
Und so hat er zusammen mit anderen Vätern und Söhnen alles zerstört, was sie selbst kaputt gemacht hatte: vorher war es der Kaiser, danach die Diktatur, der sie gefolgt sind. Und wenn die neuen Diktatoren auch viel jünger waren als die Generation, die sie bezahlen, konnten sie sich doch völlig darauf verlassen, dass ihre einmal errungene Stellung nicht angegriffen werden würde, weil in Deutschland niemand die Autorität offen angreift. Karl Kraus bemerkte dazu 1920:
Heil dir in dem Siegerkranze!
tönt es weiter zum Entzücken,
und sie gehen noch aufs Ganze
in zerschlagnen Republiken.Und sie fühlen noch das gleiche
Gott erhalte, Gott beschütze.
Und es haben Kaiserreiche
Präsidenten an der Spitze.
Es waren keinesfalls nur die Männer, die so reagiert haben. Auch die Mütter und Töchter haben im Ersten Weltkrieg zum Teil mit offener Kriegshetze und im Zweiten Weltkrieg mit Durchhalteparolen ihren Beitrag zur eigenen Vernichtung geleistet. Zu ihrer Ehrenrettung muss man allerdings sagen: es waren 6000 »arische« Frauen, die 1943 vor einem Gestapo-Gefängnis in der Berliner Rosenstraße offen demonstrierten, um ihre dort inhaftierten jüdischen Männer aus der Haft zu holen. Zwischen 1933 und 1945 gab es nur diese eine Demonstration – und sie hatte Erfolg12. Nur Kardinal Graf Galen hat mit seinen Predigten vergleichbaren Mut gezeigt.
Man hat im Rückblick auf das Dritte Reich immer wieder auf die durchgängige Militarisierung des ganzen Volkes von Jugendorganisationen (Jungvolk, Hitlerjugend etc.) bis hin zu den Universitäten verwiesen, an denen manche Professoren in SA- und SS-Uniform auftraten. Das war vom Stil her aber gar nichts Neues. Auch und gerade im Kaiserreich fing der Mensch erst beim Unteroffizier an (oder gar beim Leutnant der Reserve) Das war keine Äußerlichkeit, die Uniform war vielmehr der feste Ausdruck politischer Gefühle und Verpflichtungen13: als die Franzosen 1945 das Schwarzwalddorf besetzten, in das wir geflohen waren, fühlte mein Großvater ((80) Hauptmann der Reserve aus dem Ersten Weltkrieg (!)) sich verpflichtet, förmlich zu kapitulieren. Er zog seinen alten mottenzerfressenen Waffenrock an, putzte die Epauletten, trat vor die Tür und nahm vor den vorbeistreunenden Marokkanern stramme Haltung an. Da die seinen Rang nicht erkannten, haben sie ihn für den Dorfdeppen gehalten. Sie ignorierten ihn, schossen auf vorbeiflatternde Hühner, er stand bewegungslos zwei Stunden in der Tür, drehte sich um, brach zusammen und starb.
Sein Schwiegersohn, mein Vater, hatte wie manche andere den Krieg überlebt. Die vier Jahre Gefangenschaft in Frankreich waren verglichen mit 10 Jahren Bergwerksarbeit in Sibirien, bei denen Tausende auch nach dem Krieg noch verreckten, fast angenehm. Aber die jahrelange Trennung von Frauen und Kindern hat unseren Vätern und uns selbst erheblich geschadet. Misstrauen entwickelte sich wie unter Fremden. Ich erinnere mich an seine Rückkunft: er zog den weißen Kittel des Architekten an, um sich seinen Zeichnungen zu widmen und ich kroch schreiend unter den Tisch, weil ich in ihm einen Arzt vermutete, vor dem ich allen Grund hatte Angst zu haben. Meinen Brüdern ist es nicht anders gegangen und von vielen meiner Generation habe ich das gleiche erfahren.
2.5. Die vierte Welle – die 68er
Der Erste Weltkrieg hatte in einer Welle von Blut und Gewalt drei Kaiserreiche weggefegt und Europa in seiner bisherigen Form völlig zerstört. Auf ihn folgte von den Matrosenaufständen in Kiel bis zu den Räterepubliken eine zweite Welle des Chaos, bis es der Weimarer Verfassung und ihren stets wechselnden Regierungen einigermaßen gelang, politische Strukturen zu gründen und sichtbar zu machen. Der Zweite Weltkrieg imitierte den ersten und übertraf ihn in vielem. Diese dritte Welle zerstörte alles, was sich bis dahin stabilisieren konnte. Diesmal hielt er nicht an den Grenzen, sondern zerstörte Deutschland bis auf den Grund. Aber dann war der Europäische Bürgerkrieg endlich zu Ende – und setzte sich im Kalten Krieg fort.
Der Dritte Weltkrieg hätte sich schon aus dem Koreakrieg (1950-1953), dem Bau der Berliner Mauer (1961) oder der Kubakrise (1962), entwickeln können. Claudio Magris meint14, er habe längst stattgefunden, wenn man bedenke, dass in den letzten 60 Jahren in verschiedenen Kämpfen rund um die Welt 20 Millionen Tote zu beklagen sind.
Die Vorgeschichte des kalten Krieges und die Ideologien, die ihn verursacht haben, sind uns auch verschwiegen worden. Marx' Ideen sind erst dann Wirklichkeit geworden, als Lenin sie mit seinem klaren Führungsanspruch durchsetzen konnte. In Deutschland ist er damit – wie Richard David Precht uns sehr unterhaltsam mitgeteilt hat – nur bis Lüdenscheid gekommen. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die KPD nirgendwo mehr im Westen Fuß fassen.
Allerdings mussten wir in einer vierten Welle, die Konflikte, die unsere Eltern in der Realität ausgetragen hatten, noch einmal virtuell nachspielen. Zu diesem Spiel gehörte es auch, noch einmal eine schattenhafte Rechte und zersplitterte Linke vorzuführen, Anarchie zu imitieren usw. Das waren alles die Ideen, die in der Weimarer Republik schon einmal durchgekaut worden waren: So wie Hamlet dafür sorgt, dass die Schauspieler den Mord an seinem Vater auf der Bühne wiederholen, um dadurch eine kathartische Wirkung beim Mörder zu erzeugen, wurde nun unter relativ sicheren Bedingungen die ganze Welt zur Bühne, auf der die jungen Schauspieler ihren Eltern dasselbe beibringen wollten, was sie als Kinder hatten lernen müssen: »Wer nicht hören will, muss fühlen!« Das hörte sich in der neuen Variante dann so an:
»Linke Politik war für uns niemals nur Ratio, immer auch Sentiment. Gerade die antiautoritäre Linke betonte die Relevanz psychoanalytischer Kategorien für die Interpretation und Nutzbarmachung emanzipativer Prozesse. Wenn nun auch ehemals orthodoxe Politinterpreten wie Mahler und Rabehl plötzlich "das Gefühl" für sich entdecken, ist das natürlich einerseits zu begrüßen, andererseits "fühlen" sie sich in die völlig falsche Ecke gezogen. Ihnen sei ins Stammbuch geschrieben, linker Hedonismus ist die Befriedigung und Entwicklung eigener Bedürfnisse, die Entdeckung neuer Möglichkeiten, nicht die Abgrenzung gegen Neues, wo immer es auch herkommen mag, selbst dann nicht, wenn es aus orientalischen Gefilden stammt«.15
Diese vielen einzelnen Konflikte sind aber mit den großen Systemwechseln nicht vergleichbar. Wir haben seit 1949 in der Bundesrepublik und seit 1990 in ganz Deutschland gefestigte demokratische Verhältnisse, die radikalen Splitterparteien haben keine breite Basis gefunden, es gibt keine Klassengesellschaft mehr und wir haben die Diskriminierungen überwiegend im Griff. Uns, den Enkeln und unseren Kindern, droht kein Bürgerkrieg, denn wir haben es endlich gelernt, unsere Probleme nicht totzuschweigen und uns politisch gewaltfrei mit einander auseinanderzusetzen. Ohne die 68er hätten wir das nicht geschafft. Diese schwierige Periode hat gleichzeitig die Funktionsfähigkeit unseres Rechtssystems getestet und bestätigt. Diesmal war der Systemwechsel geglückt.
2.6. Fluchtpunkt DDR: der real existierende Sozialismus
Im Osten haben sich die Dinge völlig anders entwickelt. Wir werden noch sehen, dass die DDR sich viel Mühe gegeben hat, gerade in den 68ern die Situation in der Bundesrepublik für sich auszunutzen. Man könnte den Mantel des Schweigens darüber decken, weil sie keinen Erfolg hatte. Aber diese alte Methode haben wir mit Erfolg beseitigt und wir sollten sie uns nicht wieder angewöhnen!
Die DDR war zutiefst in ihrer Lebenslüge befangen, die in auf dem berühmten Satz von Karl Marx basiert, der die Eingangshalle der Humboldt-Universität schmückt:
»Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt drauf an, sie zu verändern.«16
Darin stecken gleich zwei Denkfehler: die Welt verändert sich, aber nicht aufgrund unserer Entscheidungen, mit denen wir immer wieder hilflose Steuerungsversuche machen, sondern aufgrund eines geradezu organischen Verhaltens, das nicht nur die Natur, sondern auch die technische Entwicklung und unsere Reaktion darauf umfasst. Der Grund: das Zusammenspiel aller in jeder Sekunde getroffenen Ereignisse und Entscheidungen von Milliarden Menschen ist zu komplex, als dass es insgesamt beeinflusst werden könnte. Der Mensch als Maschine war eine romantische Idee.
Und wenn einer ganz gewiss nicht die Aufgabe hat, die Welt zu verändern, dann ist es ein Philosoph. Von Pythagoras über Platon bis hin zu den Jesuitenstaaten in Südamerika sind alle Modelle gescheitert, mit denen ein Intellektueller versucht, eine Menschenmenge zu steuern. Dazu braucht man andere Fähigkeiten, als jemand sie entwickeln kann, der versucht, sich auf die Welt einen Reim zu machen. Gerade weil er klüger ist als die Menge muss er scheitern.
Karl Marx’ 11. Feuerbachthese, Foyer Humboldt-Universität Berlin.
Die Nationalsozialisten hatten 12 Jahre lang die Drecksarbeit gemacht und das Land so total ruiniert, dass die sozialistische Utopie bei Null beginnen und in der Retorte verwirklicht werden konnte und das auf einer Landfläche, die alles andere als eine Insel war. Die Sowjets haben Ulbricht und seiner Truppe, als er 1945 von Moskau nach Berlin flog, die DDR nicht besenrein übergeben, sondern vielmehr belastet von den Hypotheken, die alle Deutschen zu tragen hatten. Und noch schlimmer: Sie haben den stark industrialisierten Osten mit Demontagen, indirekten Reparationen und einem großen stehenden Heer auf eine Art und Weise belastet, die der Westen nicht tragen musste.
Selbst wenn man aber diese zusätzlichen Belastungen abzieht und sich vorstellt, die DDR wäre ähnlich wie wir durch den Marshallplan und eine kluge Wirtschaftspolitik unterstützt worden, hätte sie nicht überleben können. Ein Staat besteht nicht aus seiner Fläche, seinen Gebäuden, seinen Waffen oder anderer Hardware, ohne die Menschen, ihre Gedanken und Ideen ist all das wertlos. Im Westen war es schon schwer genug, Menschen, die bisher überwiegend Untertanen waren, von der Demokratie zu überzeugen. Das ist gelungen, weil – anders als in der Weimarer Republik – der wirtschaftliche Erfolg ihnen Mut machte, es mit diesem Modell zu versuchen. Der Versuch, ihnen im Namen einer utopischen Idee ein »Volkseigentum« zu geben, über das sie keine Verfügungsgewalt hatten und sie gleichzeitig als Untertanen genauso rechtlos zu lassen, wie sie es seit jeher waren, musste scheitern.
Als Kind und Schüler wusste ich nichts von der Deutschen Demokratischen Republik (DDR), obwohl ich schon mit sechs Jahren im Ahrtal, also sehr nahe an der Bundeshauptstadt wohnte und ab 1955 in Bad Godesberg, einem heutigen Stadtteil von Bonn bis zum Abitur (1963) in eine Internatsschule ging. Ehrenamtlicher Oberbürgermeister von Bad Godesberg war der Schuldirektor, Herr Hopmann und in seinen Lateinstunden berichtete er oft von Staatsbesuchen oder anderen politischen Ereignissen, denen die er beiwohnen konnte. Besonders erheiternd: die wundervollen Namen des türkischen Außenministers Mehmet Fuat Köprülü und seines Begleiters Suat Hayri Ürgüplü!
Mir war also klar: Bonn ist das politische Zentrum unseres Landes. Dass in Berlin (Ost) ebenfalls ein politisches Zentrum eines sozialistischen Deutschen Landes war, konnte man schon deshalb nicht ahnen, weil man diesen Staat die »Sowjetisch Besetzte Zone (SBZ)« nannte. Das war im Grunde Russland. Und Russland ein absoluter Schrecken, der Stalinismus, die Vergewaltigung, der Kalte Krieg, das totale Elend. Davon waren wir nach den Erzählungen unseres Vaters fest überzeugt, der an der Ostfront verwundet und in ein Lazarett im Westen geschickt worden war: immer wieder hob er hervor, wie gütig ihn das Schicksal behandelt habe, weil er seine Gefangenschaft als Landarbeiter in Frankreich hatte erleben dürfen (« Ihr wisst ja gar nicht, was ein richtiges choucroute garni ist« – gleichzeitig eine versteckte Kritik an meiner Mutter, die deftiges Essen nicht leiden konnte). Er musste nicht wie viele seiner Kameraden »in Sibirien verrecken«. Da sollte man besser nicht hinschauen. Also taten wir das auch nicht und im Geschichtsunterricht kam das ganze Thema ja ohnehin nicht vor.
Den Kalten Krieg entdeckte ich 1960, als mir J. v. Rosenberg ein Mitschüler, die Möglichkeit verschaffte, für das »Kuratorium Unteilbares Deutschland« aufmunternde Werbebriefe an aufrechte Deutsche in Umschläge zu stecken (Stundenlohn: 0,90 DM). Einmal in der Woche schlichen wir uns ohne Ausgeherlaubnis für vier Stunden in eine Baracke. Da saßen einige Ehefrauen, Muttermaschinen in Blümchenschürzen- selbstgeschneidert nach Aenne Burdas Schnittmustern – mit betonharter Dauerwelle vor Sahnekuchen. Sie langweilten sich zuhause, mussten auch etwas dazu verdienen und steckten also zusammen mit uns die Drucksachen in vorfrankierte Umschläge.
Wenn ich die Buchstaben A. – B. zugeteilt erhielt, warte ich gespannt auf den Brief, den nun der General a. D. Günther Blumentritt erhalten sollte. Lange wollte ich nicht glauben, das man auch als General so heißen konnte – aber mancher Metzger heißt eben auch Metzger! Das »Sanatorium Unheilbares Deutschland« (wie wir es nannten) hatte den politischen Auftrag, die Rand- und Notlage Berlins im öffentlichen Bewusstsein zu halten. Auf jeden Brief wurden zwei Pfennig »Notopfer Berlin« geklebt und die erfahrenen Ehefrauen beantworteten uns alle Fragen, die wir in diesem Zusammenhang stellten. Es war der beste Geschichtsunterricht, den man sich denken konnte.
Rosenberg las gelegentlich die Inhalte der politischen Informationen, die wir verteilten und äußerte sich immer wieder kritisch darüber. Er war zwei Jahre älter als ich und stand kurz vor dem Abitur. Bevor er unsere gemütliche Runde verließ, kündigte er an, er werde jetzt in Ostberlin studieren, denn der Mensch brauche keinen Kapitalismus: »Das ist reine Verschwendung, niemand braucht eine Auswahl unter zwanzig Waschmaschinen, eine einzige, der gut funktioniert, tut's doch auch« sagte er und ich fand diesen Gedanken ziemlich überzeugend. Gregor Gysi findet das heute noch: im November 2009 meinte er in einem Interview, nur dem demokratischen Sozialismus gehöre die Zukunft. Worin soll ein solcher Staat sich aber von der Marktwirtschaft unterscheiden, wenn nicht durch Planwirtschaft? Seltsamerweise findet sich der gleiche Begriff aber auch im SPD-Parteiprogramm von 2007.
Rosenberg war der erste Mensch außer Wolf Biermann (und den Eltern von Angela Merkel sowie einer Handvoll weiterer West-Pastoren), der von West nach Ost gehen wollte, um dort den real existierenden Sozialismus aufzubauen. Und offenbar war es für ihn nicht schwer, die Mauer zu überwinden, die es seit 1961 gab. Sie war für uns als politisches Lehrstück nicht zu übersehen, aber es hat Jahre gebraucht, bis ich verstanden habe, dass nur die Mauer den sofortigen Bankrott der DDR verhinderte, der schon 1953 nur mit der Hilfe der sowjetischen Panzer verhindert worden ist.
Im Ostblock machten die 68er sich zaghaft in Polen und energischer in der Tschechoslowakei bemerkbar. Der Sozialismus sollte ein »menschliches Antlitz« enthalten.
Die darin liegende Anklage, er habe ein unmenschliches Antlitz, hat die Sowjetunion nicht hinnehmen wollen und wie schon 1956 in Ungarn für Ruhe und Ordnung gesorgt. Die DDR hat sich daran beteiligt.
Während im Westen in dieser Zeit die Gefühle explodierten, brachen sie nach der Besetzung der Tschechoslowakei in der DDR in sich zusammen. Erst 1976 kam wieder Bewegung in die Szene: die Entscheidung, Wolf Biermann auszuweisen, löste weit über den konkreten Einzelfall hinaus eine Welle der Unruhe aus, sie rüttelte die Leute wach und sie war das Startsignal für Oppositionsbewegungen, die man verstärkt kontrollieren musste.
Die DDR hatte von Beginn an ein ausgefeiltes Spionagesystem im Westen, wie die berühmte Vulkan-Aktion schon 1953 zeigte17. Damals wechselte ein Mitarbeiter von Markus Wolf zur CIA und nahm eine Liste von 36 Personen mit, die im Ost-West Handel tätig waren, darunter renommierte Manager des Westens. Es stellte sich heraus, dass nur sechs von ihnen tatsächlich Spione waren, die anderen wurden freigelassen und erhielten teilweise Haftentschädigung. Die DDR hat die Bundesrepublik auch später über viele Kanäle infiltriert in der Hoffnung, sie zu destabilisieren.
Auch über die 68er war sie bestens unterrichtet, denn Klaus Rainer Röhl, der Angetraute von Ulrike Meinhof war ein heimlicher Kommunist (Kommunist?), der sich seine Zeitschrift »konkret« vom Osten finanzieren ließ und einen guten Teil des Geldes darauf verwendete, als Party-König mit Champagner und Kaviar um sich zu werfen. Natürlich hat er seinen V-Leuten auch alle Informationen weitergegeben, die nötig waren, um die politischen Hintergründe der 68er beurteilen zu können.
Als dieser Verrat nach 1990 bekannt wurde, habe ich mich wirklich geärgert, und empfand die flapsigen Bemerkungen von Röhl über sein Verhalten als besonders degoutant. Ich fühlte mich verraten: die Leute, die in »konkret « schrieben, haben uns Spaß18 gemacht, aber es war nicht der Kommunismus, sondern eine fröhliche Anarchie, wie sie zum Beispiel Rühmkorf, Nettelbeck, Kuby, Theweleit und andere verbreiteten. Gerade das Jurastudium, das selten zum Lachen Anlass gibt, braucht solche Gegengewichte, wenn man nicht verkümmern will. Und nicht einmal das hatten wir mit eigenem Geld geschafft!
In ihrer typischen Doppelmoral hat die DDR sogar den Terror der 68er unterstützt, die sie bei sich selbst unterdrückte. Den Mord ihres Stasi Spions Heinz Kurras an Benno Ohnsorg hat sie nicht befohlen, aber vielleicht hätte Kurras sich nicht so verhalten, wenn er nicht zwei Herren gedient hätte. Jedenfalls stammt der Startschuss der Revolution von einem Polizisten, der von der DDR finanziert wurde.
Ich habe all das in meinem ersten Berliner Jahr 1965 mehr geahnt als gewusst. Ich war Student und fuhr in der Nachtschicht für Bolle Milch und Sahne zu Krankenhäusern usw. Jede Nacht stieß ich mit meinem zweispännigen Lkw irgendwo an die Mauer und musste unter schwierigen Bedingungen wenden, weil die Straßen willkürlich durchschnitten waren. Wenn ich nachhause »in den Westen« fuhr, wurde meine »Ente« (Citroen 2CV) mit fahrbaren Spiegeln bis in den letzten Winkel hinein und ich selbst bis auf die Unterhose durchsucht und so stand ich da, halb nackt in einer umgebauten Garage mit zitternden Händen. Dass Sachsen Humor haben könnten (Erich Kästner war einer), hätte ich nie für möglich gehalten.
Seit 1989 wissen wir es wieder, denn sogar die Kabaretts wurden von Stasiinformanten betrieben: Gisela Oechelhauser (1944), evangelische Pfarrerstochter, in Leipzig (!) über Horkheimer und Adorno promoviert, hatte eine Verpflichtungserklärung unterschrieben, meinte aber, ihre späteren laufenden Berichte an SED Funktionäre (nicht: Stasi) über Interna des Kabaretts »Die akademixer« hätten damit nichts zu tun. Sie beteiligte sich daneben aktiv in der Gemeindearbeit und später an den Runden Tischen. Diese Schizophrenie hat auch ihre Umgebung als schicksalhaft empfunden, denn 1989 erhielt sie den Verdienstorden des Landes Berlin, 2007 den Kabarettpreis der Bundesvereinigung Kabarett (so viel zum Thema Vergeben und Vergessen).
Ich habe um die DDR immer einen großen Bogen gemacht, und deshalb von dem ideologischen Terror nur gehört, aber da ich mich intensiv mit dem Dritten Reich beschäftigte, hatte ich lebhafte Bilder vor Augen, die sich im Lauf der Zeit bestätigt haben: Von der Uniformierung und den aufmunternden Gesängen der Jugend über die Denunziation, die Gefängnisse, die Rechtlosigkeit, die Zensur waren alle Versatzstücke diktatorischer Inszenierungen lückenlos vorhanden.
Ab 1970 hieß die neue Politik »Wandel durch Annäherung«. Dieser Ansatz hat mich sofort überzeugt. Er war der einzige Weg, etwas zu ändern. Vielleicht gebührt Egon Bahr in erster Linie der Kredit für diese Leistung, denn er hat nicht nur Willy Brandt, sondern eine Vielzahl von Zweiflern davon überzeugt und den langen Atem gehabt, die Idee unter allen Umständen durchzusetzen.
Als die RAF um die gleiche Zeit die kriminelle Seite der 68er entwickelte, antworteten Staatsanwaltschaft und Verfassungsschutz mit Rasterfahndung und einer Vielzahl von Maßnahmen, deren Professionalität die zuständigen DDR-Spione sicher auch fasziniert hat. Aber »klammheimlich« werden sie sich – genauso wie der Göttinger Mescalero – darüber gefreut haben. Denn sie wussten besser als viele im Westen, an welchen Stellen sie der Revolution heimlich Zunder geben konnten. Das dürfte der Grund gewesen sein, warum sie vielen Mitgliedern der RAF wie Monika Helbing und Silke Maier-Witt heimlich Schutz boten, als die Palästinenser sie nicht mehr haben wollten19.
Das Geld, das die DDR in solchen Projekten verlor, musste sie sich am Ende immer beim Westen leihen, denn sie war von Anfang an pleite. Das lag an dem verlorenen Krieg, aber auch an den radikalen Demontagen, die im Westen wie im Osten ungefähr 5 Milliarden DM Wert vernichteten. Anders als die Demontagen nach dem Ersten Weltkrieg war es diesmal ein reiner Racheakt. Die mit großem Aufwand abgebauten Maschinen verrotteten irgendwo in der Taiga, weil niemand mit ihnen etwas anzufangen wusste. Der Westen hat diese Aktion auf seiner Seite relativ bald gestoppt und leistete außerdem Hilfe aus dem Marshallplan.
Vielen ist nicht klar, dass bei Kriegsende die Industriegebiete im Osten denen des Westens ebenbürtig waren. Zusammen mit den schlesischen Gebieten, die aber Polen zugeschlagen worden waren, hätte die DDR sogar noch besser dagestanden. So aber war sie von Anfang an in schwerstem Fahrwasser und machte die wenigen Chancen, die sie in wirtschaftlicher Hinsicht hatte, durch ideologischen Wahnsinn zunichte. Dazu gehörte es vor allem, alle Statistiken von unten nach oben so grotesk zu fälschen, dass die Zahlen den Plänen ähnlicher sahen als deren Wirklichkeit.
Auf diese Weise erschienen die DDR als einer der zehn führenden Industriestaaten der Welt! Dabei war sie in regelmäßigen Abständen bankrott, ohne es zu merken. Ein kleiner Überblick dazu:
Vier Jahre nach der Gründung mussten die Akkordleistungen der Bauarbeiter erhöht werden: das war der Auslöser für den Streik und den Aufstand vom 17. Juni 1953. Danach war die andauernde Flucht begabter Leute in den Westen so stark, dass 1961 die Mauer gebaut werden musste, um diese Verluste zu unterbinden. Ab 1962 wurde der Häftlingsfreikauf eingeführt: die DDR inhaftierte mehr oder weniger willkürlich Menschen, die sie hassten und verscherbelte sie dann wie Sklaven für durchschnittlich 90.000 DM an die Bundesrepublik. Bis 1989 waren das circa 34.000 Fälle, Umsatz also 30,6 Mio DM. 1972 musste jeder, der die DDR betrat, circa 25 DM pro Tag zwangsweise umtauschen, und die Bundesrepublik musste die DDR-Transitstrecken finanzieren, was auch ein paar Millionen brachte.
Das war aber nur ein Tropfen auf den heißen Stein, denn ohne den von Franz-Josef Strauß 1983 an die Bayerische Landesbank vermittelten Kredit über 2 Milliarden hätte es schon damals erheblichen Ärger gegeben. Also verstaatlichte man im Lauf der Jahre schrittweise alles, was irgendwo noch in privater Hand war. Als wir 1990 unser erstes Anwaltsbüro in der DDR eröffneten, kamen als erste die Friseure, die man in der letzten Welle gezwungen hatte, im Kollektiv zusammenzuarbeiten. Wenn es irgendjemanden gibt, den man nicht kollektivieren kann, dann ist das eine Friseuse, ein Kellner, eine Hure und ein Taxifahrer – sie erbringen höchst persönliche Dienstleistungen und können keine Chefs vertragen. In der DDR waren sie wegen ihrer Gleichgültigkeit und Frechheit gefürchtete Berufsgruppen! Aber zu solchen Erkenntnissen konnte die sozialistische Politik sich nicht durchringen, weil ihr die Menschen ganz und gar gleichgültig waren.
Als der Chef der Planungskommission, Gerhard Schürer am 27. Oktober 1989 versuchte, eine Bilanz zu ziehen, die teilweise auf unvollständigen Informationen beruhte, weil die Zahlen des Imperiums Schalck-Golodkowski ihm nicht zur Verfügung standen, zeigte die endgültige Insolvenzbilanz: 38 Milliarden DM fehlten in der Kasse. Hans Modrow hoffte zurzeit seiner Übergangsregierung, die DDR mit 15 Milliarden DM stabilisieren zu können. Helmut Kohl, der – anders als Oskar Lafontaine – den jungen Gott der Zeit, Kairos, auf sich zu rennen sah, verweigerte sich dieser Forderung, weil er fürchtete, er würde einen Erfolg der Regierung Modrow ermöglichen. Stattdessen investierte er diesen Betrag in den Goodwill der Sowjetunion, für die er ausreichte, um der Wiedervereinigung zuzustimmen. Vermutlich hätte Gorbatschow das Zehnfache verlangen können.
Der entscheidende Grund für den Untergang der DDR liegt aber nicht in ihrer wirtschaftlichen Insolvenz. Sie ist nur die Folge jener großen Fehlkonstruktion, die auch die Sowjetunion zu Grunde gerichtet hat. Beide gingen von der Idee aus, man könne geschichtslos leben und ein Staatsgebäude wie mit einem Architektenplan auf die grüne Wiese setzen. Dieser blinde Fleck hatte an den unterschiedlichsten Stellen seine Auswirkungen: es gab Gerichte, aber sie waren nicht unabhängig, weil Partei und Ministerien jederzeit Weisungen an die Richter geben konnten, es gab Planwirtschaft, daneben entstand zwangsläufig eine Schattenwirtschaft, bei der sich jeder einschließlich der führenden Politiker bediente und die Volksarmee imitierte bis in den preußischen Stechschritt hinein die Wehrmacht auf gespenstische Weise.
Die Gedankenfreiheit gab es natürlich, wenn man darauf verzichten konnte, irgendetwas zu sagen, aber wie kann man sich in seinen Gedanken von einer Sprache losmachen, die immer politisch korrekt sein soll? All das wurde nur deshalb nicht als Karikatur erkannt, weil George Orwells Büchern überall verboten waren.
Die entscheidende Weichenstellung zwischen der Bundesrepublik und der DDR fand 1968 statt. Hätte die DDR eine – wenn auch nur distanzierte – Sympathie mit der Entwicklung in Polen und der Tschechoslowakei gezeigt, wäre die Sowjetunion vielleicht zurückhaltender geblieben. Jedenfalls hätte spätestens seit diesem Zeitpunkt eine Aufweichung der harten Positionen stattfinden können, wie sie sich dann in Ungarn und anderen Ostblockstaaten entwickelt hat. Dafür fehlte aber eine Voraussetzung, die in der DDR bis zu ihrem Ende niemals eingetreten ist: das Schweigen über die Vergangenheit hätte gebrochen werden müssen! In der Bundesrepublik geschah das unter großen Schmerzen und Verwerfungen, im Osten hingegen wurde die geistige Mauer erst einmal noch höher gebaut und alle Dissidenten erst inhaftiert, dann verkauft und ausgewiesen. Hier hat die vierte Welle bis 1989 gebraucht, um über dem Regime zusammenzuschlagen.
Diese Politik brauchte die Waffen der Sowjetunion und musste fallen, als Gorbatschow in aller Offenheit erklärte, er werde sie nicht benutzen. Er hatte gemerkt, dass hinter der Fassade keine Substanz mehr war. Hätte er auch nur gedroht, sie gleichwohl mit der Gewalt der Waffen aufrecht zu erhalten, wäre die Geschichte ganz anders verlaufen. Nahezu jeder aus seiner Umgebung stand genauso fassungslos vor seinem Alleingang, wie die meisten westlichen Politiker. Er hat ein extrem hohes persönliches Risiko auf sich genommen und wahrscheinlich Positionen vergeben, die er ohne weiteres hätte halten können. Ob dieser gute Wille außerhalb des Westens je honoriert wird?
Wir bewundern seinen Weitblick und den Mut unserer Mitbürger in der DDR, die plötzlich von ihren Genossen alleingelassen in der Kälte standen und nun begannen, sich zusammen zu rotten. Denn als sie das taten, konnten sie noch nicht wissen, dass weder die Sowjets noch die Volksarmee schießen und wie die Sache am Ende ausgehen würde.
Dann aber zeigte sich: der Sozialismus in seinem Lauf wurde doch von Ochs und Esel aufgehalten, nämlich von Erich Honecker und Egon Krenz. Während der kritischen Wochen vor dem 40. Jahrestag der DDR, als die Menschen schon in Prag und Budapest in die Botschaften flüchteten, steckte Honecker den Kopf in den Sand und schoss in seinem Jagdrevier – für ihn von Hand verlesen – den größten Bock seines Lebens. Wenige Wochen später, als über seinen Rücktritt abgestimmt wurde, hob auch er die Hand, und entmachtete sich selbst, damit es im Zentralkomitee wie üblich 100 % Zustimmung gab. Denn die Partei sollte doch wie immer Recht behalten!
Weder er noch Krenz bemerkten, dass die Partei sich um Modrow geschart und mit ihm schon längst das sinkende Schiff verlassen hatte.
Die Führung wartete auf die Partei, die ihrerseits auf die Führung wartete und währenddessen zeigten die Demonstrationen, dass das Volk nicht mehr zu steuern war. Es glaubte, gegen das System anzurennen, aber da stand nur noch eine Fassade mit saarländischem Akzent und einem Hut obendrauf.
Es nützte nichts, sie gegen eine andere Fassade auszutauschen, die dem französischen Komiker Fernandel verblüffend ähnlichsah, denn Krenz war genauso wie Honecker nur als Berufsjugendlicher qualifiziert und so endete er auch.
Er konnte der Partei nicht mehr sagen, wie sie hätte recht behalten können. Weil ihr jede Orientierung fehlte, hat der Versprecher (Versprecher?) von Schabowski am 9. November 1989, wie der Flügelschlag des Schmetterlings ausgereicht, um die Führungslosigkeit der Partei aufzudecken.
Also haben die Oberstleutnants der Grenztruppen Harald Jäger an der Bornholmer Straße und Heinz Schäfer an der Waltersdorfer Chaussee in Berlin einen eigenen Entschluss gefasst und Mut genug gehabt, gegen 21 Uhr die Massen »fluten zu lassen«.
Das waren große Szenen. Wir haben auch die Tragödie gespürt, die in wenigen Sekunden die Lebensleistung von Millionen Menschen infrage gestellt hat. Diese Menschen mussten wie in Russland, wie in China und wie heute noch in Nordkorea in vielen Jahren am eigenen Leib erfahren , dass Marx kein Gott, sondern nur ein analytischer Wissenschaftler war, der in den düsteren Hallen englischer Bibliotheken über eine bessere Welt nachdachte, aber vom Management nichts verstand.
Wir mussten diese Fehler nicht erleiden und auch deshalb beteiligen wir uns am Aufbau Ost ohne großes Murren. Seit 1990 transferieren wir pro Jahr etwa 75 Milliarden Euro (netto) in die Neuen Bundesländer und ein Ende ist nicht abzusehen. Fairerweise muss man dazu aber sagen: der Aufbau der Infrastruktur, die Renten und manche anderen Investitionen sind im Grunde Nachfolgelasten des Krieges und wir können von Glück sagen, dass wir das erst jetzt finanzieren müssen, nachdem wir den Westen aufgebaut hatten. Nur will mir nicht in den Kopf, dass offenbar nur wenige Bürger der DDR fähig sind, sich vorzustellen, was geschehen wäre, wenn wir sie allein gelassen hätten, wie es zum Beispiel Oskar Lafontaine empfohlen hatte. Ausgerechnet er versucht heute gleichzeitig auf dem nationalen und dem sozialen Klavier zu spielen und beschwört eine Volksgemeinschaft herauf, bei der es im günstigsten Fall sonntags statt »Reichtum für alle« wieder Eintopf für alle geben wird.
Während wir ab 1968 wenigstens Bewegung spürten und ahnten, dass die alten Verhältnisse sich auflösen würden, mussten die Deutschen in der DDR weiterhin noch für viele Jahre den sozialistischen Traum aushalten. Sie haben mit persönlicher Not und vielen inneren Konflikten dafür zahlen müssen. Wie die verängstigten Kinder saßen sie in ihrem Zimmer, aufmerksam auf die Geräusche der Partei nebenan lauschend, die immer recht hatte und trösteten und unterstützten einander. Auf die ständige seelische und materielle Existenzbedrohung haben sie unterschiedlich reagiert: die einen machten mit, die anderen passten sich an, andere krochen in die Datschen, einige wurden verhaftet, einige brachten sich um, einige wurden erschossen. Im Westen musste keiner solche Konflikte durchmachen. Nach der Wende hätten wir danach fragen sollen. Und weil nur wenige das taten, müssen die meisten von uns zu Recht den Vorwurf der Arroganz aushalten, denn dieser lateinische Begriff heißt nichts anderes als »nicht fragen«!.
Wir haben auch die menschliche Nähe übersehen, die unter vielen Bürgern der DDR entstanden ist, weil sie sich gegenseitig viel mehr helfen mussten als wir. Wir haben nicht einmal bemerkt, dass uns diese gegenseitige Wärme schon lange fehlte. Und auf Fragen danach haben wir ausweichende Antworten gegeben, denn das alles war uns sehr peinlich. Die Menschen in der ehemaligen DDR beschweren sich auch, dass wir in unserer Arroganz ihre Erfahrungen nicht nutzten, die zum Beispiel bei der ärztlichen Versorgung (Polikliniken) oder den örtlichen Jugendzentren wertvoll war.
Wir hingegen haben – meist vergeblich – auf den Dank für die ungeheuren finanziellen Leistungen gewartet, die wir seit 1989 immer wieder erbringen. Wir erhalten diesen Dank nicht, weil wir nicht gefragt haben.
So stehen wir uns schon wieder schweigend und stumm gegenüber. Das ist tragisch, denn wir hatten während der 68er gelernt, die Mauer des Schweigens niederzureißen, die frühere Generationen errichtet hatten. (Ich werde sie weiter unten näher beschreiben). Wir sind aus den Zimmern unserer Eltern 1968 ausgebrochen und einige haben beim Weggehen auch noch die Vorhänge angezündet. Keiner von uns wollte auch nur in die Nähe der Verhältnisse, die im Osten noch zwanzig Jahre weiter bestanden hatten. Außerdem hatten wir seit 1968 alle möglichen Formen der Basisdemokratie bis zum Überdruss durchdekliniert und unsere Schlüsse daraus gezogen. Auf diesen Lernprozess war keiner mehr scharf. Aber das konnten die Leute aus Ostberlin, Dresden und Leipzig wirklich nicht wissen.
3. Autorität und Gehorsam
Die unfassbaren beiden Weltkriege, die Zerstörung der Weimarer Republik, das Regime der Nazis – über all das wurde nach 1945 nur in Andeutungen und dann gesprochen, wenn es unvermeidbar schien.
Die Morde an Millionen Juden, politischen Gegnern und anderen Völkern wurden vollständig und von jedermann – also auch jenen, die sich an ihnen nicht beteiligt hatten – vor uns Jüngeren schuldbewußt und schamhaft verborgen. Ihre schonungslose Aufdeckung vor allem durch die Auschwitz-Prozesse in Frankfurt Anfang der Sechzigerjahre war einer der Treibsätze der Revolte von 1968. Die Schuld der Täter oder Mittäter, wurde damals – allerdings nur anhand weniger Fälle – geklärt. Die Frage, warum so viele mitgelaufen sind oder sich nur still verhalten haben, blieb offen. Für dieses Verhalten gibt es unzählige Erklärungsversuche und auch dieser ist nur einer von ihnen.
Er wirft allerdings ein besonderes Licht auf das Autoritätsproblem, dass wir Deutschen haben.
3.1. Die Dunkelkammer des Schweigens
Unmittelbar nach dem Krieg haben vor allem die Amerikaner den älteren wie den jüngeren Deutschen die Filme aus den Konzentrations- und Vernichtungslagern vorgeführt. Als die formale »Umerziehung« aber abgeschlossen war, kamen auch diese Filme wieder in die Archive. Wir jüngeren haben sie weder in der Schule noch sonst gesehen und der Geschichtsunterricht begann bei den alten Griechen und endete (auch in unserem relativ intellektuellen Gymnasium) im Jahr der Reichsgründung 1871. Frühere Ereignisse wurden niemals in Beziehung zur jüngeren Vergangenheit gesetzt, es wurden Zahlen gepaukt, aber keine Erklärungen gegeben.
Besonders die NS-Zeit wurde nicht als politisches Phänomen und schon gar nicht im Zusammenhang mit der historischen Entwicklung verstanden, sondern allenfalls als persönliches Verbrechen Adolf Hitlers wahrgenommen. So entwickelte sich in den Dunkelkammern langsam »die Kunst, es nicht gewesen zu sein« (Odo Marquardt).
Man hätte stattdessen Parallelen zum (ersten) Dreißigjährigen Krieg (1618 – 1638) aufzeigen können, der Deutschland schon einmal so stark zerstört hatte, dass nur 30 % der Bevölkerung überlebten. Henry Morgenthau wollte Deutschland in diese Zeit zurückversetzt wissen (Direktive JCS 1779), konnte sich aber gegen die Pläne von George C. Marshall nicht durchsetzen. Die Zusammenhänge zwischen der beginnenden Industrialisierung und den nachfolgenden beiden Kriegen, die Raymond Aron als zweiten dreißigjährigen Krieg und Ernst Nolte (gegen erheblichen Widerspruch) als Europäischen Bürgerkrieg bezeichnet haben, hat uns niemand erklärt.
Nur wenige sehen auch die Verbindungen zwischen diesen historischen Ereignissen und der Revolte der 68er: Sie war in erster Linie eine Reaktion auf das Schweigen, das man über diese Zeit verhängt hatte. Weder unsere Eltern noch unsere Großeltern wollten uns darüber Auskunft geben, was sie alles in den Kriegen getan hatten, gleichgültig, auf welcher Seite sie standen und warum sie versuchten, wie die drei Affen weder etwas zu hören, noch zu sehen, noch zu sprechen: »Gehe nie zu deinem Fürst, wenn du nicht gerufen wirst« war ein Leitsatz, den meine Mutter oft wiederholte.
Sie war 1907 in den Zeiten der Monarchie geboren und dieser Satz hat ihr in der Weimarer Republik, im Dritten Reich, und später bei jedem genutzt, der sich als Fürst Macht verschafft hatte – auch bei den Franzosen, die nach 1945 das Dorf besetzten, in dem sie sich mit Leichenwaschen und Dolmetschen durchschlug.
Auch der Großvater meiner Kinder (geboren 1912) war ein großer Schweiger, obwohl er allen Grund gehabt hätte, uns etwas über sein wirklich aufregendes Leben zu erzählen20. Er war – gelernter Jurist – in den dreißiger Jahren als Undercover-Agent der KPD in ihrem Auftrag erst in die NSDAP eingetreten und hatte sich dann erfolgreich als rechte Hand des Münchner NS-Oberbürgermeisters etabliert.
1945 hat man ihn sofort entnazifiziert und für die KPD 1948/49 in den Frankfurter Wirtschaftsrat berufen, den Vorläufer des Parlamentarischen Rates. Danach nutzte er seine Beziehungen für den Ost-West Handel und reiste unter anderem mit Unterstützung der DDR-Regierung und Moskaus nach China und Korea, wo er mithilfe seiner alten Parteibeziehungen den ersten großen deutsch-chinesischen Handelsvertrag über 2 Milliarden DM zu Stande brachte, und Mao Tse Dong interviewte. 1953 wurde er in der ersten großen Spionage Affäre der Nachkriegszeit zu Unrecht als Spion verhaftet und bald wieder freigelassen21. An Abwechslung hat es ihm bestimmt nicht gefehlt. Er verließ die Partei vermutlich 1956, als sie verboten wurde. Ein zweites Mal wollte er nicht in den Untergrund gehen – nicht zuletzt, weil er jetzt auch wohlhabend geworden war!
Ein solches Leben zwischen den Fronten, über viele Jahre unter Lebensgefahren, hätte jeden Anlass geboten, mit seinen Kindern über die geschichtliche Periode zu sprechen, in der er so viele schwierige Entscheidungen treffen musste. Aber er schwieg. Über seine Beteiligung am Bürgerkrieg wollte er nicht reden.
Aber mehr noch als der Bürgerkrieg wurde uns der Mord an den Juden verschwiegen, in den die beiden Generationen der Eltern und Großeltern verwickelt waren. Viele hatten sich die Hände blutig gemacht, weil sie freiwillig oder auf Befehl hin gemordet hatten, die Reichsbank hatte das Gold gezählt, die Wehrmacht ab 1939 hinter dem Schleier des Krieges die SS und die Einsatzgruppen beim Mord geschützt. Das unvorstellbare Ausmaß dieser Morde ist auch durch die Fähigkeit der Deutschen zur technischen Präzision und die Leistungsfähigkeit ihrer Bürokratie ermöglicht worden, die selbst unter Kriegsbedingungen in allen eroberten Ländern eine genaue Buchhaltung über die Verbrechen aufstellte: am Ende wusste man ganz genau, was man damit verdient hatte. Hinzu kam eine technische Arbeitsteilung, die jedem nur einen kleinen Teil der Aufgaben zuwies und so im Dunkeln lassen konnte, was mit »Endlösung« wirklich gemeint war.
Ingeborg-Bachmann-Bibliothek, Berlin.
Ich habe mir lange nicht erklären können, warum neben den Rechten auch die Linke – nicht nur in der DDR, sondern auch in der Bundesrepublik – den Mord an den Juden herunter spielte und sich so offen auf die Seite der Palästinenser und Araber schlug. Ich vermute den Grund in folgendem: eine Vielzahl sozialistischer Führer in Russland, in Polen, in Deutschland usw. waren jüdischer Abstammung und sind von ihren eigenen Leuten in den vielen Umbrüchen genauso gnadenlos verfolgt worden, wie von den Rechten. Wenn man über die Verbrechen der Nazis sprach, hätte man wohl die eigenen nicht ausblenden können. So war es einfacher »Israel« anzuprangern, ohne die Verbindung dieses Staates mit den Juden und ihrer Geschichte gedanklich herzustellen.
Zu all dem haben die Deutschen teils aus innerer Zustimmung, teils aus Angst geschwiegen. Wenn in diesem Zusammenhang von den Deutschen die Rede ist, darf man nicht übersehen, dass seit 1938 immer auch die Österreicher gemeint sind, die unter den Nazis von Anfang an eine bedeutende Rolle gespielt haben. Hitlers Flucht vor dem verhassten Wehrdienst in der kaiserlich-österreichischen Armee, die ihn nach München führte, beruhte nur auf seinem persönlichen Hass gegen den Vielvölkerstaat, denn dem deutschen Kaiser hat er 1914 gern freiwillig gedient. Seine politische Botschaft hat viele seiner Landsleute begeistert. Wie in der Nachkriegszeit die hohe Zustimmungsrate zur Eingliederung Österreichs in das Reich und die nachfolgenden Pogrome an den Juden, an denen viele österreichische Nazis beteiligt waren, vergessen werden konnten, ist eines der Geheimnisse der Geschichte. Auch Thomas Bernhard und Elfriede Jelinek haben es nicht aufklären können.
Dieses Schweigen setzte sich nach dem Ende des Krieges geradezu selbstverständlich fort, denn nun gaben Scham und Schande uns genügend Anlass, über unser früheres Verhalten privat wie öffentlich zu schweigen. Je lauter die Anklagen wurden, umso stiller wurden die Angeklagten, denn man konnte die Verbrechen ja offenkundig durch nichts rechtfertigen. Das galt nicht nur im Westen, sondern auch in der DDR. Die brachte es allerdings auf heuchlerische Weise fertig, die früheren »Faschisten« anzuprangern, gleichzeitig aber zu verschweigen, wie viele von ihnen zwischen 1945 und 1949 rechtzeitig rot geworden waren – allerdings nicht aus Scham, sondern weil sie erneut ihre Fähigkeiten beweisen konnten, sich beliebigen Autoritäten anzupassen.
Das Schweigen beschränkte sich nicht auf die Täter und ihre Kinder: Wir dürfen nicht übersehen, dass auch auf Seiten der Opfer – wenn auch aus ganz anderen Gründen – geschwiegen wurde. Der Schmerz war zu groß, das Geschehen so unwahrscheinlich und die Folgen so belastend, dass viele Juden und andere Opfer versucht haben, die Ereignisse zu verdrängen. Die Familie ist – ganz unabhängig davon, wer zu ihr gehört und wie die Menschen sich verhalten – das unmittelbarsten Band, das uns mit dem Leben verknüpft. Viele Überlebende haben sich gegenüber den Toten schuldig gefühlt, manche Kinder, deren Eltern sie in letzter Sekunde unter Tränen nach England schickten, haben ihnen das vorgeworfen (und selbst wieder darunter gelitten), wohl wissend, dass nur dieser Schritt ihr Leben gerettet hat. Wie soll man solche Konflikte bewältigen? Mit wem konnte man darüber sprechen?
So hat sich jeder selbst als unbedeutendes Rad im Getriebe interpretiert. »Ihr müsst unter allen Umständen funktionieren« das war eines der Erziehungsprinzipien unserer Eltern, die auch nach diesem Verbrechen nie verstanden haben, wie dieser Satz missbraucht worden ist, sonst hätten sie ihn nicht wiederholt. Sie ahnten nicht, dass in bestimmten Zeiten jeder Gedanke und jeder Handgriff politische Bedeutung hat. Erst die 68er haben das zum Thema gemacht.
3.2. Antisemitismus
Die Feststellung, dass Täter und Opfer – ja sogar unbeteiligte Dritte – so viele Jahre gebraucht haben, um endlich zur Sprache zu kommen, braucht eine Erklärung. Die Verbrechen geschahen ja nicht aus heiterem Himmel, auch wenn ihre industrielle Planung sich erst in den Vernichtungslagern verwirklichte. Es gab unübersehbare Anfänge: bei den November-Pogromen 1938 wurde auch die Synagoge in der Berliner Fasanenstraße abgefackelt, an deren südlichem Ende meine Eltern damals wohnten. Beide waren militante Katholiken im Stil der Iren und lehnten die Nazis ab. Während der sechs Jahre 1933-1939 gab es eine Vielzahl von Vertreibungen, Zerstörungen und anderen Schikanen, die sie mit Sicherheit beobachtet haben. Nicht einmal darüber haben sie mit uns gesprochen. Waren sie aus Hass gegen die Juden damit einverstanden?
