RG, 23.11.1880 - III 636/80
Inwieweit ist gestattet, in dem Tatbestände auf die vorbereitenden Schriftsätze Bezug zu nehmen? Die Mangelhaftigkeit des Thatbestandes als Revisionsgrund.
Tatbestand
Ein Urteil zweiter Instanz enthielt keinen von den Gründen äußerlich gesonderten Thatbestand. Unter der Überschrift "Gründe" war zunächst gesagt, daß gegen das erste Urteil, auf dessen ganzen Inhalt Bezug genommen wurde, von dem Kläger Berufung eingelegt worden sei, und der Inhalt der in der Berufungsverhandlung von beiden Teilen gestellten Anträge mitgeteilt; hierauf folgte die rechtliche Erörterung der Sache. In den rechtlichen Ausführungen waren auch mehrere zwar in den vorbereitenden Schriftsätzen vorgebrachte, aber in dem Thatbestande des ersten Urteils (in welchem auf die vorbereitenden Schriftsätze nicht Bezug genommen ist) nicht erwähnte Thatumstände besprochen, ohne daß ersichtlich gemacht war, was in betreff derselben verhandelt oder als Ergebnis der Verhandlung angesehen worden ist. Der Revisionskläger rügte, daß das angefochtene Urteil keinen Thatbestand enthalte und somit den §. 284 Ziff. 3 C.P.O. verletze. Dasselbe wurde aufgehoben und die Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung an die zweite Instanz zurückgewiesen. Die Gründe:
Gründe
"Der Revisionskläger rügt mit Recht eine Verletzung der Vorschrift im §. 284 Ziff. 3 C.P.O., nach welcher das Urteil enthalten soll: einen Thatbestand, d. i.
"eine gedrängte Darstellung des Sach- und Streitstandes auf Grundlage der mündlichen Vorträge der Parteien unter Hervorhebung der gestellten Anträge".
Daß in der Vernachlässigung dieser Vorschrift eine die Revision begründende Gesetzesverletzung zu finden sei, ist zwar in der Civilprozeßordnung (vgl. §. 513) nicht ausdrücklich ausgesprochen; dies folgt aber mit Notwendigkeit daraus, daß nach §. 524 der Revisionsrichter keine anderen Thatsachen berücksichtigen darf, als diejenigen, welche sich aus dem Thatbestande, bez. gemäß §. 285 aus der Berichtigung desselben durch das Sitzungsprotokoll ergeben, und daß derselbe daher bei Ermangelung eines gehörigen Thatbestandes gar nicht imstande ist, in der Sache selbst zu entscheiden. Es dürfen namentlich die vorbereitenden Schriftsätze von dem Revisionsrichter nicht anders in Betracht gezogen werden, als wenn und insoweit der Inhalt derselben im Thatbestande in Bezug genommen und somit zu einem Bestandteile des letzteren gemacht worden ist (§. 284 Abs. 2); und es mag auch noch hervorgehoben werden, daß der §. 284 keineswegs gestatten will, bei der Anfertigung des Thatbestandes diejenigen Ergebnisse der mündlichen Verhandlung, welche mit dem Inhalte der vorbereitenden Schriftsätze übereinstimmen, regelmäßig durch eine bloße Bezugnahme auf letztere zum Ausdrucke zu bringen; es soll vielmehr diese Bezugnahme, wie schon die Gesetzesworte "nicht ausgeschlossen" ergeben, nur ausnahmsweise zulässig sein, und wenngleich hierbei dem richterlichen Ermessen im Einzelfalle ein gewisser Spielraum offen gelassen ist, so muß man doch immer vor Augen behalten, daß nach der Vorschrift des §. 284 Ziff. 3 der Thatbestand in einer gedrängten Darstellung des Sach- und Streitstandes zu bestehen hat, und darf man daher die Bezugnahme auf die vorbereitenden Schriftsätze nur anwenden, wenn und soweit deren Ausführungen diesem Erfordernisse entsprechen, d. i. sich auf eine Darstellung der wesentlichen Thatsachen beschränken und dieselben mit der gehörigen Präzision kennzeichnen.
In vorliegender Sache ist es nun zwar nicht richtig, daß das angefochtene Urteil gar keinen Thatbestand enthalte. Dasselbe hebt die in der Berufungsinstanz gestellten Parteianträge hervor und nimmt Bezug auf den ganzen Inhalt des ersten Urteils, also auch auf den in diesem enthaltenen Thatbestand, und in solcher Bezugnahme muß man die Feststellung finden, daß die mündliche Verhandlung vor dem Berufungsgerichte ein mit jenem Thatbestand übereinstimmendes Ergebnis geliefert habe. Unwesentlich ist auch, daß dieser Thatbestand des angefochtenen Urteils nicht, wie es allerdings angemessen gewesen wäre und insbesondere auch im Interesse der Parteien, um ihnen für etwaige Anträge auf Berichtigung oder Vervollständigung des Thatbestandes (§§. 290. 291) eine deutlich abgegrenzte Grundlage zu geben, geboten erscheint, von den Gründen äußerlich gesondert worden ist ... . Eine wesentliche Verletzung des §. 284 Ziff. 3 liegt aber darin, daß das Oberlandesgericht in seinen Gründen eine Reihe von Thatumständen, welche in dem angezogenen erstinstanzlichen Thatbestände nicht erwähnt sind, in Betracht gezogen hat, ohne daß es feststellt, was hierüber vor ihm verhandelt worden ist. So ist ohne irgend eine Feststellung des Verhandelten die Rede von ... Während also einerseits aus den Entscheidungsgründen des angefochtenen Urteils sich ergiebt, daß die Verhandlung in der Berufungsinstanz sich keineswegs bloß auf das nach dem Tatbestände der ersten Instanz dort Vorgetragene beschränkt hat, ist andererseits die in der Berufungsinstanz über neue Thatsachen stattgehabte mündliche Verhandlung nicht festgestellt worden. Daß ein solcher Mangel des Thatbestandes eine Aufhebung des angefochtenen Urteils und eine Zurückverweisung der Sache zur nochmaligen Verhandlung und Entscheidung unvermeidlich macht, liegt klar zu Tage, da es an der für die Entscheidung der Revisionsinstanz unentbehrlichen thatsächlichen Grundlage fehlt."