Kein Zweifel: die Mehrzahl der Deutschen war – unabhängig von ihrem Bildungsniveau – seit Jahrhunderten schon aufgrund der ausgeprägt christlichen Traditionen antisemitisch eingestellt Schon im Kaiserreich gab es die »Antisemitische Deutsch-Soziale Partei«, die »Deutsche Reformpartei« und andere offen antisemitische Splittergruppen, die sich auch in der Weimarer Republik entsprechend betätigten. Wilhelm II. schob nach dem Ersten Weltkrieg die Schuld daran ebenfalls den Juden zu. Liest man die Geschichte gerade der erfolgreichen jüdischen Familien (Rothschild, Warburg, Liebermann, Rathenau etc.), ist der ständige Kampf gegen die dauernde Diskriminierung unverkennbar. Wie sie sich im Alltagsleben einfacherer Familien fortsetzt, ist in der damaligen Tagespresse und noch deutlicher in kritischen Blättern wie etwa dem Simplicissimus unschwer nachvollziehbar.
Die historisch wichtigste und früher gewiss kräftigste Wurzel des Antisemitismus stammt aus dem religiösen Vorwurf, die Juden hätten Christus getötet. Dieser allgemeine Antisemitismus und die damit verbundene Diskriminierung war aber über lange Zeiträume hinweg auch in anderen europäischen Ländern zu beobachten:
In Spanien kam es 1391 und 1531 zu großen Austreibungen der sephardischen Juden. In Russland und Polen zeigt der Antisemitismus sich in ständigen »Pogromen« (ein russischer Begriff): 1563, 1648, 1790, 1881, 1905 und auch die Jahre nach 1918 zeigen eine ununterbrochene Folge solcher Aktionen), vor denen viele Juden nach USA und nach Deutschland (!) flüchteten, um dort Schutz zu suchen. Sie haben ihn trotz der antisemitischen Grundstimmung bis 1933 auch tatsächlich in vielen Formen gefunden.
Im Lauf der Jahrhunderte tritt dieses religiöse Motiv langsam zurück oder wird von anderen Motiven gestützt und überlagert. Da den Juden die üblichen Gewerbe verboten waren, blieb ihnen außer dem Handel nicht viel übrig und ihr Monopol auf Kreditgeschäfte entwickelte sich aus dem Zinsverbot, das den Gläubigen auferlegt war.
Die dauernden Vertreibungen führten auch dazu, dass Familien auseinandergerissen und über viele Länder verteilt lebten. Die Netzwerke gegenseitiger Unterstützung entwickelten sich sehr schnell international und haben auch den Handel gefördert. So entstand neben einer Vielzahl armer Juden auch eine sehr reiche Oberschicht. Die dauernde und herausfordernde Schulung des Denkens, die zur jüdischen Tradition gehört, die Pflicht zum Argumentieren über die heiligen Texte, schärfte den Verstand junger Leute, die nicht nur Rabbis sondern auch Künstler, Schriftsteller und Anwälte wurden. Sie zeichneten sich aus durch »polemisches Temperament, melancholische Heiterkeit, göttliche Frechheit und widersprüchliche Andersartigkeit«, wie Rudolf Walter Leonhardt einmal über Heinrich Heine geschrieben hat22. Sie alle waren – vor allem in Deutschland – einem alles zerstörenden Gefühl ausgesetzt: dem Neid.
Die absurden Theorien über die jüdische Weltverschwörung beruhen in erster Linie auf den guten internationalen Kontakten und der Förderung jedes zuverlässigen Menschen, der »Glaubensgenosse« war. Die zunehmende Anerkennung in der europäischen Gesellschaft, die zum Beispiel Familien wie die Rothschild erlangten, kam auch anderen Juden zugute, die keine Bankiers, Händler oder Wissenschaftler waren: obwohl Sigmund Freuds Familie unbedeutende Händler am Rande Österreich-Ungarns waren, reichten ihre familiären Beziehungen bis nach England. In Frankreich war seit der Revolution ihre Gleichstellung erreicht, aber die Dreyfus-Affäre zeigte, was auch hier unter der Oberfläche brodelte, denn gerade in Frankreich war der Antisemitismus aufgrund der starken katholischen Tradition sehr ausgeprägt. Vielleicht war er deshalb in England auffallend geringer, ein Land das mit Disraeli (1874-1880) einen jüdischen – wenn auch anglikanisch getauften – Premierminister hatte!
In den USA war das nicht anders. Auch dort duldeten die angelsächsischen weißen Protestanten (WASPs) in den dreißiger Jahren in ihren Clubs und Firmen keine Schwarzen, Juden oder Katholiken. Werner Vordtriede, aus Deutschland in die USA geflohen, bewarb sich an der University of Rutgers (New Brunswick) als Assistent: »Als mich der Headmaster fragte, ob ich Engländer sei (die übliche Frage wegen meiner britischen Aussprache), und erfuhr, ich sei Deutscher, schrie er jovial: »Never mind! That’s all the same around here: Negroes, Jews or Germans“23.
Man hat diese Unterschiede in der Tat »jovial« gesehen, also aus der Gutsherren-Perspektive und das galt auch noch lange nach dem Krieg. Joe Flom, der Mitbegründer der New Yorker Anwaltssozietät Skadden Arps, bekam 1949 nur bei dieser Firma einen Job, die damals aus zwei Anwälten bestand und heute vor allem dank seiner Ideen zu den größten Anwaltsfirmen der Welt gehört. Den katholischen (also meist irischstämmigen) und den farbigen Anwälten ging es ganz ähnlich und solche Diskriminierungen wurden von allen – auch den Betroffenen – als selbstverständliche Rahmenbedingungen ihrer Existenz anerkannt. Sie wussten, dass sie nicht die gleichen Chancen hatten, aber vertrauten darauf, das werde sich ändern. Aber noch als John F. Kennedy Präsident wurde, haben sich viele darüber aufgeregt, dass es erstmals ein Katholik geschafft hatte!
Goldhagen24 und andere führen den Mord an den Juden auf solche Ressentiments zurück, die die Deutschen mehr beherrscht hätten als andere. Das ist aber gewiss nicht richtig. Der Antisemitismus ist – wie ich zeigen werde – nur einer von mehreren Faktoren, die dabei eine Rolle gespielt haben.
Auch wenn es im Einzelfall nicht einfach ist: wir müssen differenzieren, es gibt keine einfachen Zusammenhänge zwischen Ursache und Wirkung.
3.3. Schuldzuweisungen
Treten wir noch einmal einen Schritt zurück und betrachten die Situation im März 1933, als Hitler und die Nationalsozialisten in (einigermaßen) demokratischen Wahlen eine namhafte Mehrheit im Reichstag erringen konnten. Es mag sein, dass diese Wahl schon von den Schatten des Terrors gezeichnet war, aber den entscheidenden Todesstoß erhielt die Weimarer Republik nicht durch den Willen eines demokratisch gewählten Parlaments, sondern durch den offenen Verfassungsbruch der Parlamentarier und der Regierungen, die von den Nationalsozialisten gestellt wurden.
Das Ermächtigungsgesetz (1934) mit dem sich der noch nicht durch den Terror entmutigte Teil des Parlaments selbst kastrierte und dann die Gestapo-Gesetze25 (1933-1936), die die Reste des rechtsstaatlichen Handelns von Polizei und Justiz beseitigten, haben auch die vielleicht noch bestehende Fassade der Verfassung endgültig demontiert. Offenbar wurde die Demokratie nicht vermisst, denn wie konnte es sonst dazu kommen, dass in den ersten Jahren nach 1933 weniger als 10 % der Bevölkerung die restlichen Deutschen so einschüchtern konnten, dass die meisten von ihnen nur noch mit dem Kopf genickt, nichts gesagt, nichts getan und niemals gegen die Zerstörung all ihrer persönlichen Rechte protestiert haben? Damals gab es schon offenen Terror, die Gleichschaltungspolitik hatte gegriffen, die Nürnberger Gesetze entstanden – aber den Judenstern gab es noch nicht, es gab noch nicht die Reichspogromnacht, es gab noch nicht einmal den begeisterten Anschluss Österreichs. Es gab nur diese Begeisterung darüber, dass viele sich nicht mehr mit der Rolle in der Geschichte abfinden wollten, die ihnen bis dahin zugewiesen worden war. Die meisten durchschnittlichen Deutschen haben sich – ob zu Recht oder zu Unrecht – als die Fußabstreifer Europas gefühlt und keine Gedanken darüber gemacht, als Massenverbrecher zu enden. So haben sie sich von einigen wenigen führen lassen, die sie am Anfang noch hätten in die Schranken weisen können.
Diese Schranken brachen mit dem langen zuvor gefassten Plan, die Juden in Europa zu vernichten. Über den Beginn dieser Pläne gibt es Streit. Es liegt nahe anzunehmen, dass in Hitlers auch Kopf die Idee dieses Massenmordes seit jeher herumgeistert. Sie findet sich schon in »Mein Kampf« (1925) und wird 1939 vor dem Einfall in Polen in einer öffentlichen Rede ausdrücklich angekündigt und von den Einsatzgruppen ausgeführt. Hitlers Stimme war eine von hunderttausenden, die radikaler und schärfer war als der allgemeine Antisemitismus des Bürgertums. Viele haben dem zugestimmt, aber diese Zustimmung galt seinen Reden, seiner Meinung und (noch) nicht seinem Handeln. Wir dürfen nicht im Nachhinein aus den Worten Taten machen, bevor sie wirklich begonnen werden. Und wenn jemand zu den Untaten eines anderen schweigt und nichts unternimmt, müssen wir uns fragen, ob in dieser Unterlassung selbst Schuld steckt. Das jedenfalls gehört zu den Grundbegriffen rechtlichen Denkens.
Spätestens ab 1933 begannen die Verbrechen. Die Leute schwiegen, als man vor ihren Augen ihre Nachbarn aus den Wohnungen zerrte. 600 Münchener Anwälte protestierten nicht, als man die anderen 300 (jüdischen) Kollegen aus den Gerichten jagte. Vielleicht sind manche sogar so ehrlich gewesen, sich zu sagen: da schafft man uns unsere Konkurrenz vom Hals! Aber die meisten werden sich geschämt haben – und haben trotzdem nichts unternommen. Danach ging es weiter: über die Nürnberger Gesetze und ihre stets weiteren Verschärfungen wurde diese Entrechtung der Juden, ihre Deportation, ihre Austreibung Schritt für Schritt weiter vorangetrieben, das meiste davon vor aller Augen. Aber der fabrikmäßige Mord von Auschwitz und den anderen Vernichtungslagern gehörte vor 1941, als Göring den Auftrag zur Planung an Heydrich gab, noch nicht zur allgemeinen Vorstellungswelt der führenden Nazis, geschweige denn anderer Leute. Er ist als Konzept in der Wannseekonferenz Anfang 1942 vorgestellt worden und hätte ohne den Schlussstein – das tödliche Gas Zyklon B – nicht realisiert werden können. Diese Planungen fanden nicht in der Öffentlichkeit statt. Allerdings war das Wissen um sie innerhalb einer Vielzahl von Ämtern und Behörden viel weiter verbreitet, als man noch vor wenigen Jahren auch nur ahnte. Die jüngste Dokumentation aus dem Auswärtigen Amt (2010) zeigt uns zum Beispiel eine Reisekostenabrechnung eines führenden Beamten mit dem Betreff »Liquidation von Juden in Belgrad«. Also wusste auch der Buchhalter davon. Aber damit wusste er immer noch nichts von Auschwitz. Auschwitz liegt allerdings in der Logik des Ganzen, aber Logik ist eine theoretische Kategorie und reicht für persönliche Schuldzuweisungen nicht aus.
Entscheidend ist also die Frage: wer konnte sich außerhalb der Partei, ihrer Gliederungen, der Wehrmacht oder irgendwelcher Ämter und Behörden 1933,1939,1942 oder zu einem späteren Zeitpunkt vorstellen, dass die Ausgrenzung, Misshandlung und Verschleppung der Juden in einer einzigen Orgie des Tötens enden würde? Und welche Vorstellungen hatten die Täter/Mitwisser zu einem dieser Zeitpunkte über die Realität ihrer Verbrechen? Nicht einmal Heinrich Himmler hatte dafür zunächst genügend Fantasie. Die Pläne für die Vernichtungslager wird er zweifellos gesehen haben, als er aber 1943 ein einziges Mal ein solches Lager betrat, war er danach so schockiert, dass er sich und seine Leute in der Posener Rede für die innere Stärke lobte, beim Anblick der eigenen Untaten nicht schreiend vor sich wegzulaufen zu sein: es sei ein »niemals zu schreibendes Ruhmesblatt der Geschichte« meinte er. Und man merkt das nachhallende Entsetzen daran, dass er ahnte: würde er dieses »Ruhmesblatt« je veröffentlichen, hätte er sich seine Anklageschrift schon geliefert. Himmler gehört auch zu jenen typischen Fällen, die ihre schweren Vaterkonflikte in politischen Grausamkeiten ausleben mussten. Alfred Andersch' Bericht über seinen Vater, den Rektor des berühmten Wittelsbacher-Gymnasiums in München ist umstritten. Wir wissen aber, dass Joseph Gebhard Himmler seinen Sohn – einen Musterschüler par excellence -auch nach dem Abitur (1919) bis zum Hitler-Putsch (1923) nicht aus den Augen ließ, denn dessen Stellung als Laborant in einer Düngemittelfabrik konnte ihn kaum genügen. Ausgerechnet dieser Mann liefert uns ein entscheidendes Argument gegen die Vermutung, die Deutschen hätten die »Endlösung« gebilligt, wenn sie wirklich gewusst hätten, dass hinter der Front in Polen eine Massenvernichtung stattfand. In der Posener Rede sagt er:
»Das jüdische Volk wird ausgerottet« sagt ein jeder Parteigenosse, ganz klar, steht in unserem Programm, Ausschaltung der Juden, Ausrottung, machen wir. Und dann kommen sie alle an, die braven 80 Millionen Deutschen und jeder hat seinen anständigen Juden. Es ist ja klar, die anderen sind Schweine, aber dieser eine ist ein prima Jude.«
Er spricht hier nur von den Parteigenossen, die er für ihre Schwäche tadelt, um wie viel mehr haben andere Deutsche einzelnen Verfolgten geholfen, wenn sie endlich begriffen haben, was sie sahen und ihre Angst überwinden konnten. Deshalb mussten alle NS-Behörden bis hinauf in die Führungsspitze, ja bis hinauf zu Göring, Goebbels und Hitler persönlich, sich mit tausenden von Anträgen beschäftigen, in denen jemand sich für einen Juden einsetzte, den er kannte. Die meisten dieser Anträge waren erfolglos, aber sie wurden gestellt und in vielen Fällen, die heute in der Gedächtnisstätte Yad Vashem dokumentiert sind, wurden Juden versteckt und gerettet.
Natürlich war die Wirkung solch zaghafter Versuche gering, wir können sie aber nicht insgesamt verwerfen, denn nicht einmal den verfolgten Juden selbst war das Ausmaß der Gefahr, in der sie sich befanden, bewusst: Victor Klemperer, ein jüdischer Gelehrter, der in Dresden in der ganzen Zeit wirklich mittendrin stand, glaubte wie die meisten, die Juden würden nur zur Neuansiedlung in fremden Ländern gezwungen, ein Schicksal, das damals viele Millionen Menschen in ganz Europa teilen mussten.
Hannah Arendt hat sogar den Juden selbst vorgeworfen, sie hätten sich von Anfang an aggressiv verteidigen müssen. Sie musste sich deshalb harte Kritik anhören, denn vor allem von jüdischer Seite wurde sie darauf hingewiesen, dass die Todesgefahr, in der die Juden schwebten, erst sehr spät für sie erkennbar war. Eine Hinrichtungsfabrik, die man bis dahin auf Erden noch nicht gesehen hatte, konnte sich außer einem sehr engen Täterkreis niemand vorstellen.
Diesen Überlegungen wird immer wieder entgegengehalten, dass sich in den Akten unzähliger Behörden – wie man vor kurzem herausfand: auch des Auswärtigen Amtes – Dokumente finden, in denen sich Begriffe wie »Liquidation der Juden« und ähnliche befinden. Das bedeutet aber nichts weiter, als dass die Zahl der Mitwisser in den Ämtern viel größer war, als man früher angenommen hat. Und sie beweist gleichzeitig, dass diese Behörden alles getan haben, um ihr Wissen für sich zu behalten und es nicht allgemein zugänglich zu machen. In der öffentlichen Diskussion sieht man all das viel einfacher: »Wenn die wohlversorgten, bewunderten, kultivierten Männer der Wilhelmstraße zu Mördern werden konnten, so ist niemand davor gefeit und keine Institution stark genug, von sich aus die Umwidmung in ein Instrument des Verbrechens zu verhindern26.«
So einfach ist es aber nicht: diese Schwelle, die das rechtswidrige Handeln eines Staates überschreiten muss, damit seine Anweisungen für seine Beamten nicht mehr verbindlich werden, kann nicht irgendwo liegen. Sie muss eine gewisse Höhe erreichen, weil sonst staatliches Handeln insgesamt unmöglich wäre. In Kriegszeiten gilt diese Regel verschärft. Darüber hinaus kommt es – wie oben gezeigt – nicht auf »die Männer in der Wilhelmstraße« an, sondern auf das Wissen und Handeln jedes einzelnen. Und schließlich ist die Vorstellung, eine Institution sei aus eigenen Kräften jemals fähig, gleichzeitig ihren Job zu machen und sich dabei selbst zu kritisieren, um nicht zum Instrument des Verbrechens zu werden, völlig illusionär. Auch die katholische Kirche ist über lange Phasen eine Bande von Verbrechern gewesen. Institutionen lernen oder gehen unter, aber sie lernen nie automatisch und schon gar nicht von unten nach oben, wie die Syndikalistischen sich das erträumt haben!
Natürlich haben vor allem Deutsche, die regierungsnah tätig waren, auch ohne konkretes Wissen um konkrete Abläufe klar genug gespürt, was das Regime wollte. Im Schweigen vieler mag Zustimmung gelegen haben, aber andere haben sich durch ihr Schweigen distanziert, keine Ämter angenommen und sich – auch wenn sie nicht verfolgt worden – aus dem öffentlichen Leben zurückgezogen. Der Rückzug in die Armee galt als ehrenvoll. Auch deshalb sind viele nach Kriegsbeginn bis auf die Handvoll Wehrdienstverweigerer (vor allem: Zeugen Jehovas) zu den Waffen gegangen. Sogar für Heinrich Böll und andere war das eine völlig ausreichende Distanzierung zu den Nazis – von Gottfried Benn oder gar Ernst Jünger ganz zu schweigen. Der Schwabe Hermann Lenz (sechs Jahre Ostfront) merkte ironisch an, er habe in der ganzen Zeit keinen Schuss abgegeben »um mein Gewehr nicht putzen zu müssen«. Ist ein so praktizierter Pazifismus gar nichts wert?
Goldhagen und andere weisen völlig zurecht darauf hin, niemand könne die Hunderte von größeren und kleineren Konzentrations – und Fremdarbeiterlagern (von denen sich fast eintausend auch in Deutschland befanden) übersehen und jeder müsse die auch dort rauchenden Schornsteine bemerkt haben. Die Tatsachen, die er feststellt, sind unbestreitbar, aber jeder Vorwurf kann sich immer nur auf die Tat beziehen, die man begreift. Es ist ein Unterschied, ob man jemandem etwas stiehlt oder ihn schikaniert und verjagt oder ob man diese Taten nur als Vorstufe zum Völkermord begeht, und das weiß.
Diese Pläne sind – wie oben skizziert – erst Schritt für Schritt entstanden. Auch die bis zum Kriegsbeginn diskutierte Aussiedlung nach Madagaskar wurde gelegentlich als »Endlösung« bezeichnet, schloss aber die Vorstellung von einem Massenmord nicht ein.
Schon deshalb gab es keine allgemeine Kenntnis über sie, bevor sie verwirklicht wurden, denn die Morde fanden immer hinter dem Schleier des Krieges statt (alle Vernichtungslager lagen in Polen) und konnten – mit Ausnahme der Geschehnisse an der Rampe in Auschwitz – durch andere Gräueltaten verdeckt oder mit ihnen gleichgestellt werden.
Zudem bedienten die Deutschen (ich sage bewusst nicht: die Nationalsozialisten oder gar nur: Adolf Hitler) sich einer Vielzahl hilfswilliger Kräfte aus anderen europäischen Nationen, die ihre eigenen Motive hatten, sich am Krieg und der Unterdrückung anderer Völker zu beteiligen.
Selbst wenn 30 % der Deutschen (das wären ungefähr 20 Millionen Einwohner) sich persönliche Schuld durch Handeln, Schweigen oder Dulden zuschreiben müssen, sind es immer noch viele Millionen, die nicht dazugehört haben. Auch die Mörder und ihre Helfer haben das geahnt, denn schon das wahllose Gemetzel der Einsatzgruppen nach dem Einfall in Polen wurde als »Partisanenbekämpfung« getarnt und als Kardinal Graf Galen mitten im Krieg (1941) die Euthanasie öffentlich anprangerte, wurde das »Projekt T4« offiziell eingestellt und nur heimlich weiterbetrieben.
3.4. Die Untertanen: Angst und Gehorsam
Mit dieser Einsicht ist aber die Frage, warum die ganz überwiegende Mehrheit der Deutschen sich passiv und gleichgültig gegenüber den Verbrechen verhalten haben, noch nicht beantwortet. Viele einzelne Elemente haben dazu beigetragen, dass die »Endlösung der Judenfrage« überwiegend gelingen konnte: der Antisemitismus und seine lange Geschichte, die Dolchstoßlegende, der Versailler Vertrag, der abrupte Systemwechsel zwischen Monarchie und Demokratie, die Weltwirtschaftskrise, der Ruf nach einer starken Führung inmitten des Nachkriegschaos, die Angst vor dem Herrschaftsanspruch des Kommunismus, das Bedürfnis nach nationaler Identität der Deutschen im europäischen Umfeld usw., der Schleier des Krieges, der über der Judenvernichtung hing, die Bindung an den Eid der Soldaten und Beamten, der bizarre und neurotische Charakter Hitlers und vieler seiner Gefolgsleute – all diese Elemente zählen, aber zu jedem von ihnen gibt es auch gegenläufige Tendenzen: der Antisemitismus war in Frankreich (Dreyfus-Affäre), England oder den USA ähnlich krass wie in Deutschland, auch diese Länder haben unter Weltwirtschaftskrise gelitten, auch sie fühlten sich durch den Kommunismus bedroht und so weiter.
Was ist der Katalysator, der auslösende Faktor, der diese Elemente so vermischte, dass sie gerade in Deutschland in dieser grauenvollen Weise explodierten?
Ich sehe den Schlüssel in der von fast allen Deutschen damals geteilten inneren Überzeugung, dass der Einzelne als Teil eines Ganzen die ihm vorgesetzten Autoritäten, gesetzlichen Regelungen und Machtverhältnisse unter allen Umständen – also auch dann, wenn sie seinem persönlichen Rechtsgefühl widersprachen – respektieren musste. Die Fähigkeit der Deutschen zum Gehorsam ist unter dem Einfluss der oben skizzierten historischen und soziologischen Faktoren von ihnen selbst (und nicht nur von den Nazis, Adolf Hitler usw.) auf seinen hohlen Kern reduziert und missbraucht worden. In den anderen europäischen Ländern fehlt dieses entscheidende Element, das das Verhalten der meisten Deutschen grundlegend prägt: die unbedingte Anerkennung aller Hierarchien und die damit verbundene Angst vor jeder höheren Autorität und ihrer Gewalt! Um es einmal sehr zu vereinfachen:
Die Engländer hatten einige hundert Jahre Zeit, um – immer wieder von Rückfällen bedroht – eine parlamentarisch abgesicherte Verfassung verwenden zu lernen. Das katholische Frankreich konnte seine Angst in der Revolution endlich überwinden und die spanische Inquisition hat sich irgendwann einmal in Luft aufgelöst. Die Italiener haben entweder ihre Republiken verteidigen können, oder sich mit ihren vielen Fremdherrschern pragmatisch arrangiert und in ihren Netzwerken eingerichtet.
Die protestierenden Engländer haben sich 1620 mit der Mayflower in die Neue Welt aufgemacht und haben in den USA noch vor den Franzosen Ideale von Freiheit und Gleichheit so weit realisiert, wie das möglich war. Die Abschaffung der Sklaverei gehörte noch für fast hundert Jahren nicht dazu. Aber schrittweise haben viele Völker irgendwann einmal gelernt, sich selbst als Träger individueller Rechte zu sehen und nicht nur als Teil einer gehorsamen Gruppe, die das tut, was ihr befohlen wird. Natürlich findet man überall genügend Beispiele dafür, dass die Verantwortung, die mit solchen Rechten einhergehen muss, nicht wahrgenommen oder missachtet wird. Aber das sind andere Sünden als die Unfähigkeit, sich und seine Möglichkeiten wahrzunehmen.
Graffito auf Club in Berlin, 2010
Wir haben damit erst nach 1945 sehr vorsichtig angefangen und den wirklichen Durchbruch haben erst die 68er geschafft. Die Angst vor der Obrigkeit und die Bereitschaft zum Gehorsam ist das jahrhundertealte Erbe des deutschen Glaubens an die gottgewollte Hierarchie in allen Lebensbereichen. Sie ist es, die eine politische Revolution bei uns immer wirksam verhindert hat. Die Deutschen hatten trotz (oder vielleicht sogar wegen) ihrer Bildung immer ein offenes Ohr für den Gehorsam und haben als Dauerschaden daraus einen krummen Rücken entwickelt. Es wäre interessant, zu untersuchen, wann die ungestümen Germanen, die Tacitus schildert, die Franken, die bis heute den Begriff »Freiheit« in ihrem Namen führen (und tatsächlich den ganzen Rhein entlang ihre Unabhängigkeit verteidigt haben) diese innere Einstellung verloren und begeisterte Knechte geworden sind. Irgendwann einmal wurde die Vorstellung, die Obrigkeit infrage zu stellen, ihr den Gehorsam zu verweigern und sich damit selbst mehr Freiheit zu schaffen, von der absoluten Angst blockiert, den Schutz der höheren Mächte zu verlieren und auf sich selbst gestellt zu bleiben.
Diese Angst beschränkte sich keinesfalls auf die politischen Verhältnisse. Sie ist ganz unten in den Familien entstanden: unsere Großväter hatten Angst vor ihren Vätern (und die vor den ihren usw.) und noch unsere Väter haben sich schon als Kinder drillen lassen wie die Soldaten -, die beste Voraussetzung für die Armee, die gehorsam in den Krieg ziehen muss, wenn sie ihn gewinnen will. Die Angst durchzog aber auch jede andere soziale Institution, von den Schulen bis hin zu den Behörden, zu denen auch Post und Bahn gehörten!
Die Angst der Untertanen vor Gott und Kaiser war die feste historisch gewachsene Klammer, aus der die Deutschen sich nicht befreien konnten: es war ihre feste Überzeugung, dass die Welt ohne klare Autoritäten, ohne Befehl und Gehorsam, ohne stilles Erfüllen der ihnen auferlegten Pflichten auch gegen jede eigene Einsicht nicht gelenkt werden kann.
Wenn man die Sehnsucht der Deutschen nach Autorität als einen wichtigen Grundzug ihres Wesens versteht, dann ist es nicht sehr schwierig, zu erkennen, wie sich der »Untertan« entwickelt, der ohne seinen Führer nicht existieren kann. Man darf nicht übersehen, wie tief das Modell von Schutz und Trutz wurzelt. Es hat nicht nur negative, sondern eine Vielzahl positiver Seiten, wie wir sie zum Beispiel in den deutschen Genossenschaftsmodellen finden (die Fikentscher unter diesem Gesichtspunkt differenziert untersucht hat).
Immer geht es im Kern um die Frage, ob eher der Einzelne oder die Gruppe im Vordergrund stehen soll. In den Genossenschaftsmodellen und in den Demokratien steht die Gruppe vorn, in den Diktaturen oder Monarchien der Einzelne. Das macht jeden institutionellen Machtwechsel schwierig. So entwickeln sich Ideen, wie jene, mit seinem Volk zu siegen oder unterzugehen. Hier gibt es Parallelen, die von Friedrich II. über Wilhelm II. bis zu Hitler reichen und sich selbst in den fast komödiantischen Figuren der RAF wieder finden.
Auch die deutsche Reformation hat den Untertanen nur die Wahl zwischen Knechtschaft und Landesverrat gelassen: statt einen Papst in Rom durften sie nun ihre Landesherren vergöttern, zuletzt in der besonders absurden Form Wilhelms II. Die innere Unfreiheit durchzog das ganze Land wie eine Infektion und konnte in den wenigen demokratischen Jahren der Weimarer Republik nicht weggewischt werden. Wir haben dieses Schicksal im Großen und Ganzen mit den Russen geteilt und die Engländer identifizieren uns in ihrem Schimpfwort »die Hunnen« wohl nicht zu Unrecht mit ihnen: vielleicht sind wir tief innen asiatischer als wir denken. Allerdings gibt es zwischen Deutschen und Russen einen wichtigen Unterschied: wir liegen mitten in Europa!27 Wir können uns nicht im schlimmsten Fall hinter den Ural zurückziehen und abwarten, bis unseren Gegnern die Füße einfrieren. So konnte Stalin anders als Hitler seine Gewaltherrschaft über viele Jahrzehnte fortsetzen und die europäische Revolte der 68er ist dort nie angekommen. Bis 1986 haben den russischen Regierungen ihre unendlichen Weiten auch dann geholfen, wenn sie sonst am Ende waren. Jetzt müssen sie es genauso versuchen wie wir.
Die Tragödie des Judenmordes ist leichter erklärbar, wenn man sich klarmacht, dass der Befehl zum Wegsehen, der Befehl zum Schweigen und einige (öffentliche!) exemplarische Strafen gegenüber allen, die sich daran nicht halten wollten, in einer autoritätsversessenen Gesellschaft ganz anders wirken müssen, als in einer Gesellschaft, in der eine Mehrheit daran gewöhnt ist, sich politisch zu artikulieren. Wir wissen, dass Leute sich aus den Strafbataillonen weg melden konnten, wir wissen auch von einzelnen Weigerungen zu morden, die nicht damit endeten, dass der Befehlsverweigerer standrechtlich erschossen wurde – aber wir wissen auch, dass der Widerstand sich nur im Untergrund aufhielt, weil er auf der Oberfläche nicht hätte überleben können. Der Terror und die Angst vor dem Terror waren das prägende Elemente dieser Jahre, wie man aus vielen Interviews mit Zeitzeugen weiß.
Wäre die Autorität nicht das prägende Element der Naziherrschaft gewesen, hätte man nicht ein ganzes Volk in den unterschiedlichsten Funktionen in Uniformen stecken und nach dem Führerprinzip organisieren können. Das ist in dieser Form nur Stalin, Mao und bis heute gelegentlich in Südamerika oder bei den Nordkoreanern gelungen – mit dem bedeutenden Unterschied allerdings, dass es in diesen Ländern seit jeher nur ein sehr geringes Selbstverständnis der einzelnen als Individuen gegeben hat. Diese Angst und dieser Terror sind die unmittelbare Folge eines – von allen geteilten (!) – Glaubens an die Autorität des Führers, der Partei oder wer immer sonst die Erlaubnis hat, die ideologischen Gedanken und Bilder zu interpretieren, die das jeweilige System ausmachen. Nur so sind auch die Selbstbeschuldigungen in den stalinistischen Prozessen oder während der Kulturrevolution in China erklärbar.
Aber wie kommt es, dass die gesamte deutsche Führungselite den Krieg vorbehaltlos unterstützt hat, darunter vor allem auch die Inhaber und Manager großer Unternehmen, die für ihre Zwecke oft auch Zwangsarbeiter einsetzten?
Werfen wir noch einmal einen Blick zurück: die Jugend hat spätestens ab der Jahrhundertwende den Widerspruch zwischen der modernen Industrialisierung und einem politischen System »von Gottes Gnaden » als unerträglich empfunden. Der »Jugendstil« bezeichnet den Beginn dieser Epoche, und es ist bezeichnend, dass der Begriff im künstlerischen Umfeld auftaucht, also nicht etwa im Bereich der Politik: die Jugend weiß ganz genau, dass sie dort nichts zu sagen hat. Junge Intellektuelle gehen 1914 lieber begeistert in den Tod, als sich mit den herrschenden Autoritäten abzufinden, gegen die sie keine Mittel finden. Das ist die erste Welle, in der nach Langemarck noch viele untergegangen sind.
Die Kämpfe zwischen den roten Räten und den Freikorps bis zur Stabilisierung der Weimarer Republik sind die zweite Welle. Die Deutschen hatten aber anders als früher die Engländer oder die Franzosen (von den Amerikanern ganz zu schweigen) in den wenigen Jahren der Weimarer Republik praktisch keine Chance, die Demokratie – also den realistischen Umgang mit Macht und Autorität – zu lernen. 1918 hat Heinrich Mann in seinem Roman den Untertan skizziert und an diesem Bild hat sich bis 1945 nicht viel verändert.
Die Gleichschaltungspolitik der Nationalsozialisten bildet die dritte Welle, die plötzlich und erfolgreich viele junge Leute in Positionen brachte, die sie ohne diese Umstürze nie hätten erreichen können. Auch wenn viele von ihnen später vor allem als Soldaten kritische Perspektiven einnahmen: Sie haben die frühe Macht am Anfang genossen, die sie ab 1933 an sich gerissen haben.
Die vierte Welle sind dann die 68er. Erst durch sie wurde das Modell von Autorität und Gehorsam, das bis dahin die tiefste Wurzel unseres politischen Verständnisses darstellte, endgültig infrage gestellt. Die unmittelbare Nachkriegszeit war noch geprägt von der Dominanz der Generation, die an diese alten Werte auch dann glaubten, wenn sie ihre Opfer waren. Täter und Opfer hat ihr Schweigen miteinander verknüpft. Nur wenige von ihnen wurden später zur Rechenschaft gezogen – in der DDR noch weniger als im Westen. Vor allem in der Justiz findet man bis zum Bundesgerichtshof hinauf Richter, die schon in der NS-Zeit gerichtet haben, in der Regierung findet man Globke und Oberländer und das Auswärtige Amt scheidet eine Fluchtburg für alte Parteimitglieder gewesen zu sein – in den sechziger Jahren gab es dort mehr alte Parteigenossen als 1945!
Erst ab 1968 häufen sich diese Erkenntnisse und beginnen die wissenschaftlichen Untersuchungen, die uns erkennen ließen, wie neben der NSdAP, der SS, der Gestapo und vielen Parteigliederungen auch die Wehrmacht und die Beamten, die »furchtbaren Juristen« (Ingo Müller), die mörderischen Ärzte und andere zu den Stützen des Regimes gezählt werden mussten – und wie viele von ihnen sich in der Nachkriegszeit im neuen Regime ohne Schwierigkeiten genauso zuwandten, wie zuvor den Nazis. Diese ununterbrochene Kette von unverstandener und angemaßter Autorität und dem Gehorsam, der sie spiegelt, haben unsere Großeltern und Eltern nicht zerbrechen können. Das war eine Leistung der 68er. Mit der Zerstörung des Schweigens über all das wurden auch die Wurzeln gekappt.
Es hat in der Nachkriegszeit viele Verstockte gegeben, aber sie haben nicht die Mehrheit gefunden. Manche, wie Peter Hacks haben den Deutschen in der Bundesrepublik sogar die Fähigkeit und den guten Willen abgesprochen, die Chance ihrer neuen Verfassung zu nutzen und daraus ein praktisch wirksames Werkzeug zu machen. Und tatsächlich lagen viele demokratische Rechte noch lange unter Verschluss, bis sie 1968 dann schrittweise entdeckt und benutzt wurden. Die meisten Deutschen haben ab 1949 damit begonnen, die Vergangenheit aufzuarbeiten, sie haben den Juden geholfen, ihren Staat zu gründen, sie haben Europa wesentlich mitgestaltet und mitfinanziert. Vielleicht zeigt sich gerade daran, dass Gehorsam auch seine guten Seiten haben kann.
Leider haben sie gleichzeitig versucht, Ideen ohne jede Bodenhaftung Wirksamkeit zu verschaffen, anstatt sich der »Mühen der Ebene« zu unterziehen, die das Leben in und mit der Demokratie zwingend voraussetzt. Diese romantische Realitätsflucht – oder wenn man es schärfer formulieren will: die Ideologiekrankheit der Deutschen unterscheidet uns vom pragmatischen Blick der Skandinavier und Angelsachsen ebenso wie von der Rationalität der Franzosen. Sie passt nicht mehr in die moderne Welt, aber sie hat einen sehr verständlichen historischen Kern: nur wenn man in hohen Fantasien schwelgt und sich unerreichbare Bilder ausmalt, in denen man Freiheit und Gleichheit ohne Widerspruch miteinander versöhnen kann, bringt man wohl die Energie auf, sich mit den erstickenden Autoritäten seiner Zeit nicht mehr abzufinden.
Willy Brandt wollte das über den Satz: »Wir müssen mehr Demokratie wagen« erreichen. Ich habe ihn damals fast als Leerformel empfunden. Heute verstehe ich besser, dass sie für die ältere Generation eine Provokation darstellte.
Wir haben seit wenigen Jahren eine Diskussion über noch mehr Demokratie, über direkte und unmittelbare Beteiligung jedes einzelnen im Rahmen von Volksabstimmungen usw., wobei das Schweizer Vorbild allen vor Augen steht. In Massendemonstrationen, an denen nicht wenige Leute um die 60 (also: die 68er) beteiligt waren, ist im Jahr 2010 das Bahnprojekt Stuttgart 21 auch in solche Diskussionen gezogen worden. Das Grundgesetz hat bewusst auf die repräsentative Demokratie gesetzt, weil die Weimarer Republik Anschauungsunterricht genug geboten hat, was geschieht, wenn die Regierung von der Straße unter Druck gesetzt wird. Aber hier haben wir den Fall, dass Parteien, die im Parlament vertreten sind, sich gleichzeitig an den Demonstrationen gegen sich selbst beteiligen. Das ist nicht logisch, aber je komplexer die Verhältnisse werden, umso weniger kann man mit der Logik anfangen. Es wird noch ein langer Weg werden, bis die die Mehrheit der Bürger sich nicht nur aus Untertanen und Anarchisten zusammensetzt.
3.5. Schwarze Pädagogik
Niemand wird als Untertan geboren. Unterwerfung und Gehorsam müssen eingeprügelt werden und das geschah – wie wir aus Forschungen wissen, die in den 68er Jahren28. entstanden sind, in einer Erziehungspraxis, die mindestens 200 Jahre alt ist: in der »Schwarzen Pädagogik29«.
Erste Erziehungsbücher, in denen beschrieben wird, wie Eltern ihre Kinder mit den Ritualen des Gehorsams vertraut machen können, stammen von J.Sulzer (1748). Sie tragen den Drill, den es schon in den Kadettenschulen gab, die Friedrich Schiller und später Robert Musil und Ernst von Salomon besucht und beschrieben haben, in die privaten Familien. Einen vorläufigen Höhepunkt finden Sie in den Empfehlungen des Medizinprofessors Daniel Gottlob Moritz Schreber (1808-1861), dem Erfinder des Schrebergartens. Das Ergebnis seiner Bemühungen: sein Sohn Daniel Paul wurde als hoch begabter Jurist mit 51 Jahren Senatspräsident am Oberlandesgericht Dresden, kurz danach aber wegen seines auffälligen Verhaltens für unzurechnungsfähig erklärt. Ob er es wirklich war, wissen wir nicht, denn er schrieb 1903 ein sehr intelligentes Buch über seinen eigenen Fall, das von Sigmund Freud, Elias Canetti und anderen ebenso intelligent kommentiert worden ist.
Die Fähigkeit zu gehorchen kann in der Schwarzen Pädagogik nur entwickelt werden, wenn alle widerstrebenden Gefühle Stück für Stück zerschlagen werden. Es muss Gefühlskälte entstehen, um andere zu misshandeln, will man nicht schreiend vor seinen Taten davonlaufen. Stanley Milgram (Yale) hat in seiner berühmten Untersuchung 1970 gezeigt, dass Menschen zu ihnen selbst fremder Grausamkeit neigen, wenn sie einen großen emotionalen Abstand zu anderen Menschen aufbauen oder die Versuchsanordnung ihn erzwingt30. Auch einzelne Verbrecher, deren grausame Taten uns ganz unverständlich erscheinen, schildern ihre Gefühlskälte. Sie ist es, die uns so tief erschrecken lässt.
In der schwarzen Pädagogik wird zwar Gehorsam gezüchtet, wie stets blüht dadurch aber auch ihr Gegenteil auf: die Anmaßung! Das hat sogar Otto von Bismarck bemerkt: »Als normales Produkt unseres staatlichen Unterrichts verließ ich 1832 die Schule... mit Nachdenken über die Ursachen, welche Millionen von Menschen bestimmen könnten, einem dauernd zu gehorchen, während ich von Erwachsenen manche bittere oder geringschätzig Kritik über die Herrscher hören konnte.« Warum hat er gerade diesen Satz gewählt, um seine Gedanken und Erinnerungen einzuleiten? Er beherrschte das Spiel von Befehl und Gehorsam wie kein zweiter, er verachtete die Liberalen und wusste doch, dass da irgendwo die Fäulnis im Holz steckte….
Solange Deutschland in Hunderte einzelner Staaten zersplittert war, die sich nach Belieben mit anderen europäischen Mächten verbündeten und gegenseitig bekämpften, konnte sie kaum sichtbar werden. Nach dem Sieg über die Franzosen (1871), die als nationale Leistung verstanden wurde, änderte sich die Grundstimmung, die Wilhelm II durch sein »persönliches Regime« auf seinen eigenen Nenner gebracht hatte: »Am deutschen Wesen soll die Welt genesen«.
Karl Marx hat es ihm auf seine Art vorgemacht und der kämpferische Teil der 68er macht sich noch heute Sorgen um die ganze Welt: Christian Klar meint im Gespräch mit Günter Gaus (2001) zur Frage, ob er Schuldgefühle wegen seiner Taten habe: »Ich überlasse der anderen Seite ihre Gefühle und respektiere die Gefühle, aber ich mache sie mir nicht zu Eigen. Das sitzt zu tief drin, dass gerade hier in den reichen Ländern zu viele Menschenleben nichts zählen. Vor der Trauer müsste sich sehr viel ändern. Belgrad wird bombardiert. Es gibt Länder, wo ein Menschenleben nicht mal einen Namen hat.“
Es ist anmaßend, sich überall mit »guten Ideen« einmischen zu wollen, auch wenn man vorher die ganze Welt umarmt. Die Engländer sagen deshalb seit langem von uns, die Deutschen liebten es, anderen die Stiefel zu küssen, um ihnen in der nächsten Sekunde an die Kehle zu springen.
Aus dieser gefühlskalten Mischung zwischen Gehorsam und Anmaßung ist die letzte der Rahmenbedingungen geworden, die das Verbrechen an den Juden ermöglichte.
3.6. Hitler und die Deutschen
Die oben skizzierten Faktoren bildeten zusammen das Stroh, das durch eine einzige Flamme, nämlich Hitlers Vernichtungswillen in Brand gesetzt werden konnte: in ihm bündelten sich wie in einem Hohlspiegel viele einzelne Meinungen seiner Zeitgenossen, die manches richtig fanden, was er tat. Sein unglaublicher Durchsetzungswille ist – ähnlich wie bei Napoleon, Mao und Stalin – auch dadurch unterstützt worden, dass er aus randständigen, mit dem kulturellen Kern des Landes nicht verbundenen Verhältnissen stammt und viele der Hindernisse gar nicht wahrgenommen hat, die jeden anderen an einem vergleichbaren Verhalten gehindert hätten. Viele bezeichnen ihn als durchschnittlich, aber gerade dadurch ist er auch zum kleinsten gemeinschaftlichen Nenner von Millionen geworden. Gerade weil er – genauso wie Josef Goebbels – auf viele Leute äußerlich so abstoßend wirkte, war seine Wirkung umso größer, wenn sie schließlich widerwillig in den Beifall der anderen einstimmten; denn der hymnische Ton, den er anschlug, wurde nicht nur von ihm, sondern auch von den Rundfunkreportern und der ganzen Presse in vergleichbarer Weise als Stilmittel benutzt – und nicht nur von denen: mein Vater, ein kämpferischer Katholik und unbedingter Gegner der Nazis, begleitete als 19 jähriger eine Jugendgruppe nach Rom und fand Gelegenheit, in Elberfelder Zeitungen darüber zu berichten. Ich habe ihm einmal in den Zeiten unserer Auseinandersetzungen diesen Artikel vorgelesen und dabei nur die Worte »der Papst« durch »der Führer« ersetzt. Das Ergebnis war nicht nur wegen des rheinischen Sprachklangs ein sortenreiner Josef Goebbels Jahrgang 1925!
Manche haben Hitlers Erfolge auf sein rhetorisches Geschick zurückgeführt, das er in den 12 Jahren als »Trommler der Bewegung« immer mehr perfektioniert hatte. Aber das ist vermutlich nur der kleinste Aspekt im Gesamtbild: es gibt gar keinen Zweifel daran, dass alles, was er bis zum Anschluss Österreichs erreicht hatte, von einer großen Mehrheit der Deutschen, ja sogar von vielen Europäern ganz oder teilweise gebilligt worden ist, soweit er sich auf eine Korrektur der Ergebnisse des ersten Weltkrieges beschränkte. Thomas Mann hat ihn deshalb 1938 in einem Essay ebenso mutig wie provozierend »Bruder Hitler« genannt – das schwarze Schaf in der Familie, das wir im Notfall auch als Sündenbock in die Wüste schicken können.
Genau in diesem Jahr änderte sich in der Münchner Konferenz das Bild entscheidend und man konnte erste Zweifel daran haben, ob dieser Mann noch irgendwie beherrschbar sei. Aber erst bei dem Angriff auf Polen und vor allem bei dem Überfall auf Russland haben viele erkennen müssen dass er (vermutlich von Anfang an) nichts anderes als eine grandiose Inszenierung seines Selbstmordes im Sinn hatte, einen Selbstmord, in den ihn wie in der Antike nicht nur sein Hofstaat, sondern auch die Gegner (vor allem die Juden) und alle begleiten sollten, die von seinem Volk noch übrig waren31.
Hitler hat viele seiner Pläne schon in seinen frühen Reden angedeutet, aber niemand hätte sich in seinen schlimmsten Albträumen vorstellen können, dass ein einzelner Mann es fertigbringt, die ganze Welt zu einer Inszenierung seines Untergangs zu missbrauchen.
Er war ein echter Selbstmordattentäter, aber mit dieser Haltung stand er nicht allein: auch Wilhelm II. (der ihm in vielen Zügen ähnlicher ist, als die meisten bemerken32) spricht in der Rede zur Kriegserklärung 1914 vom »Sein oder Nichtsein« und viele deutsche Soldaten haben die Idee der Nibelungentreue genauso geteilt wie die japanischen Verbündeten mit ihren Kamikaze-Verbänden.
Als die japanischen Armeeführer unmittelbar nach der Öffnung des Landes anlässlich des Krieges 1870/1871 die militärische Überlegenheit der Deutschen näher studierten, ist ihnen die verblüffende Übereinstimmung der »Unternehmenskultur« beider Armeen aufgefallen: der unbedingte, dem Kaiser geschuldete Gehorsam, die schonungslose Disziplin, das selbstverständliche Opfer für das Vaterland – all diese Ideen sind von den Japanern seit hunderten von Jahren in ihrer eigenen Tradition gepflegt worden; diese Übereinstimmungen beruhen auf der Dominanz der Gruppe gegenüber den Einzelinteressen, die in der deutschen wie in der japanischen Tradition sehr ähnlich angelegt sind.
Es gibt unendliche und fruchtlose Diskussionen darüber, ob die Nationalsozialisten ohne Hitler eine vergleichbare Chance gehabt hätten. Wenn man berücksichtigt, dass sie in den letzten Wahlen vom 5. März 1933 insgesamt nur 43,9 % der Stimmen erhielten, wird man das kaum annehmen können. Der entscheidende Sieg der NSDAP wurde nicht durch die Wahlen erreicht, sondern in den offenen Gesetzesbrüchen, die nach dem Ermächtigungsgesetz vom 24. März 1933 stattfanden. Nur die SPD und die KPD waren hellsichtig genug, ihm nicht zuzustimmen und danach minderte sich mit jedem Tag die Chance zum Widerstand. Die Idee und die Durchführung zu allen diktatorischen Maßnahmen, die danach erfolgten, stammen nur von Hitler. Nur er war am Anfang skrupellos genug, sich ohne die geringsten Bedenken über alle rechtlichen Strukturen hinwegzusetzen. Natürlich sind ihm danach alle anderen gefolgt und haben eigene Ideen entwickelt aber schon das Führerprinzip selbst, also die von jedermann akzeptierte absolute Regel, nichts zu tun, was nicht dem (vermuteten) Willen des Führers entspreche, dürften ausgereicht haben, um seine Dominanz zu sichern. Die Bedenkenlosigkeit seines eigenen Handelns beruhte sicher auf seiner Unfähigkeit und seinem Unwillen, Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen: sein eigener Tod war ihm immer gleichgültiger als die Ideen, hinter denen er herrannte. Er war furchtlos, weil er gar keinen Zugang zu einem Gefühl der Furcht hatte. In den letzten Monaten 1945 schwankten selbst Göring und Himmler, die er beide noch verstoßen konnte und nur Goebbels blieb an seiner Seite.
Die rätselhafte Macht die Hitler ausgeübt hat, ist ihm allerdings nur deshalb zugefallen, weil die meisten Deutschen bereits zu einer Zeit, in der noch Widerspruch möglich war, seine Befehle kritiklos hingenommen und sich ihm gebeugt haben. Einer Autorität gegenüber, die sich anmaßend – aber klar – positionierte, waren sie hilflos. Dieses Autoritätsproblem ist aber im Allgemeinen nicht »typisch deutsch« es hat sich bei uns nur aufgrund des Zusammentreffens vieler Faktoren so besonders tragisch verwirklicht: Weder Stalin, Pol Pot, Mao oder wer immer sonst noch als Massenschlächter in die Geschichte eingeht, kann solche Untaten begehen, wenn sie nicht von vielen anderen zu ihren eigenen gemacht werden.
Als Hitler am 1. September 1939 den Zweiten Weltkrieg ausschrie, haben die Deutschen – anders als 1914 – mit Schweigen reagiert. Aber die innere Bereitschaft, den »Schandfrieden von Versailles« zu korrigieren, konnten nur wenige leugnen und die anderen hat ihr Bild von der Treue zum Staat bei der Stange gehalten, die sie übergangslos von dem kurz zuvor verschwundenen Monarchen auf den »Führer« übertragen haben.
Die grundsätzliche Bereitschaft der Deutschen, deren historische Wurzeln ich oben beschrieben habe, ist nirgends besser zum Ausdruck gekommen als im Pressetext zu Leni Riefenstahls Film »Triumph des Willens« (1935):
»Und immer wieder spüren wir es mit einer beinahe mythisch zu nennenden Gewalt: wie sehr gehört dieses Volk zu seinem Führer, wie sehr gehört dieser Führer zu ihm! Aus jedem Blick... spricht das Bekenntnis...: wir gehören zusammen. In ewiger Treue zusammen«.
3.7. Maßstäbe für die Schuld
Viele Millionen sind den Verbrechen zwischen 1933 und 1945 zum Opfer gefallen. Waren auch viele Millionen die Täter?
Wenn wir wirklich ernsthaft nach Schuld und Sühne fragen, müssen wir die historischen Zeugnisse daraufhin analysieren, was die Leute gewusst haben und welche Schlüsse sie fairerweise daraus ziehen konnten. Auch wenn wir heute das Endergebnis kennen, dürfen wir nicht voraussetzen, dass es damals schon bekannt war. Wir müssen uns nur ehrlicherweise selbst fragen: welche Schlüsse hätten wir gezogen, wie hätten wir uns damals verhalten und wir müssen uns vor Augen halten: einen vergleichbaren Fall hat es in der Geschichte noch nicht gegeben. Wir müssen uns also zunächst mit den Tatsachen beschäftigen, bevor wir uns über die Schuld Gedanken machen können. Auf diesem Hintergrund zeigt sich folgendes:
In der NSDAP waren bei der Machtübernahme 3,9 Millionen Menschen engagiert. Ihre Zahl stieg bis 1945 auf 7,5 Millionen. Man kann ohne weiteres annehmen, dass etwa wie doppelte Zahl (zum-Beispiel Blockwarte oder Leute in ähnlichen Positionen) aktive Sympathisanten waren. Aber selbst, wenn 30 % der Bevölkerung die Ziele der Regierung teilten – spätestens seit Stalingrad (1942) ahnten die meisten die Selbstmordstrategie der Regierung und sind trotzdem gemeinsam mit ihr in ihren Ruin gegangen.
Es gibt Hunderttausende, im schlimmsten Fall einige Millionen Menschen, die so nahe an den vielfältigen Verbrechen standen, dass sie daraus entweder den Schluss gezogen haben (oder ihn hätten ziehen müssen): hier werden Menschen ermordet! Bei den Wehrmachtstruppen, die die Verbrechen der Einsatzgruppen oder anderer SS-Einheiten später in Russland abgesichert haben, kann es daran keinen Zweifel geben. Sie haben ihr Wissen auch über Briefe und Fotos im ganzen Land verbreitet. Dazu kommen unzählige Funktionsträger, so etwa die Beamten der Reichsbahn oder der Reichsbank. Viele weitere haben ab 1942 in ihrem unmittelbaren Umfeld gesehen, wie man ihre Nachbarn aus den Häusern jagte. Wenn sie sich die Frage stellten, wohin sie gebracht würden, lautete die stereotype Antwort: in Arbeitslager an der Front, um dort die Truppen zu unterstützen. Es war Krieg. Die Bevölkerung lebte selbst in Angst und Schrecken, spätestens ab 1943 unter täglicher Bedrohung der Bomben. Es ist nachvollziehbar, dass in dieser Situation jeder zuerst an sein eigenes Schicksal und nicht an diejenigen dachte, die aus seinem Blickwinkel verschwunden waren. Unsere Eltern haben sich nicht die Frage gestellt: wohin werden sie gebracht? Oder sie haben sich mit billigen Erklärungen vor der Antwort gedrückt. Warum?
Die Antwort auf diese Fragen kann man sich vermutlich leichter geben, wenn man seinen Blick auf die anderen europäischen Völker lenkt, die teils Opfer, teils Beobachter, teils aber auch Täter dieses Verbrechens geworden sind: was sollte zum Beispiel ein französischer, ungarischer oder tschechischer Lokführer machen, der wusste, dass er in seinem Zug quer durch Europa Leute nach Auschwitz verschleppte, deren Zustand ihm nicht verborgen bleiben konnte? Und warum haben sich Tausende Franzosen, Holländer, Belgier zur Waffen-SS oder Letten, Ukrainer und andere eroberte Völker freiwillig zu den Mordtruppen gemeldet, die die Vernichtungslager betrieben oder die Juden wie in Litauen offen auf der Straße erschlagen haben?
In Polen, Litauen oder der Ukraine mag der allgemeine Antisemitismus Grund genug gewesen sein, in Frankreich, Holland, Ungarn oder anderen Ländern war vielleicht die Aussicht, den Kampf der Jungen gegen die Alten früher zu gewinnen von Bedeutung, viele wollten sich wohl nur den Siegern anschließen, ohne an das Ende und ihre persönliche Verantwortung zu denken. Und manche wollten einfach nur Karriere machen.
Art und Ausmaß des Planes, die Juden in Europa zu ermorden haben einzelne gewiss verstanden, aber wie viele es von denen waren, die sich an seiner Ausführung direkt oder indirekt beteiligten, kann man nicht pauschal sagen – man muss es in jedem einzelnen Fall untersuchen. Die Verantwortung kann sich – wie schon oben gezeigt – immer nur auf das beziehen, was einer selbst begriffen hat (oder hätte begreifen und/oder verhindern können).
Um die Täter, die Mitläufer und die Mitwisser zu beurteilen, müssen wir uns an Regeln halten, die die Rechtsprechung nach 1945 und ihm folgend das Bundesverfassungsgericht endgültig erst im Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der DDR entwickelt hat. Zwei Formeln sind es:
»Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechtssicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durch Satzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorrang hat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zur Gerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als ‚unrichtiges Recht‘ der Gerechtigkeit zu weichen hat.« (Radbruchsche Formel).
Man sieht auf den ersten Blick, dass damit für die Logik nicht viel geholfen ist, denn der hier verwendete Begriff der Gerechtigkeit33 ist letztlich eine Leerformel, die jeder einzelne (meist geleitet von seinem Rechtsgefühl) anders ausfüllt. Sie erfüllt aber immerhin den Zweck, zu verstehen, dass ein Gesetz oder ein Befehl allein kein Rechtfertigungsgrund für das eigene Handeln sein kann. Jedem wird zugemutet, unabhängig von formalen Gesetzen für seine eigenen Entscheidungen einzustehen auf das Risiko hin, schuldig zu werden.
Das Gegenstück bildet die zweite, vom Bundesverfassungsgericht nach dem Zusammenbruch der DDR gefundene Formel. Sie lautet: »Die schlichte Zugehörigkeit zum System gilt nicht einmal als ein ausreichendes Tatbestandsmerkmal im Zusammenhang mit einer Tätigkeit als hauptamtlicher oder inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes, obwohl der Gesetzgeber diesen Sachverhalt als einen Indikator für solche Verstöße ausdrücklich in das Gesetz aufgenommen hat (vgl. BVerfGE 93,213; BVERFG Jahr 93 Seite 241)«34.
Die Folge: Wir können nur nach der persönlichen Schuld urteilen, wir dürfen nicht einfach nur auf die Fassade einer Parteimitgliedschaft oder einer bestimmten Position achten, wenn wir (jenseits moralischer Grenzen, die jeder für sich selbst definieren mag) feststellen wollen, ob jemand sich während einer Terrorherrschaft rechtmäßig verhalten hat. Wer also der öffentlichen Forderung, die Juden sollten vertrieben, ja sogar vernichtet werden, sich mit reinen Worten anschloss, ist anders zu beurteilen als jemand, der einen Juden erschossen hat oder in den Vernichtungslagern tätig war. Man muss sogar die Tätigkeiten innerhalb dieser Lager unterscheiden: wer zur äußeren Wachmannschaft gehörte und nur den Betrieb absicherte, ist weniger schuldig als jener, der die Verbrechensmaschine bediente. Die Verantwortung für die Organisation gehört selbstverständlich zur individuellen Verantwortung. Wer aber außerhalb dieser organisatorischen Pflichten stand, kann nicht dafür verurteilt werden, was er gesagt oder gemeint hat, sondern nur dafür, was er (direkt oder indirekt) getan hat.
Besonders problematisch ist natürlich die Frage, wann das Schweigen zu einem Unrecht selbst zum Verbrechen wird. Die zentrale Voraussetzung dafür ist es, dass das fremde Verbrechen begriffen wird. Es liegt auf der Hand, dass man dabei nur das Wissen zu Grunde legen kann, dass in der konkreten Situation vorhanden war oder das ein Täter sich verschaffen konnte. Und es ist ebenso offensichtlich, dass diese Fragen in nahezu jedem Einzelfall umstritten sein werden. Mir ist nur wichtig, ein rechtliches Grundverständnis zu vermitteln: wir müssen verstehen, dass es in diesem Zusammenhang keine pauschalen Feststellungen für oder gegen eine Gruppe oder eine Menge geben kann, sondern dass die Maßstäbe für jede einzelne Person, die man ins Auge fasst, individuell anders ausfallen werden.
Immer wieder kommt in der Diskussion über die Schuldfrage auch der Gedanke auf, dass rechtliche Kategorien mit ihrer begrifflichen Schärfe und der Notwendigkeit, ähnlich erscheinende Sachverhalte einmal so und einmal anders zu interpretieren, keine hinreichenden Kategorien für die Frage bieten, wie man das Verhalten eines Menschen in solchen Situationen zu beurteilen hat. Es müssten politische, ja auch moralische Maßstäbe gelten – jedenfalls außerhalb des Gerichtssaales.
Tatsächlich: historische, politische und moralische Diskussionen dürfen nicht mit rechtlichen Kategorien geführt werden. Aber wenn man den Bereich der Erschütterung und der Scham verlässt, sich zur Zuweisung von Schuld entschließt und seine Finger gegen jemand richtet, dann muss man ihn aus seiner Situation heraus begreifen und nicht auf dem Hintergrund des Wissens um das Ende.
An diesem Maßstab können wir auch das Handeln einzelner Wirtschaftsführer beurteilen. Alfried Krupp, Friedrich Flick und andere haben gewiss persönliche Schuld auf sich geladen, Hugo Junkers, Ernst Leitz35 und Robert Bosch haben ebenso wie Berthold Beitz in ihren Stellungen oft mit Erfolg das Schlimmste verhindert.
Nur einige wenige große Charaktere konnten aus diesem Schema heraustreten und haben sich verweigert.
Diejenigen, dafür verhaftet wurden oder ihr Leben verloren haben, konnten so den Beweis für ihre Haltung ohne weiteres führen. Das gelang auch manchen Agenten, den Leuten des 20. Juli, den Mitgliedern der Roten Kapelle oder einzelnen wie etwa Richard Sorge.
Wenn wir uns also individuelle Überlegungen über die Schuld machen müssen, dann bleibt uns die Mühe nicht erspart: wir müssen uns in die Köpfe und die Gefühle der Leute versetzen, die ab 1933 sehen konnten, was geschah und wir müssen rekonstruieren, welche Schlüsse sie für sich daraus gezogen haben. Das gilt – so schwer es für manchen auch fallen mag – auch für die Ermordung der Juden in Europa. Die Eindeutigkeit und Größe dieses Verbrechens würden geradezu infrage gestellt, wenn wir uns nicht genügend Mühe mit der Frage gäben, wie es geschehen konnte.
Wenn Goldhagen davon spricht, dass alle etwas wussten, so ist das völlig richtig. Aber dahinter steckt seine Behauptung, jeder hätte das oder die Details, die er kannte, zu einem Bild zusammensetzen können (demjenigen, das wir heute kennen) – oder er sei mindestens fähig dazu gewesen und dadurch auch verpflichtet.
Das hat nicht einmal Victor Klemperer geschafft, der als Jude mitten in Dresden mit dem gelben Stern am Rock geschützt durch seine Ehefrau bis zum letzten Tag die Hoffnung nicht aufgab, dass es doch Arbeitslager und keine Vernichtungslager gewesen seien. Erzählungen von den Vernichtungslagern hat er für Übertreibung gehalten. Aber sehr viele andere hätten es wissen können, hätte der Generation unserer Väter und Großväter nicht die Fähigkeit und das Interesse gefehlt, sich aus der Pyramide der Autorität zu entfernen, seitwärts zu stellen und sich eigene Informationen zu holen und seine Meinung zu bilden. Wenn man das als Mitschuld bezeichnen will, dann ist das unter rechtlichen Gesichtspunkten ein falscher Begriff, und politisch/historisch vielleicht undifferenziert – aber jedenfalls emotional begreifbar.
Man hat sich immer gewundert, wie Menschen in einer so außergewöhnlichen Kulturnation wie der deutschen zu solchen Mordtaten fähig waren: da es geschehen ist, wissen wir, dass auch Untertanen sehr gebildet sein können.
3.8. Was tun?
Der Roman Der Vorleser von Bernhard Schlink steht ebenso wie die Wohlgesinnten von Jonathan Littell in enger Verbindung mit Goldhagens Thesen und den Experimenten von Stanley Milgram, die alle die Frage auslösen, wie wir uns selbst verhalten hätten, wenn wir damals gelebt hätten. Ich befürchte, wir werden darauf nicht einmal uns selbst eine ehrliche Antwort geben können. Denn keiner von uns kann davon abstrahieren, dass er jetzt weiß, was geschah und wie lange die Dunkelkammer des Schweigens verschlossen blieb, bis die 68er sie wirksam aufgesprengt haben. Das tragische ist: das nächste Verbrechen wird in einem Gewand verkleidet daherkommen, dass wir in dieser Form auch noch nie gesehen haben. Wir können nur hoffen, gegen alle Erfahrung aus dieser Erfahrung etwas gelernt zu haben.
In der neueren Diskussion kommt immer wieder die Frage auf, ob wir Deutschen uns nicht zu einseitig mit unserem Unrecht beschäftigen, anstatt auch und vor allem den stalinistischen Terror und die Fehler der Alliierten – wie etwa Luftmarschall Arthur Harris‘ und Churchills Politik, alle deutschen Städte zu vernichten – mit einzubeziehen. Historisch betrachtet sind solche Abwägungen nötig, für die Frage, was wir zu lernen haben, spielen sie keine Rolle.
Dafür ist etwas ganz anderes entscheidend: wir müssen lernen, die Autorität infrage zu stellen, uns nicht an formalen Ritualen, wie etwa dem militärischen Eid festzuhalten und verstehen, dass jeder für seine Entscheidungen auch innerhalb schwieriger Rahmenbedingungen eine persönliche Verantwortung hat.
Das Attentat vom 20.Juli 1944 hat bewiesen, dass einige Deutsche das heimliche, nicht das heilige Deutschland36 verstanden haben. Darüber hätten unsere Eltern mit uns sprechen können. Sie haben die Diskussion stattdessen so lange massiv unterdrückt, bis sie von den 68ern gezwungen wurden, zu sprechen – denn die Toten konnten nicht mehr reden.
4. Schuld und Scham
Hier geht es um Schuld und Entschuldigung, die Heimatlosigkeit und warum die 68er es nicht mehr ausgehalten haben.
Am Ende des Zweiten Weltkriegs hatten viele aus der Generation unserer Väter, die sich selbst oder als Mittäter aktiv oder passiv, wissend und schweigend an diesem Krieg und all seinen Begleitumständen beteiligt hatten, jeden Grund, sich schuldig zu fühlen. Diesmal gab es keinen Zweifel, dass die Deutschen und viele ihrer Verbündeten für die Millionen Kriegstoten und die willkürliche Ermordung von Juden, Sinti und Roma, Kriegsdienstverweigerern, Christen und Homosexuellen etc. verantwortlich war Die Überlebenden und wir, ihre Kinder, haben mit wenigen Ausnahmen diese Schuld erkannt und versucht, sie wenigstens durch finanzielle Leistungen symbolisch wieder gutzumachen. Sobald aber die Wiedergutmachungs-Leistungen der Nachkriegsjahre erfolgt waren, wurden auch die ersten Stimmen laut, die nun ein Ende der Schuldbekenntnisse forderten (darunter die von Konrad Adenauer).
Werfen wir auch einen Blick auf die Welt des Humors: der Präsident des Festkomitees im Kölner Karneval, der Getränkegroßhändler Josef Liessem hatte vermutlich keine Wahl, als die NSDAP über ihre Organisation »Kraft durch Freude« die Zensur über jeden einzelnen Festwagen und die dort gezeigten Inschriften übernahm. Am Tag nach der Reichspogromnacht stand Liessem mit einigen anderen Mitgliedern seines Komitees mit der Sammelbüchse neben der noch rauchenden Synagoge mitten in den Glassplittern, um mit dem Parteiabzeichen auf dem Narrenrock Spenden für den Rosenmontagszug einzukassieren. Selbstverständlich war er Mitglied in der Partei und so konnte er für sein Geschäft vielfältige Vorteile aus der Veranstaltung ziehen, für die in ganz Deutschland geworben wurde. Auf einem der Wagen wurden als Juden verkleidete Narren gezeigt, die nach Palästina auswanderten (»Die letzte Ausfahrt«) und die Nürnberger Gesetze wurden mit einer Juden-Karikaturen mit Krawatte kommentiert, auf der stand: »Ham‘ se dir uf de Krawatt‘ jetrodde?«.
Josef Liessem wurde ohne schwerwiegende Folgen entnazifiziert, belieferte den neu entstandenen Karneval alsbald wieder mit Getränken, hielt aber einige Jahre lang keine närrischen Reden und steuerte sein Komitee aus dem Hintergrund. 1966 habe ich ihn im Gürzenich in aller Pracht und Herrlichkeit wieder auf die Herrschaft der Narren anstoßen sehen – eine unfassbare Inkorporation des verfressenen deutschen Wirtschaftswunders, die sich mit seinen Kumpanen durch die Zeit gemogelt hatte. Dazu mussten er und alle anderen untereinander dicht halten und jedem den Mund verbieten, der sich daran nicht hätte halten wollen. Heinrich Böll gehörte dazu und ein Dichter war er in den Augen dieser Leute nicht, weil er ständig »mit der Zigarette im schwarzen Kaffee rumrührt und alles versaut«
Die Mauer des Schweigens hat dazu geführt, dass niemand das Wort »Jude« auch nur benutzt hat. Als Schüler wusste ich nicht, dass es Juden gibt oder früher in Deutschland gegeben hat. Es gab Israelis, aber was die mit uns zu tun hatten, außer dass sie von uns Geld bekamen, erklärte mir keiner. Dann verstanden wir langsam den Zusammenhang des Mordes an den Juden mit der Gründung des Staates Israel und als ich etwa 1960 mit 16 Jahren begann, Kafka zu lesen, erfuhr ich etwas über den Zionismus und seine Vorgeschichte. Aber eine öffentliche Diskussion darüber, wie und auf welche Weise und wie lange wir mit dieser Schuld leben müssen, gibt es bis heute nicht. Jüdische Autoren wie Henryk M. Broder37 oder Maxim Biller38 (die vermutlich nicht glücklich sind, wenn man sie in einem Atemzug nennt) machen sich manchmal darüber lustig (wieder mal die typisch deutsche Stiefelleckerei), aber wenn Martin Walser öffentlich andeutet, wie er unter der Schuldzuweisung leidet, ist der Sturm der Entrüstung groß. Vielleicht ist diese Kritik gerade an ihm aber deshalb berechtigt, weil er – anders als die 68er – 1927 geboren wurde, zwei Jahre als Flakhelfer und dann als Soldat unmittelbar am Krieg beteiligt war und Anfang 1944 sogar der NSDAP beigetreten sein soll. Die Gaststätte seiner Eltern am Bodensee war ein Versammlungslokal der örtlichen Nazigrößen und gewiss kein Widerstandsnest.
Da der Geschichtsunterricht für uns spätestens mit dem Ersten Weltkrieg endete, haben wir weder die Fehler der Weimarer Republik noch die Verbrechen der Nazis und der Deutschen, die ihnen gefolgt waren, verstanden. Folglich wussten wir genauso wenig über die Juden und den deutschen Widerstand und konnten die Probleme der Politiker, Künstler und Wissenschaftler nicht verstehen, die ins Exil gejagt worden waren. Erst recht aber blieben uns die Motive derjenigen dunkel, die trotz Verfolgung in Deutschland geblieben waren, wie etwa Ernst Jünger, Gottfried Benn oder Erich Kästner. Ja – ich erwähne auch Gottfried Benn, obwohl er sich von 1933-1996 auch zu seinem Vorteil äußerst fragwürdig verhalten hat. Er hat sich unter anderem darauf berufen, man könne ein System zwar von außen begreifen, aber nur von innen verstehen – und daran sei ihm gelegen gewesen. Ernst Jünger hat es sich zur Tat angerechnet, Adolf Hitler als »Oberförster« zu bezeichnen und in verschlüsselter Form zu kritisieren. Beide haben sich von ihrer ursprünglichen Anbiederung an das System nie hinreichend distanziert. Aber ob es zwischen ihnen und Carl Schmitt und ähnlichen mehrdeutigen Personen einen Unterschied gibt, denen wir verstehen sollten, kann man erst erkennen, wenn man die Quellen kennt und offen darüber nachdenken und diskutieren kann.
So ist es in hunderten und tausenden Situationen überall im Land gegangen und deshalb scheiterte auch der Versuch, in den ersten Nachkriegsjahren die Naziverbrechen rechtlich aufzuarbeiten: nicht nur die Nürnberger Prozesse versandeten am Beginn des kalten Krieges, auch in den ersten Prozessen wegen der Morde der Einsatzgruppen in Polen gab es immer wieder ganz unerklärliche Freisprüche. Erst die Auschwitz-Prozesse (1963-1968), die am Anfang der 68er-Periode standen, die Serie der Shoah-Filme und das unendliche Material, das bis heute täglich über die Zeit zwischen 1933 und 1945 in allen Medien verbreitet wird, machten den Tätern, ihren Kindern und wohl auch den Kindern der Opfer das wahre Ausmaß der Schuld deutlich. Der Schock, den das in allen Beteiligten auslöste, führte seltsamerweise aber nie zu einer offenen Diskussion über die Frage, inwieweit wir und unsere Kinder (und vielleicht noch deren Kinder?) für die Fehler unserer Eltern und Großeltern haftbar sein sollen. Warum fehlt es uns daran bis heute?
4.1. Die Unterschiede zwischen Schuld und Scham
Vielleicht gibt es niemand, der wirklich guten Gewissens den ersten Stein auf Josef Liessem werfen kann. Er hat sich wie Millionen andere in schwierigen Situationen mit seinem Staat arrangiert und das Schicksal hat ihn vielleicht vor lebensgefährlichen Entscheidungen bewahrt. Aber Millionen andere hat das Schicksal nicht verschont. Sie haben mit ihrem Leben bezahlt und eine der wesentlichen Ursachen dafür war, dass Millionen Deutsche die Infrastruktur für diese Verbrechen gebildet haben, auch wenn sie im Detail mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit davon nichts wussten. Daniel Goldhagen ist nicht der Einzige, der ganz richtig feststellt: Niemand der in der Zeit von 1933-1945 in Deutschland lebte, konnte übersehen, dass er Teil eines bis in die Knochen verkommenden rechtlosen Staates war. Jeder Blockwart, dem er morgens beim Milchholen begegnete, muss ihn daran erinnert haben, von den Fahnen und Gesängen ganz abgesehen. Es waren unsere Eltern und Großeltern, die diesen Staat bis zum bitteren Ende funktionsfähig gehalten haben. Und sehr viele von ihnen waren es, die alle anderen, die dagegen kämpften – vor allem die Attentäter des 20. Juli 1944 – auch noch kritisierten. Ich halte den weiteren Schluss Goldhagens, dass sehr viele der Deutschen auch um den Mord an den Juden wussten, aus vielen Gründen für unzulässig. An der Richtigkeit seiner anderen Feststellungen ändert das aber nichts. Joseph Liessem hat wahrscheinlich keine Schuld getragen, er hat vermutlich auch im Rahmen der Entnazifizierung eine Buße zahlen müssen. Warum sind wir trotzdem so verstört darüber, dass sich an seiner sozialen Stellung in Köln und dessen Herzstück, dem Kölner Karneval gar nichts geändert hat?
Die Lösung kann nur in der Erkenntnis liegen, dass Schuld und Scham zwei verschiedene Dinge sind39. Josef Liessem hätte sich schämen müssen.
In Europa und den europäisch beeinflussten Kulturen denken wir nur in den Kategorien von Schuld und Sühne, weil wir, beeinflusst von der jüdischen wie von der christlichen Moral, isoliert an das Verhalten jedes einzelnen Menschen anknüpfen, und dabei seine Einbindung in die Gemeinschaft mit anderen Menschen überwiegend vernachlässigen. In den Kategorien der Schuld zu denken, heißt immer, die Vorstellung einer (einzigen) höheren Macht aufrecht zu erhalten, die Verhaltensregeln aufstellen, belohnen und strafen kann. In der Sprache der Psychoanalyse kann man diese Macht als »Über-Ich« bezeichnen. Die christlichen (und jüdischen!) Gottesvorstellungen treffen sich vollständig mit unseren alltäglichen Erfahrungen im Umgang mit Autoritäten in Staat und Gesellschaft. Seit jeher sind Kaiser und Könige die »Stellvertreter Gottes auf Erden« usw. Das funktioniert auch ohne irgendeine Gottesvorstellung: jedes Regelsystem kann das leisten, selbst wenn es mit Gerechtigkeit im Sinne europäischer Traditionen nichts zu tun hätte. Zudem löst die Frage nach der Schuld immer auch die Frage nach der Mitschuld aus, denn die Zuweisung von Schuld ist überwiegend ein Produkt des Verstandes und der Logik, was in unserem historischen Zusammenhang besonders problematisch ist.
In Asien ist das anders: dort ist Harmonie in der Gemeinschaft ein höherer Wert als die Gerechtigkeit im Einzelfall. Dort steht die Scham über die Störung der Harmonie höher als die Schuld für die konkrete Tat. In Japan genügt es zum Beispiel, sich für kleinere Delikte bei dem Geschädigten und dem Gericht öffentlich zu entschuldigen und den Schaden finanziell auszugleichen, um straffrei davonzukommen. In den europäischen Rechtsystemen würde man das als ungerechten Vorteil ansehen. Dort kommt es eher darauf an, dem Opfer seinen Schaden zu ersetzen, bei uns wird diesem Aspekt erst in jüngster Zeit ein wenig Beachtung geschenkt.
Die asiatischen Religionen missionieren nicht, sie überlassen die Vielzahl der Götter ihren Schicksalen, sie haben auch heute noch Naturreligionen und so fehlt es hier an der ganz einfachen Koordination von Kirche und Staat.
Die Scham reguliert die Gesellschaft nur auf ihrer Ebene, nicht also in der vertikalen. Ich verkenne dabei nicht, dass es auch Asiaten sehr schwerfallen kann, sich zu entschuldigen, so etwa den Japanern, auch nur anzuerkennen, dass sie in ihre Militärbordelle junge Koreanerinnen gezwungen haben. Solche Schwierigkeiten ändern aber nichts an den grundsätzlichen Unterschieden. Deshalb maßt man sich dort nicht an, Kindern die Schuld an den Taten ihrer Eltern zuzuweisen, wohl aber fordert sie Scham für das Verhalten von Vorfahren, die die Vorfahren anderer Kinder geschädigt haben. Eine Bekundung der Scham führt bei denjenigen, an die sie adressiert ist, notwendig zu einer Geste der Entgegennahme, mit der gelegentlich auch die Anerkennung verbunden ist, dass nicht der Verletzer allein die Harmonie gestört habe, ohne dass eine genaue Aufrechnung der Ursachen stattfinden muss. Wer Scham äußert oder entgegennimmt, tauscht Emotionen aus, die keiner logischen Begründung oder gar Aufrechnung bedürfen.
In der Diskussion über die Menschenrechte, die wir gerade mit China führen, wird völlig übersehen, dass der Gerechtigkeitsbegriff, den wir verwenden, aus den europäischen Wurzeln der Schuldkultur stammt und in einer Schamkultur ganz anders verstanden werden muss. Alle Ideen – auch die Reine Rechtslehre Hans Kelsens – die eine für alle Zeiten und alle soziologischen Modelle gültige Gerechtigkeitsvorstellung entwickeln wollen, haben hier ihre Probleme. Wenn sie ein kleinstes gemeinschaftliches Vielfaches finden, ist es meist eine inhaltsleere Aussage. Vermutlich wird man eher im Bereich der »Verfahrensgerechtigkeit« etwas Gemeinsames finden (zum Beispiel: die Notwendigkeit rechtlichen Gehörs, die auch in der Schamkultur ihren Zweck haben kann usw.).
Wenn wir beginnen könnten, über unser Verhältnis zur Scham nachzudenken und uns zu fragen, ob sie uns helfen kann, die Schulddiskussion zu beenden, wären wir sicher einen Schritt weiter. Eine solche Entwicklung wird bei uns allerdings durch ein Problem erschwert: wer sich in unserem Rechtssystemen bei einem anderen entschuldigt, wird sofort verdächtigt, der (einzige) Schuldige zu sein und wenn er diesen Eindruck zerstören wollte, müsste er seine Entschuldigung an viele begleitende Erklärungen knüpfen, die sie ihres Wertes beraubten.
4.2. Skepsis hat nicht gereicht
In den 68ern befanden sich solche Überlegungen zunächst unterhalb der Ebene der Wahrnehmung. Man hat sich nur mit den Nazis als politischen Verbrechern beschäftigt und unter der Hand jeden einen Faschisten genannt, der alt genug dafür war, dass er es hätte sein können: »Ich bin Antifaschist. Und das bin ich wirklich, und zwar ein zorniger und ein ganz entschiedener, in diesem Sinne: Wir machen es mal anders als unsere Väter« – das sagte Rolf Pohle, über seinen eigenen Vater, einen biederen Universitätsprofessor, der zwar bis 1939 Richter, danach aber sechs Jahre im Krieg gewesen war. Wie hätte es wohl gewirkt, wenn er gesagt hätte: ich bin kein Judenmörder und das bin ich wirklich etc. welchen Sinn hätte das gegeben? Es wäre genauso sinnlos gewesen, wie sein Hinweis darauf, dass er Antifaschist sei. Dem Vater konnte er wohl kaum einen Schuldvorwurf machen.
Auch ein anderer, Bernward Vesper, der mit Gudrun Enßlin liiert war und einen gemeinsamen Sohn hatte, rechnete mit seinem Vater, dem Nazi-Schriftsteller Will Vesper öffentlich auf eine Art und Weise ab, die uns den Atem stocken ließ: „Ich habe nicht darum gebeten, Europäer werden zu dürfen, geboren als Deutscher im Jahre 1938 in einer Klinik in Frankfurt an der Oder, als Kind von Mittelklasseeltern, die einem vertrottelten Traum vom Tausendjährigen Reich anhingen. Ich werde mir die Freiheit nehmen, die man mir vorenthalten hat, ich werde mich verwandeln, bis ich alle Stadien durchlaufen habe.“ (Die Reise, (1977)). Er meinte die Generation der Eltern insgesamt, die – soweit sie überhaupt sprachen – sich über Schuld und Sühne äußerten, anstatt sich auch als Unschuldige darüber zu entsetzen, dass solche Verbrechen von Deutschen begangen worden waren.
Ob Will Vesper, der öffentlich dazu aufforderte, die Bücher seiner Konkurrenten zu verbrennen, sich darüber hinaus wirklich schuldig gemacht hat, wird man schwer sagen können. Aber zweifellos hätte er sich schämen müssen! Die Bereitschaft dazu hat unseren Eltern und soweit sie noch lebten auch den Großeltern insgesamt gefehlt.
Helmut Schelsky, ein Mitläufer, der sich aber bald kritisches Denken antrainiert hatte, sprach 1957 von der »skeptischen Generation« und hatte damit das Thema zugleich getroffen wie verfehlt: Ja, es gab intellektuelle Kritik, es gab Skepsis, man traute keinen Ideologien mehr, alles konnte Kunst sein (wie Joseph Beuys meinte) – aber die Scham ist ein Gefühl und mit solchen Kategorien nicht zu erreichen. Der wesentliche Generationensprung von den enttäuschten jungen Soldaten des Zweiten Weltkriegs zu ihren Kindern, den 68-ern besteht genau darin: Jetzt wurden die Mauern der Gefühlsverbote geschleift! Jetzt kam endlich die Romantik zum Durchbruch, die auch diesen Systembruch mit Schreien und Flüstern begleitete: aber wie wir wissen, ist die blaue Blume nur eine Idee und der Weg zu ihr das nie erreichbare Ziel. Es ist auffällig, dass sich gerade in den Deutschen Romantik und Aggression auf eine so seltsame Art paaren. Als Gefühle sind sie doch vollkommen gegensätzlich und der Gedanke, dass Gegensätze einander ergänzen und sich anziehen, scheint auf den ersten Blick nicht viel weiterzuhelfen, denn man weiß in diesem Fall wirklich nicht – warum? Vermutlich helfen logische Versuche wenig und man muss auf die Verwirrung mit Verwirrung reagieren: »Der deutsche Dichter meint Veilchen, wenn er Bluthund sagt« (Richard Huelsenbeck).
Ich habe mir keine Ideen über Schuld und Sühne machen müssen, denn die »Gnade der späten Geburt« (wie Helmut Kohl das genannt hat) hat mir die Entscheidungen erspart, die unsere Eltern und Großeltern treffen mussten.
Aber die Scham ist mir nicht erspart geblieben, auch wenn ich lange gebraucht habe, bis ich sie hinter einem großen blinden Fleck wahrgenommen habe, der für viele meiner Generation mit dem öffentlichen Auschwitz-Prozess40 zu verschwinden begann (1963-1965). Andere – vor allem die ein paar Jahre älteren – waren viel sensibler, andere hatten auch Eltern, die tief verstrickt in die Verbrechen waren (meine Eltern mussten sich nur vorwerfen, vor lauter Angst nichts gesehen, nichts gehört und nichts gesagt zu haben) und die sahen natürlich ehemalige Mitglieder der Nazi-Partei (wie Theodor Oberländer, Hans Filbinger, Kurt Georg Kiesinger etc.) in den Regierungen und vor allem in den Verwaltungen sitzen. Auffällig ist allerdings, dass die 68er es oft dabei bewenden ließen, sich selbst als die Nachgeborenen von der Schuld freizusprechen, ohne sich zu fragen, ob sie sich nicht gleichwohl schämen müssten. Viele Vorwürfe gegenüber den Eltern waren von Selbstgerechtigkeit geprägt und in der DDR war das besonders ausgeprägt.
Gerade die Diskussion über frühere SED-Mitglieder und Stasi-Informanten hat uns gezeigt, dass man über andere Menschen nicht mit Selbstgerechtigkeit diskutieren darf.
Ab 1970 hat man angefangen, über die wirkliche oder angenommene Schuld der früheren Generationen zu sprechen. Erst als sich die Psychoanalyse41 in vielen Untersuchungen der Täter wie der Opfer annahm, erst nachdem die Rechtsprechung klargestellt hatte, dass es auf der Basis eines Rechtssystems immer nur um die Schuld jedes Einzelnen gehen kann (was sich vor allem bei der Aufarbeitung der SED-Verbrechen bewährt hat) konnte man unterscheiden, wer ein Täter, ein Mitläufer oder ein Gleichgültiger oder ein Opfer dieser Leute gewesen war. Die Entnazifizierungsprozesse der unmittelbaren Nachkriegszeit haben zu diesen Kenntnissen nichts beigetragen.
Erst diese Vorarbeiten, die nur den 68er zu verdanken sind, haben den Boden für das Verständnis der Scham bereitet. Dazu gehört auch die Entschuldigung des Verfassers des »Mescalero-Briefes«. 1977 hatte der Göttinger Student und spätere Deutschlehrer Klaus Hülbrock, in einem Brief »klammheimliche Freude« über den Mord an dem Generalbundesanwalt Buback geäußert. Hochschullehrer (unter ihnen vor allem der hannoversche Professor Peter Brückner) wehrten sich gegen einen verkürzten Abdruck dieses Briefes, der auch kritische Passagen gegenüber der RAF enthielt durch eine vollständige Veröffentlichung und wurden daraufhin selbst wegen Unterstützung der RAF rechtlich verfolgt. 2001 schrieb Hülbrock einen Entschuldigungsbrief an den Sohn von Buback und dieser hat die Entschuldigung angenommen.
Erst wenn wir uns aus den strengen Fesseln eines logisch konstruierten Rechtssystems heraus bewegen und riskieren, das Feld der Emotion und der Scham zu betreten, werden Täter und Opfer eine Chance haben, die Bürde der Vergangenheit von sich abzustreifen.
Erst dann werden wir erkennen können, wie wir den Beitrag der Juden zu unserer Kultur mit Füßen getreten und vernichtet haben. Er ist in vielen Bereichen offensichtlich. Nur ein Beispiel aus der Welt des Rechts: Die ganze Art unseres juristischen Denkens, unsere Methodenlehre fußt auf Techniken, von denen ein nicht geringer Teil aus den Streitgesprächen jüdischer Gelehrter über die Auslegung des Talmuds stammt. Sie wiederum fußen in der griechischen Tradition und die mittelalterlichen Rechtsgelehrten haben beide Quellen benutzt, um das Kirchenrecht zu schaffen aus dem dann die moderneren Stadtrechte etc. entwickelt worden sind. Diese Wurzeln werden immer bestehen bleiben. Vielleicht könnte man dann auch leichter akzeptieren, dass der Bürgerkrieg in Palästina auf dem Boden des europäischen Bürgerkriegs gewachsen ist.
Wenn wir den letzten Jahren nicht schon in aller Klarheit gesehen hätten, dass es unmöglich ist, auf diesen Feldern Schuld und Mitschuld auseinander zu dividieren, müssten wir es spätestens jetzt begreifen können.
4.3. Tote, Emigranten, Heimatlose und Waisenkinder
Als ihre Städte in Grund und Boden bombardiert wurden und fremde Truppen einmarschierten, mussten viele Deutsche ihre Heimat verlassen und sind im Zuge der Eroberung misshandelt und umgebracht worden.
Diese Vorgänge stehen nicht auf einer Ebene mit dem Mord an den Juden, denn der technisierte Mord in den Vernichtungslagern ist ein in der Geschichte so einzigartiges Verbrechen, dass es nicht einmal möglich ist, sich in den Geist oder gar in die Gefühle derer hineinzuversetzen, die ihn verübt haben. Lea Rosh und andere, die – zum Teil gegen jüdische Stimmen – den Mord an den Juden von jenem an anderen Opfern unterscheiden, wollen ihn damit auf einen besonderen Antisemitismus der Deutschen zurückführen. Ich halte das nicht für richtig, sondern sehe in den anderen oben skizzierten Elementen und ihrem verhängnisvollen Zusammenwirken den Unterschied zu anderen Völkermorden.
Die Vertreibung der Deutschen hingegen war die logische Folge dessen, was zuvor geschehen war – logisch deshalb, weil Vergewaltigung, Mord und Vertreibung die typischen Begleitumstände jedes Krieges sind. Unter allen Generationen, die nach 1945 versuchten, sich mitten in den Trümmern und dem seelischen Schutt zurechtzufinden, hatten diejenigen, die wenigstens in den Resten ihrer Heimat wieder etwas aufbauen konnten, eine viel stabilere Ausgangsbasis als jene, die aus der Emigration zurückgekehrten oder als Flüchtlinge oder Waisen irgendwo hingeworfen worden waren. Die Gründer der DDR (Ulbricht, Honecker, Rudolf Walter Leonhardt etc.) kamen alle aus dem Exil, in der Bundesrepublik waren es Willy Brandt, Herbert Wehner und andere, die schwierigere Aufgaben zu lösen hatten als Franz Josef Strauß oder Helmut Kohl.
In vielen Städten gibt es die Neubauviertel mit den »Ostpreußen« und »Schlesien« – Straßen, die nach den verlorenen Städten genannt wurden. Ich habe lange gebraucht, um mir darauf einen Reim zu machen. Aber auch wir Westkinder waren von Berlin in den Schwarzwald geflohen, von dort ins Rheinland – aber nicht nach Berlin – zurückgekehrt und dann habe ich alle Jahre wieder immer neu versucht, mich seelisch irgendwo niederzulassen, ohne dass mir das gelungen wäre.
Bei meinen Freunden sah es ganz genauso aus: Justin war in Breslau geboren, Reiner in Peking, Gunther in Karlsbad, Horst in Blumberg – alles Orte, mit denen uns in unserem späteren Leben nichts mehr verband.
Viele waren auch zu Waisen geworden. Aber auch die unter uns, die noch Familien hatten, wussten selten über sie etwas Angenehmes zu berichten: die älteren Leute waren schweigsam und versteinert, servil oder anmaßend. Über die »vaterlose Gesellschaft« konnte Alexander Mitscherlich sich öffentlich Gedanken machen, denn nicht nur unter den 68ern hatten viele ihre Väter verloren (zum Beispiel Andreas Baader) und auch deren Väter waren oft bereits im Ersten Weltkrieg gefallen – eine Generationsfolge von Vaterlosen. Die »heimatlose Gesellschaft« konnte nicht so unbefangen diskutiert werden, denn sie stand zu nahe am Ideengut von Volk und Nation.
Der Verlust der Heimat hat auch die (vor allem jüdischen) Emigranten betroffen, von denen einige auf Deutschland nicht verzichten wollten, während andere in den Menschen gleicher Sprache und gleicher Kultur die Mörder nicht vergessen konnten. Die Gründung des Staates Israel hat ihre Hoffnungen auf Frieden bisher nicht erfüllt. Es liegt eine besondere Tragik darin, dass die damaligen Flüchtlinge sich selbst nur retten konnten, indem sie andere zu Flüchtlingen machten. Dahinter steht ein moralisches Problem, das schon in den ersten rechtsphilosophischen Überlegungen der Griechen auftaucht, das uns Gustav Radbruch anschaulich geschildert hat: Zwei Schiffbrüchige kämpfen um eine Planke, die nur einen von ihnen tragen kann. Was immer einer von ihnen tut, wird ihn moralisch belasten, da es dem anderen schadet und beide könnten dem Dilemma nur über den eigenen Tod ausweichen. Bisher hat niemand eine Lösung für diese Frage finden können.
Gewiss war es auch die Heimatlosigkeit, die viele dazu motiviert hat, sich politisch zu engagieren. Unter den 68-ern waren die meisten nicht dort geboren, wo sie politisch aktiv wurden.42 Bernd Rabehl, Rudolf Bahro und Rudi Dutschke versuchten zweifellos im Westen ihre Heimat (die ideale DDR) zu gestalten, die dort, wo sie geboren wurden, so vollkommen verfehlt worden war – Dutschkes Idee der „Freien Stadt West-Berlin“ zeugt davon. Aber auch viele im Westen Geborene waren Kinder von Flüchtlingen und Vertriebenen: Joschka Fischers Eltern waren Ungarn-Deutsche, Horst Mahlers Eltern aus Polen vertrieben, Wolf Biermann vom Westen in den Osten verschlagen usw. Diese persönlichen biografischen Umstände sind nur eines, aber ein wichtiges von unzähligen Elementen, die nötig waren, um diesen tiefen Bruch zwischen den Generationen auszulösen.
Mit seinem Film »Heimat« hat Edgar Reitz erstmals die deutsche Seite dieses Themas angeschlagen und Peter Glotz – auch ein Heimatvertriebener – hat es politisch aufgearbeitet. Erst im Werk von W.G. Sebald43 findet sich eine tiefe, völlig unromantische und gerade deshalb ganz überzeugende Entwicklung des Begriffs. Es wird noch lange dauern, bis »Heimat« wieder ein selbstverständlicher Begriff wird, der nicht mit Schuld und Sühne belastet ist.44
4.4. Egal wohin – nur weg von hier!
Wir sind in einer Atmosphäre der Verdrängung, der Heuchelei und auf dem Hintergrund des unbedingten Erziehungswillens zweier Generationen aufgewachsen, die klar genug bewiesen hatten, dass sie ihr Leben selber nie im Griff hatten, weil sie sich ständig fragten, was wohl die Obrigkeit dazu sagen würde. Darauf haben wir vor dem Herbst 1967 mit Anpassung, Ironie und dem wilden Wunsch reagiert, so schnell wie möglich weg zu kommen – und zwar am besten nach Amerika!
Das hätte auch Franz Kafka gern so gemacht, aber beim Nachdenken über das Thema ist bei ihm nur ein Roman-Fragment über Amerika daraus geworden. Tatsächlich krümmte er sich weiter vor dem Schlafzimmer seiner Eltern »im Hauptquartier des Lärms« zusammen. Ich kenne in meiner unmittelbaren Umgebung nicht einen Sohn oder eine Tochter die an dem Satz »solange du deine Füße unter meinen Tisch stellst, hast Du zu folgen« Geschmack gefunden hätten. Alle haben sie so schnell wie möglich den Gelsenkirchener Barock, die Perpetuum-Ebner-Musiktruhe, die kalten Eltern-Schlafzimmer und den Kohlgestank in den Treppenhäusern der Fünfzigerjahre hinter sich gelassen, haben ihre Matratzen auf Dachböden gelegt, ihre Tassen auf Apfelsinenkisten (Jaffa-Möbel) gestellt und im Winter das Fensterbrett als Kühlschrank benutzt.
So erst konnten wir tief durchatmen. Wie habe ich die Fulbright-Studenten beneidet, die ihre guten Englischkenntnisse schon in der Schule lernen durften (uns wurde Latein und Altgriechisch eingeprügelt) und außerdem Geld genug hatten, länger zu studieren.
W. G. Sebald, floh gleich nach dem Abitur 1963 erst in die Schweiz, dann nach England. Wenn ich irgendeinen Weg gesehen hätte, es ähnlich zu machen, ich wäre ihn gegangen. Stattdessen ging ich zur Armee.
Heute bleiben die Kinder zuhause oder wohnen mietfrei in Anlageobjekten ihrer Eltern, ohne sich sonderlich dafür zu bedanken, weil sie neben der Freiheit auch noch das Geld brauchen. Wer damals bleiben musste, lernte die Ironie. Die »Neue Frankfurter Schule«, die in der Zeitschrift Pardon geboren wurde und sich in der Titanic fortsetzte, schrieb ein ironisches Programm, das man nur mit den Leistungen von Monty Python in England vergleichen konnte. Robert Gernhardt, F. K. Waechter, Chlodwig Poth, Hans Traxler u.a.. waren ein verlässlicher Trost während des Studiums und noch für viele Jahre danach. Den Sammelband »Welt im Spiegel«, die absolute Nonsense-Seite kann ich halb auswendig.
Nach 1968 waren Flucht oder Ironie nicht mehr die einzigen Alternativen. Jetzt gingen die Radikalen auf die Barrikaden und die weniger Entschlossenen standen teils zweifelnd, teils jubelnd daneben. Ich hatte dafür keine Zeit mehr, denn ich musste mich auf das Examen vorbereiten und fand danach meine eigenen Möglichkeiten, mich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen.
5. Der Urknall der Gefühle
Hier kann man lesen, wie die Mauer des Schweigens erst zaghaft und dann mit immer größeren Schlägen zerbrochen wurde. Und zwar nur deshalb, weil endlich die Gefühle explodierten.
»Den Widerstand, den die Väter gegen die Diktatur nicht geleistet hatten, holten die Söhne gegen die Demokratie nach.«45
5.1. Revolutionstheorien
Geschichte und Deutsch waren die Fächer, in denen wir etwas über frühere Revolutionen erfahren konnten, die vor dem Kaiserreich stattgefunden hatten. »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit«, der Apfelschuss des Tell, die barbusige Marianne auf den Barrikaden, Büchners atemberaubende Darstellung von Dantons Tod – das waren die Versatzstücke, aus denen wir eine ungefähre – wenn auch sehr theoretische – Vorstellung des Zusammenhangs von Gewalt und Gefühlen gewinnen konnten, die alle Umbruchzeiten und Revolutionen prägen.
Gewalt gegen Minderheiten kannten wir allerdings von Kindesbeinen an. In der Internatsschule der Jesuiten, in der ich acht Jahre lang war, aßen wir noch bis Ende der Fünfzigerjahre angefaulte Kartoffeln von Blechtellern, erhielten beim Verstoß gegen geringste Regeln drakonische Strafen und wer nachts im Schlafsaal (30 Jungen) lärmte, wurde von dem Präfekten, der dort ebenfalls in einer abgeteilten Zelle schlief, herausgeholt und mit dem Schlagballstock geprügelt. Es gab auch sexuelle Übergriffe – dieses Internat hatte wirklich den Gesamtkatalog der schwarzen Pädagogik in hoher Qualität zu bieten. Diese Schulen (überwiegend von Jesuiten, aber auch von anderen katholischen Orden wie Franziskanern, Salesianern etc. vor allem seit der Gegenreformation. betrieben) sind noch heute in Spanien das Rückgrat der Gesellschaft. Nahezu jeder, der irgendwo Karriere machen will, besucht sie schon deshalb, weil er nur so frühzeitig seinen Platz in den Netzwerken einnehmen kann, die während seines ganzen Berufslebens für seinen Erfolg entscheidend sein werden.46 Die Atmosphäre in solchen Internaten ist keine katholische Spezialität. Wie Hermann Hesse, Robert Musil und ganze Bibliotheken englischer Internatsliteratur berichten, scheint allein das System dieser Erziehung dafür zu sorgen, dass Gewalt und Unterdrückung selbstverständlich sind.
Daneben aber gab es auch die Schule, deren Lehrer fähige und interessierte Leute waren (auch die Geistlichen unter ihnen), Leute, die sich innerhalb der Grenzen des Systems und ihrer eigenen Möglichkeiten Mühe mit uns gaben und in fast allen Fächern auch intellektuelle Herausforderungen boten. Dort kann ich mich nicht an unangemessene Strafen erinnern. Bad Godesberg war das Diplomatenviertel Bonns und so fand man hier auch die Söhne ausländischer Diplomaten wie etwa Harun Farocki47. und es gehörte jedenfalls im rheinischen Raum zum Prestige einer katholischen Familie, ihre Kinder hierher zu schicken. Vielleicht war deshalb die schlimmste Strafe die Drohung, das Kind von dieser anerkannten Schule zu schicken, wenn es die Regeln nicht akzeptieren wollte, die auch im Internat galten. Diese Strafe hatte den poetischen Namen consilium abeundi und war der Inbegriff von Schmach und Schande, die nicht nur den Schüler, sondern vor allem auch seine Eltern traf. Sie erwischte eines Tages meinen Freund H.H., der es gewagt hatte, das Schulgelände nachts für einige Stunden zu verlassen. Wenn er wenigstens eine Freundin gehabt und mit ihr in den Parks verschwunden wäre – vielleicht hätte sich das Ganze dann gelohnt! Aber er war nur der beste Trompeter unseres Schulorchesters und war es leid, ständig nur die Soli von Bach, Telemann und Pachelbel herunterzududeln; weil es aber in der ganzen Schule verboten war, Jazz anzuhören, geschweige denn zu spielen, (Negermusik), schlich er sich in einen Jazzclub in Bonn – und das machte er kein zweites Mal, nachdem man ihn einmal abgemahnt hatte.
Richard David Precht ist bei guten Menschen aufgewachsen, die nur sein Bestes wollten – sein selbstständiges Denken. Bei mir war das eine Generation früher ganz genauso. Seine Eltern hatten Lenins Werke in der Hand, unsere die Bibel. Er sollte Lenin verehren, wir das liebe Jesulein. Wir kennen zwischenzeitlich Hunderte solcher Berichte, aber von einer Revolution der Kinder haben wir noch nichts vernommen. Wie hätte sie auch stattfinden können?
Das Studium der Literatur und der Geschichte konnte uns mit ihren Erklärungen nicht helfen, denn dazu hätten wir unsere Situation mit den historischen Szenen spiegeln müssen, eine Erfindung, für die man älter sein muss. Wir waren naiv, hatten gar keine Vergleichsmaßstäbe und vermuteten, alle Kinder würden auf allen Schulen so behandelt. Die Bremer Stadtmusikanten ahnten immerhin, dass es irgendwo etwas Besseres geben könnte, aber ich habe mir nach geraumer Zeit nur eines geschworen – das consilium abeundi zu vermeiden, um nicht zuhause erschlagen zu werden, aber nach dem Abitur: egal wohin, nur weg von hier!
Das haben keineswegs alle meine Mitschüler so empfunden. Viele schicken noch heute ihre Kinder wieder in die nach wie vor gute Schule und in ein (selbstverständlich gemischtes) Internat, dessen Liberalität und Luxus einem die Tränen in die Augen treibt, wenn man an die früheren Zeiten denkt. Die schwarze Pädagogik ist heute dort verschwunden, aber weder die Eltern noch die Jesuiten haben sich dafür bei den 68ern bedankt.
Dazu hätten sie aber allen Grund gehabt! In jeder Zeit des Umbruchs, bei jeder Revolution sind es zuerst die Gefühle, die zur Aktion drängen48, es ist nicht der planende Verstand, auch wenn wir der am Ende immer gewinnt. Die Revolution frisst ihre Kinder, sie frisst aber nicht ihre Erwachsenen. Die Kinder sind es, die sich in ihren Möglichkeiten überschätzen49 und sobald sich die Chance dazu bietet, kochen die Gefühle über, der Deckel fliegt vom Topf und so wird sichtbar, was vorher darunter brodelte. Diese Arbeit haben die 68er auf breiter Front gemacht und auf einmal forderte der Zeitgeist ganz allgemein, die Art und Weise der Erziehung zu überdenken. Die wirklichen Nutznießer der Risiken, die die 68er auf sich genommen haben, sind gerade die Leute, die sie verhindern wollten.
Aus der offenen Diskussion über sexuellen Missbrauch in verschiedenen kirchlichen und staatlichen Institutionen während der Sechzigerjahre, die im Frühjahr 2010 geführt wurde, lässt sich die große Zäsur am deutlichsten ablesen, die die 68er in ihrer Kritik an der schwarzen Pädagogik erreicht haben. Damals wurden die »besonderen Gewaltverhältnisse« (wie die Juristen die Unterbringung in einer Anstalt damals nannten) durch Angst und Gewalt geprägt. Ab 1968 änderte sich alles: in der Odenwald Schule hörte der sexuelle Missbrauch nicht auf, er wurde jetzt aber als »freundliche Begrüßung« und familiäre Vertrautheit interpretiert.
5.2. Studenten und Proletarier
Die Freie Universität war 1965 – wie alle deutschen Universitäten in dieser Zeit – ein hermetisch abgeschlossener Kasten, in dem die Studenten behandelt wurden wie Dreck. Es gab einen Schalter, an dem man seine Studiengebühren bezahlen durfte und ein Studienbuch bekam, in dem irgendwelche Stempel landen sollten, aber was man da nun »hören« sollte, wurde nicht erklärt. Die Professoren hatten keine Sprechstunden (sofern sie Assistenten hatten, sah man die auch nicht) und so musste man sich die nötigen Informationen irgendwo in der Kantine zusammenraffen, wo der Blinde versuchte, dem Tauben die Welt zu erklären. Ich hatte beim Abitur einen Notendurchschnitt von 1,2 und später hat irgendjemand mal behauptet, dass ich damit auch ein Stipendium hätte beantragen können. Aber wo? Und bei wem?
Also habe ich erst einmal dafür gesorgt, eine anständige Arbeit zu finden. Die brauchte ich, denn mein Großvater war ein ziemlich armer Weber aus Wuppertal (seine Werkstatt lag nahe bei den Engelsschen Tuchfabriken), mein Vater gelernter Schreiner, der sich über die Abendschule zum Architekten fortgebildet und nun einen Beamtenjob bei der Werk-Kunstschule in Düsseldorf hatte. Vermögen gab es also nicht und staatliche Förderung bekamen wir drei Brüder auch nicht (weil so ein Oberregierungsrat dafür zu viel verdiente!), sondern mussten stattdessen Studiengebühren zahlen.
So habe ich schon als Schüler gearbeitet, erst als Siebdrucker beim Konsum in Düsseldorf, dann beim Versand politischer Pamphlete.
Jetzt, als Student bekam ich bei Bolle im Zentrallager Turmstraße in der Nachtschicht 2,03 DM pro Stunde in die Lohntüte – doppelt so viel wie eine wissenschaftliche Hilfskraft. Ja – das war der Bolle, den man schon von Zille her kennt, der mit der Glocke! Wir fuhren nachts Milch und Sahne in die einzelnen Milchgeschäfte, Krankenhäuser usw. und bezahlten in den Pausen Bier und Buletten zum Beispiel im Froben-Eck, wo sich im Winter die Nutten aufwärmten, denn schon damals war Berlin 24 Stunden offen. (dort ehrenvolle Ausrufe der Damen in ihren Leopardenstiefeln: »Na – ihr Bolle-Athleten- Sahne jefällig?«, wobei der Busen mit beiden Händen bedeutungsvoll gehoben wurde). Das bedeutete: vormittags ausschlafen, nachmittags in die Bibliothek, Hausarbeiten am Wochenende usw. Von Vorlesungen habe ich nicht viel mitbekommen, hatte aber auch nicht den Eindruck, allzu viel zu versäumen.
Im Gegenteil: ich lernte so einige Lehrmethoden des Lebens kennen, die mir im politischen Verständnis viel geholfen haben.
Die Arbeitswelt ist aber nur die Oberfläche. Wie ein Arbeiter und seine Familie wirklich lebt, kann man dort nicht entdecken. Sie lebten meist im dritten und vierten Hinterhof in dem immer noch zerbombten Berlin und wie es da aussah, erfuhr ich im Dezember 1965, als ich im Auftrag des Sozialamts treppauf treppab Weihnachtspakete herumtrug. Hier hatte sich Zilles Milieu noch hundert Jahre später vollständig erhalten.
Ein Jahr später fuhr ich in den Semesterferien im Fernverkehr bei Dietsche einen uralten Möbeltransporter (Büssing-NAG, Baujahr 1956) zwischen Freiburg und Hamburg herum. Auch Conrad Ahlers habe ich von Hamburg nach Bonn umgezogen, als er 1966 nach Bildung der Großen Koalition Stellvertretender Leiter des Bundespresseamtes wurde. (Es gibt nichts traurigeres als ausgeräumte Kinderzimmer!)
Mein Chef Ludwig (genannt „Leon“) war ein ehemaliger Fremdenlegionär. Er war, ganz ähnlich wie Günter Grass, von der Schulbank weg zur Waffen-SS gekommen und nach der Kapitulation zu den Franzosen übergelaufen, die ihn vor die Wahl: Gefangenschaft oder Fremdenlegion stellten. In Dien-Bien-Phu – der Wiege des Vietnamkrieges – wäre er 1954 im Grabenkrieg an einer Bambuslanze fast gestorben. Ihm konnte man nichts vormachen! Sein Lebenstraum war es, sich selbst einmal einen der zentnerschweren 4 m langen Eichenschränke aus Vollholz (mit Intarsien und Löwenfüßen!) zu kaufen, die wir so häufig von Löhne, einem großen Umschlagbahnhof mitten in der westfälischen Wüste, abholten. (Ich wohnte während dieser Zeit auf Apfelsinenkisten und habe nichts vermisst.). In unseren langen Stunden auf der Autobahn erklärte ich ihm aus lauter Langeweile Verfassungsrecht und Arbeitsrecht und erfuhr im Gegenzug etwas über die politischen Ansichten der Arbeiterklasse. Diese Klasse gab es damals noch. Nach Revolution war ihr aber erkennbar nicht zu Mute.
Mein erstes Zimmer in München teilte ich mir mit meinem Freund Georg Kilian, den ich schon in Berlin kennen gelernt hatte. Gemeinsam konnten wir uns gerade das nach Blut und Rauch stinkende Hinterzimmer einer Metzgerei leisten, das ab nachts um drei Uhr durch die riesigen Maschinen von Francis- Druck erschüttert wurde, wenn sie anfingen, die Zeitungen zu drucken. Der ständige Geldmangel war enervierend. Mit Nachtschicht und Fernfahren war's vorbei, weil ich nun beim Repetitor wirklich systematisch lernen musste. Der Taxi-Führerschein war die Lösung. Ich konnte fahren, wann ich Zeit hatte, und lernte dabei auch gleich was fürs Leben, denn als Taxifahrer bekommt man besonders »zur Nachtzeit« (wie das in der Sprache der Juristen heißt) innerhalb weniger Stunden in unkonventioneller Form tiefe Einblicke in die menschliche Natur. Es ist verblüffend, dass auch heute noch von vielen Wissenschaftlern über die Frage debattiert wird, ob es irgendetwas wie die condition humaine gebe. Nach einem Jahr am Steuer eines Taxis (und nicht im Fond!) werden Sie sich mit niemandem mehr darüber streiten.
Auch während meiner zweijährigen Zeit in der Bundeswehr hatte ich mit Leuten aus allen Gesellschaftsschichten gemeinsam im Dreck gelegen, habe dort (und nicht in einer Schlagenden Verbindung) das Saufen gelernt und bekam eine gewisse Vorstellung davon, dass die meisten Arbeiter konservativ denkende Leute sind, vor allem die Gewerkschaftler.
Ich hatte deshalb meine Zweifel, ob das, was die Studenten wollten, von den Proletariern überhaupt verstanden, geschweige denn gebilligt wurde. Was der Arbeiter wollte, war ein white-collar-job und möglichst mehr Urlaub als Arbeit. Die Vergangenheit oder der Generationenkonflikt hat ihn nie interessiert. Die meisten der Leute, die Spaß am Barrikadenbauen hatten, waren vorher nicht als Maurer tätig gewesen. In der Frankfurter Szene wurden Studenten wie Matthias Beltz, die nach dem meist abgebrochenen Studium jahrelang (1971-1977) als Schichtarbeiter bei Opel am Band standen, bestaunt wie exotische Tiere, zum Beispiel von Joschka Fischer, der es da gerade einmal sechs Monate ausgehalten hat, bevor man ihn wegen laufender Agitation mit Zustimmung des Betriebsrates feuerte. Danach dealte er lieber mit Raubdrucken, ein Geschäftsmodell mit hohen Deckungsbeiträgen, wie sie im normalen Kapitalismus schwer erzielbar sind.
Diese ersten Demonstrationen, die als Stilmittel heute so selbstverständlich sind, dass keine Gewerkschaft mehr auf ihre Trillerpfeifen verzichten möchte, haben gleichzeitig den Beginn des Medienzeitalters signalisiert. Was für unsere Eltern der Volksempfänger war, aus dem die Stimme des Führers bellte und Lale Andersen »Vor der Kaserne« schluchzte, wurde nun das Fernsehen. Es sorgt jeden Tag verlässlich dafür, dass wir genau zu sehen bekommen, wie fern in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen. (Goethe konnte, wie wir wissen, noch gut darauf verzichten).
Inga Buhmann (kein Pseudonym!) schreibt über einen Protestmarsch über den Kurfürstendamm, sie habe in den Augen der Bürger das blanke Entsetzen gesehen und daraus geschlossen, der Sieg der Studentenbewegung stehe unmittelbar bevor. Das war schon sehr naiv. Meine Erfahrung hatte mir etwas ganz anderes gezeigt: wenn der Bürger wirklich Angst bekommt, dann gibt es kurz danach richtig Ärger! Und so ist es dann ja auch gekommen.
Ich hatte damals keine Zeit, mich an der Revolution zu beteiligen, denn am Anfang war ich jedes Jahr an einer anderen Universität. Das war eine völlig sinnlose Übung, denn ich hätte mir die Bundeswehr sparen und zwei Jahre früher mit dem Studium in Berlin beginnen und dableiben sollen. Aber damals, als niemand einem neuen Studenten irgendetwas praktisch Verwertbares beigebracht hat, geisterten noch mittelalterliche Thesen in der Gegend umher, man müsse mehrere Universitäten kennen gelernt haben (die fahrenden Scholaren etc.).
In Freiburg bin ich noch ziemlich regelmäßig zu den Vorlesungen gegangen, weil ich während des Semesters nicht mehr arbeitete, aber die Münchner Universität habe ich in den letzten zwei Jahren des Studiums kaum mehr gesehen, weil ich genug damit zu tun hatte, mit meinem Taxi die Revolutionäre zu den Demonstrationen zu fahren. Also konnte ich auch in dieser Zeit keine Revolution machen.
Danach hatte ich erst recht keine Zeit, denn ich war verheiratet, musste promovieren und als Referendar im Gericht und im Wasserwirtschafts-Referat der Regierung von Oberbayern arbeiten. An diesen Orten wurde mir schon am Geruch der Kantinen klar: eher würde ich – wie mein Vater mir immer angedroht hatte – Steine klopfen oder Straßenbahnschienen reinigen, als man ganzes Leben in diesem Mief zuzubringen.
Trotzdem ist die Revolution nicht spurlos an mir vorübergegangen. In meiner Dissertation beschäftige ich mich nämlich mit den Personalräten, dem öffentlich-rechtlichen Gegenstück zu den Betriebsräten, deren Einrichtung weit in die Kaiserzeit zurückreicht und nach 1918 den Räte-Gedanken ausdrücklich aufgreift. Der vor allem in der soziologischen Literatur verbreitete Gedanke, »Hierarchie im Sinne des Befehlsmodells ist dysfunktional für... Effektivität in Form miteinander verbundener Subsysteme« (Naschold50), war mir nicht unsympathisch, denn unter dysfunktionalen und willkürlichen Hierarchien hatte ich – wie vermutlich Naschold ebenfalls – mein Leben lang gelitten. Auch die Galionsfigur der Anarchisten, Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin hatte zu dem Thema vernünftige Gedanken beizutragen, die aufgrund seiner persönlichen biografischen Wirrnisse aber von kaum jemand ernst genommen wurden. Das waren alles genauso schöne Ideen wie die des christlichen Rechtsphilosophen René Marcic (1919-1971). Als ich seinen vollkommen sinnleeren Satz: »Als Atmosphäre ist der soziale Rechtsstaat jener Staat, in dem die Menschen, wenn sie sich begegnen, lächeln« ironisch zitierte, nahm Peter Lerche51, bei dem ich promoviert habe, das genauso wie meine syndikalistischen Ideen mit alt-österreichischer Gelassenheit hin.
Am Ende war mir klar, dass die deutschen Personalräte sich keinesfalls lächelnd begegnen, sondern genauso wie die Betriebsräte klare Kampfpositionen haben wollten. So kam ich zu dem Ergebnis, dass für Beamte eine solche Möglichkeit nicht verfassungsmäßig sein kann. Kropotkin und die meisten klassischen 68er wären sicher anderer Ansicht gewesen.
5.3. Professoren
Obwohl die Freie Universität Berlin – eine von den Amerikanern 1948 initiierte und finanzierte Gründung – moderne Gebäude und ein modernes Konzept hatte, war davon in den Köpfen der Professoren im Grunde nichts angekommen Hier gab es keine »furchtbaren Juristen«, aber außer der juristischen Bibliothek52 auch nichts bemerkenswertes.
Bei dem uralten (damals 65!) Professor Ulrich von Lübtow (Mittelalterliche Rechtsgeschichte) erschienen ohnehin nur wenige Figuren, und um das zu verhindern tauchte Arwed Blomeyer, immer mit einem Schwarm seiner Assistenten auf. Sie kannten den ganzen Stoff natürlich längst auswendig, saßen aber gehorsam in der ersten Reihe, um bei den richtigen Stellen als Claqeure zu wirken. Georg Kilian erinnert sich sogar daran, dass der stets in englisches Tuch gewandete ältere Herr (vermutlich 55) sich heimlich gepudert haben soll, um auf die vereinzelt anwesenden Damen etwas jünger zu wirken. Das wollte auch der unterhaltsame junge (und gelegentlich betrunkene) Professor Blei, versuchte es aber mit anderen Mitteln: für seine kabarettreifen Einlagen erntete er zwar oft stürmischen Beifall, aber gerade das machte es nicht einfach, dahinter die Umrisse des Strafrechtssystems zu erkennen. Die gefährliche Körperverletzung demonstrierte er am Beispiel der, mit dem nackten Hintern auf die Herdplatte gesetzten Ehefrau, um damit zu erläutern, dass auch ein sonst nützlicher Gegenstand zu einer gefährlichen Waffe werden kann. Überhaupt machten ihm sexuell konnotierte Straftaten besondere Freude. An meine erste Klausur schrieb er die unvergessenen Worte: »Verfasser hat die Probleme des Falles nicht einmal erahnt«! Dann gab es noch den netten alten (63) Ernst Heinitz (auch Strafrecht), der 1933 nach Italien geflüchtet war und dort überlebt hatte – wie überhaupt die Strafrechtler sich offenbar besser in das Gedächtnis ihrer Studenten einprägen als die anderen Professoren. Für mich war das entscheidende Problem: ich sah in der juristischen Ausbildung keinerlei Struktur. Wenn sie irgendwo »wissenschaftlich« war, dann womöglich irgendwo in den höheren Semestern, und was hätten auch die ersten Semester mit so einem Anspruch anfangen sollen? Wir hätten pädagogisch aufgebaute Lehrangebote erhalten müssen, wie sie heute üblich sind (allerdings immer noch auf beklagenswert niedrigem Niveau) und also hat es seine Zeit gedauert, bis man erkennen konnte, dass es gar kein System gab, an dem man sich hätte orientieren können. Erst sehr viel später habe ich begriffen, dass die Universität kein Prüfungsrecht hatte und daher an den inhaltlichen Erfolgen ihrer Studenten gar kein Interesse entwickeln konnte. Das Prüfungsrecht aber hatte sie verloren, weil der Staat keine Juristen einstellen wollte, deren Qualifikation so offenkundig mangelhaft war, wie es im 19. Jahrhundert der Fall war53.
Nach einem spektakulären Vorfall in Hamburg bei der feierlichen Rektoratsübergabe vom 9. November54 1967 wurde allerdings endlich einmal ausgesprochen, was alle schon wussten: »Unter den Talaren- der Muff von 1000 Jahren«55. Am Unterrichtstil der Universität änderte das natürlich gar nichts.
Ich wusste also schon im zweiten Semester, dass ich zum Repetitor musste, und ein Schulfreund erzählte mir, in Freiburg säßen die besten. Das war zwar Unfug, aber Freiburg ein schöner Ort, an dem unter anderem Erik Wolf unterrichtete. Er war ein beeindruckender Kopf und wir haben seine Erläuterungen der rechtlichen Inhalte in Platons Frühdialogen genossen. Keiner wusste, dass er seit 1933 Mitglied der NSDAP gewesen, 1934 unter Heidegger Dekan geworden und sich erst 1936 als Mitglied der Bekennenden Kirche von den Nazis distanziert hatte.
Auch in München gab es fragwürdige Juristen, die im Dritten Reich Karriere gemacht hatten. Dazu gehörten vor allem Karl Larenz und Theodor Maunz.
Niemand sprach darüber, dass Larenz in Kiel den Lehrstuhl eines weggejagten jüdischen Wissenschaftlers eingenommen und danach einige Veröffentlichungen geschrieben hatte, die die Diktatur verherrlichten. Der groß gewachsene und stets elegant gekleidete Mann lief mit seinen Assistenten wohlwollend grüßend durch die Gänge – niemand hätte gewagt, ihn außerhalb seiner Sprechstunde (die fast nie stattfand) auch nur anzusprechen. Man kritisierte ihn nur heimlich wegen seiner Lehrbücher, aus denen man nichts lernen konnte, weil sie in makelloser, aber völlig abstrakter Sprache geschrieben sind.
Maunz wurde uns als früherer bayrischer Kultusminister vorgestellt. Dass er Mitglied der Thule-Gesellschaft, der NSDAP und der SA gewesen war, und neben Heidegger in Freiburg regimetreue »Wissenschaft« betrieben hatte, danach die NPD beriet und unter Pseudonym rechtslastige Artikel schrieb, war unbekannt, vermutlich auch seinem berühmten Schüler Peter Lerche, der mit dem Begriff des »Übermaßverbots« einen der wichtigsten Grundsteine der Verfassung definiert hat. In ihm hatte ich einen der wirklichen Väter des Grundgesetzes kennen gelernt. Maunz machte sich nach 1949 sofort daran, das neue Grundgesetz zu kommentieren. Das war eine strategische Tat, die gewiss auch den Zweck hatte, zu verhindern, dass ihm ein anderer liberaler Rechtslehrer zuvorkam. Bis heute trägt das führende Standardwerk zu unserer Verfassung seinen Namen und verbindet ihn mit seinem Mitherausgeber Roman Herzog, dem späteren Bundespräsidenten. In früheren Auflagen finden sich darin grob verfassungswidrige Ansichten, so etwa die Behauptung, Verwaltungsanordnungen unterlägen nicht dem Rechtsstaatsprinzip56. Hätte man damals vor den Zeiten der Revolution über die Vergangenheit so manches Hochschullehrers offen diskutieren können, hätte man ihm solche Sätze wohl nicht durchgehen lassen. Aber auch hier wurde geschwiegen.
Dieses Schweigen führte auch dazu, dass andere, wie Werner Flume nicht gerühmt wurden, die wegen ihrer kritischen Haltung von der Hochschule vertrieben worden waren. Ohne die Studentenrevolte hätte Bernd Rüthers zwanzig Jahre später sein Buch »Entartetes Recht – Rechtslehren und Kronjuristen im Dritten Reich« ebenso wenig schreiben können wie Ingo Müller über die »furchtbaren Juristen«. Die 68er Generation hat die Diskussion aber nur angestoßen, kaum einer der fragwürdigen Professoren57, hat bemerkenswerte Nachteile erfahren.
Dabei hätte man sehr wohl zwischen jenen (wie zum Beispiel Erik Wolf) unterscheiden können, die in einer relativ kurzen Phase zwischen 1933 und 1937 den Nazis positiv gegenüberstanden, sich aber noch vor dem Ausbruch des Krieges und der Judenmorde von diesen Ideen distanzierten und anderen, die bis weit in die Nachkriegszeit hinein und im nachträglichen Wissen um alle Geschehnisse keine Korrekturen an ihren früheren Gedanken anbringen wollten. Das hätte man fairerweise auch von Carl Schmitt, Maunz und anderen verlangen können.
Außerhalb der juristischen Fakultäten haben sich eine Menge Studenten, Assistenten und junge Professoren an den Ideen der 68er beteiligt, die zu einem erheblichen Anteil außerhalb der Universität standen58. Sie haben sich über die Ausweitung der Planstellen, die Vereinfachung der Berufungen, die Mitbestimmung usw. schnell neben ihnen etabliert. Nur für einige, wie Uwe Wesel den ich bereits aus München kannte, als er noch im dreiteiligen Nadelstreifenanzug neben seinem Doktorvater Wolfgang Kunkel wandelte, hat sich das politische Engagement nicht gelohnt: als er 1969 aus Solidarität Vizepräsident der Freien Universität Berlin wurde, um den Reformkurs zu verteidigen, hat er danach – wie er schon ahnte – keinen Ruf an eine andere Universität mehr erhalten. Heute hat der wissenschaftliche Nachwuchs unter anderem das Problem, dass viele interessante Stellen auch heute noch von Leuten besetzt sind, denen sie die Qualifikation absprechen. In anderen Fächern (vor allem bei den Politologen und Soziologen) mag das zutreffen, unter den Juristen kann ich diesen Eindruck nicht teilen.
Ich hätte während dieser zehn Jahre auch dann kein Interesse daran gehabt, den Professoren ihre Nazivergangenheit vorzuhalten, wenn ich davon gewusst hätte. Juristen lernen auf der Universität nämlich als erstes, dass es gegen jedes Argument auch ein Gegenargument gibt.
Was hätte ich zum Beispiel an der Stelle von Erik Wolf getan, wenn ich der Meinung gewesen wäre, wirklich etwas zu können und auf einmal wird ein Lehrstuhl frei, den ich dem Führer verdanke, dann schreibe ich lobende Aufsätze über das neue System und 1936, drei Jahre später merke ich, was für ein Humbug das alles ist – ungefähr zur gleichen Zeit, in der die ganze Welt den Nazis bei der Olympiade in Berlin zu Füßen liegt. Also wäre ich auch ins Loch gekrochen, hätte griechische Rechtsgeschichte unterrichtet und meinen Kopf in den Sand gesteckt.
Dann kommt der Krieg, und ich erfahre: die Juden sind nicht nur vertrieben, sondern auch ermordet worden! Ob ich aus einer solchen Haltung vielleicht in den Widerstand gefunden hätte? Man weiß es nicht! Dann kommen 30 Jahre später junge Leute, die mir erzählen, was ich hätte richtig machen müssen und werfen mir vor, ich würde sie kaputtmachen und jetzt müssten sie mich kaputtmachen. Ich hätte ziemlich sicher die Welt auch nicht verstanden.
5.4. Hierarchie, Autorität und Anpassung
Von den Schuljahren über die Arbeitsverhältnisse, den Dienst in der Armee bis zu den ersten Universitätsjahren habe ich nichts anderes erlebt als die Aufforderung zu absolutem Gehorsam und die Androhung drakonischer Strafen bei kleinsten Verstößen. Besonders schlimm war die gleichzeitige und stets wohlwollende Erklärung, man müsse nur älter und erfahrener werden, um dann zu gegebener Zeit an der Macht teilhaben zu dürfen. Die Vorstellung, andere Menschen genauso zu unterdrücken, wie ich es am eigenen Leib erfahren hatte, empfand ich aber nicht als Lichtstrahl der Hoffnung. Im Gegenteil: ich wusste ganz genau, dass es nicht mein Job sein würde, die verhasste schwarze Pädagogik bis in unendliche Zeiten fortzusetzen.
Die aktiven 68er haben sich die Situation nicht so ruhig angeschaut und sich schon gar nicht zu einem Teil des Ganzen machen lassen:
Die Mauer des Schweigens, die unsere Eltern und Großeltern um ihr Versagen errichtet hatten, musste durchbrochen und das heißt in aller Deutlichkeit auch: zerstört werden. Man hat dazu die Begriffswelten der Anarchie benutzt, wie sie sich am Vorabend der Revolutionen etwa ab 1880 entwickelt haben. Anarchie bedeutet aber nicht die Abwesenheit von Macht. Wer die Macht hätte, die Macht abzuschaffen, hätte sie in der gleichen Sekunde selbst wieder erschaffen. Anarchie zerstört also nur die Fassade der bisherigen Macht und ersetzt sie durch die Macht der Revolutionäre. An der Befehlsstruktur der Rote-Armee-Fraktion kann man das auf einfachste Weise erkennen: bevor Andreas Baader im Gefängnis nicht eine bestimmte Aktion abgenickt hatte, handelte draußen in der Freiheit niemand!
Es ist müßig darüber nachzudenken, ob man die Gewalt der Terroristen mit irgendwelchen Mitteln hätte verhindern können. Sie haben durch diese Gewalt zwar nirgendwo das erreicht, was sie wollten, aber die Dinge sind doch schrittweise in Bewegung gekommen und vor allem ins Bewusstsein der Beteiligten gerückt.
Außerhalb der persönlichen Beziehungen, der Familien und der vielfältigen Gruppen änderte sich manches bis in die Arbeitswelt. 1972 als wir das zweite Staatsexamen bestanden hatten, gab es in Deutschland ungefähr 25.000 Anwälte, aber nur sehr wenige Arbeitsangebote. Von den großen Büros in München wurden hierarchische Verhältnisse berichtet, die einen schaudern ließen. Ein Freund erzählte mir, in seinem Büro bekämen junge Anwälte bei den Partnern erst einen Termin, wenn sie ihn förmlich über die Sekretariate beantragt hätten. Als wir uns als junge Anwälte 1973 selbstständig machten, haben wir selbstverständlich gleiche Ränge gehabt, gemeinsam mit unserem Personal die Stechkarten bedient und unsere Sekretärinnen überdeutlich gefragt, wie wir ihnen das Leben erleichtern könnten. Ich kann mich nicht entsinnen, jemals eine Organisationsanweisung gegeben zu haben, die vorher nicht inhaltlich »von unten nach oben entwickelt« worden wäre. Diese Idee hatte ich von Mao Tse Dong:
»Der Soldat lehrt den General, der General lehrt den Soldaten und jeder Soldat lehrt jeden Soldaten!«
In den »Arbeitsmethoden des Partei Komitees« vom 13. März 1949 schreibt er: »Auch falsche Ansichten, die von unten kommen, muss man sich anhören; das kategorisch abzulehnen, wäre unrichtig. Man soll sich nicht schämen, Menschen niederer Stellung zu befragen und von ihnen zu lernen«. An diese Empfehlung hätte er sich selbst mal halten sollen.
Wie man sieht, haben wir nach jedem Strohhalm gegriffen, der uns aus der Welt der Hierarchie hätte heraushalten können. So entstand eine Schrittfolge behutsamer Anpassungen und Änderungen, aber ohne die radikaleren Ideen, die wir um uns herum sahen, wären wir möglicherweise nicht einmal darauf gekommen.
Die Berufsbilder sind dabei überraschend stabil geblieben. Hier und da gab es allerdings seltsame Sprünge. Peter S., promovierter Germanist, Fachmann für Jean Paul und die romantische Literatur (kein Zufall!), las das berühmte Buch von Arthur Janov und wurde statt Lehrer erst einmal Urschrei-Therapeut. Als es ihm da zu laut wurde, verlegte er sich aufs Rolfing. Das ist nahe an Praktiken wie der Alexander-Technik, der Feldenkrais-Methode oder dem Rebalancing und schon an den Namen erkennt man, dass die Zeit der körperlichen Selbstfindung begonnen hat, die wir heute Wellness nennen.
In diesem Bereich entwickelten sich eine Vielzahl neuer Berufe, aber mehr noch veränderten sich die bestehenden.
Das geschah, wie man nach dem Chaosprinzip erwarten konnte, an den merkwürdigsten Stellen. Irgendwann beschwerte sich ein Soldat, über eine Verletzung seines Persönlichkeitsrechts, wenn man ihn zum Friseur schicke und anstatt ihn wie früher wegen Befehlsverweigerung eine Woche in Dunkelhaft zu sperren, kam der Verteidigungsminister Helmut Schmidt (!) auf die Idee, den Soldaten Haarnetze zu spendieren.
Und auch sonst änderte sich manches: In München konnte man auf einmal mitten im Englischen Garten nackt umherlaufen, auch die Haschpfeife wurde nur milde beanstandet und an allen Ecken und Enden wuchsen Mitbestimmungsmodelle wie die Pilze aus dem Boden. Autorität musste sich sachlich rechtfertigen und überall wurde mehr Demokratie gewagt.
5.5. Die Außerparlamentarische Opposition
1967 hatten wir nur Parteien und Parlamente und dort wurde niemand geduldet, der es auch nur wagte, die Parteilinien infrage zu stellen. Schon bei den ersten Versuchen, in den verschiedenen Parteien Verständnis für die neue Sicht auf die Dinge zu wecken, zeigte sich klar: es würde Jahre dauern, bis solche Entwicklungen von den politischen Parteien oder gar den Parlamenten wahrgenommen und umgesetzt würden. Zudem lag die Gefahr auf der Hand, dass solche Initiativen im bürokratischen Gefüge zermahlen und unkenntlich gemacht werden würden. Jungsozialisten, Jungdemokraten und die Junge Union wurde zwar geduldet, aber man konnte sie mit der Aussicht auf ihre künftigen Karrieren stillhalten.
Wer darauf nicht warten wollte, beteiligte sich an der außerparlamentarischen Opposition. Hier entstanden hierarchiefreie und offene Diskussionen und Plattformen. In hunderten von Gruppen, Gremien und Konstellationen wurden alle möglichen Ideen diskutiert, wie man Hierarchien abbauen und Gleichberechtigung erreichen könnte. Dazu gehörte es vor allem, sich selbst seine eigene Opposition zu schaffen und in ihren Ideen zu ermutigen, damit auch die schwächste Stimme gehört werde.
Die außerparlamentarische Opposition war schon deshalb nötig, weil innerhalb des Parlaments nicht einmal die SPD verstanden hatte, worum es den jungen Leuten ging. Beim »Radikalenerlass« hat sie sich von der CDU einschüchtern lassen und dadurch ihren politischen Kredit schwer beschädigt. Interessante Denker wie Uwe Wesel (SPD) oder Herbert Gruhl, ein Umweltschützer aus der CDU wurden aus ihren Parteien ausgeschlossen.
So kam die romantische Idee auf, die Opposition nach außen zu verlegen. Ich nenne sie deshalb romantisch, weil sie gleichzeitig von dem Gefühl gelenkt war, Politik könne auf förmliche Macht und ihre Riten verzichten.
Tatsächlich haben viele Ideen sich wie ein Lauffeuer verbreitet, ohne dass irgendjemand das zentral gesteuert hätte. »Die schärfsten Kritiker der Elche waren früher selber welche«, ein Satz, der in den Tiefen der Titanic entstanden ist, belegt das bis heute. Romantik ist umso besser erkennbar und gewinnt mehr an Tiefe, wenn sie mit Ironie kontrastiert wird. Das wissen wir seit Heine und Tucholsky und in ihrer Tradition standen Gernhardt, Wächtler, Poth und andere.
In der Titanic war man dagegen, also gegen alles und das ist das gute Recht der jungen Leute, denen man allzu lange zu erzählen versucht, wie sie und ihre Welt sein sollte. Man wollte Politikern wie Erhard, Kiesinger und Strauß zeigen, dass ihre Zeit vorbei war. Dass sie mit ihrer Bürokratie einpacken konnten. Dass man »mehr Demokratie wagen« sollte, wie Willy Brandt gesagt hatte.
Aber an der »richtigen« Politik wollten die 68er sich zunächst nicht beteiligen. Man wollte es »außerparlamentarisch« versuchen. Rudi Dutschke entwarf einmal ein politisches Modell für Berlin, das darin bestehen sollte, auf dem Stadtgebiet eine Art Massenexperiment zu starten, eine große Kommune, (vielleicht auch nach dem Vorbild des Monte Verita), in der die reine Lehre des Sozialismus wie in einem Reagenzglas unter Forschungsbedingungen zum Blühen gebracht werden sollte. Den meisten war klar, wie irreal solche Vorstellungen sein mussten: wie üblich sollte das Modell von anderen Leuten finanziert werden als denen, die dort leben wollten, und dann gab es noch den Viermächtestatus, an dem damals nichts zu ändern war.
Es gab einen Angriffspunkt, bei dem ich der außerparlamentarischen Opposition zugestimmt habe: das war die Verteidigung gegen die ständigen Angriffe der Springer-Presse. Der Ton, den nicht nur Axel Springer, sondern auch Peter Boenisch persönlich zu verantworten haben, entstammte den ideologischen Kämpfen der älteren Generation. Es ging zu weit, Rudi Dutschke als »Staatsfeind Nr. eins« zu bezeichnen und die Art und Weise, wie die Redaktionen angeleitet und geführt wurden, hat Günter Wallraff ein für alle Mal enttarnt. Die offiziellen Parteien hatten die Bild-Zeitung nötig, um Breitenwirkung zu erzielen, und haben es zugelassen, dass die Meinung erheblicher Minderheiten unter dem Deckmantel der Pressefreiheit abgewürgt wurde.
Auch aus diesem Verhalten entstand eine breite Verachtung und Ablehnung der parlamentarischen Arbeit.
Erst als die Grünen in die Parlamente kamen, konnten sie die geflohenen Politikverweigerer wieder einfangen. Das gelang hauptsächlich, weil sie glaubten, Politik könne nach Horst-Eberhard Richters Idee »Lernziel Solidarität« praktiziert werden. Aus solchen Ansätzen entstanden naive Versuchen wie das Rotationsprinzip. Sie sind gescheitert, weil die »Sogwirkung der Marke« eines bestimmten Politikers nicht beliebig ersetzbar ist.
Sie hängt nämlich von seiner Fähigkeit zur Führung ab und das bedeutet: man muss erkennen, dass politische Systeme nur geführt werden können, wenn einer sich ans Steuer begibt und die anderen ihm zuarbeiten. Das kleinste gemeinschaftliche Vielfache aller politischen Ideen ist es seit unvordenklichen Zeiten, dass das Gemeinwesen funktioniert, dass stabile und gute Verwaltung herrscht, dass die Willkür abgeschafft wird und dass Fehlentwicklungen korrigiert werden können. Zusammengenommen sind das aber keine Kleinigkeiten. Deshalb haben die radikalen Friedensbewegungen weder zurzeit der 68er noch bei der Wiedervereinigung eine nachhaltige Rolle spielen können.
Es ist das Privileg eines einzelnen, auf Gewalt zu verzichten, wenn er bereit ist, dafür gehasst zu werden, sobald aber eine Gruppe entstanden ist, entsteht auch Führung, mit ihr die Macht und mit ihr die Gewalt. Man muss Ahnung davon haben, was Macht ist und was sie bedeutet, wie sie entsteht und wie man sie verlieren kann. Sie hat eine dunkle, aber auch eine helle Seite.
5.6. Die Rote-Armee-Fraktion
Ideen und Diskussionen können lähmen, wenn sie sich immer wiederholen, aber man keinerlei Veränderungen sieht. »Ich will erleben, dass es anders wird« ist ein Satz, den ich damals oft gehört und gut verstanden habe. Die unterschiedlichsten Leute haben ihn benutzt. Intelligente und nachdenkliche wie Ulrike Meinhof und Gudrun Enßlin ebenso wie tumbe Toren, angeführt von Andreas Baader.
Für politische Wirkungen braucht man einen klaren Kopf und einen langen Atem. Diese Leute aber wollten nur Terror ausüben und als Rote-Armee-Fraktion (RAF) – wie der Name schon sagt: als Bruchstück einer geträumten Armee – die großen europäischen Konflikte zwischen 1914 und 1945 wie die Kinder im Sandkasten nachspielen. Dazu haben sie die Stadt zum Urwald oberhalb des Pflasterstrands erklärt, in dem sie nun Guerilla spielen konnten.
Die RAF59 beginnt 1970 in Berlin mit der Befreiung von Andreas Baaders aus der Untersuchungshaft, erlebt ihren Höhepunkt im deutschen Herbst 1977 und endet spätestens am 20. April 1998, als ihre »Dritte Generation« über die Nachrichtenagentur Reuters mitteilt: »Die Stadtguerilla in Form der RAF ist nur noch Geschichte«. Zu diesem Zeitpunkt war sie es aber schon lange.
Berlin-Kreuzberg, Grafitto, 2014.
Wer die großen Umbrüche seit 1914 erlebt hatte, musste sich an den Bürgerkrieg und die wirklichen Gefahren erinnern, die er durchlitten hatte. Diese Erinnerungen hat die RAF für ihre Zwecke ausgenutzt. Jeder einzelne ihrer spektakulären Morde hat Gefühl von Angst und Entsetzen hervorgerufen aber auch ihre wildesten Taten hätten nicht gereicht, um die Bundesrepublik zu destabilisieren.
Im Grunde hat die RAF sich auf einer großen Bühne selbst inszeniert, um wieder einmal den Vatermord zu geben. Wie im Theater waren dafür nur wenige Schauspieler nötig. Der harte Kern der Leute, die für Taten im Zusammenhang mit der RAF in den Jahren 10 Jahren ab 1967 verurteilt worden sind, beträgt gerade einmal 70-80 Personen und in den Akten werden sich vielleicht noch weitere 100 finden, gegen die ein enger Tatverdacht bestand. Einige Taten sind verjährt. Die engere Szene der Unterstützer hat nur etwa 2000-3000 Personen umfasst. Für Kriegshandlungen mussten nicht Tausende von Soldaten vorhanden sein, es genügte ein einzelner, der den Medien im Wege der Teichoskopie die richtigen Berichte gab, während ein paar Sympathisanten schreckerregend Theaterdonner erzeugten und die Windmaschine bedienten, die die Sofitten flattern ließen. Wieder einmal wurde Hamlet gespielt, wieder wurden den Eltern ihrer Verbrechen von den Söhnen vorgehalten, aber sie haben die Szene nicht recht verstanden, sonst hätten sie diesen Bühnenaufstand ganz anders unterdrückt.
Angesichts der Foltern, die in den Gefängnissen von Hitler und Stalin geschehen waren, ist es mir immer sehr seltsam vorgekommen, dass die inhaftierten RAF-Leute von »Isolationsfolter« sprachen. Klaus Croissant brachte 1974 Jean-Paul Sartre sogar dazu, Baader und Meinhof in Stammheim aufzusuchen und die Öffentlichkeit davon zu überzeugen, in der Bundesregierung die neuen Faschisten zu sehen. Wenn man dann die Bilder ihrer Zellen angesehen hat, die von Büchern (und wie sich bei ihrem Ende gezeigt hat, auch von Waffen) überquollen, war einem klar, dass diese Leute die Realität gar nicht wahrgenommen haben. Sie spürten, dass sie sich auf der Bühne der Medien befanden, auf der ihnen die Rolle der nur wegen ihrer Jugend angeklagten zugefallen war. Sie wollten genauso wild und gefährlich leben wie ihre Eltern und Großeltern, aber die Gesellschaft sollte den Preis dafür bezahlen. An diesem Punkt habe ich die 68er immer besonders gut verstanden. Es gibt eine lustige Postkarte, auf der ein kleiner Junge mit Wollmütze ziemlich ängstlich aussieht, während er ermahnt wird, wild und gefährlich zu leben. Die Ohren kann man sich aber nur abfrieren, wenn man keine Wollmützen trägt. Alles andere ist Theater.
5.7. Die Antwort auf die Schwarze Pädagogik: Antiautoritäre Erziehung
Nicht nur Rainer Langhans, die Kommunarden und die Chaoten wollten der schwarzen Pädagogik entkommen. Wenn es einen Punkt gab, in dem wir uns alle einig waren: die Erziehung musste »anders« werden. Den Gedanken, die eigenen Kinder sollten es einmal besser haben als man selbst, scheint jede Generation zu haben. Also hatten wir sie auch. Er lässt sich am einfachsten im täglichen Umgang mit den Kindern realisieren, da ist es nicht schwer, aus der schwarzen eine bunte Pädagogik zu machen.
Sie sollte helfen, aus dem Teufelskreis von Gehorsam, Angst und Gewalt auszubrechen. Seit 1968 dürfen auch heute noch die Kinder hier und da über Tische und Bänke springen, die Gäste mit Marmelade bewerfen, Krach machen nach Herzenslust und nie ins Bett gehen. Jederzeit dürfen sie sich beschweren, dass sie schon wieder spielen müssen, was sie wollen und natürlich dürfen sie sich auch in allen Lebenslagen so anziehen (oder ausziehen) wie sie wollen, denn das ganze Leben ist nichts anderes als dauernder Sommer auf sonnigen Hügeln. So die Theorie.
In der Praxis wurde es auch für A. S. Neill manchmal schwierig, der seine Schule »Summerhill«60 nannte, und viele andere Reformpädagogen (zum Beispiel der Montessori-und Waldorfschulen) haben etwas grundlegend Richtiges erkannt: wer sich ständig von einer Knute bedroht fühlt, kann nichts lernen und will es nach einiger Zeit auch nicht mehr. Ideen dieser Art gab es schon in den zwanziger Jahren, sie sind aber von den ideologischen Kämpfen sehr schnell wieder beseitigt worden. Die 68er haben sie wieder entdeckt, aber natürlich – wie es in Zeiten des Umbruchs nicht anders sein kann – kräftig übertrieben. Nach vielen Gegenbewegungen, Meinungsverschiedenheiten und Fernsehshows, in denen die harte Hand der Erziehung auch wieder sichtbar wird, wissen wir wenigstens eines: Kinder brauchen wie alle Menschen ein gewisses Maß an Führung, damit sie nicht orientierungslos herumtaumeln. Als Anwalt wusste ich, wie man das macht: mit quengelnden Kindern habe ich nicht herumgestritten, sondern nach den einfachen Regeln des Harvard-Verhandlungsmodells darüber debattiert, was meine Interessen und ihre Interessen sind und ob wir da wohl zu einer Lösung kommen könnten. Interessierte Gäste wurden gebeten, ein Kind ins Bett zu bringen und ermächtigt, dabei »Betthupferl« zu verteilen (wegen Karies sonst nicht zu empfehlen) und wenn sie wie üblich nicht ins Bett wollten, machten wir »einen Deal«, wie lange sie bleiben dürften, was sie für anständiges Betragen bekämen usw.
Ich war es schon früh leid, wegen Schokolade, Bonbons und Karussellfahren angebettelt zu werden. Also wurden Budgets vereinbart (die auch flexibel waren), ab 12 gab es »Gehalt« und davon musste vom Kaugummi bis (einige Jahre später) zum Büstenhalter alles bezahlt werden.
Viele dieser Ratschläge fand ich in Thomas Gordons »Familienkonferenz«. Dieses Buch war meine Bibel und da stand auch der magische Satz, mit dem man immer beurteilen konnte, ob man die Kinder gewähren lassen sollte oder nicht:
»Ist das mein Problem oder ist das dein Problem?«
Wenn die Kinder Lust hatten, sich von oben bis unten voll zu schmieren, dann war mir das so lange egal, als man sie unter die Dusche und die Klamotten in die Waschmaschine stecken konnte. Waren sie aber gerade aufgeputzt, um den Großeltern Freude zu machen, dann gab es wechselnde Diskussionen, zum Beispiel: »Die Großmutter wird keine Schokolade rausrücken, wenn ihr so versaut bei ihr antanzt«. Das kann sogar eine Dreijährige verstehen. Peinlich ist es dann allerdings, wenn ihre ältere Schwester die Großmutter stolz auffordert zuzugeben, dass sie heute nicht wie sonst »versaut angetanzt« seien. Auch das dauernde Gequatsche, wenn Freunde zu Besuch waren, die Lust von Kindern sich zu produzieren und die sauer werdenden Mienen unserer Gäste, die keinen Tadel wagten, auch wenn sie ihn gern losgeworden wären – das war mein Problem. Ich musste es lösen, ohne die Kinder an die Wand zu klatschen, wie unsere Eltern das mit völliger Billigung der Gesetze getan hätten. Die Prügelstrafe wurde 1949 in der DDR, 1973 in der BRD und 1980 in Bayern verboten, erst seit 1980 gibt es das internationale »Übereinkommen über die Rechte des Kindes«, das Schläge in der Schule und zuhause verbietet. In vielen Ländern – vor allem in den USA und selbstverständlich in früheren Ostblockländern – werden die Kinder auch heute noch geschlagen.
Natürlich kannten sie die Methoden der schwarzen Pädagogik nicht, vor allem nicht den Klassiker: »Wenn ich noch einen Ton höre, gibt es links und rechts eine geschallert, dass dir Hören und Sehen vergeht!« – gekrönt von der Bemerkung: »Heul' bloß nicht, denn ich leide unter den Prügeln mehr als du!« Aber man kann auch ohne Strafen ein natürliches Gefälle zwischen guten und besseren Situationen erzeugen und sich damit auch selbst einen Gefallen tun.
So hat es nicht lange gedauert, bis die Kinder verstanden, dass das Leben einfacher werden kann, wenn man Deals abschließt. Mir ist heute allerdings klar: ungewollt haben wir die Gefahr geschaffen, dass unsere Kinder sich – gestützt auf dieses Wissen – früh entschließen könnten, Politiker zu werden.
Es gab keinen Zweifel: kaum jemand verteidigte nach 1968 noch die frühere Art und Weise der Erziehung. Das lag aber auch daran, dass sich die Art und Weise, wie junge Eltern miteinander umgehen, veränderten, dass es Wohngemeinschaften und Gruppen gab, die neben die üblichen Familien-Konstellationen traten.
Diese Versuche waren so lange erfolgreich, als sie unabhängig von ideologischen Standpunkten unternommen wurden und die Versuchsbedingungen nahezu überall herstellbar waren:
Wenn sich die Eltern aber einer bestimmten Ideologie verpflichtet fühlten, sind sie in den Augen ihrer Kinder gescheitert. Richard David Precht hat uns einen aufregenden Insider-Bericht über solche Experimente geliefert, bei denen gute Eltern versucht haben, alles im »sozialistischen Sinne« noch besser zu machen. Seine Eltern haben offenbar nur die Ideologie ihrer Eltern gegen die eigene ausgetauscht. Und damit haben sie eine Grenze akzeptiert, die statt ihrer Eltern Lenin für sie gezogen hat. Tatsächlich »verläuft die Grenze nicht zwischen oben und unten, sondern zwischen mir und dir«61. Er soll 1924 gegen Ende seines Lebens geahnt haben, dass der Sozialismus von seinen ideologischen Einschränkungen erwürgt werden würde, und in Deutschland ist er jedenfalls damit nicht weiter nach Westen gekommen als bis Lüdenscheid. Die kommunistischen Parteien und alle ihre Ableger haben bis heute nicht erkannt, dass nur der Verzicht auf Ideologien in der Erziehung den Kindern genügend Orientierung, aber auch genügend Freiheit bietet, um als Erwachsene zu sich selbst zu kommen. Solange sie das selbstständige Denken ihrer Mitglieder zu verhindern suchen, werden ihnen nur die Toren folgen.
Man konnte die Egalisierung der Eigentums – und Geschlechterverhältnisse in den Wohngemeinschaften als westlichen Versuch eines »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« oder als Auflösung hierarchischer Lebensformen und Familienzwänge interpretieren und die scharfe Disziplin, die man von Mahler, Baader und anderen in den syrischen Camps verlangte, wurden von ihnen nicht als militärischer Drill, sondern als theatralische Versuchsreihen an sich selbst aufgefasst. Die islamischen Kämpfer waren sehr entsetzt, als sie ihre Hilfstruppen weder vom Nacktbaden in der Sonne noch vom Saufen und Kiffen abhalten konnten.
5.8. Die große Erleuchtung
Parallel dazu geriet die Psychoanalyse und viele ihrer moderneren Therapieformen in den Mittelpunkt der Diskussion, denn das war die theoretische Basis, auf der man aufbauen wollte. Es dürfte kein Thema gegeben haben, das unabhängig von allen politischen Überzeugungen und Ansichten so breites Interesse gefunden hat als dieses.
Im Dezember 1980 bin ich das erste Mal nach Poona (heute: Pune) in der Nähe von Bombay gefahren, weil meine Freundin – eine intelligente Medizinstudentin – sich zu den Bhagwan-Leuten zählte. Da befand sie sich in bester Gesellschaft – auch Peter Sloterdijk hatte es dorthin gezogen, gewiss deshalb, weil er schon damals ahnte, dass er sein Leben ändern müsse, auch wenn er das Buch dazu erst 2009 geschrieben hat. Vermutlich hat er aber dort das Material für sein erstes Buch gefunden, das uns die Freuden der zynischen Vernunft vermittelt.
Bhagwan Shree Rajneesh (1931-1950, heute: Osho) war ein brillanter Philosophieprofessor, dem von allen westlichen Denkern Nietzsche am besten gefiel. Jeden Morgen nahm er sich zwei Stunden Zeit, seinen Zuhörern klarzumachen, dass Philosophie und Religion nichts wert waren. Im Grunde war das der klassische Ansatz des Zen, aber medial aufgekocht wie ein Happening. Mitten im Monsun trug der Meister russische Pelzmützen, sein Leben war um seine Allergien herum organisiert und manches erinnerte an Fluxus-Aktionen, wenn er zum Beispiel in einem der 50 Rolls-Royce, die Gönner (oder genauer: Anbeterinnen) ihm geschenkt hatten mit 10 km Stundengeschwindigkeit huldvoll winkend über die Parkwege schwebte. Im Übrigen standen die höchsten Symbole des Kapitalismus nutzlos zwischen den kolonialen Villen des Ashram herum. Wenn man die Verschwendung geißelte (»Davon könnte man viele hungernde Kinder in Indien ernähren!«) wusste Georg Deuter (kein Pseudonym!), der Hofkomponist aus München, den tieferen Sinn des Geschenks hervorzuheben: die Fahrzeuge dokumentierten die Sinnlosigkeit ihrer Existenz, um uns auf unsere eigene Sinnlosigkeit hinzuweisen, sie seien der Schlagstock des Zen usw. Keine schlechte Erklärung im Grunde. Natürlich war es eine künstliche Welt, wie es bei allen Orten der Fall ist, die sich dem normalen Leben verweigern: Sie werden immer von ihrer Umwelt subventioniert, solange die das zulässt, und ihre Bewohner genießen es gleichzeitig, alle zu kritisieren, die ihnen das Überleben ermöglichen. Armut und Gehorsam wurden gefordert, aber im Unterschied zu anderen Klöstern – so wurde gesagt – durfte (und sollte?) man vögeln.
Ich wollte wissen, was dort vorging, umso mehr, als kurz vorher im STERN eine große Reportage des Starreporters Jörg Andrees Elten erschienen war: die Schauspielerin Eva Renzi hatte an einer Encounter-Gruppe teilgenommen, war dort geschlagen worden und hatte sich bitter beschwert.
Yorck-Unterführung, Berlin, 2014.
In Poona ist mir eines aufgefallen: es gab einen ungeheuren Gruppendruck. Beim Hinflug unterhielt ich mich mit einem Anwalt, der in der Rechtsabteilung von MBB tätig war und von dem Guru offenbar erfahren wollte, ob man auch erleuchtet werden kann, wenn man jeden Tag Lizenzverträge für Splitterbomben ausarbeitet. Schon am zweiten Tag erschien er in orangefarbener Kleidung mit der Mala einem Rosenkranz mit dem Bild des Meisters um den Hals. Auf dem Rückflug saß er im Anzug neben mir, trug die Mala aber jetzt unter dem Hemd, so wie das die Mitglieder des Weltlichen Dritten Ordens des Heiligen Sankt Franziskus auch tun.
Ich hatte nach der zweiten Woche ständig irgendjemandem zu erklären, warum ich keine Kutte anziehen wollte, die mir schon während meiner Internatszeit verhasst gewordenen war. Und ich fand eine Vielzahl von weiteren Ritualen vor, die ich alle schon aus der katholischen Kirche kannte. Wenn man schon bereit ist, eine Uniform anzuziehen, dann geht man besser zum Militär oder in ein Kloster. Mir fiel damals nicht auf, dass man sich auch im Theater verkleidet und genau das geschah hier. Es war alles sehr unterhaltsam, nebenbei gab ich Georg Deuter gute Ratschläge für seine Lizenzverträge und Steuerprobleme und hatte daraufhin mit seinem Musikverleger Eckart Rahn jahrelang zu tun, ich lernte die Pressechefin kennen, eine junge Anwältin aus München, die später auch bei uns gearbeitet hat, kurz: – wo immer ein Anwalt hingeht, gibt es irgendetwas zu akquirieren.
Daneben erlebte ich viele Experimente, wie sie zu dieser Zeit überall in der Hippie- Bewegung oder einzelnen Kommunen versucht wurden wie etwa die vegetarische Ernährung, das Nacktsein, Ansätze zum Gruppensex (aus dem erfahrungsgemäß nicht einmal in den Swinger-Clubs etwas wird) usw.
5.9. Parallelgesellschaften
Nur eine Handvoll 68er sind bis ins ferne Indien aufgebrochen. Die meisten versuchten hier in Deutschland oder in Italien (Toskana!), auf den kanarischen Inseln (Gomera!) oder an anderen Orten, wo häufiger die Sonne scheint, alternative Lebensformen zu finden. Aus ihnen sind viele ökologische Bewegungungen und am Ende die Grünen hervorgegangen.
Sie alle haben ihre Kernenergie aus der Idee bezogen, dass man die Hierarchien und die Macht abschaffen muss, dass niemand mehr Herr eines anderen sein dürfe, dass jeder der Designer des eigenen Charakters werden müsse und könne. Viele haben sich dabei auf die Frühschriften des jungen Marx bezogen (die in der DDR verboten waren) und sich vor allem dadurch den Hass der Älteren zugezogen.
Tatsächlich lagen die Wurzeln viel tiefer: Friedrich Nietzsche war es – Romantiker auch er -, der den Menschen als den Schöpfer seiner selbst entdeckt und dionysisch gepriesen hat. Das ist im Grunde ein ganz künstlerischer Ansatz.
Wer sich und seine Welt jeden Tag neu erschaffen will (das Tagesgeschäft von Jonathan Meese), muss eine Menge kreativer Energien haben und da jeder auf diese Weise sein eigener Gott wird, entwickelt sich sehr schnell die Ablehnung gegen andere Götter: die Hölle – das sind die anderen!
Wir stoßen hier auf das allgemeine Problem der Grenzziehung zwischen Individuen und Gruppen, die nur in wenigen Outsider-Positionen möglich ist: jenen der Künstler, der Wissenschaftler oder der Priester.
Künstler können nur Bewunderung vertragen (Markus Lüpertz sagt uns das häufig). Normale Leute reagieren darauf problematisch, da sie auf das Zusammenleben vieler in Gruppen und damit auf eine ständige Koordinierung von Machtpositionen angewiesen ist.
Den Mut, gesellschaftliche Strukturen über Bord zu werfen, deren Funktionsfähigkeit in hunderttausenden von Jahren in unzähligen Varianten erfahren und erarbeitet worden sind, ist gewaltig. Aber Mut ist nichts anderes als innere Energie – mit Verstand hat er wenig zu tun. Der Glaube reichte aus, die künstlerischen Impulse würden tragfähig genug sein, den neuen Menschen zu schaffen, der in einem machtfreien Raum leben kann. Nicht nur die Kommune K1 in Berlin (Rainer Langhans, Uschi Obermayer, Dieter Kunzelmann, Fritz Teufel) begann mit künstlerischen Aktionen wie dem Pudding-Attentat auf den amerikanischen Vizepräsidenten Hubert Humphrey, auch bei Otto Mühl entwickelten sich politischer Aktionen aus ästhetischen Performances.
Da man aber nicht jeden Tag so eine Aktion machen kann und zwischenzeitlich der Kühlschrank aufgeräumt werden muss, begannen auch in den Kommunen die Mühen der Ebene.
Sie bestehen erfahrungsgemäß daraus, dass die Machtverhältnisse zwischen den Beteiligten geregelt werden müssen. Wenn solche Regeln offiziell nicht existieren dürfen, werden sie nur ins Unterbewusstsein verdrängt und dann gar nicht mehr kontrollierbar. Wer Macht nicht akzeptiert, kann nichts steuern, denn es ist ja verboten, Ziele zu definieren, Mittel zu beherrschen oder gar Ergebnisse zu kontrollieren. Ein Zettel über den »Wochendienst« beim Saubermachen reicht dafür nicht aus. Nur die Macht verklammert Ideen, die außerhalb der Regeln selbst liegen. Eingeführte und erprobte Strukturen (Familien, Vereine, Unternehmen, Staatsgebilde, Militärverbände), die man in Rechtsystemen abbilden kann, können diese Macht innerhalb ihrer Grenzen so lange steuern, bis Ausnahmezustände eintreten. Eine Kommune hingegen, die all das erst auf ihre eigene Weise erfinden will, verbraucht zu viel Zeit, zu viel Energie und erzeugt zu viel Widerwillen, Hass und Verachtung, weil jeder hautnah miterlebt, wie seine kreativen Vorstellungen von den anderen mit Füßen getreten werden. Und außerdem macht man sehr schnell aus dem Traum auf, völlig unabhängig von den Außenbedingungen zu sein. Man lebt in Disneyland, das Ganze wird nur finanzierbar durch beständige Transfers von außen und auch dadurch entstehen Fliehkräfte, die Utopia zerstören.
Ein kurzer Blick auf die Zwanzigerjahre hätte den 68ern zeigen können, dass solche Entwicklungen unvermeidlich sind: die offenkundigen Parallelen zur Wanderervogel – und Jugendbewegung, zum Kreis um Stefan George, zu der Kommune am Monte Verita in Ascona usw.: hätte ihnen gezeigt, dass schon ihre Eltern solche untauglichen Versuche gemacht haben, um sichtbare Distanz zu den früheren Generationen zu schaffen.
Die wütende Reaktion der Älteren gegenüber den kindischen Versuchen der Stadtguerilla erklärt sich hauptsächlich daraus, dass sie selbst am besten wussten: aus uns Wandervögeln sind am Ende die Soldaten des Zweiten Weltkriegs geworden.
Die sensibleren unter ihnen haben das wohl gespürt: Jörg Andrees Elten, der als Reporter des STERN erschienen war, fand im rebirthing auf einmal Bilder seiner Jugend wieder: Aus seiner Autobiografie62 haben wir erfahren, dass er (Jahrgang 1927) als Neunjähriger in Naumburg auf einer Nationalpolitischen Erziehungsanstalt (NAPOLA) ausgebildet worden war und sich noch 1945 freiwillig zur Waffen-SS (Panzergrenadierdivision »Das Reich«). gemeldet hatte. Jetzt ließ er sich auf den Namen Satyananda taufen, zog zum zweiten Mal eine Uniform an, die ihm dieses Mal Heil bringen sollte und versuchte so einen Gegenzauber zu entwickeln. Vielleicht war er kein Einzelfall, denn nach dem Attentat auf Bhagwan, dass ich im Dezember 1980 selbst erlebt habe, wurde eine Privatpolizei gegründet, die überwiegend aus großgewachsenen Deutschen und Amerikanern bestand (Franzosen und Italiener , die an Gruppendynamik wenig Gefallen finden, fand man selten in Poona). Sie umkreisten nachts mit Schäferhunden das Lager – so etwas ähnliches hatten schon ihre Väter gemacht, und auch hier wiederholte sich die Tragödie als Farce.
Nur wenige Jahre danach brach nicht nur dieses Experiment spektakulär zusammen, und auch manche anderen Therapieformen wie etwa Fritz Perls' Gestalttherapie mit ihrem »heißen Stuhl« haben an Bedeutung verloren. Gleichzeitig sind aber andere Formen entstanden und die neueren naturwissenschaftlichen Forschungen insbesondere im Bereich der Neurobiologie zeigen uns mit Klarheit, dass wir uns in der Realität nur mit einem sehr geringen Teil unseres Körpers und Geistes »bewusst« zurechtfinden. Die Selbstverständlichkeiten, mit der wir heute solche Konzepte akzeptieren, lässt uns die wirren Anfänge leicht vergessen.
5.10. Sex and Silence
Während die Gewalt in der Erziehung in aller Offenheit geschah und mit fragwürdigen Begründungen gerechtfertigt wurde, hat man über die Sexualität nicht gesprochen. Bis 1962 waren die Bademoden im Quelle-Katalog ein Geheimtipp, den man den Müttern unter dem Kissen hervorziehen konnte. Danach fand die große Entblätterung in aller Öffentlichkeit statt, denn Beate Uhse eröffnete in diesem Jahr ihr erstes Ladengeschäft (ausgerechnet in Flensburg!), dem dann der erfolgreiche Versandhandel folgte. Zuvor gab es keinerlei für die Sexualität interessante Produkte, die man ohne Rechtsverstoß erwerben konnte, weil ja nichts »jugendfrei« war. Nur dreißig Jahre später sehen wir Plakataktionen des Bundesgesundheitsministers, die für Kondome werben.
Bis 1968 konnten und wollten die wenigsten Menschen sich in Ländern mit christlicher Tradition vorstellen, dass ihre Eltern miteinander sexuellen Verkehr gehabt haben mussten, obgleich sie der lebende Beweis dafür sind. Das sollte sich nun ändern.
Auch über Schwule und Lesben wurden offen gesprochen. Wie massiv der offizielle Widerstand gegen die »175er« war, habe ich selbst bei der Musterung erfahren. Dort wird man gemessen, und zwar in Zentimetern. Also hörte ich den Assistenten dem Arzt meine Größe zurufen: »175!«. Ich erschrak zutiefst – wurde jetzt der Schwulenparagraf notiert?
Andere sexuelle Vorlieben werden wenigstens toleriert und die einzige erkennbare Grenzziehung ist die Kinderpornographie. Die hysterische Diskussion über dieses Thema scheint aber schon anzudeuten, dass dahinter vielleicht eine Gegenbewegung lauert, deren Umrisse wir noch nicht erkennen können.
Die Offenheit in der Diskussion über die Empfängnisverhütung haben wir leider nur einer Seuche zu verdanken. Die auffällige Sexualisierung in der Werbung und der yellow-press täuscht darüber hinweg, dass es noch ein langer Weg ist, bis wir möglicherweise einmal unbefangen über Sexualität sprechen und uns so verhalten können, wie man sich das in den 68er vorgestellt hat.
Die Sexualität wird allerdings in allen Zeiten und Kulturen von moralischen Vorstellungen beherrscht, denn in ihr prallen immer wieder die persönliche Leidenschaft mit gesellschaftlichen Strukturen und Pflichten gegeneinander. Sie wird – verglichen mit anderen Themen – immer im Schatten aller denkbaren Diskussionen liegen, denn sie hat viele tiefere Schichten, wie etwa das Inzesttabu.
Das zeigt sich schon daran, dass auch in den asiatischen Ländern die eine ganz andere Beziehung zur Sexualität haben, nach außen hin eine Prüderie erzwungen wird, von der alle wissen, dass sie nach innen völlig bedeutungslos ist, In Japan, das unter der Decke der Konvention vermutlich über die größte sexuelle Freizügigkeit verfügt, gibt es Zensoren, die aus ausländischen Presseerzeugnissen aller Arten von Schamhaaren entfernen. Dazu gehört auch Indien, wo auch in Kinofilmen sorgfältig darauf geachtet wird, dass die Liebespaare sich nicht küssen.
Die Konventionen sind wirksam genug, um die Sexualität aus der Sprache, den Bildern und Informationen zu verbannen, – und gerade dadurch ist sie auch im Schweigen immer präsent.
Eine wesentliche Eigenschaft von Tabus ist es, dass sie sich wirksam dagegen wehren können, rational erforscht zu werden. Vielleicht ist die Zeit noch zu kurz, um auf diesem Gebiet allzu viel zu erwarten, aber immerhin gibt es den Kinsey-Report. Diese berühmte Untersuchung ist allerdings schon unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg begonnen und Mitte der Fünfzigerjahre veröffentlicht worden. Die Reaktion darauf war nach allen Seiten extrem, zog sich weit in die nächsten 20 Jahre hinein und hat viele wissenschaftliche Forschungsvorhaben überhaupt erst ermöglicht. Seit Thomas Kuhn wissen wir, dass auch die Wissenschaft Moden unterliegt und die Sexualwissenschaft gehört gewiss dazu.
Seither gibt es Tonnen von Literatur, die alles und nichts erklären. Die 68er haben auch dieses Tabu beseitigt – vielleicht ihr größter Erfolg. Nun war das Schweigen63 gebrochen.
Anders als die Mitglieder der Kommune K1 konnte ich vom Sexpol leider nicht profitieren, denn 1967 war ich nicht mehr in Berlin und wäre vielleicht auch durch die Praxis erschreckt worden. Stattdessen habe ich mich ‑ wie immer ‑ dem Thema etwas früher, und zwar leider64 von der theoretischen Seite her angenähert. Das Max-Planck-Institut für Internationales Strafrecht in Freiburg hatte Spezialliteratur zu Cesare Lombroso, nach der ich suchte – und was finde ich dort? Ganze Bibliotheken über sexuelle Aberrationen: neben dem drögen Dreher (Strafprozessordnung) stand Sacher-Masochs »Venus im Pelz« als wissenschaftliche Literatur im Regal und ich erfuhr von Sigmund Freud und seinen Schülern, deren Werke vollständig vorhanden waren, dass wir alle polymorph pervers sind, wenn wir aus den Kinderschuhen nicht herauskommen. Es hat Jahre gebraucht, bis ich schrittweise den Zusammenhang zwischen diesen Ozeanen des Wissens und den alltäglichen Ereignissen herstellen konnte, die bei der Begegnung zwischen Menschen auf einen warten. Woody Allen dürfte es gewesen sein, der die Brücke zwischen der so ungeheuer dämonisierten Sexualität und dem trivialen Alltag geschlagen hat65. Endlich gab es in diesem Zusammenhang auch etwas zu lachen!
5.11. Kampfhunde und Oberlehrer
Am Anfang konnte man den Eindruck haben, dass die 68er wirklich alles kaputtmachen und nur Verachtung für andere hatten, die sich in den Institutionen abmühten. Schon bald aber kam der Appell, man müsse »die Unterwanderstiefel anziehen« und in kurzer Zeit waren alle unter dem Pflasterstrand hervorgekommen und wollten mitspielen. Nur neun Jahre, nachdem er zuletzt an einer großen Demonstration teilgenommen hatte, sahen wir 1985 Joschka Fischer in Tennisschuhen seinen Ministereid leisten und noch weniger Zeit hat er danach gebraucht, um sich ebenso wie Gerhard Schröder italienische Schuhe und Maßanzüge zuzulegen – cosi fan tutte! Dazu musste er sich allerdings (vermutlich ohne Peter Sloterdijk vorher zu fragen) zurufen: »Du musst dein Leben ändern!«. Nach wenigen Monaten waren dreißig Kilo runter. Herlinde Koelbl hat die Vorgänge für uns in langen Fotostrecken festgehalten und der Meister selbst hat Bücher über alle Ereignisse geschrieben, die ihn im rechten Licht zeigen, damit wir von ihm etwas lernen können. Heute beraten die beiden Herren die gleichen Industrien, die sie vorher in den Hintern getreten haben.
In der Welt der Kultur hat Hans Magnus Enzensberger sich Ähnliches geleistet. Wenn man seine früheren Oden auf die kubanische Regierung und seine Angriffe gegen den Kapitalismus mit seiner heutigen Stellung in der Kulturindustrie vergleicht, sieht man ähnliche Metamorphosen. So wird man vom Kampfhund zum Oberlehrer – eine typisch deutsche Karriere.
Nur einer ist sich treu geblieben: Horst Mahler! Viele begreifen nicht, wie jemand jenseits der dreißig von der extremen Linken zur extremen Rechten wechseln kann.
Horst Mahlers Lebensprogramm besteht darin, eine neue Heimat zu finden und die fand er im Angriff gegen jede Art von Autorität – für Anwälte ein ganz geläufiges Motiv. In den 68ern konnte man die Autorität nur von einer linken Position aus angreifen. Wie aber soll man den Minister Joschka Fischer attackieren? Von links ist das schwer möglich. Also wechselt Horst Mahler auf die Rechte, wo er außerdem das Heimatsmotiv besser unterbringen kann. Sein Lebensthema heißt: Ältere Leute ärgern! Er ist eben ein Kind geblieben. Konrad Schily hingegen ist erwachsen geworden und ärgert jetzt seine Kinder.
In Deutschland laufen solche Entwicklungen immer über die romantische Vorbande. niemand erhebt einfach und pragmatisch Machtansprüche und versucht sie durchzusetzen. Zwar hatte Gerhard Schröder als Anfänger vor dem Kanzleramt »Ich will hier rein!« gerufen und an den Gittern gerüttelt, aber vorher musste er erst noch einmal als Chef der Jusos alle möglichen Abarten des Sozialismus fordern, damit man ihm gestattete, ein demokratisches Amt zu übernehmen. Auch die Grünen (und nach 1989: die Runden Tische) haben viele Jahre lang die offenkundigsten Regeln der Macht missachtet, bis sie endlich entdeckten, dass es nichts hilft, die Macht zu leugnen, die nötig ist um die politischen Ziele durchzusetzen und alles andere die Intrigen nur noch größer macht. Nur die RAF hat gewusst, dass Gewalt zur Macht gehört, war aber zu naiv, um auch nur zu ahnen, wie viel Gewalt man braucht, um ein System zu beseitigen. In anderen Ländern braucht man solche Umwege nicht.
6. Wirkungen
Was für Wirkungen auf den verschiedensten Gebieten aus dem Zusammenbruch des Schweigens entstanden sind und wie sie bis heute unser Leben beeinflussen.
6.1. Wiederholungszwänge
Die offensichtlichen Veränderungen und Zerstörungen, die während der 68er Jahre stattfanden, machen es schwer zu erkennen, dass jede neue Generation im Grunde die Probleme zwanghaft aufarbeitet, die die früheren Generationen nicht lösen konnten. Wer sich mit Neurosen, Verdrängung, Borderline-Symptomen und ähnlichen psychischen Vorgängen beschäftigt, wird diesen Wiederholungszwang schnell entdecken: Waschzwang, Agoraphobie oder andere Tics sind alle dadurch charakterisiert, dass sich das gleiche Verhalten in ritualisierter Form immer wiederholt.
Der erste Ansatz jeder Therapie besteht darin, diese Form bewusst zu machen – und das geschieht in der gleichen Form, in der die Störung sich äußert: durch Wiederholung! Allerdings muss die Wiederholung eine völlig neue Form finden. Schon das antike Theater hat diese Wirkung entdeckt: die menschlichen Konflikte, in denen wir selbst die Akteure sind, können wir unbeteiligter betrachten und beurteilen, wenn sie uns im Spiel vorgeführt werden, und im besten Fall entsteht eine reinigende Wirkung daraus.
6.2. Der virtuelle Vatermord
Auf dem Theater zeigt sich die Revolte seit Schillers Räubern daher als erstes! Dort ist immer am besten zu sehen, was den Zeitgeist gerade bewegt. Oscar Wilde wurde zu seiner Glanzzeit in London ebenso wie Ferencz Molnar in Berlin auf drei Bühnen gleichzeitig gespielt, weil er den Zeitgenossen die Gelegenheit bot, ihre Persona und ihre Konflikte auf der Bühne zu betrachten.
Walter Hasenclever begann zu Beginn des Europäischen Bürgerkrieges 1914 mit seinem Drama »Der Sohn«, der auf der Bühne stand und schrie:
»Wir müssen die Tyrannei der Familie zerstören, dieses mittelalterliche Blutgeschwür. Bedenke, dass der Kampf gegen den Vater das gleiche ist, was vor 100 Jahren die Rache an den Fürsten war.«
Arnolt Bronnen erhielt für seinen »Vatermord« 1920 den Kleist-Preis. Sein Leben und seine Zeit passen perfekt zusammen: als Halbjude eng mit Bert Brecht befreundet, unterstützt er ab 1928 die Nazis, wird von ihnen aber 1937 als Nicht-Arier aus der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen. 1941 nach Vorlage eines (fragwürdigen) Ariernachweises wird er wieder aufgenommen, geht 1943 in den Widerstand und flieht in den Untergrund, als er eingezogen werden soll. Das war gerade noch rechtzeitig, damit er nach dem Krieg 1945 von der US-Besatzungsmacht zum Bürgermeister eingesetzt werden konnte. Seine erste Maßnahme: eine Sondersteuer, die frühere NSDAP -Funktionäre zahlen mussten! Er selbst hatte als Halbjude nicht Mitglied werden können. Wenn man ihm vorhielt, er habe seine politischen Gesinnungen schneller gewechselt als seine Hemden, wurde man belehrt, dass man sich tieferen Einsichten unter allen Umständen beugen muss. Er war der seltene Fall eines Vatermörders, der danach noch die Chance wahrnimmt, zum Serientäter zu werden.
Neben dem Ödipusmotiv erwachten auf breiter Front auch andere Sexualmotive: 1906 hatte Wedekinds »Frühlings Erwachen« Premiere und ist bis heute ein Dauerbrenner auf diesem Gebiet. 1965, zwanzig Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, wurde das Stück von Peter Zadek wieder aufgenommen: ein klares Anzeichen dafür, dass die alten Themen der Aufbruchszeit nach dem Ersten Weltkrieg wieder modern geworden waren.
Auch jetzt spielte das Theater hat auf seine Weise die politische Bühne nach. Peter Handke begann 1966 mit der Publikumsbeschimpfung und ich fragte mich als Zuhörer wirklich, warum ich hier saß und nicht auf der Bühne stand, um mich selbst zu beschimpfen. Aber noch gab es die letzten Ausläufer des klassischen Theaters der Moderne: Ich saß gebannt in der Uraufführung von Max Frischs »Biografie« in den Münchner Kammerspielen. Sie brach nicht mit der traditionellen Darstellungskultur und war trotzdem von der ersten bis zur letzten Zeile ebenso verständlich wie verstörend. Heute hielt man sie für abgestandenen, denn unsere ästhetische Erfahrung wird durch das Regisseurtheater bestimmt, zu dem Peter Zadek den entscheidenden Anstoß gegeben hat. Zadek, 1933 mit seinen Eltern von Berlin nach London emigriert, hatte dort das Regiehandwerk bis in alle Details gelernt und war seiner überdrüssig geworden. In Deutschland stieß er auf andere Heimatlose66, die sofort bemerkten, dass dieses Theater unmittelbar auf die Gefühle wirken musste und auf diese Weise Kunst und Leben miteinander verband. Claus Peymann bewies das mit einer öffentlichen Kollekte für Gudrun Enßlins Löcher in den Zähnen und riskierte damit seinen Job in Stuttgart.
Das Regisseurtheater beruht auf der zutiefst romantischen Haltung, sich nur mit der eigenen Sicht auf die Welt zu beschäftigen. Die moderne Welt verlangt von fast allen ein Ausmaß vernünftiger Anpassung, an dem jeder verzweifeln muss, der eine sehnsüchtige Vorstellung nach ewigem Wandel, ewiger Jugend und ständigen Metamorphosen hat, für den jeder Weg die blaue Blume ist, die nie gefunden wird:
»Ich bin ein Pilger, der sein Ziel nicht kennt,
der Feuer sieht, und weiß nicht, wo es brennt,
vor dem die Welt in fremde Sonnen rennt.
Ich bin ein Träumer, den ein Lichtschein narrt,
der in dem Sonnenschein nach Golde scharrt,
der das Erwachen flieht, auf das er harrt.«67
Unmittelbar nach dem Krieg inmitten der Trümmer und der Verwesung wurde »Draußen vor der Tür« gespielt. Jahre danach war der heiße Krieg vorbei und es gab mitten im Wohlstand keine äußeren Gefahren mehr. Erst so öffnete sich der Raum für die Selbsterfahrung, die Zeit für die Beschäftigung mit sich selbst, die Ablehnung des Rattenrennens.
Solange das Theater sich auf solche Themen konzentriert, können wir sicher sein, dass uns keine wirklichen Gefahren drohen. Auch Schillers »Räuber« haben darauf verzichtet, sich über die Brücke konventioneller Ästhetik mit ihren Zuschauern zu verständigen. Auch dort entstand Action, bei der vor allem die Schauspieler etwas zu weinen oder zu lachen haben. Hätte es damals schon Plastikplanen gegeben, wären die Zuschauer genauso wie heute mit Schlamm beworfen worden. Thomas Brasch meint, erst seit kurzem hätten wir »das Boulevardtheater auf der einen Seite, also billiges Theater, für das sich intelligente Menschen ja nicht interessieren, und dann das hehre Theater, das die psychologischen Bauchschmerzen einer linken Bourgeoisie beschreibt«. Im Gegenteil: wir hatten es schon immer und im Grunde können wir froh sein, wenn wir den Krieg nur im Theater erleben müssen. Immerhin liefert uns das Regisseurtheater spannendere Bilder als Wildenbruchs »Haubenlerche« zu Kaisers Zeiten.
Aber vermutlich wird es nicht mehr lange durchhalten. Die damals jung waren, zum Beispiel die RAF-Frauen wie Verena Becker tragen heute die gleichen Hausfrauengesichter wie ihre Mütter (mit Ausnahme der Dauerwelle) gegen die sie gekämpft haben – das Theater ist vorbei.
Neue Formen mit starken dokumentarischen Elementen (Rimini-Protokoll) wirken erheblich aufregender als der vom Theaterblut triefende Kreon, den Michael Thalheimer jedes Jahr einmal für uns über die Bühne jagt.
6.3. Andere Literaturen
Auf dem ganzen Feld der Literatur suchten alle nach anderen Inhalten und Formen und so kommt es auch zum Kampf untereinander: Peter Handke nahm 1966 in Princeton die Mitglieder der Gruppe 47 – überwiegend ehemalige Frontsoldaten wie Hans Werner Richter, Günter Grass, Heinrich Böll etc. – frontal auf die Hörner. Das war schon früher so und setzt sich geradezu selbstverständlich bis heute fort: viele Schriftsteller wie Rainald Goetz und Christoph Schlingensief widmen sich der Dekonstruktion, um nicht in den Verdacht zu kommen, sich an der Konstruktion des Weltuntergangs zu beteiligen, den ihrer Meinung nach das mittlere Bürgertum durch Vernachlässigung des Umweltschutzes und Förderung fremder Kriege schon wieder anzettelt.
Für mich lag der Schlüssel der neuen Literatur bei den amerikanischen und englischen Autoren. Zuerst die Klassiker: Norman Mailer John Updike, Philip Roth und natürlich Hemingway, George Orwell, Rupert Graves – um nur die wichtigsten zu nennen. Aber dann auch und vor allem die Beatgeneration, die Rolf Dieter Brinkmann vorstellte: Jack Kerouac, Allen Ginsberg und diese ganze Truppe. Und bestimmt war ich einer der ersten Leser von Charles Bukowski. Brave Bull (1948 – Auszug):
I did not know that the Mexicans did this: the bull had been brave and now they dragged him dead around the ring by his tail, a brave bull dead, ... the bull burned within me my candle of Jesus, dragged by his tail he had nothing to do having done it all, and through the long tunnels and minatory glances, the elbows and feet and eyes, I prayed for California, and the dead bull in man and in me, and I clasped my hands deep within my pockets, seized darkness, and moved on.
Der große ästhetische Wechsel fand aber nicht in der Literatur statt. Der Film und die Musik prägten das Bild neuer Medien: François Truffaut, Jean-Luc Godard, Ingmar Bergman, Fellini , Pasolini, Woody Allen , Scorsese, Coppola und andere Autorenfilmer (auch Alfred Hitchcock gehört zu ihnen!) haben neue Bilder und neue Sprachen entwickelt. Das gilt sogar für Fassbinder, den ich allerdings nicht nur persönlich , sondern auch in den meisten seiner Werke ekelhaft und anmaßend68 fand. Das ändert aber nichts an seiner Leistung, die Filmästhetik, die bis dahin von Heinz Rühmann, dem Weißen Rössl und ähnlichen Produkten bestimmt war, endgültig zu zerschlagen. Gustav Gründgens, Heinz Rühmann, Stephan George, Werner Krauss und andere Größen von Goebbels' Filmimperium konnten die Ästhetik, die sie gelernt hatten, schon deshalb nicht ändern, weil keiner von ihnen sich je öffentlich über seine politische Rolle geäußert oder sie sogar kritisiert hat. Danach hat sie auch niemand gefragt. Die Mehrheit der Bevölkerung hatte genauso wie diese berühmten Schauspieler Befehlen gehorcht und sich im besten Fall moralisch anständig verhalten (Juden gerettet usw.). Wie hätten sie den Stars, die auch nur Mitläufer gewesen waren, ihr Verhalten verübeln sollen?
Wie in so vielen anderen Bereichen vereinte die Mauer des Schweigens wieder einmal diejenigen, die hinter ihr steckten. Gründgens spielte seinen Mephisto nach 45 nicht anders als vorher und Heinz Rühmann kam nicht einmal in den Stücken von Beckett aus dem servilen Humor heraus, den er sich in der »Feuerzangenbowle« angewöhnt hatte. Noch bis weit in die Sechzigerjahre knüpfen viele Unterhaltungsfilme an eine Ästhetik an, die das Kaiserreich und seine Restauration feiert.
Die Rock – und Popmusik hat sicher den Zeitgeist am intensivsten widergespiegelt. Ich war seltsamerweise von der Musik der Beatles und anderer gar nicht berührt. Ihren Status als Götter habe ich gleichwohl am deutlichsten gesehen, als ich im Herbst 1968 unmittelbar nachdem die russischen Panzer Prag wieder verlassen hatten, mit einem Freund dorthin fuhr, und als Gastgeschenk »Sgt. Pepper‘s Lonely Hearts-Club Band« mitbrachte. Die Platte musste konspirativ im Auto versteckt werden und hob das Prestige des Empfängers ganz gewaltig. Ströme von Wodka flossen!
Erst die Rolling Stones, die Sex Pistols, Meat Loaf und später die Einstürzenden Neubauten zeigten völlig neue Musikwelten, die mit Mozart nichts mehr zu tun haben. Aber gelegentlich mit Mahler. Philip Glass' Koyannisquatsi hat mich tief beeindruckt.
6.4. Alles ist Plastik
Am radikalsten war der Bruch in der bildenden Kunst. Die Klassik kannte ich aus den Zigarettenalben meines Vaters, der mit jeder Schachtel eine kleine Reproduktion erworben und dort die berühmtesten klassischen Werke der Kunstgeschichte Stück für Stück eingeklebt hatte. Da erkannte man deutlich den bildungshungrigen Aufsteiger. Andere Väter hatten Fußballer- Alben, in denen man den jungen Helmut Schön neben dem jungen Sepp Herberger die Nationalmannschaft des Deutschen Reiches trainieren sah und solche Väter lehrten ihre Söhne, diese Tradition mit Toni Turek, dem »Fußballgott« von 1954 fortzusetzen.
In diesen Alben fand man auch schöne Damen ohne Kleider. So war es nicht besonders originell, sich in Botticellis Venus zu verlieben – das ist mir mit zwölf Jahren aber nicht aufgefallen. Ich fand sie einfach hinreißend. Letzte Woche habe ich sie erstmals in Berlin im Original gesehen!
Ich würde sie immer noch heiraten (wenn meine Frau einverstanden wäre), denn sie ist – anders als ich selbst – nicht gealtert. Auch Caravaggios Amor fiel mir auf und besonders habe ich die haarfeine Malerei am Ende des 19. Jahrhunderts bewundert (vor allem: Lawrence Alma-Tadema), die immer noch präziser wurde, weil sie jetzt in Konkurrenz zur Fotografie stand. Picasso machte mir nach den Desmoiselles d' Avignon Schwierigkeiten und das bedeutet im Klartext: mein naiver Kunstverstand hört ungefähr 1907 auf; alles, was danach kommt, muss ich mir erarbeiten.
Vielleicht sehne ich mich nach den Zeiten vor dem Bürgerkrieg zurück? Diese Frage habe ich mir oft gestellt und immer wieder verneint: mein Vater wäre Schreiner geblieben, ich selbst hätte es vielleicht zum Anwaltsgehilfen gebracht – die Freiheit und die Unabhängigkeit eines Anwalts hätte ich nie kennen gelernt.
1918 war die Klassengesellschaft abgeschafft und mein Vater konnte Architekt werden. Er war auf der Kunstakademie in Düsseldorf gewesen, hatte dort zeichnen gelernt und sein Vorbild war ganz offensichtlich Albrecht Dürer, denn in dessen Manier gibt es Selbstportraits von ihm und Porträts seiner Mutter.
Joseph Beuys, auch ein Schüler dieser Akademie ist nur 14 Jahre jünger und ein »Kriegskamerad«, aber sein Kunstbegriff hat nichts mehr mit der Vergangenheit zu tun. Immerhin nannte er eine Installation auf der Documenta V (1972): »Dürer, ich führe persönlich Baader + Meinhof durch die Documenta« und verband mit diesem Titel die unbegreiflichsten Gegensätze.
Ich sah seine Arbeiten erstmals auf der Documenta VI (1977). Von seiner Idee der »Sozialen Plastik«, der These »Alles ist Kunst« und der »Honigpumpe am Arbeitsplatz« war ich maßlos begeistert – hier zeigte sich der reine Zeitgeist in ungewöhnlichen Formen: wenn alles Kunst war, dann war auch das Gegenteil davon Kunst, dann hatte DADA Recht, weil die Kunst nichts anderes abbildete als das ewige yin und yang69.
Das Lenbachhaus in München liegt auf dem Weg zwischen unserem Anwaltsbüro und dem Strafjustiz-Zentrum. Wer Filme über Strafverteidiger sieht, hält das für einen aufregenden Beruf. Tatsächlich besteht eine der wesentlichen Leistungen darin, beim stundenlangen Verlesen von Dokumenten nicht offensichtlich einzuschlafen. Wenn man hin und wieder »Einspruch« rufen darf, hat man einen aufregenden Tag erlebt. Außerdem ist die Luft schlecht. (Deshalb wird dieses Gebäude auch demnächst abgerissen). Man freut sich über die frische Luft, wenn man wieder herauskommt und beschließt, nie straffällig zu werden, damit man jederzeit auf der Straße herumlaufen kann, wenn man will. So ging ich fast immer zu Fuß ins Büro zurück, kam an dem kleinen Museum vorbei und eines Tages hatte ich die Idee, hineinzugehen, legte meine Robe und die Aktentasche an der Garderobe ab und ging ziellos durch die Räume. Vor einer halbdunklen Nische war quer ein Seil gespannt, dahinter zwei metallene Leichentragen, Mistgabeln mit roten Tuchfetzen, zwei seltsam aussehende »Lampen«, die mit Fett zugeschmiert waren und ein paar Exemplare der »Lotta Continua«, einer italienischen KP-Zeitung. Das sah alles sehr traurig aus. Aber es ließ mich ziemlich gleichgültig. Erst als ich im Hintergrund auf zwei Schultafeln in verbleibender Schrift »Zeige deine Wunde«70 las, bin ich in Tränen ausgebrochen, ohne auch nur zu ahnen, warum.
Darüber habe ich lange nachgedacht. Am Ende hatte ich verstanden, was der Unterschied zwischen Kunst und Realität ist: dort waren nur Gegenstände zu sehen, sie waren nicht einmal abgemalt, sondern standen nur da herum, wie sie in jedem Lazarett hätten herumstehen können. Es war pure Realität. Aber diese Realität hätte mich nicht zum Weinen gebracht. Auch im Gericht hatte ich nicht geweint, obgleich die Realität dort oft genug noch trauriger ist als in Lazaretten. Wer diese Gegenstände hierhergestellt hatte, deutete auf etwas, was nicht »der Fall ist«, obgleich die Gegenstände nichts anderes waren als sie selbst.
So konnte ich endlich auch Malewitsch und alle anderen Abstrakten verstehen. Außer Imi Knoebel. Und Julian Schnabel.
6.5. Viva Maria
Louis Malle drehte 1965 einen Film über die mexikanische Revolution – Viva Maria! In den Hauptrollen: Brigitte Bardot und Jeanne Moreau. Beide hinter einem Maschinengewehr! Das waren bisher nie gesehene Bilder, die kurz darauf stilbildend wurden, denn es dauerte nicht lange, bis andere Frauen nicht nur im Kino wild in der Gegend herum schossen. Jetzt hießen sie Ulrike Meinhof, Gudrun Enßlin, Irene Goergens, Ingrid Schubert, Brigitte Asdonk, Petra Schelm, Irmgard Möller, Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Ingrid Siepmann, Hanna Krabbe, Birgit Mohnhaupt Sieglinde Hoffmann, Birgit Hogefeld, Eva Haule-Frimpong. und Monika Berberich – sie alle waren der offensichtliche Beweis dafür, dass die Emanzipation ihre ersten Ziele erreicht hatte. Schon im Namen der RAF »Baader-Meinhof« war die Frauenquote sichtbar.
Meine Mutter hätte ich mir nicht mit der Knarre, sondern nur mit dem Kochlöffel oder dem Rechenschieber in der Hand vorstellen können. Sie beschränkte sich auf die »3-K-Themen« (Küche, Kinder, Kirche), wie mein Vater ironisch bemerkte, obwohl er selbst dafür gesorgt hatte, dass sich das nicht ändern konnte. Denn meine Mutter hatte nicht nur die mittlere Reife und eine kaufmännische Ausbildung, sondern sprach auch sehr gut Französisch. Anfang der Dreißigerjahre hatte sie es endlich zu der Ausnahmegenehmigung gebracht, in Paris an der Sorbonne studieren zu dürfen. Die Insolvenz ihres Vaters hat alles weitere verhindert, sie musste seine Buchhaltung übernehmen, dann kam die Machtergreifung, die deutschen Grenzen wurden geschlossen und dann hat sie geheiratet. Nur wenige Frauen aus ihrer Generation haben einen Begriff wie »Karriere« auf sich selber gemünzt.
Da sie 20 Jahre älter war als Inge Jens hat sie sich allerdings auch bei keiner der Nazi-Organisationen engagiert, sie war durch und durch unpolitisch und das bedeutete: Augen, Ohren und Mund zu!
Geholfen hat ihr das nicht, denn aus einer harmlosen Hausfrau und Mutter wurde während des Krieges in den Bombennächten Berlins auf einmal eine Managerin des Unglücks. Sie hetzte ständig mit Notgepäck zwischen Wohnung und Luftschutzkeller, mindestens ein schreiendes Kind im Korb, das zweite an der Hand, die Familiendokumente zwischen den Windeln, die Gasmaske tanzte zwischen den Beinen und um sie herum eine Vielzahl anderer Frauen, denen es nicht anders ging.
Nach der Flucht aus Berlin verbrachte sie fast zehn Jahre in einem baufälligen Pfarrhaus in unwirtlicher Gegend unter einer Handvoll kaltherziger Bauern, (jetzt mit zwei weiteren Kindern). Dort schlug sie sich mit Leichenwaschen und in der Besatzungszeit mit Dolmetscherdiensten für die Franzosen herum, was ihr Ansehen nicht gerade erhöhte. Als sie endlich in Düsseldorf auf der Königsallee wieder einen Hauch von Eleganz wahrnahm, hat sie nur den Anblick genießen dürfen, denn leisten konnte sie sich nichts.
6.6. Diskriminierung: Frauenquote und Wildverbiss
Der Bombenkrieg hat keinen Unterschied zwischen Männern und Frauen gemacht und viele Forschungen haben uns gezeigt, wie sehr das Selbstbewusstsein der Frauen gerade in den Nachkriegsjahren durch die Energie der Frauen und die breite Verantwortung auf allen Lebensbereichen gestärkt worden ist, die sie notgedrungen übernehmen mussten. Besonders deutlich ist das in der DDR zu erkennen, wo sich die Gleichberechtigung geradezu selbstverständlich ergeben hat, ohne dass darüber ein großer ideologischer Streit geführt worden ist.
Die jungen Frauen der 68er konnten darauf aufbauen und sich – meist langsamer als die jungen Männer – aus der Unterdrückung ihrer Elternhäuser befreien. Erstmals durften sie selbstverständlich studieren und trafen – jedenfalls theoretisch – auf keine Berufsbeschränkungen.
Ich habe immer noch keine richtige Erklärung dafür gefunden, warum sie sich gerade in der RAF im Verhältnis zu den Männern so offensichtlich durchsetzen konnten. Im normalen Leben haben eine Vielzahl von Gesetzen und vereinbarten Frauenquoten71 dabei geholfen, dass heute 30 % aller Anwälte Frauen sind (die Quote bei Staatsanwälten und Richtern ist noch höher) und in der Politik sieht es ganz genauso aus.
Über Sinn und Berechtigung solcher Quoten kann man streiten, denn der Blick auf die unterschiedlichen affirmative actions in den USA zeigt, dass ihre Wirkungen so komplex sind, dass sie manchmal das Gegenteil von dem erreichen, was beabsichtigt ist. Ein jüngeres Beispiel ist die Immobilienkrise 2008/2009. Sie wurde durch eine Gesetzgebung ausgelöst, die die Banken seit der Regierung Carter zwang, an mittellose (meist schwarze) Familien ungesicherte Kredite für den Hauskauf auszuleihen. Den Banken fiel sofort eine Lösung ein, diese Risiken nicht auf sich sitzen zu lassen: Sie packten sie in große Pakete, garnierten sie mit Garantien Dritter und verscherbelten sie nach Europa. Dann platzte die Bombe.
Ein Förster hat mich davon überzeugt, dass Quoten in manchen Situationen unverzichtbar sind. Er deutete auf Drahtzäune, die um junge Schonungen gezogen waren und erläuterte, dass keiner dieser jungen Bäume überleben könne, wenn er gegen den Wildverbiss nicht mehrere Jahre wirksam geschützt werde. Danach könne man die Zäune wieder entfernen.
Eine überzeugende Lösung. Die Emanzipation wird sich aber erst dann selbstverständlich durchgesetzt haben, wenn die Frauen (außer in der Oper!) sich selbst die Türe aufmachen und ihre Mäntel anziehen wollen.
Für die Damen von der RAF war das die geringste Sorge.
6.7. Die klassenlose Gesellschaft
Noch einmal ein Blick zurück auf den August 1914. »Ich kenne keine Parteien, ich kenne nur Deutsche« rief Wilhelm II vor dem Reichstag aus und schrieb danach noch »An meine lieben Juden«, um ihnen die Kriegskredite aus der Tasche zu locken. Das war derselbe Mann, der nach Kriegsende »dem ewigen Juda« die Schuld an den verlorenen Schlachten zu schieben wollte. Unter dem Druck der Ereignisse waren auf einmal die Klassen und die Rassen vergessen. Es könnte die historische Funktion des Europäischen Bürgerkriegs gewesen sein, das zu erreichen, was Marx als Utopie vorschwebte – wenn auch auf anderem Wege, als die Kommunisten das geplant hatten.
Als meine Großmutter kurz bevor sie blind wurde, zu ihrem Erschrecken einen Minirock erblicken musste, sprach sie bedeutungsvoll: »Wenn alle Frauen Hosen tragen und alle Männer Röcke, dann kommt der Weltuntergang!« Ich war damals stolz auf meine ersten Erfolge in der juristischen Argumentation und versuchte, ihr mit meinen neuen logischen Erkenntnissen vor Augen zu führen, dass ein Minirock keine Hose ist, dass die Schotten Röcke tragen, die Inderinnen hingegen seit vielen tausend Jahren Seidenhosen und die Welt bisher immer noch nicht untergegangen sei und so weiter. Aber ihre Bemerkung hatte mit Logik nichts zu tun. Sie wollte uns nur wissen lassen, dass der Unterschied zwischen Männern und Frauen größer als ein kleiner Unterschied sein müsse. Ich bin gespannt, wann die Differenz Null wird, aber in Kleidung, Verhalten, Auftreten, Intelligenz, Sprachgewandtheit, Durchsetzungskraft usw. gibt es heute nur noch Unterschiede zwischen einzelnen Personen, aber nicht mehr generell zwischen Männern und Frauen.
Auch die früheren Klassen in Form gesellschaftlicher Schichtungen sind in der öffentlichen Wahrnehmung verschwunden. »Mach nur erstmal deinen Doktor« wurde uns ständig in die Ohren geblasen, weil nicht nur die Männer ständig mit ihren Titeln angesprochen, sondern auch die Frauen beim Bäcker und Metzger automatisch promoviert wurden.
Diese Zeiten sind vorbei. Manche 68er, die heftig gegen alle möglichen Titel gewettert haben, bereuen das heute, nachdem sie endlich selbst welche bekommen haben: Akademische Titel hört man überhaupt keine mehr, nicht einmal an den Rezeptionen eleganter Hotels oder Restaurants, in denen früher jeder Pferdehändler als »Herr Kommerzienrat« betitelt wurde. Weder Presse noch Fernsehen verwenden Titel interviewter Personen, es sei denn, sie wollen sie ironisch herunter machen. Die Adelstitel sind in der Öffentlichkeit ganz überwiegend verschwunden, bis auf Österreich, wo man sie seit 1919 gesetzlich abgeschafft hat. Das ist eine Folge des Verschwindens der »höheren Gesellschaft«, die nur in der yellow press noch in Bruchstücken abgebildet wird. Sie muss es aushalten, neben Schauspielern, Friseuren, Artisten, Moderatoren und anderem fahrenden Volk als gleichwertig betrachtet zu werden.
Die einzige Rettung: man lässt Herolde vor sich her laufen, die allen Leuten genau erzählen, was für ein bedeutender Mensch gleich erscheinen wird. In der Welt der Politik, des Managements und der Anwälte sind das die Privatsekretärinnen, die huldvoll zu ihren Chefs durchstellen, wenn es denen passt. Einer der sympathischen Züge von Helmut Kohl war es, grundsätzlich selbst zu telefonieren (von außen kam man allerdings nicht an ihn heran). Aber wenn er aus seinem umfangreichen Telefonbuch eine Nummer herauskramte und dem überraschten Anrufer dann ein freundliches »Kohl« entgegenrief, glaubten die meisten, einen Scherzbold an der Strippe zu haben. Er konnte auf Herolde verzichten.
Dieser Bedeutungsverlust scheint erheblich zu sein, aber wir machen uns wahrscheinlich keine hinreichend klare Vorstellung davon, wie schwierig und teuer es auch früher schon war, andere auf die eigene Bedeutung hinzuweisen. Die unterhaltsamen Memoiren der Baronin Spitzemberg, die uns die kaiserliche Gesellschaft vor 1914 vorführt, zeugen davon: man muss nur statt »Equipage« »Mercedes« sagen und lernen, die Teilnahme an Veranstaltungen abzusagen, wenn nicht die richtigen Leute dabei sind – schon ist man in der Gegenwart. Es gibt noch ein paar versprengte Toren, die meinen, mit Zweit – und Dritt-Wohnsitzen oder skurrilen Verhaltensweisen Aufmerksamkeit erregen zu können. Aber heute hat schon jeder überwiegend vermögenslose Schriftsteller mindestens einen Wohnsitz in Wanne-Eickel und Manhattan (den dritten auf Tristan da Cunha mietet er gerade) und skurriler als manche Leute, die mit ihren Löchern in der Hose und einer Klampfe auf der Bühne stehen, kann man sich kaum verhalten.
Mit den Klassen war es nach den 68ern vorbei. Das gilt auch für England, einem Land, das durch seine Standesunterschiede mehr geprägt worden ist als jedes andere. Noch heute kann man an der Aussprache und Grammatik der Leute, die an den großen Hochschulen (Oxford, Cambridge, Eton usw.) erzogen worden sind, genau erkennen, zu welchem Stand sie gehören. Genau deshalb gehört es heute zum guten Ton, sich (wie Tony Blair) eine Art künstlichen Arbeiterdialekt zuzulegen damit man nicht schon wegen seiner Abstammung die Wahlen verliert. Das müssen die Volkstribune im alten Rom so ähnlich gemacht haben.
Auch da hat Marx also gesiegt, aber ihm war nicht klar, dass Revolutionen in erster Linie dazu dienen, verlorene Rechte wiederherzustellen und – sobald das geschehen ist – sich um die weitergehenden Theorien nicht mehr kümmern. Sobald also »die Arbeiterschaft« (bestehend aus den Mitgliedern der Partei) auf den Sesseln der Direktoren saß, entwickeln sich sofort wieder auf anderer Ebene andere Klassenunterschiede. Wer Regierungsämter hatte, wer in der Partei oder gar in führender Position war, genoss nicht nur vielfältige Privilegien, sondern auch eine äußerst respektvolle Behandlung durch alle, die von ihm abhängig waren. Erst der Kapitalismus in seiner Weisheit hat diese Unterschiede (vielleicht endgültig) aufgehoben: wer als Sänger oder Filmschauspieler mit geringfügig Begabung Millionen hinreißen kann, der lässt sich von Adeligen oder Großgrundbesitzern nichts mehr sagen.
So eine Entwicklung hat der alte Romantiker in der British Library sich vor 150 Jahren nicht vorstellen können, obwohl er doch so viele interessante Ideen hatte.
Eine der wichtigsten von ihnen war, Hegel »vom Kopf auf die Füße zu stellen«, also seine dialektische Methode vom Reich der Ideen auf das Reich der Tatsachen anzuwenden. Zu den Tatsachen gehören aber nicht nur Dinge, die man anfassen kann, sondern auch die Gefühle der Menschen, ihre Reaktionen, ihre Kommunikation und eine Menge anderer Software, die nach Marx' Ansicht in seinem Gebäude keine Rolle spielten. Er meinte, die Verstaatlichung der Produktionsmittel werde automatisch dazu führen, dass jeder einzelne sich für den Teil des Volkseigentums verantwortlich fühlen werde, für den er zuständig sei.
Tatsächlich gehört zum Eigentum aber auch die Möglichkeit, darüber zu verfügen, sie ist vielleicht viel wichtiger als die rechtliche Zuordnung. Das zeigt sich gerade in den modernsten Formen des Kapitalismus: es gibt hier und da noch Unternehmer, die auch die Eigentümer ihrer Firmen sind, aber sie werden immer seltener. Zum Unternehmer wird man nicht durch Erbschaft, sondern durch die Fähigkeit zur Führung und zur Selbstkontrolle. Beides kann man lernen, wenn man sich dafür interessiert. Das taten weder Arndt von Bohlen und Halbach, noch Chantal Grundig, noch Madeleine Schickedanz, wohl aber Liz Mohn, die Thomas Middelhoff daran hinderte, seine Ideen bei Bertelsmann zu verwirklichen.
Im Kapitalismus wie im Sozialismus fallen Eigentum und Verfügungsmacht auseinander. Der Unterschied ist aber: im Kapitalismus kontrolliert der Eigentümer, was seine Manager tun, das Volk hingegen hat im Sozialismus keine Möglichkeit, die Partei und ihre Funktionäre zu kontrollieren, die immer recht haben. Weil das Volk selbst nirgendwo verfügen kann, fühlt es sich außerhalb seiner vier Wände für nichts verantwortlich.
So verkommt das »Volkseigentum « in allen sozialistischen Staaten auf breiter Front und jeder hat sich daran bedient, wenn er es ungestraft konnte. Nur auf diesem Zusammenhang beruht der unerwartete Reichtum weniger Russen, die in den chaotischen Anfangszeiten der Perestroika die Möglichkeit hatten, sich für sich selbst und andere am Volksvermögen zu vergreifen. Hätte Marx sich für die Bibel interessiert, wäre ihm diese Gefahr aufgefallen. Bei Johannes 10,12 heißt es:
»Der Mietling aber, der nicht Hirte ist und dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen, verlässt die Schafe und flieht, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe ... der Wolf aber stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie«
Woran Johannes allerdings nicht gedacht hat: wenn Hirte und Wolf die gleichen sind – dann geht's dahin wie bei uns in der Finanzkrise 2008!
6.8. Politische Korrektheit
Es liegt auf der Hand, dass die »richtige« Verwendung von Begriffen ein Grundproblem jeder Kommunikation sein muss: der eine sagt »Rote-Armee-Fraktion«, der andere »Baader-Meinhof-Bande« und hinter jedem Begriff stecken andere Assoziationswelten. Welcher Begriff sich durchsetzt, ist – anders als viele Schriftsteller meinen – keine Frage des Stils, sondern immer (und ausschließlich) eine Machtfrage72. Lewis Carroll73 schreibt:
»Wenn ich ein Wort gebrauche«, sagte Goggelmoggel in recht hochmütigen Ton, »dann heißt es genau das, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger.«
»Es fragt sich nur«, sagte Alice, »ob man Wörter einfach etwas anderes heißen lassen kann.«
»Es fragt sich nur«, sagte Goggelmoggel, »wer der Stärkere ist, weiter nichts!«
Beginnen wir wie stets mit 1914. Der Krieg hat nicht nur die Klassen völlig durcheinandergeworfen: in dem allgemeinen Chaos, das man bis zu seinem Ende und auch in der Zeit der Wirren bis 1933 beobachten kann, sind auch die Begriffe chaotisch. National, sozial, sozialistisch, kommunistisch, deutschnational, republikanisch – was hinter diesen Begriffen stand, konnte man schwer voraussagen.
Auch der Nationalsozialismus war im Kern weder national noch sozialistisch. Wenn überhaupt, knüpfte er an einer fiktiven »Rasse« an und was den Sozialismus betrifft, so hat ihn nur die Gleichmacherei interessiert, aber keine der anderen Ideen, über die man wohl hätte nachdenken können.
Die Änderung bestand in etwas ganz anderem: ab 1933 wurde genau vorgeschrieben, wie welche Begriffe zu verwenden waren und wer gegen diese Regeln verstieß wurde hart bestraft74. Parallel dazu entwickelte sich in der Sowjetunion ein Paralleluniversum, das George Orwell 1948 in seinem Roman »1984« unübertroffen bloßgestellt hat. Das untergegangene NS-Reich interessierte ihn nicht mehr, die drohende sowjetische Ideologie aber sehr wohl. Wie alle enttäuschten Marxisten hat er unter der Perversion der Begriffe besonders gelitten. »Neusprech« nannte er das Lexikon, in dem das Kriegsministerium zum Hort des Friedens wurde und auch alle anderen Begriffe ihr Gegenteil bedeuteten.
Die Ideologie, das Sprechen in Bildern, ist die Mutter der politischen Korrektheit. Die Leute sollen nur noch das aussprechen, was sie denken sollen und was sie denken sollen, das sagt ihnen irgendjemand anhand von Bildern, die sie verstehen können. Je mächtiger eine Ideologie ist, umso strenger besteht sie auf der Überwachung der Begriffe. Mit Begriffen kann man die Zukunft besetzen.
Nach 1945 entwickelte sich in beiden deutschen Staaten unterschiedliche Begriffswelten. Jede Seite verbot streng, Begriffe zu benutzen, die die andere für sich erfolgreich reklamiert hatte. Die Deutsche Demokratische Republik hieß im Westen so lange wie es ging »Sowjetisch besetzte Zone«. Ich erinnere mich sehr gut, von dem sonst so intelligenten und liberalen Kollegen Dr. Johann Tiling aus Hamburg getadelt worden zu sein, als ich 1986 einmal von der »BRD« sprach, weil diese Bezeichnung nur von der DDR benutzt wurde, nicht aber von uns selbst. Im internationalen Bereich finden sich unendlich viele Beispiele für den Anspruch, »richtige« Bezeichnungen zu verwenden.
In zeiten wie den 68ern tobt der Kampf um die Begriffe besonders hart. In welchem Umfang sich ihre Ideen durchgesetzt haben, kann man auf die einfachste Art analysieren: wir müssen nur darauf achten, welche Begriffe wir heute benutzen und sie mit jenen Begriffswelten vergleichen, die vor 1968 Geltung hatten. Dabei ist gleichzeitig von Bedeutung, welche Begriffe sich nicht änderten.
Am besten kann man das auf dem Gebiet der Gleichstellung der Frauen beobachten. Dort haben wir oft gegen jedes Sprachgefühl alle möglichen neuen Worte erfunden. Ich sehe keine Diskriminierung darin, von »weiblichen Richtern« zu sprechen, falls die Geschlechtszugehörigkeit in dem jeweiligen Kontext überhaupt eine Bedeutung hat. Genauso gut kann man auch von einer »männliche Hebamme« statt von einem »Geburtshelfer«« reden.
Wir werden nur dann die »richtigen« Begriff finden, wenn wir verstehen, dass es sich um ein Problem der Machtverteilung handelt und nicht um eines der Höflichkeit, der Ästhetik, des Sprachgebrauchs oder anderer Elemente, die in der Diskussion immer wieder eine große Rolle spielen. Wenn eine Frau Vorstand eines Unternehmens ist, dann hängt ihre Macht nicht davon ab, ob sie »Vorständin« oder »Vorsitzende des Vorstandes« oder wie immer heißt. In der Welt der Unternehmen haben die Frauen noch nicht die Kraft entwickelt, ihre Begriffswelt durchzusetzen. Ganz anders in den öffentlichen Verwaltungen, den Universitäten usw. Hier warten wir alle noch auf die »Mitgliedin« und ähnliche Torheiten, die allen nur deshalb aufgezwungen werden, weil nur so der Beweis geführt werden kann, dass man mächtig genug war, es zu tun.
Allerdings muss man sich fragen, ob »emanzipationsfreundliche« Begriffe vielleicht ebenso notwendig sind wie eine zeitlich begrenzte Frauenquote oder vergleichbare Maßnahmen. Denn eines steht fest: der Inhaber der Macht wird immer durchsetzen können, dass seine Begriffe benutzt werden, so dass der weniger Mächtige schon einen guten Schritt nach vorn getan hat, wenn er wenigstens verhindert, dass die Mächtigen die Begriffe monopolisieren. Vielleicht muss man das Problem auf den einzelnen Feldern unterschiedlich lösen, auf denen es sich zeigt.
Der Kampf um die richtigen Begriffe ist 2020 wieder vollkommen neu entbrannt. Im Zweifel spricht alles gegen Sprachverbote, denn hinter ihnen stecken Denkverbote und wenn die einmal wirksam sind, können wir unsere Freiheitsansprüche vergessen.
6.9. Der internationale Vergleich
Auch außerhalb Deutschlands haben sich während der Zeit der 68er nicht die Proletarier, sondern nur die Studenten aller Länder vereinigt. Auch dort war der Bruch zwischen den Generationen sehr tief, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen.
Den jungen Franzosen konnte und wollte niemand erklären, welche Rolle ihre Eltern in der Kolonialpolitik oder bei der Kollaboration im besetzten Frankreich gespielt hatten und schon 1968 zeichnete sich ab, dass die Ausländerpolitik erheblichen sozialen Sprengstoff in sich barg.
In Italien nahm die Auseinandersetzung schwarze anarchistische Züge an. Peter Schneider75, der dorthin floh, berichtet über die Aggressivität der Brigate Rosse erstaunliches aus einem Land, das wir offenbar nur folkloristisch sehen können. Tatsächlich war die Zahl der Morde in Italien mindestens so hoch wie in Deutschland und die Zahl der Attentate erheblich höher. Die italienische Politik spielte 1968 das ganze Theater nach, das vor dem Krieg zwischen Faschisten und Kommunisten schon aufgeführt worden war. Mussolini, der beiden Lagern angehört hatte, wird heute in seiner Heimatstadt Predappio bei Rimini verehrt wie ein lokaler Gott. Da kann man schon verstehen, dass damals Leute wie Feltrinelli mit Sprengstoff in der Tasche herumgelaufen sind. Geholfen hat es nichts, wie man an den Erfolgen der Regierung Berlusconi sehen kann.
Auch die Aufstände in Polen und Prag waren nicht allein vom Widerstand gegen den Kommunismus geprägt, sondern vor allem ein Angriff gegen die Väter und Großväter, die ihn repräsentierten.
Die Auslöser in all diesen Ländern waren nicht die intellektuellen Zugänge, die wissenschaftlichen Projekte oder die Erkenntnis über die Unvermeidbarkeit beider Kriege, sondern die emotionalen Anklagen, die persönlichen Verletzungen, die Beleidigungen, die den Mantel des Schweigens, der das Verhalten der Väter und Großväter verdeckte, Stück für Stück zerfetzt haben.
Eine Ausnahme sehen wir in China: Mao Tse Dong hat es in der fast unglaublich scheinenden Strategie seiner »Kulturrevolution« geschafft, diese Kräfte zu seinen Gunsten gegen jüngere Politiker zu mobilisieren, die seine Stellung bedrohten und versuchten, aus China einen moderneren Staat zu machen. Er hetzte die Jungen auf die Alten (die weniger alt waren als er) – einer der wenigen Fälle, in denen die Kinder ihre Väter gefressen haben, weil die Großväter sie dazu angestiftet haben.
Auffällig ist allerdings, dass es in den angelsächsischen und den skandinavischen Ländern nichts Vergleichbares gab. In den USA hat die Bewegung der 68er sich aus malerischen Vorbildern wie den »Beatnicks« und den »Blumenkindern von San Francisco« erst entwickelt, als der Vietnamkrieg genug Feuer für diese Flammen abgab. Bei der Beurteilung dieses Krieges rechneten die 68er ein weiteres Mal mit ihren Eltern ab, die die USA von allen Besatzungsmächten am meisten geschätzt hatten. Walter Kempowski, Fritz Raddatz und Horst Bosetzky haben die Amerikaner nur als Befreier und wohlhabende Gönner erlebt und selbst die Franzosen und Engländer, in deren Besatzungszonen ich aufgewachsen bin, haben uns einigermaßen freundlich behandelt.
Dieser Kredit hat sich bei mir bis heute nicht verbraucht. Es ist vor allem die Unfähigkeit und Unlust am Entwickeln ideologischer Bilder, die ich an den Amerikanern und Engländern schätze, die angelsächsische Neigung zu pragmatischem Verhalten, die ein gewisses Maß an Romantik zulässt, aber immer auch deren Grenzen kennt. Woher kommen diese Unterschiede?
Früher war es ganz selbstverständlich, einem Volk einen »Nationalcharakter« zuzuschreiben, dann hat man wieder das Augenmerk mehr auf die individuellen Eigenschaften gelegt und vergessen, dass unsere Sprache und die sozialen Regeln, die wir in unserer Jugend gar nicht hinterfragen können, unser Verhalten in hohem Maße prägen. Wie weit das bei jedem einzelnen der Fall ist, kann man nie allgemein sagen, aber es gibt doch eine statistisch höhere Wahrscheinlichkeit, dass ein Deutscher, ein Japaner oder ein Chinese Ordnung und Autorität akzeptiert, als man das von einem Italiener oder Franzosen erwarten würde; und genau so werden mehr Schotten oder Schwaben auf ihren Geldbeutel achten, als die Russen oder Amerikaner.
Allerdings haben die Deutschen Zucht, Ordnung und Gehorsam erst sehr spät gelernt. Schon aus den frühesten Berichten der Römer wissen wir, dass die Germanen keine militärische Disziplin hatten, weil sie sich nicht unterordnen wollten und genauso unfähig waren, gemeinsame Pläne zu entwickeln. Zwar gab es die Führer und Fürsten, aber sie wurden gewählt und das heißt auch: abgewählt! Die Verfestigung zu erblichen Strukturen kam erst sehr viel später.
Aus dieser Unfähigkeit zur Unterordnung ist der vielleicht wichtigste Beitrag entstanden, den die Deutschen zur politischen und wirtschaftlichen Kultur geleistet haben – die Genossenschaftsidee. Sie ist aus vielen älteren Wurzeln des germanischen Stammeswesens um 800 n. Chr. bei den Franken im Rheintal entstanden, die – wie schon ihr Name sagt – frei von erblichen Hierarchien und Fremdherrschaft sein wollten. Die Franken haben nach den Griechen die Demokratie ein zweites Mal76 erfunden, sie hat sich auf politischem Gebiet aber nicht durchsetzen können und sich auf die Welt des Handels, der Landwirtschaft und der Versicherungen beschränkt (Otto von Gierke, Schulze -Delitzsch etc.). Nur Karl Marx, der ein guter Diagnostiker, lausiger Therapeut und kein Marxist war, hat daraus ein politisches Modell entwickelt, dessen illusorischer Charakter leicht zu erkennen ist, wenn man seine Frühschriften zur Hand nimmt. Wer wollte nicht "heute dies, morgen jenes tun, morgens jagen, mittags fischen, abends Viehzucht treiben, nach dem Essen kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden". Der Kern dieses Bildes besteht im Traum des Helden, Erstaunliches zu bewirken, ohne je etwas zu werden:
»denn die Welt hebt an zu singen, triffst du nur das Zauberwort« (Joseph von Eichendorff).
Weil solche romantischen Träume, wie die Welt »richtig« sein sollte, in Deutschland aber nie Wirklichkeit geworden sind, und weil es uns andererseits so unendlich schwer fällt, pragmatische Kompromisse zu machen, schwankt unser politischer Charakter in der Weise, wie die Engländer es richtig beobachten: im politischen Bereich wollen wir entweder befehlen oder gehorchen, aber haben es nie gelernt, so mit Augenmaß zu handeln, wie Bismarck uns das immer wieder nach dem englischen Vorbild empfohlen hat – leider ohne Erfolg.
Mit dieser, geradezu literarischen Gefühlswelt kontrastiert unser auffälliger Perfektionsdrang, der sich vor allem seit Beginn des technischen Zeitalters in allen naturwissenschaftlichen (und leider auch: militärischen) Bereichen entwickelt hat.
Und nicht nur dort: Einer unserer großen Exportschlager ist unser Rechtssystem, vor allem das Strafrecht das außerhalb des anglo – amerikanischen Rechtskreises von den meisten kultivierten Nationen übernommen worden ist.
Man findet es in Japan, in Griechenland und vor allem in Südamerika (wo seine Anwendung aber offenbar nicht segensreich wirken kann).
Dazu hat maßgeblich Claus Roxin (Universität München) beigetragen, der ganz bewusst junge Wissenschaftler aus allen Ländern angezogen hat, weil er wusste, dass sie das System in ihre Länder weitertragen würden. Ähnlich wirkungsvoll war Hans-Heinrich Jescheck mit seinem Max-Planck-Institut für Internationales Strafrecht in Freiburg.
Unterhält man sich mit den ausländischen Kollegen und freut sich, wie nützlich sie unsere strenge Systematik finden, hört man in dem Lob, doch immer auch die kleine Spitze: Ihr seid die perfekten Zuchtmeister!
Alle diese Elemente haben dafür gesorgt, dass die 68er in Deutschland – verglichen mit anderen Ländern – eher in einer historischen Traditionslinie zu sehen sind, die schon immer das Ziel im Auge hatte, die Solidarität unter den Menschen als Leitmotiv zu definieren. Alles, was da nicht hineinpasste, vor allem die Modelle von Befehl und Gehorsam, die in Deutschland so viel Unheil angerichtet hatten, sollten endgültig verschwinden. Dazu ist es nicht gekommen, weil soziale Systeme nicht steuerbar sind, die auf die Bündelung von Macht verzichten. Die einzige Bedingung, die unsere Verfassung aber schon 1949 und nicht erst 1968 etabliert hat, lautet: ungeeignete Politiker müssen abgewählt werden können.
In allen Ländern, in denen die Ideen der 68er Fuß fassen konnten, haben sie sich am Ende durchgesetzt. Im früheren Ostblock hat das länger gedauert, auch in den USA gab es unter Reagan und Bush langwierige Rückwärtsbewegungen, aber heute gehen die meisten Menschen – auch solche mit konservativer Einstellung – ganz selbstverständlich davon aus, dass Ideen auf den Tisch gehören, dass sie diskutiert werden müssen und dass jede Art von Macht lernen muss, sich infrage stellen zu lassen. Dazu gehört nicht nur der Bereich der Politik und der Kultur, auch die Religionen sind unmittelbar davon betroffen: die weltweite Zuneigung zu den Ideen des Dalai Lama und der nicht-missionierenden Religionen (vor allem: des Buddhismus) lässt sich nur durch deren Verzicht auf Machtpositionen erklären.
Diese Art des Denkens ist historisch betrachtet ganz und gar nicht neu: die Aufklärung hat sie geschaffen, aber sie musste sich über Hunderte von Jahren politisch und kulturell durchsetzen.
7. Recht im Chaos
Die Verfassung besteht ihre Bewährungsprobe, einige Richter sind verwirrt, andere bleiben hart und die Anwälte versuchen mit der Situation zurechtzukommen.
7.1. Die Anwälte in den 68ern
In der Arbeit der Anwälte bemerkte man den Bruch mit der Vergangenheit sehr früh77. Bevor ich 1970 das erste Mal ein Anwaltsbüro betrat, hatte ich keine blasse Vorstellung davon, was Anwälte für Leute sind.
Selbstverständlich konnte man damals im Studium kein Bild davon gewinnen, denn es gab keine Praktika, keine anwaltlichen Lehrbeauftragten und es gab überhaupt sehr wenige Anwälte: 1973, als wir in München unser Büro gründeten, gab es in ganz Deutschland circa 28.000, heute sind es 150.000. Man kann daraus einen ganz einfachen Schluss ziehen: bevor die 68er Unruhe in die Szene brachten, haben die meisten Leute über ihre Konflikte geschwiegen, sie haben es ebenso schweigend hingenommen, wenn sie kein Recht bekamen, sie haben sich nicht beschwert und schon gar nicht geklagt. Für mich war die Angst vor den Gerichten ganz selbstverständlich und schon im Studium habe ich mich bei der Lektüre von Gerichtsurteilen darüber gewundert, dass es immer wieder einzelne gab, die die seltsamsten Prozesse führten. Mir wäre es nicht im Traum eingefallen, eine Verfassungsbeschwerde zu erheben, weil der Amtsrichter bei der Klage über einen defekten Toaströster offenbar nicht richtig zugehört hatte. Wäre ich selbst nicht Anwalt geworden, hätte sich daran auch nichts geändert.
7.2. Die Regeln der Macht78
Aber dann gab 1964 es ein Schlüsselerlebnis, das mir eine andere Sicht auf die Dinge verschaffte.
Ich hatte seit jeher eine uralte Angst vor Polizisten und Uniformen. Diese Furcht wurde gelegentlich manifest, wenn ich Polizisten auf der Straße sah und sie verschwand seltsamerweise während der Bundeswehrzeit nicht einmal, als ich selbst Uniform trug und Vorgesetzter wurde: Ich war schon Fahnenjunker, als mir ein Waffen-Stuffz (Stabsunteroffizier) von bemerkenswert schlechtem Charakter für 200 DM seine Vespa verkaufte, mit der ich fröhlich pfeifend von Koblenz nach Düsseldorf zu fahren versuchte. Etwa auf der Höhe des Kannenbäcker-Landes fiel dem Krüppel der Auspuff ab, er soff Benzin, ich musste alle 40 km tanken und mir mit einer Hand ein Ohr zuhalten, weil die Kiste röhrte wie ein alter Trecker. An der Stadtgrenze zu Düsseldorf hielt ein Streifenpolizist mich an (der sicher einen niedrigeren Rang hatte als ich) und ich schlotterte wie ein Wahnsinniger, als er mich zwang, meine Personalien anzugeben, mir 40 DM Strafe wegen des Lärms aufbrummte und mir – weil ich in Uniform war – gleich mitteilte, er werde meine Einheit benachrichtigen.
Mit wankenden Knien habe ich das Wrack nachhause geschoben, seitdem nie mehr benutzt und monatelang auf die Nachricht an meinen Kompaniechef gewartet, die nie kam. Meine Hauptsorge war, ich würde degradiert oder jedenfalls nicht zum Offizier befördert und das hätte gravierende finanzielle Konsequenzen gehabt.
Hätte ich mich mit dem Wehrstrafrecht vertraut gemacht oder mich auch nur erkundigt, wäre mir sofort klar geworden, dass diese Furcht unberechtigt war. Wenn ich in besoffenem Zustand die Frau des Hauptmanns vergewaltigt hätte – dann ja! Aber diese unglaubliche Angst vor jeder Autorität, die unsere Eltern ständig ausstrahlten und uns vermittelten, diese ständige Gewissheit: Morgen wirst du erschlagen, wenn du dich nicht anpasst!
Gegen Ende des Studiums und ganz sicher beeinflusst von den politischen Ereignissen seit 1967 begann ich, mich für die Grundrechte und damit für das Verfassungsrecht zu interessieren. Die Diskussion um die Demonstrationsfreiheit und ihre Einschränkungen hatte auch die juristischen Fakultäten erreicht und die Überreaktionen der Polizei wurden in Gerichtsverfahren kritisiert. Damals war es selbstverständlich, dass die Grundrechte in Schulen, Universitäten, der Bundeswehr, bei den Beamten und den Gefangenen als »besondere Gewaltverhältnisse«, nur einen eingeschränkten Schutz der Grundrechte zuließen und gerichtlich nur sehr begrenzt nachprüfbar waren. Heute wird das ganz anders gesehen und der Wechsel dieser Perspektiven war nur möglich, weil man endlich begann, den Beitrag der Grundrechte zu einer allgemeinen politischen Kultur der Diskussion und einer Bewegung der Gedanken zu sehen und nicht – wie früher – nur als Schutzrechte gegenüber autoritären Eingriffen zu interpretieren.
Für mich war es selbstverständlich, dass jeder Polizist jeden Bürger jederzeit auf der Straße anhalten, nach seinen Personalien befragen und ihm Weisungen geben könne. Unsere Eltern und Großeltern hatten es nicht anders erfahren und uns die Furcht davor weitergegeben. Es ist ein seltsamer Zusammenhang zwischen dieser Furcht, die für Juden und Oppositionelle im Nazi-Reich ganz realistisch gewesen wäre. Sie hat aber offenbar das schweigende Bürgertum genauso ergriffen. Sie waren wie versteinert und wir, ihre Kinder, versteinerten vorsichtshalber auch zwanzig Jahre später noch.
Nun lernte ich im Polizeirecht, dass meine Vermutung völlig falsch gewesen war: jeder Polizist musste einen konkreten Anlass haben und seine Maßnahmen mussten sich entsprechend dem Übermaßverbot an Art und Umfang seines Verdachts orientieren. Außerdem konnte sein gesamtes Verhalten gerichtlich überprüft werden. Als ich einige Fälle las, die sich mit solchen Situationen beschäftigten, fiel mir die Szene auf der Autobahn nach Düsseldorf ein. Es war ja Gott sei Dank nichts daraus geworden, aber nun stellte ich zu meiner Erleichterung fest, dass auch nichts daraus hätte werden können. »Das sind also die Regeln der Macht«, sagte ich mir und war fest entschlossen, zu lernen, wie sie funktionieren.
Aus den vielen Urteilen, die ich gelesen hatte, war mir eines klar geworden: es waren Anwälte, die die Klagen erhoben, die Rechtsmittel einlegten und strategische Ideen entwickelten, Professoren dachten nur über interessante Rechtsfragen nach. Staatsanwälte machten, was der Justizminister ihnen sagte und die Richter konnten nur über das entscheiden, was Anwälte ihnen als Problem vorlegten. Anwälte waren es, die das Recht wirklich durchsetzten. Ich wollte wissen, wie das ging.
Das lernte ich in den ersten Tagen nach dem Ersten Staatsexamen (1969), als ich bei Sieghart Ott anfing: vor mir die Akten und das Telefon, die Stimme der Mandanten, die Gewissheit, die Dinge in Bewegung zu bringen und zu halten, das Selbstbewusstsein, das dir auf diese Weise zuwächst – all das waren neue und faszinierende Erlebnisse, die auch in den unscheinbarsten Formen (ein Gespräch mit einem Staatsanwalt, ein Besuch im Gefängnis, der Schutz durch die Robe ect.) einen Einblick in die Regeln der Macht gestatteten. Wer sie verstanden hatte, konnte jeden Machtmissbrauch verhindern und mit gutem Gewissen alle Ideen und Handlungen verteidigen, die sich im Rahmen der Verfassung und der Gesetze bewegten. Auf diese Weise hoffte ich, meine Furcht vor der Autorität loszuwerden, denn Anwälte haben jeden Tag mit Autorität und Macht zu tun: Entweder arbeiten sie für solche Institutionen oder sie rennen gegen sie an. Anwälte arbeiten wirklich ganz anders als Ärzte, Architekten, Steuerberater oder die anderen Berufe, mit denen sie oft in einem Atemzug genannt werden: immer schlägt ihnen Widerspruch entgegen (nicht zuletzt von den eigenen Mandanten), ihre Arbeitsergebnisse werden am gleichen Tage wertlos, an dem sie einen Erfolg (und mehr noch: einen Misserfolg) erzielt haben und tiefes Wissen nützt oft weniger als die flüchtigste Taktik. Für all diese Schwierigkeiten werden wir allerdings in hohem Maße entschädigt: uns sagt niemand, was wir tun sollen, wir leisten keine entfremdete Arbeit.
7.3. Demonstrationen
Genau so wollte ich arbeiten und dazu gab es bald Gelegenheit. Schon 1962 hatte es in München die »Schwabinger Krawalle« gegeben, bei denen über mehrere Tage hinweg fast 40.000 Studenten und Jugendliche aus nichtigem Anlass von berittener Polizei zusammengeschlagen wurden, darunter auch mein älterer Bruder, wie die meisten Mediziner ein ganz und gar unpolitischer Mensch. Polizei und Justiz hatten vollkommen überreagiert, mit Sicherheit ihre Kompetenzen überschritten und damit die Gesetze gebrochen. Die Justiz ignorierte das auf beschämende Weise auch bei künftigen Demonstrationsverfahren. 1969 befasste ich mich als Rechtsreferendar mit Verfahren des Landfriedensbruchs etc. Ott hatte zum Versammlungsrecht einen Kommentar geschrieben (den Hartmut Wächtler bis heute übernommen hat) und führte eine Reihe von Rechtsmittelprozessen für Demonstranten, die sich an den bayerischen Landtag gekettet hatten: es waren teilweise drakonische Strafen verhängt worden, die wir versuchten, in den höheren Instanzen zu korrigieren. Etwa zur gleichen Zeit wurde Rolf Pohle, Sohn eines bekannten Professors und damals Asta-Vorsitzender unter fragwürdigen Beweisen wegen der Oster-Demonstrationen zu 17 Monaten ohne Bewährung verurteilt, was ihm jede berufliche Entwicklungsmöglichkeit versperrte. Nach massiver Kritik an diesem Urteil merkte die Politik, dass sie es übertrieben hatte, denn er wurde später amnestiert und musste diese Strafe nicht antreten. Der Prozess hat ihn aber ins Abseits der RAF getrieben, aus dem er sich selbst nie mehr befreien konnte.
1967 standen wir beide am Flipper im »Bungalow« (Türkenstraße) nebeneinander – er als Rechtsreferendar, ich als Jurastudent – und versuchten mit anderen Anwälten und Studenten wie etwa Hartmut Wächtler danach, was man prozessual oder auf der Ebene der Gesetzgebung tun konnte, um die Überreaktionen der Justiz in den Griff zu bekommen.
Einer von denen saß auch im Rollstuhl und wenn er pinkeln musste, trug in einer auf die Toilette. Man begann, Behinderte zu integrieren. Und danach gab es in einer nahen gelegenen Wohnung eines Anwalts gelegentlich noch Marx – und Engels Interpretationen zweier philosophisch ausgebildeter Brüder, von denen einer blind war und deshalb den ganzen Marx wirklich im Kopf hatte.
Tatsächlich haben wir dreißig Jahre gebraucht, bis das Bundesverfassungsgericht endlich abschließend entschied79, dass einfache Sitzdemonstrationen keine Gewalt darstellen. Der lange Weg dahin hat viele Schicksale zerstört80.
Wir alle haben stets innerhalb des Systems gearbeitet, andere haben die Unterwanderstiefel angezogen, weil ihnen das alles zu lange gedauert hat.
7.4. Fairness
Warum habe ich selbst und die meisten meiner Freunde uns nicht an dieser Revolte beteiligt, an keiner Demonstration teilgenommen, sondern nur als Anwälte (oft erfolglos) versucht, dafür zu sorgen, dass die Akteure rechtlich fair behandelt wurden?
Meine persönliche Antwort ist:
- zum einen hat mich die völlig überzogene Hysterie dieser Revolte ungeheuer gestört, die dem gerade erst gefestigten Staatsgebilde von vornherein jede Entwicklung zu einem funktionierenden Rechtsstaat absprach,
- zum anderen habe ich die übrig gebliebenen Nazis, auf die der Hass sich vor allem richtete, zu keinem Zeitpunkt für Leute mit politischem Einfluss gehalten, auch wenn ich erschreckt war, später zu hören, wie fragwürdig sich Leute wie Larenz, Forsthoff und Maunz verhalten hatten.
- außerdem war mir von Anfang an klar, dass der Staat sich gegen diese Handvoll Leute schon aus gekränktem Stolz spätestens nach dem Mord an Hanns Martin Schleyer unendlich aufrüsten würde. Ich kannte auch einige mehr oder weniger harmlose Sympathisanten, die RAF-Leuten Unterschlupf gewährt haben, aber die habe ich für verirrte Schafe gehalten.
Die Wut des Bürgertums (und natürlich auch der Arbeiterschaft) auf die 68er war mir schon damals verständlich, denn ich hatte die Aufbauleistung unmittelbar nach dem Krieg bewusst wahrgenommen. Wir wohnten in der Bahnhofsgegend in Düsseldorf, die durch die Bomben schwer zerstört worden war. Mein Vater (Architekt) hatte den ausgebrannten Dachstuhl notdürftig hergestellt, aber wir spielten Indianer in den Trümmern zusammengebrochener Häuser, die unmittelbar daneben lagen. Wo einzelne Häuser nicht zerbombt waren, wie zum Beispiel in der Graf-Adolf-Straße, besetzte sie der Britische Offiziersclub oder ähnliche Einrichtungen. Schon 1960 aber strahlte die Königsallee in glanzvollen Fassaden, die meisten hatten einen Volkswagen, ein Radio von Grundig und selbst Heinrich Böll trug statt seiner geflickten Soldatenlumpen nun einen »beigen Übergangs-Mantel« (vermutlich von Quelle).
Niemand hat verstanden, warum zwanzig Jahre nach Kriegsende diese ganze Aufbauarbeit angegriffen wurde – und zwar von den eigenen Kindern! Dabei hätten die Leute sich leicht ausrechnen können, dass sie selbst es waren, die sich zwanzig Jahre nach dem Ersten Weltkrieg gleich in den zweiten gestürzt und die aufkeimende Aufbauarbeit der Weimarer Republik vernichtet hatten. Damit waren die Aktivitäten der 68er wirklich nicht vergleichbar, auch wenn ich ein paar Übertreibungen kritisch sah.
7.5. Grenzgänger
Der Grund, warum ich die Situation so ganz anders beurteilte als zum Beispiel die Anwälte Horst Mahler, Hans-Christian Ströbele und Otto Schily scheint mir heute auf der Hand zu liegen: Diese drei hätten in den Trümmern von Düsseldorf mit uns nicht mehr gespielt, denn noch der jüngste von ihnen hatte – anders als wir – noch Häuser gesehen, die nicht von den Bomben zerstört waren, während wir nichts anderes kannten und uns sogar beschwerten, wenn die Abrissbirnen ankündigten, dass es wieder Neubauten gab.
Sie gehörten zu einer anderen Generation. Hans-Christian Ströbele (1939) war Rechtsreferendar bei Horst Mahler gewesen, dessen Radikalität er gewiss nicht teilte, aber austeilen konnte er trotzdem. Ströbele erzählt, er sei von seiner Schulzeit bis heute ein »absoluter Gerechtigkeitsfanatiker«. Sobald er einen Gerichtssaal betrat, sah er nur Klassenjustiz und wurde 1982 vom Landgericht Berlin (vielleicht zu Unrecht) wegen Unterstützung einer kriminellen Vereinigung verurteilt. Er zeigt auch heute noch gelegentlich Züge, die uns nur wenige Jahre Jüngeren merkwürdig vorkommen. Wir sehen Leute wie ihn eher in der Gefahr eines moralischen Rigorismus, der dazu neigt, seine eigenen Maßstäbe zu verabsolutieren.
Otto Schily (1932) weinte im Bundestag, als ihn die Erinnerung an seinen älteren Bruder übermannte, der im Krieg schwer verwundet wurde. Er sah die Situation gewiss differenzierter, aber er führte eine unerbittliche Konfliktverteidigung , die wenig Flexibilität zeigte und vermutlich auch nicht zeigen durfte: jedenfalls hat er sich nie kritisch der Frage gestellt, ob seine Mandanten ihn und seine bürgerlichen Attitüden (er verteidigte grundsätzlich im Anzug mit Weste und Krawatte) am Ende nicht doch für den Zweck missbrauchten, aus dem Gerichtssaal eine politische Bühne zu machen, für die er nicht eingerichtet ist: man kann froh sein, wenn die Richter sich nach bestem Wissen und Gewissen um ihre Unabhängigkeit bemühen81.
Schily hat allerdings eine spektakuläre Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts gegen den Entzug der Verteidigerrechte erstritten82, die auf seltsame Weise bis heute nachwirkt: das Gericht hatte kritisiert, dass die gesetzlichen Grundlagen für einen Ausschluss von Verteidigern fehlten, und das Parlament hat tatsächlich über 30 Jahre gebraucht, um das zu Wege zu bringen, was die damalige Regierung gern gewollt hätte: erst im Juli 2009 ist es dem Parlament gelungen, mit einer Neufassung der Paragraphen 138 ff StPO endlich Formen zu finden, wie man jeden Verteidiger aus dem Gerichtssaal entfernen kann, wenn man nur will. Ob dieser Versuch verfassungsrechtlich standhalten wird, wissen wir vielleicht in ein paar Jahren.
Schilys viele Jahre später als Innenminister entwickelte harte Linie wird von vielen als stille Selbstkritik an seinem früheren Verhalten verstanden.
Über Horst Mahler (1936) in einem Satz zu sprechen ist unmöglich, denn in ihm finden wir die gesamte Bandbreite der Wirrnis der letzten 200 Jahre abgebildet. Er erzählt uns, seine Liebe zu Hegel (also zu dessen Fähigkeit und Neigung dialektisch und ideologisch zu denken!) sei dadurch entstanden, dass Otto Schily ihm dessen 20-bändiges Gesamtwerk ins Gefängnis gebracht habe. Da hat er dann jahrelang gesessen und gelesen und am Ende verstanden, dass Sozialisten und Nationalisten letztlich nichts anderes sind als Thesen und Antithesen. Die logische Synthese konnte nur der Nationalsozialismus sein. Er betont ständig, seine politischen Ansichten hätten sich zwischen den Trainingscamp der Palästinenser und den Aufmärschen der Neonazis nie geändert. Ich glaube, damit hat er recht. Carl Jacob Burckhardt hat diesen Typ beschrieben, den wir in allen Umbruchzeiten immer wieder vor uns sehen von St. Just und Robbespierre bis zu Lenin und Trotzki: »fanatisch wahrheitsliebend befand er sich immer jenseits von jeder tatsächlichen Wahrheit der Umstände«.
Klaus Croissant (1931), Wahlverteidiger Andreas Baaders und Testamentsvollstrecker von Ulrike Meinhof (angesichts der Verfeindung beider Mandanten eine offenkundige Interessenkollision) trat ähnlich wie Horst Mahler erst der RAF bei, ging dafür 1977 ins Gefängnis und startete gleich danach 1981 eine Karriere beim Staatssicherheitsdienst der DDR.
Siegfried Haag (1944) und Eberhard Becker gehörten beide zur RAF, Haag wurde 1979 wegen Beihilfe zum Mord vom OLG Stuttgart verurteilt.
Warum? Wozu? Verwirrende Schicksale!
Ich habe meine Arbeit als Anwalt anders aufgefasst. Mir war auch ohne vertiefte Analyse klar, dass die außerparlamentarische Opposition in ihren vielfältigen Formen und Gruppierungen eine Reihe sehr berechtigte Anliegen hatte. Und selbstverständlich hätte ich Andreas Baader und Gudrun Enßlin verteidigt, wenn kein anderer diesen Job hätte machen wollen. Aber ebenso selbst verständlich hätte keiner von ihnen mit mir auch nur ein Wort gewechselt, denn sie wollten den Prozess als politische Bühne sehen und nicht als das, was er tatsächlich ist: ein vereinbartes Verfahren, in dem die Gesellschaft versucht, Konflikte ohne offene Gewalt zu lösen.
Allerdings hat mich genau wie sie der Schaum vor dem Mund mancher Leute (in München vor allem: Franz-Josef Strauß) gestört, die wahllos auf allen (also auch auf uns) herunter prügelten, die die 68er nicht in Grund und Boden verdammten.
Bei Ott hatte ich häufig damit zu tun, Schriftsteller und Karikaturisten zu verteidigen, die Strauß beleidigt haben sollten, nachdem er sie zum Beispiel 1978 als »Schmeißfliegen und Ratten « etc. beschimpft hatte. Auf der Gegenseite tauchten immer Ossman & Kreiner auf, die auf Beleidigungen gegen CSU-Politiker (Oberländer, Strauß etc.) spezialisiert waren. Seinen Freund Dr. Friedrich »Old Schwurhand« Zimmermann, Partner der großen Sozietät Oehl Nörr Stiefenhofer wollte Strauß mit solchen Petitessen nicht behelligen. Auch wir selbst wurden nicht nur von der Presse angegriffen. Anwälte sind die Vertreter ihrer Mandanten und ziehen daher den Zorn der Gegner stellvertretend immer auch (und manchmal ausschließlich) auf sich selbst. Mit dem Zorn angegriffener Politiker mussten wir also rechnen. Aber auch andere Anwälte, die es wirklich besser wissen mussten, haben uns nicht fair behandelt. Viele Leute bedenken nicht, dass sie den Goodwill der Anwälte in schwierigen Situationen brauchen und daher lernen müssen, sie zu respektieren.
Ich habe es in allen diesen Verfahren immer abgelehnt, den Prozess als Forum für politische Demonstrationen zu gebrauchen, weil ich darin einen direkten Angriff gegen die Gewaltenteilung sah: das Parlament muss man im Parlament bekämpfen, aber nicht vor den Gerichten. Wenn aber Gerichte ihre Unabhängigkeit verlieren, dann ist es Sache der Parlamente, einzugreifen und solche Entwicklungen zu korrigieren, denn die Verwaltung darf hier nicht eingreifen! Kurt Tucholsky hatte Grund genug, die Klassenjustiz in der Weimarer Republik an den Pranger zu stellen. Diese Justiz gab es aber nach 1948 nicht mehr, auch wenn der eine oder andere Richter offensichtliche Fehlentscheidung getroffen hat – das ist in jedem Rechtssystem83 unvermeidlich.
7.6. Doppelmakler in der DDR
Während die Anwälte im Westen in den 68ern auf Messers Schneide arbeiteten, blieb es in der DDR still. Auch dort gab es etwa 600 Rechtsanwälte, so dass 28.333 DDR-Bürger sich einen Anwalt teilen mussten. Im Westen waren es 1350 Einwohner pro Anwalt. Eine geringere Anwaltszahl hatte im ganzen Ostblock nur noch Nordkorea – gleichzeitig das Schlusslicht auf der ganzen Welt. Schon diese Zahlen lassen vermuten, dass unter dem Begriff »Rechtsanwalt« in der DDR und in Nordkorea etwas anderes verstanden wurde als im Rest der Welt.
Der Kern des Anwaltsberufs besteht weltweit darin, die rechtmäßigen Interessen eines Mandanten ausschließlich aus dessen Perspektive zu sehen und in absoluter Verschwiegenheit und Unabhängigkeit gegenüber Dritten mit rechtlichen Mitteln durchzusetzen.
Diese Aussage hat in den unterschiedlichsten Rechtsystemen, in denen sie abstrakte Gültigkeit hat, jeweils einen ganz unterschiedlichen Inhalt. Das beginnt schon bei der Frage, was ein »rechtmäßiges Interesse« ist. Sind es etwa allgemein gültige Menschenrechte (wie wir im Westen fordern) oder ist der Begriff »rechtmäßig« im Einzelfall von dem abhängig, was die jeweilige Rechtsordnung offiziell zulässt? Es gibt zum Beispiel Rechtsysteme, die eine Konfliktverteidigung, also ein unbedingtes Ausnutzen aller formalen Möglichkeiten für die Verteidigung nicht zulassen. Unter diesen Umständen kann sie also auch nicht geführt werden. Aus diesen und anderen Fragen ergibt sich eine Fülle von Problemen. So vor allem die Frage, ob »Rechtsanwalt« jeder ist, dem man diese Bezeichnung verleiht, oder ob es inhaltliche Anforderungen an den Beruf gibt.
Darüber ist auch international schon oft debattiert worden, aber in einem Punkt gibt es eine große Übereinstimmung: niemand kann sich zu Recht als »Rechtsanwalt« bezeichnen, wenn er das, was sein Mandant ihm offenbart, nicht unter allen Umständen vertraulich behandelt, denn sonst kann er nicht der Stellvertreter seines Mandanten sein. Das Vertrauen, das ihm geschenkt wird, weil er – anders als der Staatsanwalt – an der Freiheit der Gedanken seines Mandanten teilnimmt, darf er unter keinen Umständen missbrauchen.
Schon die Erfüllung dieser Pflicht ist in manchen Ländern und Zeiten lebensgefährlich. Während des Dritten Reiches traf es Anwälte wie Hans Litten, heute trifft es in Russland Stanislaw Markelow.
Ernst Thälmann Denkmal, Berlin.
Es mag in den Anfangsjahren der DDR-Anwälte gegeben haben, die ihren Beruf in diesem klassischen Sinn verstehen konnten. Aber nach dem Bau der Mauer 1961 und der Einführung der Anwaltskollektive war jedem Anwalt im Ostblock klar, dass bereits seine Zulassung zum exklusiven Kreis der Anwälte die Verpflichtung enthielt, sich mit dem Staat nicht anzulegen. Jeder wusste, dass eine unbedingte Interessenvertretung nur in einem Rechtssystem möglich gewesen wäre, dass diese Arbeit schützt und zulässt. Davon konnte in der DDR wie in wohl allen sozialistischen Staaten und vielen Diktaturen in der westlichen Hemisphäre keine Rede sein. Mit dieser Feststellung ist keinesfalls gesagt, dass Anwälte in demokratisch verfassten Ländern sich an die oben skizzierten Grundregeln gehalten haben. Das Problem liegt ausschließlich im Begriff »Rechtsanwalt«, hinter dem ein bestimmtes Modell steht, das in Diktaturen nicht eingelöst werden kann.
Anwälte waren in der DDR keine unabhängigen Interessenvertreter, sondern Diplomaten oder Doppelmakler, die einen Weg finden mussten, die Interessen des Mandanten so darzustellen, dass der Staat sie für seine eigenen hielt. Ihre Aufgabe bestand darin, den Mandanten zu erläutern, wie die Machtsysteme arrangiert waren, unter welchen Bedingungen man Gnade vor Recht ergehen lässt, wie sie sich verhalten sollten, um nicht das Missfallen der Funktionäre zu erregen und so weiter. Am besten hat das bei dem Freikauf der Gefangenen durch Wolfgang Vogel funktioniert. In diesem Fall ist besonders deutlich, warum man einen Mann mit dem Titel »Anwalt« eingeschaltet hat anstatt eines offiziellen Verwaltungsbeamten oder Diplomaten. Daran hatten beide Seiten ein Interesse: in der DDR gab es offiziell keinen »Häftlingsfreikauf«, es handelte sich aus ihrer Perspektive um eine humanitäre Aktion, bei der die Bundesrepublik die DDR für den Aufwand der Ausbildung und den entgangenen Gewinn der Arbeit eines Häftlings bezahlte, die er künftig in der Bundesrepublik leisten würde. Wenn man die Verhandlung über Art und Umfang der Entschädigung einem Anwalt übertrug, konnte man offiziell immer behaupten, die Regierung habe sich nicht daran beteiligt, sondern nur ein Angebot der Anwälte der Bundesrepublik entgegengenommen.
Die Bundesrepublik wollte ebenfalls nicht offiziell beteiligt sein. Beim Verwaltungshandeln hätte sie wohl den Gleichheitssatz anwenden müssen und nicht im Einzelfall nach Opportunität entscheiden dürfen. Gleichzeitig konnte sie durch Einschaltung von Anwälten der DDR helfen, ihr Gesicht zu wahren (eine Kernaufgabe der Diplomatie). Die meisten Leute, die mit einem DDR-Anwalt in diesem Zusammenhang Kontakt hatten, haben ihn als Kenner der inneren Machtverhältnisse der DDR bezahlt, er sollte nicht für eine Gerechtigkeit streiten, die niemand erwartet hat.
Außerhalb solcher besonderen Aufgaben wurden Anwälte zwar hier und da gebraucht, um ein paar bürgerlich-rechtliche Probleme zu lösen, vor allem bei Ehescheidungen oder Todesfällen et cetera. Das Arbeitsrecht beschränkte sich auf betriebliche Moderationsgespräche. Öffentliches Recht in einem, auch nur in Ansätzen mit unseren Begriffen vergleichbaren Sinn war unbekannt: wie hätte der Staat es dulden können, dass von ihm unabhängige Gerichte gegen ihn und die Partei auftraten, die immer recht hatte? Als Strafverteidiger haben die Anwälte ihren Mandanten erklärt, wie man sich korrekt bei Gericht verhält. Das emotional so wichtige »Letzte Wort« wurde regelmäßig schon vom Anwalt vorzensiert, damit weder die Staatsanwaltschaft noch das Gericht sich ärgern mussten. Wie bei uns gab es auch in der DDR den »Geständnisrabatt«, der aber teilweise mit absurden Strafdrohungen erzwungen wurde. Von einer Konfliktverteidigung mit dem Ziel des Freispruchs habe ich noch in keinem Fall gehört und sie wäre wahrscheinlich auch sinnlos gewesen. Als der Theologiestudent Matthias Storck84 nach seiner Verhaftung zitternd sagte: »Ich spreche nur über meinen Anwalt«, löste das erhebliches Gelächter aus. So einer hatte »zu viele amerikanische Filme gesehen«!
Es mag sein, dass Anwälte, die sich in dieser Weise einschränken ließen, noch als rechtmäßige Interessenvertreter angesehen werden konnten. Eine ganze Reihe von ihnen hat jedoch darüber hinaus die Verschwiegenheit gebrochen und staatlichen Behörden über die Verteidigungsstrategie, die Gedanken und Gefühle ihrer Mandanten berichtet und sie zum Teil mit weiterem Beweismaterial ans Messer geliefert. Ein solches Verhalten hat nichts mit der Anpassung an das System zu tun, es bedeutet Verrat. Anwälte, denen das nachgewiesen werden konnte, haben nach der Wiedervereinigung keine Zulassung mehr erhalten85.
Unter nichts hat Matthias Storck mehr gelitten als unter der Zusammenarbeit seiner Anwälte mit dem Staat und dem Verrat von Pfarrern, die seiner eigenen Kirche angehörten.
Der bekannteste Anwalt in der DDR, Gregor Gysi wurde häufig beschuldigt, auch noch Informeller Mitarbeiter (IM) des Staatssicherheitsdienstes gewesen zu sein. Er hat das mit einer Begründung abgestritten, die seine anwaltlichen Qualitäten auf den ersten Blick beweist: seine Kontakte zu Regierungsstellen seien seit jeher besser gewesen als die des Staatssicherheitsdienstes, der eher an ihn hätte berichten müssen als umgekehrt. Sein Vater Klaus Gysi war seit 1963 Mitglied des Politbüros des ZK der SED und danach ebenso wie seine Mutter in einer Vielzahl anderer politischer Ämter tätig, er selbst seit 1988 (also schon mit 40 Jahren) Vorsitzender aller Anwaltskollegien der DDR. Er hat sich als Diplomat betrachtet, nicht als jemand, der sich für Einzelinteressen mit dem Staat hätte herumschlagen sollen.
Abgesehen von einigen besonders naiven Leuten haben die Mandanten in der DDR von ihren »Anwälten« auch nichts anderes erwartet. Die DDR-Anwälte berufen sich deshalb zu Recht darauf, dass man in diesem Staat von ihnen nur eine die Leistung eines Diplomaten, nicht die eines Kämpfers für rechtliche Interessen erwarten konnte. Aber auch als Diplomat muss man wenigstens Respekt vor der Seite haben, für die man auftritt. Manche Berichte über DDR-Anwälte lassen davon nichts erkennen. Es war nicht Aufgabe von Dr. Wolfgang Vogel, seinen Mandanten zu erklären, sie dürften über den Freikauf nichts berichten, wenn sie nicht ihre Mithäftlinge, die noch in den Gefängnissen schmorten, gefährden wollten. Diese und vergleichbare Aufgaben hätte er ruhig dem Staatsanwalt überlassen dürfen. Ich weiß: einer muss es ja machen, aber es gibt auch Unterschiede darin, wie man es macht. Und außerdem hat er wahrscheinlich zu viel an diesen Maklergeschäften verdient.
Als wir 1990 unsere Zweigniederlassung in Weimar und später in Berlin eröffneten, habe ich einige DDR-Kollegen kennen gelernt. Die meisten haben mit großem Selbstbewusstsein so getan, als sei der Inhalt ihres Berufs von jeher der gleiche gewesen. Diese Verdrängung und teilweise auch Verlogenheit ist nach solch großen Systembrüchen gewiss unvermeidlich. Und man muss umgekehrt sagen: die im Westen tätigen Richter, Anwälte und sonstigen Juristen haben an die Arbeit der Rechtsorgane in der DDR zuweilen sehr provozierend eigene Maßstäbe angelegt, die man dort einfach nicht erwarten konnte.86 Und sie haben sehr früh ein Verfassungsverständnis vorausgesetzt, dass sich auch bei uns erst entwickelt hat, nachdem die 68er gründlich aufgeräumt hatten.
7.7. Der Beginn des Überwachungs-Staates
Wenn man eine Vorstellung davon gewinnen will, wie gefährlich es im Kaiserreich war, sich mit den Mächtigen anzulegen, muss man nur einen Blick in den Kladderadatsch oder den Simplicissimus werfen. Beide Zeitschriften sind in Text und Bild noch heute unterhaltsam und nur die Titanic hat einige Jahre lang in der Ägide Wächter/Gernhard/Poth ihre Qualität erreichen können. Im Simplicissimus waren Majestätsbeleidigungen an der Tagesordnung, dafür gab es ein paar Tage, Wochen oder vielleicht auch wenige Monate Gefängnis und die saß der »Sitzredakteur« ab, ein meistens bejahrter Kollege, der die presserechtliche Verantwortung für die Frechheiten übernahm, die die anderen sich leisteten.
In der Weimarer Republik waren die Politiker erheblich wehrloser als das frühere Herrscherhaus. Sie mussten Kritik und Beleidigungen hinnehmen und konnten sich oft nicht wirksam dagegen wehren. Auf dieses kurzlebige Interregnum folgte die Diktatur, die jeden, der eine abweichende Meinung hatte, schlagen oder erschlagen ließ.
Das war aber nicht das Schlimmste! Ab 1933 erlaubten die technischen Mittel erstmals das Abhören von Personen, man konnte Fahndungsfotos machen und archivieren, der Geheimdienst wurde professionell, die Polizei verlor die sichtbare Grenze zur Armee, die schon im Bürgerkrieg gefallen war, denn mit polizeilichen Mitteln allein konnte man weder die Kommunisten noch die Nazis in Schach halten. Gleichzeitig wurden die Rechte der Anwälte radikal beschnitten und sie als Stellvertreter ihrer Mandanten aktiv verfolgt. Nicht nur Hans Litten wurde im KZ so misshandelt, dass er sich dort umbrachte, auch andere Anwälte, die Regimegegner verteidigten, wurden selbst als solche behandelt.
Noch bevor die Bundesrepublik 1949 entstand, haben vor allem die Amerikaner den Rechtsstaat wieder zum Leben erweckt. Auch wenn man die völkerrechtliche Grundlage der Nürnberger Prozesse bezweifeln kann, so sind doch die verfahrensrechtlichen Grundsätze eines Rechtsstaates überwiegend eingehalten worden. Der spätere Bundespräsident Richard von Weizsäcker verteidigte als junger Anwalt dort seinen Vater (früher hätte man ihn in Sippenhaft genommen) und neben ihm stand das frühere Mitglied der NSDAP Alfred Seidl, der neben Rudolf Hess und Hans Frank eine Vielzahl anderer Regimegrößen vertrat. Er war nicht der einzige Anwalt, der dem früheren Regime gedient hatte und trotzdem hat man ihn in seinen Rechten nicht beschnitten. Dazu gehört es zum Beispiel, dass sie ihre Mandanten im Gefängnis treffen können, ohne dabei unmittelbar überwacht zu werden – jedenfalls gilt das in Deutschland, in den USA und vielen anderen Ländern gibt es erhebliche Einschränkungen.
Bis zu den RAF-Prozessen hat sich das nicht geändert. Obwohl auch jetzt die Mehrzahl der Anwälte im Großen und Ganzen darauf achtete, den Prozess nicht zur politischen Bühne zu machen und das Vertrauen der Allgemeinheit in sie nicht zu zerstören, haben einige – wie oben skizziert – diese Grenzen überschritten. Und das hat gereicht, um das Bild in wenigen Jahren völlig zu ändern.
Es dauerte nämlich nicht lange, bis bei einigen Gefangenen und außerhalb der Gefängnisse Briefe entdeckt wurden, die nach Ansicht der Gerichte und Staatsanwälte nur von Anwälten hatten transportiert werden können. In einigen Fällen (Siegfried Haag) wurde das bewiesen, in vielen anderen aber nicht.
Der Verdacht allein aber hat ausgereicht, um allen anderen Anwälten schon in den siebziger Jahren zu zeigen, was heute für uns ganz normale Realität ist: die totale Überwachung!
In Stadelheim, dem Münchner Zentralgefängnis, sind wir Anwälte bis in die Siebzigerjahre hinein von den Wachtmeistern respektvoll behandelt worden.
Dann aber fingen sie an, unsere Aktenkoffer zu durchsuchen, wir mussten wirklich und wahrhaftig die Hosen herunterlassen, einige Verteidiger wurden in den Zellen abgehört und vieles mehr. Man hat uns nicht mehr als Teil des Rechtssystems, sondern als seine Gegner gesehen. Über allem schwebte der Geist des Gründers der Tscheka Felix Dzierzynski: »Schuldig seid ihr alle, wir haben euch nur noch nicht erwischt«!
Ich war davon so angewidert, dass ich damals ein paar Tage damit verbrachte, eine »Podiumsdiskussion« auf Band zu sprechen, in der die Verteidiger-Überwachung als neueste Manifestation des Rechtsstaates gepriesen wurde – ein großer Lacherfolg, bei dem einem aber auch die Tränen kommen konnten. Das war der erste »literarische« Text, den ich geschrieben habe.
Die Revolte hatte uns also auch einen Rückfall in die Zeit unserer Eltern und Großeltern gebracht und manchmal sehnt man sich nach den »unpolitischen« Kinderjahren nach dem Krieg. Sie haben uns nämlich bewiesen, dass die Deutschen sich nicht erneut in einem Bürgerkrieg zerfleischen mussten und klaglos auch die Lasten der Wiedervereinigung getragen haben. Dazu haben die politischen Rahmenbedingungen – vor allem der Verzicht auf Reparationen und die Integration in den Westen ebenso beigetragen wie eine Verfassung, die aus ihren ersten Fehlversuchen gelernt hatte. Sogar die Blockbildung des Kalten Krieges hat zu diesem guten Ergebnis ihren Teil beigesteuert. Was an rechtsstaatlicher Qualität machbar ist, wissen wir vor allem dann, wenn wir gelegentlich das rechtsstaatliche Niveau anderer ebenfalls »zivilisierter« Länder zu sehen bekommen.
Jetzt allerdings hat der Terror aus den islamistischen Staaten eine Lage geschaffen, die erheblich gefährlicher ist als die Situation zu Zeiten der RAF. Jetzt gibt es wirklich eine weltweite Bedrohung und der Blick zurück zeigt uns, dass es darauf nur eine Antwort gibt: Neue Sicherheitsgesetzen, die jeden von uns zum Verbrecher stempeln. Diese Anti-Terror-Gesetze können praktisch nur realisiert werden, wenn der Staat sich auf computergestützte Techniken verlässt, deren Nutzen und Gefahren jedem vertraut sind, der sich mit dem Recht der Informationstechnologie beschäftigt. Um nur die wichtigsten zu nennen:
- der Große Lauschangriff87
- das Luftsicherheitsgesetz88
- die Rasterfahndung89
- die automatisierte Erfassung der Autokennzeichen90
- die Online -Durchsuchung91 und zuletzt:
- das BKA-Gesetz92
Andere Sicherheitsgesetze, die schon heute vielfältig angewendet werden und deren Berechtigung niemand in Zweifel zieht wie etwa die Passagierkontrollen an den Flughäfen schaffen so grundlegenden emotionalen Ärger, dass nur noch Exhibitionisten, die sich gern vor aller Augen entkleiden, am Fliegen ihre Freude haben können. Und wenn man die Kontrolleure ironisch darauf hinweist, man habe das letzte Mal im Knast seinen Gürtel abgeben müssen, ist man schneller wieder dort, als man sich gedacht hat.
Sicherheitsgesetze sollen den Rechtsstaat schützen wie die Netze den Artisten in der Zirkuskuppel. Dafür brauchen sie Flexibilität und müssen notwendig lückenhaft sein. Statt uns an diesem Bild zu orientieren, gießen wir uns einen Betonboden in dem vollen Bewusstsein, dass es absolute Sicherheit nicht gibt: wir könnten neben jeden einzelnen einen Leibwächter stellen und hätten immer noch das Restrisiko, dass gerade er uns eines Tages umbringt – an Motiven wird es ihm nicht fehlen!
Stattdessen erzeugen wir nichts als eine Scheinsicherheit, die in den nächsten gefährlichen Situationen entlarvt werden wird, an der auch der Rechtsstaat sich vielleicht den Hals bricht.
8. Nachwehen
Was aus all dem geworden ist und warum wir erstaunt auf unsere Kinder und deren Kinder sehen.
Die Aufarbeitung der 68er beschäftigt uns nun schon fast zwanzig Jahre. Prozesse und Begnadigungen werden diskutiert, im Fall Buback gibt es Nachermittlungen, und viele von uns – darunter auch einige RAF-Leute – beantragen ihre Renten. In der Bundesregierung übernehmen die ersten unserer Kinder Ministerposten. Wenn sie auf ihr Land blicken, werden sie sich Gedanken über ihre eigenen Kinder machen und überlegen, was da wohl auf sie zukommt.
8.1. Der Kampf der Straßenguerilla geht nicht weiter
Der radikale Flügel, also die Leute der RAF haben ihren Kampf offensichtlich verloren. Ihr letzter Versuch, ihre Interessen mit denen der Palästinenser zu verbinden, ist gescheitert. Das geschah aber nur, weil sie völlig den Blick auf die Realität verloren hatten. Gudrun Enßlin war knapp drei Jahre im Untergrund und brachte sich nach fünf Jahren Haft um. »Zieht den Trennungsstrich jede Minute« schrieb sie an ihre Geschwister aus dem Gefängnis, denn das war der einzige Weg, um das Reich der Illusionen nicht verlassen zu müssen: man muss sich einmauern und alle Informationen von außen abwehren, sonst hält man das nicht durch.
Wir finden allerdings rechtslastige Gruppierungen aller Art außerhalb der Parlamente, die vor allem in den neuen Bundesländern wirksam sind. Anders als zur Zeit der 68er, als die KPD verboten war, ist die NPD heute zugelassen. Das kann sich auch so lange nicht ändern, als eine Reihe ihrer Funktionäre gleichzeitig Verfassungsschützer sind. Vielleicht hätte man das in den 68ern mit der RAF genauso machen sollen? Ich kann die Frage offenlassen, denn wer sich heute im rechtsnationalen Sinne innerhalb der Verfassung äußern will, kann das in der NPD jederzeit tun. Welches Verhalten die Grenzen überschreitet, wird man nie generell sagen können, sondern muss es im Einzelfall bestimmen. Wichtig ist nur, dass wir diese Fragen offen diskutieren und diese Leute nicht in den Untergrund treiben.
8.2. Die fünfte Welle
Zwei Weltkriege und zwei kleinere Revolutionen, insgesamt also vier Wellen haben wir nun überstanden, aber seit einigen Jahren rollt die fünfte Welle auf uns zu – diesmal aus den arabischen Ländern. Viele von uns stören sich an der Langeweile der Politik, regen sich aber gleichzeitig auf, wenn sie durch die Sicherheitskontrollen an den Flughäfen müssen. Diesmal sind es nicht unsere Revolutionäre, sondern die jungen Araber, die nur auf unserem Boden Gelegenheit finden, ihre Konflikte auszutragen, denn der Angriff gegen die eigenen Autoritäten ist ihnen zu riskant. Gunnar Heinsohn93 führt das auf den ersten Blick sehr überzeugend und mit viel statistischem Material untermauert darauf zurück, dass es in den arabischen Ländern unverhältnismäßig viele Jugendliche gibt, die von ihren Vätern und Großvätern dominiert werden. Die und die älteren verstehen es geschickt, diese Revolte nach außen zu lenken. Heinsohns These ist – wie auch andere seiner Veröffentlichungen – mit dem Hinweis auf die Mehrdeutigkeit von Statistiken angegriffen worden. Zudem ließ sich zeigen, dass in einzelnen Nationen der Überhang von Jugendlichen nicht zu Gewalt geführt hat. Auf jeden Fall liegt es im Fall der islamischen Länder sehr nahe anzunehmen, dass es nicht die religiösen Elemente sind, die hinter der Gewaltbereitschaft stecken.
Auch wenn wir die Gründe derzeit nicht genau kennen: die Brandherde im Vorderen Orient sind unverkennbar. So müssen wir mit Sicherheitsgesetzen reagieren: man muss am Flughafen den Gürtel abgeben, wie seinerzeit in Stadelheim, wenn man das Gefängnis betreten wollte. Und das sind fast noch die harmloseren Folgen. Viel drückender ist die umfassende Datenermittlungen und die Datenspeicherung, gegen die die Datenschutzgesetze und das vom Bundesverfassungsgericht stets beschworene Recht auf informationelle Selbstbestimmung keinerlei Wirkung zu haben scheint94.
Bei der Wahl zwischen Sicherheit und Freiheit wählen die meisten von uns die Sicherheit. Konrad Adenauer gewann mit dem Slogan »Keine Experimente« seine Wahlen, und in der DDR war es unter dem dort herrschenden politischen Druck verständlicherweise nicht anders – auch im Westen hätten wir uns unter ähnlichen Bedingungen genau so verhalten. Deshalb sind die Vorwürfe gegen eine Regierung, die sich nach dieser Regel richtet, sehr fragwürdig: wer sich an der Spitze des Staates gegen die Sicherheit entschieden, die in der Regel ja nur der Versuch einer Absicherung sein kann, müsste schon beim ersten Fall eines gelungenen Angriffs (wenn nicht schon viel früher) damit rechnen, gestürzt zu werden. Es ist immer eine individuelle Entscheidung, der Freiheit die Priorität vor anderen Werten einzuräumen, als Modell der politischen Führung ist diese Haltung nicht geeignet. Wie alle politischen Konflikte zum Beispiel im Bereich der sozialen Absicherung oder des Datenschutzes uns zeigen, bewegen wir uns immer auf das Ziel hin, Risiken zu vermeiden oder endgültig zu eliminieren.
Geschäftsstelle CDU-OST Berlin.
Aber man darf es auch nicht übertreiben. Aldous Huxley hat schon 1932 in seinem Roman Schöne neue Welt gezeigt, welche Szenarien sich entwickeln werden, wenn das politische Ziel einer absoluten Sicherheit einmal erreicht ist. Er meinte, bis dahin würde es wohl noch 600 Jahre dauern, aber schon Anfang der Sechzigerjahre korrigierte er sich und verkürzte seine Prognose auf die nächsten 100 Jahre. Wenn das Leben dann nicht mehr wild und gefährlich ist, hat es alles eingebüßt, was uns von den Steinen unterscheidet.
Dem Staat gegenüber sind wir gläserne Menschen und haben allenfalls die Chance, den Staat unter bestimmten Umständen an der Verwendung dieses Wissens rechtlich zu hindern, solange die Rechtssysteme funktionieren. In Ausnahmezuständen werden sie ausnahmslos versagen. Art. 20 Abs. 4 Grundgesetz) ein Recht auf Widerstand verbriefen zulassen, zeigt diese Naivität: man will wenigstens den Segen der Verfassung, wenn man sich in Grenzfällen gegen die Willkür des Staates wehren muss, als ob Rechtsysteme einschließlich der Verfassung dann überhaupt noch irgendwelche Wirkungen entfalten könnten. Sie wird ja – wie die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts täglich zeigen – von der Regierung ebenso täglich gebrochen.
So teilen unsere Kinder am Ende doch das Schicksal der früheren Generationen: Ihre Großeltern haben in zwei Weltkriegen in jeder Hinsicht wild und gefährlich gelebt, in den 15 Jahren zwischen 1967 und 1982 haben wir noch einmal Krieg gespielt und heute wird es für sie aus ganz anderen Gründen wieder ernst.
Man muss sich nur die alten Fotos aus dem Kaiserreich, der Weimarer Republik, der Hitlerzeit bis zur Nachkriegszeit ansehen und auf die Ausrüstung der normalen Polizisten achten: bis zum Schah-Besuch in Berlin tragen sie einfache Gummiknüppel und Tschakos, laufen in schweren, aber noch sehr zivil wirkenden Wollmänteln herum und wissen sich offenbar in vielen Situationen nicht recht zu helfen. Danach wurde die Polizei in mehreren Wellen nicht nur bei uns, sondern weltweit so ausgerüstet, wie Starwars uns das im Kino gezeigt hat. Es fehlen nur noch die Laserschwerter.
Und hinter diesen Kulissen laufen Sicherheitsapparate, von denen wir mit absoluter Sicherheit keine realistische Vorstellung haben. In den Zeitungen wird viel darüber geredet, aber wer als Anwalt gelegentlich die Möglichkeit hat, hinter die Kulissen zu blicken, weiß, dass die Datenschutz-Skandale nichts weiter als ein laues Lüftchen gegenüber der Realität sind. Die Sicherheitsgesetze, die die Terroranschläge der islamischen Welt uns eingebracht haben, übersteigen heute all das, was die Rote-Armee-Fraktion (RAF) mit ihrer Taktik geschafft hat. Ob wir das mit Rechtsmitteln auch nur annähernd in den Griff bekommen, ist zu bezweifeln. Hier sind die Risiken, die unsere Kinder zu tragen haben, größer als wir sie aushalten mussten.
8.3. Familien, Kommunen, Vaterland
Die 68er waren sich unabhängig von ihrer politischen Ausrichtung in einem Punkt einig: der Anpassungsdruck aus den Familien, die nahtlose Hierarchie vom Staat bis hinunter zu den Schulen und die verhängnisvolle Parole »Deutschland, Deutschland über alles« waren Relikte einer alten Zeit, die offensichtlich gescheitert war. Also hat man versucht, die Familien, den Staat und das Vaterland abzuschaffen.
Diese Bilder haben viele ermutigt, auch selbst Experimente auf dem Feld der Liebe zu versuchen und gegen die verhärteten Familienstrukturen mit anderen Modellen (vor allem: den Wohngemeinschaften) anzurennen.
Alle diese Modelle sind ebenso gescheitert wie die Kibbuzbewegung in Israel, die nur für die Generation funktioniert haben, die sie entwickelten – schon ihre Kinder haben sie abgelehnt. Man kann das mit der einfachen Formel erklären »Blut ist dicker als Wasser«, aber ein genauer Blick in die biologische, psychologische und soziologische Forschung würde uns zeigen, dass Familienstrukturen für unser Überleben tatsächlich bisher unverzichtbar sind. Claude Levi Strauss hat z. B. darauf hingewiesen, dass ein Mann eine Frau nur über einen anderen Mann bekommen kann, in der Regel seinen Schwiegervater und/oder andere männliche Verwandte. Er muss diese Hürde zwar nehmen, gewinnt dadurch aber eine Menge Beziehungen zur »Gegenseite«. Die romantische Liebe hingegen will auf die einsame Insel flüchten, ohne zu bedenken, dass es dort keine anderen sozialen Kontakte gibt. Sie ist asozial und hat ihre Freude daran. In den Kommunen wurden deshalb meist die Türen ausgehängt!
Der Versuch, den Staat abzuschaffen, haben seit der Antike schon viele unternommen. Die 68er haben uns gezeigt, dass man sich weitere Versuche sparen kann. Der Staat ist in seinen zentralen Funktionen nichts anderes als ein Instrument zur Verteilung der Macht und Macht kann man grundsätzlich nie abschaffen. Sie bleibt auch dann bestehen, wenn man sie für beseitigt erklärt: derjenige, der die Macht dazu hat, schafft sie in derselben Sekunde wieder neu! Und was noch schlimmer ist: in solchen Phasen versteckt sie sich in einem Schattenreich, das politisch sehr gefährlich ist.
Aber der Staat hat auch eine emotionale Seite – das Vaterland oder – wie Adolf Hitler es häufig nannte: das Mutterland. Gustav Heinemann pflegte auf die Frage, ob er sein Vaterland liebe, stereotyp zu sagen: »Ich liebe meine Frau« und erst die deutsche Einheit hat uns in aller Deutlichkeit vor Augen geführt, dass jenseits aller wirtschaftlichen Logik tiefe Gefühle für das Land da sind, indem wir gemeinsam leben. Die Gründe dafür sind vielfältig: unsere frühesten Erinnerungen sind Gerüche, die hängen oft auch mit dem Essen zusammen, dann folgt die Sprache, die Musik, die Landschaft, alle möglichen Erfahrungen positiver wie negativer Art und dieses ganze Material wird in derselben Sekunde als »innen« erlebt, indem man bei Überschreitung einer beliebigen Grenze ein anderes »außen« erlebt. An der Erfahrung dieser Kontraste kommt niemand vorbei. Und das geht jedem von uns so – weltweit. Wir vermissen in Japan die Leberwurst und die Japaner bei uns den frischen Essiggeruch, an dem man ein gutes Sushi-Restaurant sofort erkennt. Gegen die Liebe zum Vaterland kann man sich nicht wehren. Das zeigen uns die Bilder der Leute, die sich bei großen Sportveranstaltungen ihre Nationalhymne anhören. Nicht nur sie, sondern auch wir müssen weinen, auch wenn es uns dabei kalt über den Rücken läuft, weil wir wissen, wie politisch gefährlich, unpassend oder kitschig solche Gefühle sein können. Man kann sie Gefühle nicht deshalb leugnen, weil sie immer wieder missbraucht worden sind. Selbst intellektuelle Dekonstruktionen, wie etwa Christian Krachts »Faserland« (2002) sind nur denkbar auf dem Hintergrund der Zuneigung zur eigenen Sprache, zur Kultur und zu den Menschen, die sie jeden Tag immer wieder nutzen und genießen.
8.4. The Winner Takes It All
Unsere Kinder und vor allem unsere Enkelkinder können die Risiken ihrer Zeit vielleicht leichter bewältigen, weil sie auf ganz andere Art gefördert werden, als uns das beschieden war.
Aus der heutigen Perspektive können sie sich den Gruppendruck, dem ihre Großeltern und deren Eltern durch das Militär (die Schule der Nation), die Schulzeit, die Studenten – oder Gewerkschaftsbewegungen, die verschiedenen Bünde, Parteien usw. täglich ausgesetzt waren, nur schwer vorstellen.
Die beiden Weltkriege waren die offenkundige Antwort darauf: in jeder Gruppe verändert sich die Aggressionsschwelle, die ein einzelner sonst für sich definiert. In der Gruppe kann er leicht zum Mörder werden. Andererseits darf man nicht vergessen: Gruppen haben nicht nur negative Seiten, sie vermitteln positive soziale Gefühle, sie sind für bestimmte Leistungen ganz unersetzlich, sie machen uns zu sozialen Wesen und sind für unsere psychische Gesundheit unverzichtbar.
Vielen unserer Kinder fehlt das Interesse an Gruppen und oft sind sie geradezu autistisch auf ihre individuellen Bedürfnisse fixiert – the winner takes it all. Sie können sich das leisten, denn vieles, was man früher nur gemeinsam erreichen konnte, steht heute jedem zur Verfügung – vor allem die elterliche Wohnung: wer seinen Eltern heftig widersprechen darf, während er seine Füße unter ihren Tisch steckt und nebenbei auch noch etwas Ordentliches zu essen bekommt, kommt gern nachhause. Und bleibt da vom BAföG bis zur Frührente. Oder vielleicht ist es demnächst attraktiver, die alten Eltern zuhause zu pflegen? Für uns wäre allein der Gedanke daran schon ein Horrorszenario gewesen, auf das der Sozialstaat mit seiner Pflegeversicherung freundlicherweise rechtzeitig reagiert hat – jetzt hat der Staat die Probleme. Vermutlich waren genügend 68er in den Entscheidungsgremien zugange.
Was immer unsere Kinder und Enkelkinder bewegt, wird jugendgerecht aufgearbeitet, zum Beispiel in der BRAVO, die uns mit größter Sicherheit verboten worden wäre, denn wir durften nicht einmal Comic Zeichnungen ansehen (geschweige denn Tom Mix). In allen Zeitungen wurde mit ihnen freimütig diskutiert (sie schreiben die Jugendzeitungen selbst!), sie lernen, wie man Kondome über Penisattrappen zieht und werden aktiv aufgefordert, sie zu benutzen (bei uns galt bereits der Anblick von Bananen als versuchte Unzucht!).
Es gibt die Mitverwaltung der Schüler, die schon wählen dürfen, bevor sie die Schule verlassen, und politische Themen werden in unzähligen Talkshows immer und immer wieder durchgearbeitet und aus allen Perspektiven so oft beleuchtet, dass es von der Polschmelze bis zur Militärdiktatur in Burma (oder Birma oder Myanmar, was immer gerade politisch korrekt sein mag) nichts Unbekanntes unter der Sonne gibt, was man nicht auch noch über SMS oder Twitter austauschen könnte.
Gegen all das ist gar nichts zu sagen, im Gegenteil: Unsere Kinder haben genau das erreicht, was sie ohne uns, die 68er, gewiss nicht bekommen hätten und so geht der weltweit wirksame älteste Traum aller Eltern in Erfüllung – den Kindern geht es besser als ihnen. Und genau deshalb sind wir auch neidisch auf sie! Denn für uns gab es genauso wie für unsere Eltern und Großeltern nur das große Hindernisrennen, bei dem die meisten auf die Schnauze geflogen sind. Ehrlich gestanden: die Jugend meiner Kinder hätte ich gerne gehabt, sie hätten auch gern meine Eltern sein können und wer weiß, ob dann nicht doch etwas Rechtes aus mir geworden wäre. Nur: ob sie sich in dieser Rolle selbst wohl gefühlt hätten?
Sie treffen nämlich auf Probleme, die gerade daraus herrühren, dass jeder von ihnen seine Ziele auch einzeln erreichen kann, ohne sich irgendwelchen Gruppen anzuschließen oder anzupassen. Wer das freiwillig oder aus einer Position der Stärke heraus tut, kann viel profitieren, wenn jemand aber allein bleibt, weil er von den anderen abgelehnt wird und so die Sozialisation misslingt, kann das extreme Folgen haben. Wir kennen diese Bilder aus den zwanziger Jahren: mit dem gleichen Blick, mit dem unsere Kinder heute die schöne neue Welt betrachten, die wir für sie eingerichtet haben, müssen unsere Eltern auf die Welt des Kaiserreichs und die Anpassungszwänge geblickt haben, die die Staatsform, die Industrialisierung und der Standesdünkel erzwungen haben. All das hat den herrschenden Klassen genützt und wir, die liberalen, sozial denkenden Demokraten werden von diesen Kindern genauso gehasst, weil sie mit dieser Freiheit nichts Rechtes anfangen können.
Das zeigen uns gerade in jüngster Zeit die Fälle, in denen Schüler zu Attentätern werden. Wenn man nach solchen Taten wie üblich die Kinderzimmer durchsucht, findet man »Herz – und – Schmerz – Lyrik«, Klagen über die Einsamkeit und die Boshaftigkeit der Welt, wie wir sie aus der romantischen Literatur kennen, als ein Einzelgänger wie Heinrich von Kleist zu dem Ergebnis kam, ihm könne auf Erden nicht geholfen werden. Vielleicht hätte er heute die Schlachten, die er auf der Bühne gezeigt hat, in Video-Games oder sogar in der Wirklichkeit ausgelebt.
Ganz anders liegen die Fälle, in denen Jugendliche aus Unterschicht-Familien in der U-Bahn die Leute tottreten. Der spektakuläre Mord im September 2009 in München ist keineswegs ein Einzelfall. Eine Welle von Berichten, die sonst nicht in die Zeitung gelangen, wurde durch dieses Ereignis hochgespült und zeigt, dass die innere Sicherheit keinesfalls so groß ist, wie wir das gern behaupten. Anders als in jenen Fällen, in denen verirrter Einzelgänger Unheil anrichten, liegt es hier zum großen Teil in unserer Hand, ob wir das Problem in den Griff bekommen.
Frühere Generationen haben solche Fälle ganz einfach gelöst: man steckte solche Einzelgänger in die Armee, die Schule der Nation, wenn das nichts half in irgendwelche Arbeitslager, trieb sie zum Selbstmord oder räumte sie auf andere Weise weg, damit sie den harmonischen Gesamteindruck nicht stören konnten. Diese Zeiten sind seit den 68ern vorbei und unser Entsetzen kommt in erster Linie aus der Erkenntnis, dass auch die größte denkbare Toleranz (die oft genug auch Gleichgültigkeit ist) nicht ausreicht, um solche Einzelgänger von ihren Angriffen abzuhalten. Da müssen wir uns etwas anderes einfallen lassen!
Max Stirner (1806-1856) hatte noch vor Nietzsche den Gedanken gewagt, dass der Einzelne allein zum Herrscher seines Selbst berufen sei. Heute könnten unsere Kinder solche Ideen eher realisieren als vor 150 Jahren. Je näher sie aber den Zielen ihrer Selbstverwirklichung kommen, umso mehr müssen sie die Verbindungen zu ihren sozialen Umfeldern opfern. Beides kann man nicht gleichzeitig haben.
Nietzsches Zimmer in Sils Maria.
8.5. Sturzhelm und Sterne-Küche
Als unsere Väter und Großväter in den Schützengräben ihrer selbst gebastelten Kriege lagen, hätte man ihnen wahrscheinlich keine Lebensversicherung verkaufen können: wenn man – versicherungsmathematisch berechnet – jeden Tag tot sein kann, wird die Versicherungsprämie so hoch, dass man sie wahrscheinlich nicht einmal um den Preis seines Lebens hätte bezahlen können. Ich sehne mich keinesfalls zurück nach diesen Zeiten, aber es ist doch auffällig, dass wir uns umso intensiver mit virtuellen Risiken beschäftigen, je mehr uns die realen fehlen, denn die Zahl der Risiken, die man versichern kann, wird jeden Tag höher. Die Reise, das Reisegepäck, das Rücktrittsrisiko, die Brille, den Toaster, die Pflege, das Leben und den Tod – alles kann man versichern und müsste am Ende nur noch für diese Prämien arbeiten. Wir empfinden das Leben als äußerst riskant, obgleich es – verglichen mit früheren Zeiten – in einem Maße abgesichert ist, wie man es nie für möglich gehalten hätte. Zwei Beispiele:
- Die Zahl der Verkehrstoten sinkt jedes Jahr in absoluten Zahlen, obwohl die Zahl unserer Autos immer noch zunimmt und sie immer schneller werden. Sie werden aber auch immer sicherer. Auf dem größten Teil unserer Autobahnen wird die Geschwindigkeit durch individuelle Regelungen begrenzt und trotzdem hört die Diskussion über allgemeine Maßnahmen zur Verkehrssicherung nicht auf.
- Die Luftverschmutzung war bis in die Siebzigerjahre überall sehr hoch, in der DDR aber geradezu unerträglich. Jeder Westberliner konnte das im Winter sehen und musste darunter leiden. Als ich 1990 erstmals nach Weimar kam, waren die Fenster im »Elefanten« von der Braunkohle aus Bitterfeld quittengelb. In wenigen Jahren hat man das beseitigt und große Naturschutzgebiete schaffen können. Jetzt könnte man es für einige Zeit gut sein lassen, aber schon wird der Feinstaub in den Städten so behandelt wie früher die schlimmste Luftverseuchung.
Die Vorschläge, die Welt sicherer zu machen, kann man ohne zeitliche und inhaltliche Begrenzung immer weiter ausweiten. Kein Kind fährt mehr ohne Sturzhelm herum, das Klettern auf Bäume wird verboten, die Seuchen sind – jedenfalls im Westen – ausgerottet95, die Gesundheitsvorsorge treibt uns in den Ruin, obwohl man uns das Rauchen verboten hat (oder vielleicht gerade deshalb?), jetzt kommen die Schweinshaxen dran, die Arbeitszeiten werden immer kürzer, lebensgefährliche Berufe im Bergbau und in den Stahlfabriken sterben aus usw.
Es ist schön, wenn unseren Enkeln und Großenkeln im Herzen Europas demnächst die tatsächlichen Gefahren, die das Leben für die meisten Menschen, die je gelebt haben, immer mit sich gebracht hat, fehlen werden. Monarchien und Diktaturen starben an ihren Kriegen, die moderne Welt erlischt vielleicht an Langeweile, Bürokratie und overprotection. Vermutlich wird der Selbstmord bald das höchste Todesrisiko ausmachen. Botho Strauß findet das nicht toll, aber ich will es keinesfalls kritisieren, denn die anderen Varianten kennen wir ja zur Genüge und sie haben uns nicht gefallen: »Ordnung ist das unwahrscheinliche und daher eine Erscheinungsweise der Kunst«96 Wenn man diesen Satz umkehrt, stimmt er genauso – wie ich oben in meinen Bemerkungen zu Joseph Beuys beschrieben habe, kann man allein daran erkennen, dass es sich wirklich um Kunst handelt!
Und möglicherweise wird es auch für unsere Kinder bald wieder gefährlicher, als ihnen lieb sein kann. Denn außerhalb Europas gibt es all diese Risiken und es mag sein, dass wir derzeit nur die Stille wahrnehmen, bevor der nächste Türkenansturm beginnt. Für uns ist diese Stille angenehm, für unsere Kinder aber äußerst mehrdeutig, da sie vielleicht ihr Ende erleben werden. Und für einige von ihnen ist es schon heute so langweilig, dass sich die mutigen unter ihnen in Sportarten stürzen, die man früher, zu den Zeiten des Krieges, als unsinnig gefährlich angesehen hätte. Ein ungefährliches Leben ist nicht lebenswert, weil es sich damit selbst widerlegt. Das ist leider die Botschaft, die Gottfried Benn und Ernst Jünger uns hinterlassen haben (die beide im Bett gestorben sind) und nun hören wir sie von unseren Enkeln aus der ganz anderen Ecke. Wenn wir sie schon mit Rauchverboten malträtieren, und ihnen die Hasch-Tüten verbieten, die wir selber geraucht haben, wollen sie das wenigstens mit Koma-Saufen ausgleichen, um sich im »braunen Cognac-See« (Carl Zuckmayer) ein bisschen Freiheit zu erträumen.
Da wird aber kein Weg hinführen, wenn sich die Restaurants noch weiterhin dahin entwickeln, wohin sie auf dem besten Wege sind. Da gibt es nur noch zu trinken, aber fast nichts mehr zu essen. Und das wenige wirkt ungeheuer dekadent.
Als ich 1967 in München die ersten Berichte über den bevorstehenden Besuch des persischen Schahs Reza Pahlewi hörte, wurden sie häufig mit wilden Berichten garniert, der Schah-in- Schah esse nicht nur von goldenen Tellern, sondern pflege sich auch gelegentlich Blattgold auf Kaviar und Hammelkeulen zu streuen! Ich habe das lange nicht geglaubt, bis mir dann die »Persische Küche« als Bildband einer Time-Life-Serie in die Hände fiel: da gab es sogar ein Foto von solchen Gerichten und irgendwann trank ich dann auch Danziger Goldwasser mit Leberwurst obendrauf und echtem Gold innen drin (Pillkaller).
Aber ich hätte mir niemals vorstellen können, dass man heutzutage als Weihnachtsgeschenk den Hundekuchen vergoldet oder dass man mir eines Tages in einem deutschen Restaurant – wie kürzlich geschehen – eine mit Goldstaub gepuderte Tomate als amuse gueule (!) präsentieren würde. Als zweiten Gang gab es dann ein 30 Stunden lang im Ofen verbliebenes Stück Rindfleisch, das man mit dem Löffel essen konnte (eine Schale, um während dieser Zeit das Gebiss abzulegen, wurde nicht gereicht) und am Ende war das Beste eine creme brulee, die mein Hausitaliener eigentlich jeden Tag so oder ähnlich auf der Karte hat. Nach diesem »normalen« Nachtisch gab es nie gesehene Besonderheiten als Abschiedsgruss aus der Küche, die wir ebenfalls nicht bezahlen mussten. So bewahrheitet sich auch in den Restaurants jener Satz, den ich einmal über den Sex gehört habe: das Beste im Leben gibt es immer umsonst!
Wann werden wir uns daran erinnern? Wir müssen solche Bilder wachhalten, denn natürlich werden die Preise für all diese luxuriösen Gratisangebote in allem einkalkuliert, was man offen ausgewiesen bezahlen muss. In der DDR konnten die Leute fast gratis wohnen, der Arztbesuch war völlig umsonst (und oft genauso vergeblich wie bei uns) – und das Ende dieser Gratiskultur ist leider allzu bekannt.
8.6. Neue Hakenkreuze, Hassprediger usw.
Kaum haben wir durch die Entwicklung in den 68 er Jahren die ideologischen Gegensätze der Nationalisten und der Sozialisten, die das Lebensthema unsere Eltern waren, wirksam aufgelöst, schon tauchen neue Hakenkreuze und sozialistische Modelle auf. Stehen wir schon wieder vor einem neuen Bürgerkrieg?
Ich habe oben im Detail beschrieben, dass es auf dem Hintergrund der europäischen Geschichte die schwarze Pädagogik, die Autoritätsgläubigkeit und das erzwungene Schweigen gewesen sind, die in zwei großen Wellen zur Vernichtung unseres Landes und weiter Teile Europas geführt haben. Alle diese Faktoren sind auch heute noch hier und da virulent, aber ihr Rückgrat ist gebrochen. Nur deshalb haben wir es geschafft, funktionsfähige politische Strukturen zu schaffen, einen Rechtsstaat zu errichten, der diesen Namen verdient und unsere Stimme in Europa gleichberechtigt zu Gehör zu bringen.
Unser Problem ist ein anderes: die neuen Strukturen sind weicher als die früheren, sie verzichten auf unbegründbaren Zwang, setzen auf Überzeugung und an vielen Stellen fehlt die Führung, die wir aus Angst vor den alten Verhältnissen oft genug infrage gestellt haben. Das ist gerade für junge Leute, problematisch, die sich an klaren Strukturen orientieren müssen. Der Begriff der Führung ist in Deutschland nach den schrecklichen Erfahrungen, die die früheren Generationen damit gemacht haben, insgesamt in Verruf geraten. Wir haben in den Schulen den Kommißton abgeschafft97, unsere Armee besteht aus Bürgern in Uniform, unser Arbeitsrecht schützt jeden gegen die Willkür, aber bei alldem haben wir übersehen, dass vor allem Jugendliche Maßstäbe brauchen, an denen sie sich orientieren können. Die Tatsache, dass man nur ihr Überleben sichert (wozu- fragen sie sich), ist ihnen ganz zurecht nichts wert. Erst wenn geführt wird, können sich Ziele entwickeln, erst dann kann man über Abläufe sprechen, Kontrolle einrichten, Aufgaben verteilen und Kompetenzen definieren usw. an alldem fehlt es im Umgang mit unseren Kindern.
Am besten sieht man das an unserer Migrationspolitik. Wir haben ab 1950 Gastarbeiter ins Land geholt und sehenden Auges zugelassen, dass sie mehr als Gäste sein wollten, weil das auch uns genützt hat. Wir haben ihnen eine attraktive Perspektive bei uns verweigert und so versuchen sie bei uns ihren Staat im Staat errichten und ihn so aufbauen, wie er ihnen vertraut ist. Die türkischen Väter prügeln ihre Söhne, die sehr wohl sehen, dass das nicht mehr in unsere Zeit passt. Weil sie ihre Väter nicht umbringen können, starten sie den Bürgerkrieg gegen alles und jedes auf unseren Straßen, als schrieben wir noch 1920.
Dasselbe gilt für die Neonazis, die sich lieber ihren Miniaturführern unterwerfen, als ohne jede Orientierung auf dem flachen Lande jeden Tag zu warten, bis die Sonne untergeht. In so einer Situation würde ich auch Chef einer Jugendbande werden und »Ausländer raus« brüllen. Allein dadurch steigt schon das Selbstwertgefühl, denn der Mindestertrag, den man dabei erzielt, ist die Angst in den Augen der anderen. Die 68er haben das mit ihren Demonstrationen genauso geschafft. Die Neonazis wissen, dass jedes Hakenkreuz uns das Schaudern in die Glieder treibt und die türkischen Gangster erreichen den gleichen Effekt, wenn sie mit provozierendem Auftreten und Messerstechereien die Stadt wenigstens nachts in ihren Besitz nehmen.
Was Neonazis auf der Straße herumbrüllen, lässt mich vollkommen gleichgültig, denn anders als in der Weimarer Republik hat die Rechte heute kein vergleichbares politisches Programm. Die Nationalsozialisten hatten in den Kommunisten einen klaren Feind vor Augen, der auch von vielen Menschen in der Mitte gefürchtet wurde. Die neue Rechte hetzt gegen die Demokratie, von der aber die meisten glauben, dass wir sie brauchen.
Auf viele rechte Symbole reagieren wir völlig hysterisch, obwohl wir wissen, dass sie nur provokativ genutzt werden. Allein die Vorstellung, wir könnten ähnlich wie unsere Eltern dem gleichen politischen Irrsinn erneut anheimfallen schockiert uns so stark, dass wir die Neonazis viel ernster nehmen, als sie es verdienen.
8.7. Die langweilige Politik
Obwohl uns aus dem internationalen Feld wirklich reale Gefahren bedrohen, ist die politische Landschaft in Deutschland eher langweilig. Von unseren Kindern hat weder die Familie noch die Schule noch irgendjemand jemals eine bestimmte religiöse oder politische Haltung verlangt.
Jedenfalls ist der fehlende Gruppendruck und der Informations-Overkill einer der Gründe für ihre Gleichgültigkeit gegenüber Wahlen: es liegt auf der Hand, dass man mit dem Kreuz auf der Wahlzettel keine Aussagen über die Millionen Probleme treffen kann, mit denen man sich in den letzten vier Jahren beschäftigt hat und jeder weiß, dass auch die Politiker das nicht können.
Solange die Parteien sich auf einer allgemein akzeptierten demokratischen Basis aufhalten, gibt es wohl Meinungen, gibt es auch Konzepte, aber sie werden sich immer ähnlicher, denn die Tagespolitik hat keine andere Aufgabe, als »gute Verwaltung« zu organisieren ("Herrschaft ist im Alltag primär:Verwaltung" wie Max Weber einmal bemerkt hat, (Wirtschaft und Gesellschaft, 1920) und das ist kein Feld, auf dem man politisch spannende Gespräche führen kann. Da die Parteien aber wissen, dass man sich mit ihnen nur dann beschäftigt, wenn sie die großen Systemfragen stellen, tragen sie sie auf großen Plakaten umher und führen Scheingefechte auf den politischen Bühnen, wohl wissend, dass auch das nur Theater ist. Auf einem offiziellen CDU-Plakat zum Bundestagswahlkampf 2009 werden Angela Merkel und Vera Lengsfeld in weit ausgeschnittenen Kleidern gezeigt (»Wir haben mehr zu bieten«). »An einem Tag hatte ich 17 000 Klicks auf meinem Wahl-Blog. Das hätte ich mit einem normalen Straßenwahlkampf nie erreicht.« sagte Vera Lengsfeld dazu, ohne uns zu erklären, was sie ausser ihrem Busen mehr zu bieten hat als die Konkurrenz. Vermutlich dient ihr Arnold Schwarzenegger als blueprint. Geholfen hat es ihr in Kreuzberg gegen den alten Platzhirsch Ströbele natürlich nicht.
Peter Glotz, ein führender SPD-Politiker der 68er, hat trotz seiner Intelligenz diese Zusammenhänge nie richtig verstanden. In seinen Memoiren berichtet er einigermaßen fassungslos, er sei in seiner Bürgersprechstunde immer wieder auf Defizite in der Verwaltung angesprochen worden, unter denen der jeweils bittstellende Bürger litt. Dafür konnte Glotz nun wirklich keine Verantwortung übernehmen, denn in Bayern regierte die CSU bis in die untersten Etagen. Er hätte aber wohl merken können, dass dem Bürger eine Fußgängerampel an einer befahrenen Straße wichtiger ist als die Frage, ob Deutschland am Hindukusch verteidigt werden soll. Ich meine, dass wir da nichts zu suchen haben. Für mich war 1979 die interne Diskussion über einen Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr Anlass genug, als Oberleutnant der Reserve den weiteren Wehrdienst zu verweigern, denn mein Bruder(Stabsarzt der Reserve) hatte nach dem Einmarsch der Sowjets in Afghanistan bereits einen Bereitstellungsbescheid erhalten. Der Gedanke, dort einen Krieg zu führen, erschien mir mit der Grundhaltung unserer Verfassung zu diesen Fragen trotz aller Bündnispflichten nicht vereinbar.
Solange die Politiker sich nicht dafür interessieren, was – wie Helmut Kohl so plastisch gesagt hat – »unten herauskommt«, fehlt das Motiv, sich zur Wahl zu begeben: wer immer »oben« regiert, ändert an der Praxis ganz unten offenbar seit langem nichts mehr.
Nur wenn ein Politiker beginnt, sich willkürlich zu verhalten (wie z.B. George W. Bush) und wenn wirklich die Chance für einen Systemwechsel besteht, gehen die Leute zur Wahl. Aus all diesen Gründen sind unsere Kinder politisch viel zurückhaltender als wir es waren.
Ich selbst habe übrigens niemals ernsthaft erwogen, mich politisch zu engagieren.
Das hatte allerdings überwiegend ästhetische Gründe: in einer Partei, die christliche Werte in ihrem Namen führt, aber nicht auch gelegentlich Franz von Assisi ernst nehmen will, wollte ich nicht sein. In der SPD bin ich als Student zwar Mitglied geworden, aber nie hingegangen, weil ich nicht so recht verstanden habe, was die Partei will und als ich Arbeitgeber wurde, war es damit ohnehin zu Ende. Die FDP wiederum, die ich zusammen mit der SPD für viele Jahre gewählt habe, ist bei mir durch den Rost gefallen, als sie Helmut Schmidt so ungeheuer hinterhältig abserviert hat und zur CDU geflüchtet ist. Man kann sich auf sie nicht verlassen, wie sich zuletzt 2024 gezeigt hat, als sie die Ampel aufkündigte.
Man kann an Politik im Bereich der Tagesaufgaben keine moralischen Maßstäbe anlegen, die außerhalb des common sense liegen, denn Politik braucht breite Ermessensspielräume, um die Systeme zu stabilisieren. Nur in den Extremfällen braucht man eine Rückbesinnung auf die ganz grundlegenden ethischen Regeln, über die die Politiker allzu selten nachdenken. Das ist der tiefere Grund für die Großen Koalitionen in Deutschland und in Österreich, die sich nur unter ungewöhnlichen Umständen ändern werden, die wir uns vielleicht nicht wünschen sollten.
Aus all diesen Gründen beschwere ich mich nicht darüber, dass die Politik langweilig ist und nur aus einer nicht enden wollenden Serie lauwarme Kompromisse besteht. Auch die Wahlmüdigkeit erschreckt mich nicht, denn sie ist eine offenkundige Reaktion darauf, dass sich bei Wahlen auf mittlere Sicht nichts Wesentliches ändern wird. Der Grund dafür liegt auf der Hand: die meisten Parteien haben begriffen, dass der Staat gut funktioniert, wenn er gut verwaltet wird, und führen keine ideologischen Kriege um die Frage, ob die Renten nun um 3,50 € oder 3,75 € erhöht werden können oder eingefroren werden müssen. Das ist eine realistische Reaktion, an der auch der Versuch der Linken, den Sozialismus wieder einzuführen, scheitern wird:
Jeder, der in den Staat integriert ist, befindet sich in einem unendlichen Netz von gegenseitigen Abhängigkeiten. Falls wir überhaupt frei entscheiden können (was ich hier einfachheitshalber unterstelle), ist doch jeder unserer Schritte und Entscheidungen von Bedingungen abhängig, die andere Menschen setzen, die wir kennen und die wir auch dann, wenn wir sie nicht akzeptieren, in irgendeine Gesamtrechnung einstellen.
So ergibt sich ein zwar sehr komplexes, aber doch wirksames Geflecht, in dem immer wieder einer oder mehrere abwechselnd die Führung übernehmen, ein System, in dem Macht gebildet und Ohnmacht erlitten wird usw. Heute verstehen wir, dass »Arbeit« in erster Linie die Einbindung in dieses System bedeutet und – anders als die Gewerkschaften meinen – nur sehr indirekt mit der Bezahlung oder der Freizeit verbunden ist, die man dafür erhält. Ein arbeitsloser Jugendlicher steht außerhalb dieses Systems, findet aber in den überreichen Verhältnissen, in denen wir uns befinden, recht bald die Rolle, die die Gesellschaft ihm verweigert. Als Chef einer Straßengang in Kreuzberg genießt er ein höheres Ansehen als jeder Polizist oder der zuständige Bürgermeister und wenn er sich ein paar unanständige Nebenverdienste verschafft, verdient er auch mehr.
Ich frage mich manchmal, welches Szenario unsere Sozialpolitik im Auge hat, wenn sie den jungen Leuten die Empfehlung gibt, sich einmal im Monat Geld vom Staat abzuholen und die Gesellschaft im Übrigen mit ihrer Anwesenheit nicht weiter zu belästigen. Erst jetzt kommt mir die Idee, ich hätte doch als Student vielleicht auch Anspruch auf Sozialhilfe gehabt, denn ich hatte kein Einkommen und mangels Ausbildung hätte mich auch keiner haben wollen. Da wäre ich dann fröhlich pfeifend jeden Morgen ausgeschlafen an die Universität gegangen, anstatt in der Nachtschicht Taxi zu fahren. Vermutlich hätte ich niemals Examen machen müssen. Ein philosophisches, ein fürstliches Leben! Es gibt im Dickicht unserer Städte viele Parallelwelten, von denen wir nicht den Hauch einer Ahnung haben. Auch ich hätte vielleicht eine von ihnen entdeckt, in denen so viele Jugendliche sich eingerichtet haben. Rainer Langhans (1940) hat sie gefunden. Er hat schon vor vielen Jahren ein paar Leute überredet, ihn als Schauspieler wirken zu lassen, was ihn zur Sozialhilfe berechtigt, wenn er nicht dreht – und das dauert schon ziemlich lange. Jetzt, in den moderneren Zeiten hat er seine Webseite, arbeitet für RTL und sonstige Medien, hat seine Autobiografie geschrieben – seine Welt besteht daraus, der Welt zu erzählen, dass er nicht ihr Teil ist.
Notfalls findet man seine Welt im Strafvollzug, denn auch da kann man heute – sogar mit seinen Freunden – wild und gefährlich leben.
Ich habe noch die alten Zeiten des gnadenlosen Strafvollzugs erlebt. Als Strafverteidiger habe ich einmal für einen Mann einen Wiederaufnahmeantrag gestellt, der mit Anfang 20 halb betrunken eine Prostituierte in der Kälte ausgesetzt hatte und dafür vor 15 Jahren die unverständlich hohe Strafe »lebenslänglich« bekommen hatte. Der Richter, der das verbrochen hatte, brachte sich einige Jahre später um, als ihm zweimal der Führerschein entzogen und dadurch bekannt wurde, dass er jahrelang auch im Dienst pausenlos besoffen war. (Auch seine Drogenurteile waren hart an der Grenze des Wahnsinns). In Landsberg war der Verurteilte Leiter der Bibliothek geworden, nachdem er richtig lesen und schreiben gelernt hatte. Dort trat er mir als früh ergrauter Intellektueller entgegen. Es war ein Jammer, seinen Antrag scheitern zu sehen, auch das nachfolgende Gnadengesuch wurde abgebügelt wie das in Bayern so üblich ist. »Ein gutes Pferd läuft unter dem Schatten der Peitsche«, wie ein russisches Sprichwort sagt. Diesen Mann hätte man nicht prügeln müssen. Man hätte ihn mindestens so behandeln sollen wie Christian Klar, den man begnadigt hat, obgleich er über seine Rolle bei dem Attentat gegen Siegfried Buback nichts sagen wollte.
8.8. Warum die 68er am Ende doch gewonnen haben
Die Ideen der 68er, willkürliche Hierarchien abzulehnen und die Mauern des Schweigens zu zerschlagen, hatten leicht nachvollziehbare historische und psychologische Gründe. Hinter ihnen steckt aber – wie vor allem die internationale Reichweite zeigt – die Suche nach einem tieferen Mythos, nach einer »totalen und globalen Antwort« (Claude Levi-Strauss): es war die Frage nach der Machtverteilung zwischen den Generationen.
Die 68er haben diese Frage auf allen Feldern zu ihren Gunsten entschieden. Sie sind in viele Sackgassen gelaufen, aber alle haben etwas dabei gelernt. Wie man an den Grünen wohl am besten sieht, konnten sie in den meisten Fällen wieder zurückfinden, Kompromisse schließen und realistische Lösungen finden98. Durch solche Lernprozesse ist uns allen klar geworden, wie nutzlos der Streit um die Systeme gewesen ist, den unsere Eltern und Großeltern in blutigen Kämpfen geführt haben. Es sind niemals die Systeme, die handeln, es sind immer die einzelnen Menschen. Sie können sich aber im Einzelfall nur so verhalten, wie die Rahmenbedingungen, unter denen sie ihre Entscheidungen treffen müssen, es ihnen gestatten, sie können nur die Werkzeuge benutzen, die ihnen in der jeweiligen Situation zur Verfügung stehen99.So haben sich einzelne Ideen der 68er aus ihren Irrtümern verändert und in die Realität hinein entwickelt.
Die größten Erfolge sind die Abschaffung der schwarzen Pädagogik und die Gleichberechtigung der Frauen. Beide stehen als Grundideen schon im Grundgesetz, aber Wirklichkeit wurden sie erst in den 68ern. Aus der Idee des Umweltschutzes sind die Grünen entstanden. Die Diskreditierung der Homosexualität oder anderer sexueller Formen und Orientierungen ist verschwunden und wird in Paraden gefeiert. Man kann ohne Krawatte sogar in die Oper gehen (in Berlin ist das sogar Pflicht!), und die Meinungsfreiheit hat einen hohen Stand erreicht (mit Ausnahme seltsamer Blüten der politischen Korrektheit).
In der Welt des Rechts kann man beobachten, wie die klassische prozessuale Auseinandersetzung zu Gunsten neuer Verhandlungskonzepte100
zurückgedrängt und in einigen Bereichen (Familienrecht/Arbeitsrecht) teilweise durch Mediationen ersetzt wird. Das zentrale Handwerkszeug all dieser Konzepte ist einfach: zuhören und mit dem Kopf des Gegners denken lernen!
Am wichtigsten aber sind zwei Entwicklungen, die sich durch die ganze Landschaft ziehen und die man nicht an einem bestimmten Begriff festmachen kann:
- Es gibt in Deutschland nirgendwo mehr Über-und Unterordnungsverhältnisse, die man nicht auf ihre Rechtmäßigkeit hin überprüfen kann: alle Autoritäten müssen begründen, warum sie Autoritäten sein wollen, die besonderen Gewaltverhältnisse sind beseitigt.
- Man kann keine Diskussion mehr unterdrücken, alle politischen und privaten Verhältnisse müssen sich Kritik gefallen lassen, Denkverbote sind verboten.
Es ist unendlich viel erreicht worden, wenn auch um den Preis, dass unsere Kinder von den Freiheiten schonungslos Gebrauch machen, die wir für sie erkämpft haben – ohne dass besonders anzuerkennen. So ist das offenbar zwischen allen Generationen.
8.9. Alles ist kompliziert
Ich habe in früheren Kapiteln ganz bewusst eine Vielzahl von Tatsachen und Meinungen durcheinandergeworfen, weil man so am einfachsten zeigen kann, wie ungeheuer komplex unsere Wirklichkeit heute ist. Sie war es schon früher, wir nehmen diese Komplexität aber heute deshalb war, weil die unendliche Vielfalt der Kommunikationsmittel sie uns ständig vor Augen führt. Zar Nikolaus II. hätte spätestens nach dem Blutsonntag 1905 die Fehler seines Regimes erkennen und sie ändern können.
Auch für die 68er lag es auf der Hand, dass man – wie Adorno gesagt hat – kein richtiges Leben im falschen führen kann. Aber heute diskutieren wir nicht nur über vergangene Fehler, wir denken aktiv an die Zukunft, kümmern uns um den Klimaschutz und die Umwelt, obgleich Fehler, die wir dabei begehen, uns selbst gar nicht mehr betreffen werden.
Dadurch entsteht ein Ausmaß an Komplexität, das weder ein einzelner noch eine Gruppe beherrschen kann. Es gibt eine Vielzahl mathematischer Formeln, mit denen man Komplexität ausdrücken kann. Eine sehr einfache ist folgende, wobei n die Zahl der Faktoren abbildet:
Wirken also zum Beispiel 100 Faktoren auf ein bestimmtes Ereignis ein, dann entstehen dadurch 4950 einzelne Varianten, die man daraufhin untersuchen müsste, wie sie sich auf das Ereignis auswirken. Andererseits wissen wir, dass wir bei unserem Tagesentscheidungen (zum Beispiel beim Vergleich von Produkten) selten mehr als 2-3 Faktoren in Erwägung ziehen, bei komplizierten Entscheidung vielleicht 7-10. Weltmeister im Schach sollen bis zu sechs Züge vorausberechnen können, aber solche Eigenschaften hat kaum einer von uns. Selbst wenn uns Computer bei der Aufbereitung der Zahlen helfen, bleibt die Zahl der denkbaren Alternativen immer noch gewaltig. Anscheinend stoßen aber auch Computer an ihre Grenzen: kürzlich baten Finanzämter darum, man möge sich die Steuern selbst berechnen, da die entsprechenden Computerprogramme dazu nicht mehr in der Lage seien. Als manche Leute darauf hingewiesen, die eigene Berechnung sei wahrscheinlich genauso fehlerhaft, empfahl das Finanzamt, gegen den Steuerbescheid Einspruch einzulegen bis die Behörden in der Lage sein, ihre eigenen Forderungen guten Gewissens zu erheben. Und das ist sicher erst der Anfang!
8.10. Not anything goes
Solche komplexen Szenarien ergeben sich aber nicht nur in der Politik, sie bestimmen jedes einzelne Teil unseres täglichen Lebens – Politik und Leben lassen sich nicht mehr trennen. Wer in der NS-Zeit zu dem angeordneten Tag nicht Eintopf aß, kam auf eine schwarze Liste, die jeder Hausmeister führen musste. Wer – wie es mir geschehen ist – in einem Partygespräch die Bundesrepublik Deutschland als »BRD« bezeichnete, dem wurde unterstellt, er unterstütze die Zwei-Staaten-Theorie der DDR und sei ein Gegner der Hallstein Doktrin (wenn nicht sogar ein heimlicher Kommunist).
Wir haben nicht mehr die Wahl, zu entscheiden, ob wir uns politisch verhalten wollen oder nicht. Das war früher anders: im alten Athen war es selbstverständlich, dass die Wahlberechtigten – in der Blütezeit Athens waren das etwa 6000 Bürger – frei bestimmen konnten, ob sie sich politisch betätigen (politikoi – die sich der Angelegenheiten des Staates annehmen) oder Privatleute (idiotoi – die nur ihre eigenen Angelegenheiten betreiben) bleiben wollten. Die Politik konnte Ruhm bringen, aber auch zum Tod oder zur Vertreibung führen. Privatleute lebten friedlicher, weil sie sich nur mit ihren eigenen Dingen beschäftigten. Der Begriff für die Politiker ist geblieben, aus den Privatleuten sind in vielen europäischen Sprachen »Idioten« geworden. Schon daraus kann man wohl schließen, dass es keine Privatsphäre mehr gibt, die von der politischen zu trennen wäre.
Thomas Mann hat 1918 in den »Betrachtungen eines Unpolitischen« noch einen letzten Versuch unternommen, diese Trennung zu retten. Aber schon kurz danach musste er emigrieren und nur einige Jahre später sind Millionen Deutsche, die gleichzeitig Juden waren, ohne Rücksicht auf ihre politischen Ansichten umgebracht worden.
Unsere Eltern haben einen letzten – ganz offenbar verzweifelten – Versuch gemacht, all das noch einmal hinter der Mauer des Schweigens zu begraben, aber die 68er haben sie wohl endgültig zerschlagen. Wir haben diese Mauern aber erst niederreißen können, als die anderen uns schreiend und auf ihr eigenes Risiko hin darauf hingewiesen haben. Das müssen wir fairerweise anerkennen.
Es ist immer noch schwer, das wirklich zu akzeptieren. Also helfen uns wieder die Theater dabei: das Motto der Theatertage 2009 in Freiburg lautet: »Alles ist politisch«. Was immer wir tun, handeln und denken, aus denen kleinsten Anlässen (wie etwa dem Kopftuch einer Lehrerin) können sich politische Stürme entwickeln, deren Wirkungen unvorhersehbar sind.
Gerade die ungeheuren Verwerfungen in der politisch/kriegerischen Landschaft der letzten 10 Jahre zeigen uns, dass niemand den common-sense, der seine Zeit beherrscht, auf dem Reißbrett entwickeln oder ändern kann: Die Realität kann nicht überredet oder überzeugt werden. Sie ist wie sie ist. Wir brauchen Gewissheit über die Realität, auch wenn sie immer nur eine Konstruktion bleiben wird – es muss aber eine für uns fassbare »richtige Konstruktion« sein und wir müssen sie erkennen und kritisieren können! So hat die Systemtheorie jede Idee einer möglichen »planification« zerstört, die Deutschen haben gelernt, dass nicht alles richtig und zwingend ist, was sie sich ausdenken. Hegel wusste das nicht immer.
Wenn wir unsere heutige Lage mit 1914, 1933, 1949 und 1967 vergleichen, sehen wir auf den ersten Blick, was sich seit 1968 wirklich geändert hat. Was die beiden Kriege zerstört haben, ist in ganz Europa besser und nachhaltiger wieder aufgebaut worden.
Damals wie heute können Politiker mit Lügen, gesteuerter Informationspolitik und vielen anderen Mitteln Verwirrung schaffen, aber wir haben gelernt, Sprechen und Handeln nicht zu verwechseln und die Früchte unseres Handelns an denen man unsere Absichten erkennen kann. unter die Lupe zu nehmen.
Auf jede Revolution folgt erfahrungsgemäß die Restauration. Wir sehen, wie sich auch heute solche Elemente entwickeln, aber können sie nicht einfach mit dem Begriff »konservativ« ablehnen101. Vermutlich ist die Forderung nach einem radikalen Umweltschutz die konservativste, die man sich denken kann. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass wir im hinter die Entwicklungen zurückfallen, die wir in den letzten 50 Jahren erlebt haben, aber dabei kann man sich täuschen. Es mag das Ziel unserer Generation gewesen sein, das Schweigen der Eltern aufzubrechen – aber beim genauen Hinsehen haben wir dabei auch uns selbst entdeckt.
Das ist bestimmt eine analytische Leistung, aber sie ist kein Anlass zur Überheblichkeit, weil unsere Generation nicht schon wieder millionenfach in einem Umfeld von Tod und Verbrechen gelebt hat. Viele haben in Vietnam und anderswo wieder einmal für politische Ideen ohne Wert gekämpft und ihr Leben oder ihren Verstand verloren.
Graffito Berlin-Kreuzberg 2014 Luckenwalder Str. 11.
In der Philosophie und der Kunst, wo die Grenzen der Religion und der Bindung an gesellschaftlich feste Grundwerte erfolgreich infrage gestellt worden sind, ist in den 68ern der Jubelruf erschollen: »Anything goes«! (Paul Feyerabend). Tatsächlich können wir uns kaum noch vorstellen, wie ekelhaft und wirksam Standesdenken und Gesellschaftsschichtungen die private Freiheit jedes einzelnen reguliert und oft genug beseitigt haben. All das ist Vergangenheit – nicht zuletzt die Kriege haben dafür gesorgt! Aber statt dieser Grenzen entstehen ständig neue, die schwieriger zu erkennen sind, hinter jedem Türhüter, den man überwunden hat, taucht der nächste noch Mächtigere auf. Weder jetzt noch zukünftig wird alles möglich sein, nicht einmal in den Gedanken, denn auch die werden – ohne dass wir es merken – ständig durch unsere Erfahrungen verändert. Was die 68er wirklich geleistet haben, werden nicht wir, sondern die Generationen beurteilen, die nach uns kommen.
9. 2020 ff.: Neue außerparlamentarische Oppositionen
Das Bild der politischen Parteien hat sich seit der Regierung Merkel erheblich gewandelt. Die CDU ist deutlich nach links gerückt und versucht diese Entwicklung jetzt (2024) wieder zu korrigieren, SPD und FDP verlieren kontinuierlich, die Linke hat sich aufgespaltet. Die AFD ist zwar im Bund und in einigen Länderparlamenten vertreten, wirkt aber vor allem durch ihre außerparlamentarischen Auftritte. Die etablierten Parteien bezeichnen sich als »demokratische Parteien«, um so auf die grundsätzliche Kritik an der parlamentarischen Demokratie hinzuweisen, die jedenfalls der rechte Flügel der AFD immer wieder in den Vordergrund schiebt.
In der öffentlichen Diskussion wird oft darauf hingewiesen, dass die große Zustimmung, die die AFD in Meinungsumfragen erhält, darauf beruhe, dass sie sich mit politischen Themen beschäftige, die die anderen Parteien nicht in gleicher Weise ansprechen, teilweise sogar leugnen und immer wieder vortragen, sie hätten jetzt schon alles Erforderliche unternommen, um die Probleme zu lösen. Diese Behauptungen scheinen die politische Öffentlichkeit nicht zu überzeugen.
Aber nicht nur der rechte Flügel zweifelt an der Möglichkeit, bestimmte politische Ideen über die repräsentative, parlamentarisch und rechtsstaatlich strukturierte Demokratie durchsetzen zu können. Daran zweifeln auch die »Letzte Generation«, eine von vielen Bewegungen, die der Meinung sind, die Parlamente hätten Probleme des »menschengemachten Klimawandel« weder verstanden, noch seien sie fähig, etwas dagegen zu tun.
Was die »Letzte Generation« betrifft, so ist ihre Integration in die Parlamente so lange nicht möglich, als sie sich darum nicht bewerben. Das bedeutet für den Staat: Überall dort, wo die Grenze zur legitimen politischen Demonstration überschritten wird, muss mit dem Strafrecht reagiert werden. Das ist so geschehen und wird vermutlich Wirkung entfalten. Damit sind aber die Ideen noch nicht vom Tisch, zu deren Gunsten demonstriert worden ist. Die Klimapolitik ist erheblich umstritten und man sollte sich fragen, welche der Ideen, für die dort demonstriert wird, möglicherweise noch nicht ausreichend bedacht und welche Maßnahmen nicht genügend umgesetzt worden sind. Daran lassen es die etablierten Parteien allesamt fehlen.
Die grundsätzliche Kritik, die die außerparlamentarische Opposition der 68er an den politischen Institutionen und den Personen, die sie vertreten, geäußert hat, hat man dadurch in den Griff bekommen, dass man die gewaltsamen Strömungen (Rote Armeefraktion – RAF) mit legitimer Staatsgewalt beseitigt hat, die anderen hingegen die Parlamente integrieren konnte. Das konnte nur gelingen, weil zum einen die GRÜNEN in die Parlamente integriert wurden, und ihre Ideen wie auch andere kritischen Ideen der 68er – wenn auch langsam, aber stetig – in die Parteiprogramme eingeflossen sind. Dieser Weg ist auch für die neuen außerparlamentarischen Oppositionen möglich: Wir müssen einander unter allen Umständen zuhören und unsere eigenen Ansichten anhand der Widersprüche zu überprüfen lernen, die wir auf diese Weise erhalten.
Zur außerparlamentarischen Rechten: Zwar ist es den etablierten Parteien bisher gelungen, die AFD in den Parlamenten, in die sie gewählt wurde, im Großen und Ganzen unwirksam zu halten. Dieser Versuch wird spätestens dann scheitern, wenn die Wahlerfolge erheblich größer werden, als sie es bisher waren.
Viel problematischer ist es aber, dass die Ideen, die dort politisch vertreten werden, häufig nur deshalb abgelehnt werden, weil hinter ihnen eine politische Partei steht, die sich von der parlamentarischen Demokratie nicht nur in ihrem rechten Flügel immer wieder offen distanziert. Das gelingt relativ leicht, wenn man sich immer wieder auf die Nähe zu nationalsozialistischen Ideen und Symbolen beziehen kann. Häufig wird argumentiert, auch die Nationalsozialisten seien durch legale Wahlen an die Macht gekommen. Das ist historisch falsch, denn bei den entscheidenden Wahlen im Januar 1933 war es der NSDAP gelungen, die anderen Parteien und ihre Vertreter wirksam zu unterdrücken, die Wahlen zu manipulieren und den Rechtsstaat der Weimarer Republik zu unterlaufen. Das hat die Bevölkerung hingenommen, weil sie es leid war, täglich auf die bewaffneten Privatarmeen der Kommunisten und Nationalsozialisten zu treffen. Viel entscheidender noch war das erst nach der Wahl unter Druck zustande gekommene Ermächtigungsgesetz und die Gleichschaltungspolitik. Alle diese Voraussetzungen finden sich heute in der Bundesrepublik Deutschland nicht. Wir sollten also darauf vertrauen, dass die parlamentarische Demokratie und alle Institutionen, die sie sichern – darunter vor allem: das Justizsystem – sich gegen eine geplante Zerstörung wirksam wehren kann.
Auch wenn das gelingt, wären damit aber die Unzufriedenheiten in der Bevölkerung über bestimmte politische Entwicklungen, die von der AFD angesprochen worden sind, noch nicht beseitigt. Es genügt nicht, sie allein mit dem Hinweis zu diskreditieren, dass sie von ungeeigneten und verfassungsfeindlichen Politikern vertreten würden. Man muss sich fragen, aus welchen Gründen Teile der Bevölkerung – und zwar europaweit – bestimmte Ideen zur Sozialpolitik, zur Flüchtlingspolitik, zur europäischen Einigung, oder zu unserem Verhältnis zu Israel und zur Ukraine102 infrage stellen, die mit nur sehr geringen Unterschieden von den etablierten Parteien im Allgemeinen vertreten werden.
Einer der naheliegenden Gründe ist: Die seit Jahrzehnten in den Parlamenten etablierten Parteien sprechen weniger kontrovers als zu jenen Zeiten, in denen die Bundesrepublik gegründet wurde oder in denen sie z.B. in den 68er von zahllosen schwierigen politischen Problemen erschüttert war. Damals hat man noch wirklich gestritten, heute werden viele Grundsatzprobleme »in die Ausschüsse verschoben«. So kommt es, dass wichtige Grundsatzfragen unseres politischen Lebens nicht mehr innerhalb, sondern außerhalb der Parlamente diskutiert werden – die Neuauflage eines Problems, das uns vor 60 Jahren schon einmal begegnet ist. Wir sollten uns an den Lösungen orientieren, die wir damals gefunden haben.
- 1. Macht | opinioiuris.de.
- 2. Carl Jacob Burckhardt, Memorabilien S. 308.
- 3. Ernst Nolte, Der Europäische Bürgerkrieg 1917-1945, Herbig, 6. Aufl. 2000.
- 4. Intellektuelle neigen dazu, Guido Knopp und andere wegen ihrer populären Darstellungen im Fernsehen zu kritisieren. Als ob es bei der Wichtigkeit dieser Arbeit auf irgendwelche Details ankäme!
- 5. Franz Kafka, Briefe 1902- 1924, Fischer-Verlag 1998, Seite 27 ff.
- 6. Analogie ist unlogisch – Über die Funktion der Gefühle im Verfahren der Rechtsgewinnung | opinioiuris.de.
- 7. Lausheim (Stühlingen) – Wikipedia. 1524 waren nach den Bundschuhkriegen bei Stühlingen die ersten süddeutschen Bauernaufstände ausgebrochen. Spätere süddeutsche Revolutionäre: Gudrun Enßlin, Fritz Teufel, Jan Carl Raspe und Hans Christian Klar. Der Zusammenhang zwischen dem politischen Sturm, der die Reformation ausgelöst hat, den Erziehungsmethoden protestantische Pastoren, wie sie zum Beispiel Hermann Hesse geschildert hat, und den Biografien der modernen Revolutionäre sollte noch geklärt werden.
- 8. Bernd Rabehl, Rede vor der mensurschlagenden Burschenschaft Danubia, abgedruckt in Junge Freiheit Nr. 51/98 vom 18.12.98.
- 9. Komponist und Kapellmeister (1866-1946), Vater der Berliner Operette.
- 10. Ulrich von Willamowitz-Moellendorff, Altphilologe, Schüler Theodor Mommsens, Erinnerungen (1928), S. 123, lag 1870 als Offiziersanwärter vor Paris.
- 11. Jesus v. Nazareth der schon mit 12 Jahren im Tempel Aufruhr machte, ist ein gutes Beispiel. Als Kind habe ich ihn immer für einen Adeligen und nicht für den Sohn eines palästinensischen Schreiners gehalten.
- 12. Margarethe von Trotta hat das 2003 dieses bemerkenswerte Ereignis verfilmt.
- 13. Nachdem man 1906 den Schuster Wilhelm Voigt als »Hauptmann von Köpenick« verhaftete, erwog „Wilhelm der Plötzliche“ ernstlich, ihn für den Nachweis zu loben, dass allein eine leere Uniform Autorität genug besitze, um die Untertanen zu beeindrucken: »Das macht uns keiner nach!«.
- 14. Rede zum Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2009.
- 15. Günter Langer, www.infopartisan.net 3/99.
- 16. Thesen über Feuerbach, MEW: 3:7.
- 17. Ungewöhnliches Doppelspiel – Alfred Kroth im Europäischen Bürgerkrieg | opinioiuris.de.
- 18. Seine Tochter Bettina Röhl hat dazu ein hinreißendes Buch geschrieben: »So macht Kommunismus Spaß, Ulrike Meinhof, Klaus Rainer Röhl und die Zeitschrift »konkret« (2006).
- 19. Müller/Kanonenberg, Die RAF-Stasi-Connection, 1992: zehn RAF-Terroristen, denen die DDR eine neue Identität gegeben hatte, wurden nach 1989 enttarnt.
- 20. Ungewöhnliches Doppelspiel – Alfred Kroth im Europäischen Bürgerkrieg | opinioiuris.de.
- 21. Ungewöhnliches Doppelspiel – Alfred Kroth im Europäischen Bürgerkrieg | opinioiuris.de.
- 22. Cit.n. Maxim Biller, Der gebrauchte Jude – Selbstportrait, 2009, S. 163.
- 23. Werner Vordtriede, Das verlassene Haus – Tagebuch aus dem amerikanischen Exil (2002) S. 193.
- 24. Daniel J. Goldhagen, Hitlers willige Vollstrecker, Goldmann (2000).
- 25. Gesetz über die Errichtung eines Geheimen Staatspolizeiamts vom 26.04.1933, Preußische Gesetzsammlung 1933 Nummer 29 Seite 122, Runderlass vom gleichen Tage MBliV Spalte 503 bis 507; Gesetz vom 30.11.1933 und Ausführungsbestimmungen vom 8. und 14.03.1934; Gesetz über die Geheime Staatspolizei vom 10.02.1936, Preußische Gesetzsammlung 1936, Seite 21.
- 26. Nils Minkmar, FAZ vom 25.10.2010.
- 27. Europa als Fusionsprojekt | opinioiuris.de.
- 28. Alice Miller: Am Anfang war Erziehung (1980), Das Drama des begabten Kindes (1979), die sich dort auch mit biografischen Details aus dem Leben Adolf Hitlers beschäftigt. Erste Filme: François Truffauts »Les 400 coups« (1959).
- 29. Michael Haneke zeigt die Zusammenhänge in seinem äußerst bedrückenden Film »Das weiße Band« (2009).
- 30. Das Milgram-Experiment: zur Gehorsamsbereitschaft gegenüber Autorität, Rowohlt 1984.
- 31. Maxim Biller schreibt: »Hitler beschloss, bis auf die eigene weinende Nation den Rest der Menschheit in den Mülleimer zu werfen« (Der gebrauchte Jude S. 154). Hier greift er zu kurz: wenn man von Hitler schon so spricht als jemandem, der solche Verbrechen persönlich begehen konnte, dann hat er auch die eigene Nation in den Mülleimer geworfen.
- 32. John C.G.Röhl, Wilhelm II., Bd. I-III, CH Beck. 2008.
- 33. Die blinde Jagd nach der Gerechtigkeit | opinioiuris.de.
- 34. Bundesverfassungsgericht vom 21.9.2000 (1 BvR 514/97).
- 35. Ernst Leitz – ein Unternehmer mit Zivilcourage in der Zeit des Nationalsozialismus (Herausgeber Knut Kühn-Leitz CoCon Verlag 2008).
- 36. Graf Stauffenberg rief in den Todesschuss einen Satz, der unterschiedlich gehört wurde: die einen meinten, er habe »es lebe das heilige Deutschland« gerufen, andere hatten… »das heimliche Deutschland« gehört. Die zweite Version erklärt sich, wenn man weiß, dass Graf Stauffenberg zum Kreis um Stefan George gehörte, der sich und seine Aufgabe so definierte, wie man vielleicht das Salz in der Erde definieren muss: Eine Hand voll Leute mit Ehrgefühl, die wissen was sie zu tun haben, wenn es so weit ist.
- 37. Zuletzt: Kritik der reinen Toleranz (2009).
- 38. Zuletzt: Der gebrauchte Jude, Selbstportrait (2009).
- 39. Grundlegend: Ruth Benedict, Chrysantheme und Schwert (1946).
- 40. Bernhard Schlink schildert diese Eindrücke in seinem Buch »Der Vorleser« (1995).
- 41. Gitta Serenys Untersuchungen über den Auschwitz Kommandanten Rudolf Höß und über Albert Speer sind unter vielen anderen hervorzuheben.
- 42. Z.B Rainer Langhans (Jena), Klaus Staeck (Pulsnitz).
- 43. Schriftsteller (»Austerlitz«). (1944-2001), Wir sind am gleichen Tag geboren und es gibt auch manch andere biografische Übereinstimmung.
- 44. Der deutsch-türkische Regisseur Fatih Akin dreht 2009 einen »Dreckigen Heimatfilm« und in Graz gibt es den Slogan »Daham statt Islam«.
- 45. Georg Hensel: Glück gehabt Insel, 2. Aufl. 1994, Seite 199.
- 46. Pedro Almodovar gibt uns in seinem Film La mala educación – Schlechte Erziehung (2004) einen Einblick in diese Schulen.
- 47. Seine Dokumentarfilme gehören zu den wichtigsten Arbeiten der 68er www.farocki-film.de.
- 48. Gerd Gigerenzer, Bauchentscheidungen Die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition. Bertelsmann, München 2007.
- 49. Cees Nooteboom (1933): » Mein politisches Denken hatte damals mit 23 noch viel mit Fühlen zu tun.«
- 50. Frieder Naschold, Professor für Politische Wissenschaften und später Rektor an der Universität Konstanz (1940-1999).
- 51. Er war 1928 in Leitmeritz in Böhmen (damals k.u.k- Monarchie) geboren.
- 52. Es gab dort 1965 schon die Beck'sche Leitsatzkartei auf Kartons geklebt, die in Freiburg und München gänzlich unbekannt war.
- 53. Friedrich Carl von Savigny (1779-1861) war stolz genug, den ehrenvollen Ruf von Landshut nach Berlin davon abhängig zu machen, dass er das moderne Allgemeine preußische Landrecht nicht unterrichten musste. Mit Studenten, die die gültigen Gesetze nicht beherrschen, konnte der preußische Staat aber wenig anfangen.
- 54. Der 9. November wird mir (Wikipedia sei Dank) langsam unheimlich (1918,1923,1938,1989).
- 55. Die Wortführer, Detlev Albers und später auch Knut Nevermann, der Asta-Vorsitzende (Sohn des Bürgermeisters), wurden später selbst Professoren, woran man sehen kann, dass kluge Leute früher als andere merken, was Sache ist.
- 56. Stand 1970, Anm 142 zu Art 20 GG. Heute (Stand: 53. Auflage 2009 – Grzeszick heißt es richtig in Rn. 62: » Vollziehende Gewalt im Sinne des Art. 20 Abs. 3 ist also auch der Erlass von Rechtsverordnungen nach Art. 80 Abs. 1 und der Erlass von autonomen Satzungen.«
- 57. Zu ihnen gehört auch Ernst Forsthoff, der 1933 das Buch »Der totale Staat« schrieb, in dem er die Naziherrschaft bejubelte, um nach dem totalen Krieg dann mit dem Grundlagenwerk »Der Staat der Industriegesellschaft« hervorzutreten. Ich habe ihn ohne jede Kenntnis der Zusammenhänge ziemlich unkritisch gelesen.
- 58. Nach dem Mord an Generalbundesanwalt Buback gab es einen ironischen Nachruf (Göttinger Mescalero-Affäre) der zu Strafanzeigen gegen eine Vielzahl Studenten und Professoren führten, die Sympathie für den Artikel gezeigt haben sollen.
- 59. Stefan Aust: Der Baader-Meinhof Komplex (1985/2008).
- 60. Der Sommer hat offenbar mythische Qualitäten im Reich der Freiheit: Herr Dr. Goldstein, der bei BRAVO die Teenager in Fragen des Liebeskummers beriet, wählte das Pseudonym »Dr. Sommer«.
- 61. Graffitto an einer Hauswand in Berlin Kreuzberg (2010).
- 62. Karma und Karriere, Rowohlt 1994.
- 63. Die Verbindung zwischen dem Schweigen, der Sexualität und der Angst hat Ingmar Bergmann in seinem Film »Das Schweigen« beeindruckend dargestellt und damit 1963 einen ungeheuren Skandal ausgelöst.
- 64. Oswalt Kolle begann erst 1968 »Das Wunder der Liebe« zu besingen.
- 65. 1972: »Was Sie schon immer über Sex wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten«.
- 66. Zadek im Interview: »Ich fühle mich sehr frei, weil ich nirgendwo dazugehöre – mein Zuhause ist Elisabeth«. Da hat er Glück gehabt.
- 67. Erich Mühsam (1878-1934), Dichter, Mitglied des revolutionären Arbeiter Rates München (1918), Initiator der Münchner Räterepublik, zur Festungshaft verurteilt und 1924 amnestiert, 1933 von den Nazis ins KZ Oranienburg geschleppt und dort ermordet.
- 68. Im Münchner Fasching sah man ihn in der »Deutschen Eiche« rumlungern, als Ledermann »verkleidet«. Dieser Typ war völlig ironieunfähig. Mit einem Büroanzug und Krawatte hätte er sich wirksamer maskieren können.
- 69. Richard Hülsenbeck: »Wir sind gegen den Krieg. Aber wir lieben den Krieg!«. Francis Picabia malte eines Tages mit Kreide Bilder an die Tafel, André Breton wischte sie sofort wieder aus »damit sie nicht einer unwürdigen Nachwelt in die Hände fallen« usw.
- 70. Der Erwerb dieses Kunstwerks von Joseph Beuys durch die Landeshauptstadt München führte zu einem Skandal. Im Stadtrat wurde es als »teuerster Sperrmüll aller Zeiten« bezeichnet, denn es kostete 270.000 DM.
- 71. Die ersten Frauenquoten wurden 1979 bei den Grünen vereinbart, danach 1988 bei der SPD, 1996 bei der CDU. Seit 1980 gibt es das »UN-Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau« (CEDAW).
- 72. Jürgen Trabant, Mithridates im Paradies, Kleine Geschichte des Sprachdenkens, C.H.Beck 2003.
- 73. Alice hinter den Spiegeln, übersetzt von Christian Enzensberger, Insel Verlag 1974 S. 88.
- 74. Wolfgang Fikentscher (1928) erinnert sich in einem Interview (Bayerischer Rundfunk 24. Februar 1999): »das wichtigste damals war wahrscheinlich, dass wir in einer Werte Welt lebten, der Worte nicht die Bedeutung hatten, die man ihnen beimaß. Man sprach immer auf zweierlei Ebenen. So hatte also irgendein Wort wie zum Beispiel Volk oder Krieg oder wie man sich so ausdrückte, nicht die Bedeutung im eigentlichen Sinne, sondern eine andere. Ich habe erst viel später gemerkt, was man auch mit Worten sprechen kann, die ihre ursprüngliche Bedeutung haben. Das habe ich eigentlich erst in Amerika gelernt«.
- 75. Rebellion und Wahn, 2008.
- 76. Wolfgang Fikentscher, Culture, Law and Economics: Three Berkeley Lectures, (Münchener Schriften zum Europäischen und internationalen Kartellrecht, Vol. 6) Bern und Durham 2004.
- 77. Interessante Zeiten – Reportagen aus der Innenwelt des Rechts | opinioiuris.de.
- 78. Macht | opinioiuris.de.
- 79. Bundesverfassungsgericht (AZ 1 BvR 718/89), NJW 1995, 1141, nachdem Arthur Kaufmann die theoretische Vorarbeit geleistet hatte.
- 80. Gerd Tersteegen hat gewiss einen tiefen Einblick in viele Biografien genommen, die ab 1972 durch den Radikalenerlass zerstört worden sind. Er war in München die erste Adresse für solche Fälle.
- 81. Richterliche Berufsethik aus der Sicht eines Rechtsanwalts | opinioiuris.de.
- 82. BVerfG, Beschluß vom 14.02.1973 – 2 BvR 667/72, NJW 1973, 696.
- 83. Gerechtigkeit in Rechtssystemen | opinioiuris.de.
- 84. Matthias Storck, Karierte Wolken – Lebensbeschreibungen eines Freigekauften, Brendow Verlag, 4. Auflage 1997.
- 85. BVerfGE 93, 213.
- 86. Der Stil des Richters | opinioiuris.de.
- 87. § 100c StPO, dazu BVerfG NJW 2004, 999.
- 88. BGBl. 2005 I S. 78, dazu BVerfG, NJW 2006, 751.
- 89. § 31 NWPolG 1990, dazu BVerfG, NJW 2006, 1939.
- 90. HessSOG und SchlHLVwG, dazu BVerfG NJW 2008, 1505.
- 91. NWVerfSchG, dazu BVerfG NJW 2008, 822.
- 92. BKA-Gesetz vom 25.12.2008, BGBl. I, 3083.
- 93. Söhne und Weltmacht (2003/2006).
- 94. Konstruktionsfehler im Datenschutz | opinioiuris.de.
- 95. Nur zur Erinnerung: in der Grippewelle 1919 starben mindestens (!) 25 Millionen Menschen, also weit mehr, als vorher im Krieg gefallen waren. Verglichen damit ist die Zahl der Aids Toten gering und Phänomene wie die Vogelgrippe oder die Schweinegrippe wirken unbeachtlich.
- 96. Texte zu Bildern von Thomas Demand, Neue Galerie in Berlin 2009.
- 97. Ulrike Kegler »In Zukunft lernen wir anders« (2009). Wenn solche Modelle zukünftig Standard werden, haben wir das Problem wirklich überwunden.
- 98. Machiavelli in Harvard – Intelligentes Konfliktmanagement | opinioiuris.de.
- 99. Die Leute der »Roten Kapelle« konnten anders planen als die Leute des »20. Juli1944«, auch wenn sie beide den Diktator beseitigen wollten, denn die Soldaten waren an ihren Eid gebunden, die Arbeiter nicht.
- 100. Das Wichtigste unter ihnen ist das Harvard Konzept, das von Fisher, Ury und Patton anlässlich des Überfalls auf die US-Botschaft in Teheran (1979) entwickelt worden ist und die kampflose Befreiung der Geiseln erreichte.
- 101. Eine angelsächsische Definition lautet: ein Konservativer ist ein Liberaler, der seine Hypotheken noch nicht abbezahlt hat!
- 102. Krieg oder Frieden? – Russlands Angriff auf die Ukraine | opinioiuris.de.