RG, 10.07.1880 - I 227/80

Daten
Fall: 
Haftpflichtversicherung für Verletzung durch Bahnwärter
Fundstellen: 
RGZ 2, 85
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
10.07.1880
Aktenzeichen: 
I 227/80
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Stadt- und KreisG Magdeburg
  • OLG Naumburg

Kann die Verletzung eines Bahnwärters bei Bedienung eines Signalapparates durch das Herunterfallen einzelner Teile dieses Apparates unter Umständen einen Anspruch des Verletzten aus §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes begründen?

Tatbestand

Dem bei der Beklagten als Bahnwärter angestellten Kläger lag es ob, die bei seiner Wärterbude belegenen vier Weichen zu stellen, sowie mittels des Abschlußtelegraphen die durchpassierenden Eisenbahnzüge zu signalisieren, beziehungsweise diesen Zügen die ihm aufgegebenen Signale zu erteilen.

Am 22. Januar 1878 abends, als es schon dunkelte, wurde ein ankommender Güterzug signalisiert und von der Station X dem Kläger aufgegeben, das Einfahrtssignal für jenen Zug zu geben. Nach der Dienstinstruktion mußte der Kläger das Signal unverzüglich mittels des dicht an seiner Stationsbude stehenden Hebers geben und eine Laterne in die Höhe ziehen, um das Signalmaß und zugleich die Weichen zu erleuchten. Als der Kläger dieser Dienstpflicht pünktlich nachkam, stürzte, während er die Erleuchtungslaterne in die Höhe zog, die am Signalmaß angebrachte, mit der Laterne nicht unmittelbar verbundene Signalbrille aus einer Höhe von etwa vierundzwanzig Fuß herunter und schlug den Augenhöhlenknochen an des Klägers linker Kopfseite entzwei. Infolge dessen ist der Kläger auf dem linken Auge gänzlich erblindet und auch die Sehkraft des rechten Auges derartig geschwächt, daß Kläger völlig dienst- und erwerbsunfähig geworden ist. Seinem auf §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes gegründeten Klageanträge entsprechend ist in erster Instanz erkannt, der Appellationsrichter hat abändernd auf Klageabweisung erkannt. Auf die Revision des Klägers ist das Urteil erster Instanz aus folgenden Gründenwiederhergestellt:

Gründe

"Die Beklagte hat nicht behauptet, daß der Unfall vom 22. Januar 1878 durch höhere Gewalt oder eigenes Verschulden des Klägers verursacht sei. Dieselbe muß daher dem Kläger für den bei jenem Unfall erlittenen Schaden haften, falls der Kläger im Sinne des §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes bei dem Betriebe einer Eisenbahn körperlich verletzt ist.

Eine solche Verletzung beim Betriebe der Eisenbahn ist nun im konkreten Falle selbst dann anzunehmen, falls der Ansicht beigepflichtet wird, daß die Bedienung einer Eisenbahnsignalvorrichtung nicht schon an und für sich (also unter allen Umständen) als eine Eisenbahnbetriebsausführungshandlung zu gelten habe, und eine Verletzung bei dieser Bedienung durch Vorgänge an der Signalvorrichtung nicht schon an und für sich als eine durch die eigentümlichen Gefahren des Eisenbahnbetriebes verursachte, angesehen werden müsse; daß vielmehr jene Bedienung von Eisenbahnsignalvorrichtungen solchen Obliegenheiten der Eisenbahnbeamten, bezw. Eisenbahnarbeiter, beizuzählen sei, welche auch in anderen Lebensverhältnissen vorkämen und regelmäßig bei ihrer Ausführung im Dienste oder in der Arbeit bei der Eisenbahngesellschaft nicht gefährlicher seien, als in anderen Verhältnissen, wie beispielsweise die Aufrichtung eines umgestürzten Wagens, die Reparatur einer Eisenschiene oder das Entfernen einer Laterne von einem Wagen. - In konstanter oberstrichterlicher Judikatur ist mit Recht angenommen, daß eine Verletzung auch bei einer Thätigkeit der letzteren Art, als eine Verletzung bei dem Betriebe einer Eisenbahn im Sinne des §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes anzusehen sei, falls diese Thätigkeit überhaupt eine Beziehung zu dem Eisenbahnbetriebe besitze und die Verletzung bei derselben, wenn auch nur durch Vermittelung psychischer Vorgänge, als durch die besonderen Gefahren des Eisenbahnbetriebes verursacht, erscheine, z. B. dadurch, daß die verständige Vorstellung des Gebotenseins besonderer Eile bei Erledigung der betreffenden Thätigkeit (mit Rücksicht auf die, in Ermangelung einer solchen eiligen Erledigung, bei dem gegenwärtigen Betriebe der betreffenden Eisenbahn infolge der Eigentümlichkeit der in dem Eisenbahnbetriebe liegenden Gefahren verständiger Weise als möglich vorauszusetzenden Unfälle) die Anwendung der gewöhnlichen egoistischen Bedachtsamkeit bezüglich der Beobachtung und Beherrschung der die Verletzung unmittelbar mit bewirkenden zeitlichen und räumlichen Vorgänge bei dem demnächst Verletzten ausgeschlossen habe, was schon dann für klargelegt erachtet werden dürfte, wenn nach den Grundsätzen der Lebenserfahrung eine solche Einwirkung der besonderen Gefahren des Eisenbahnbetriebes auf das Verhalten des demnächst Verletzten und auf die Entstehung der Verletzung verständiger Weise anzunehmen sei.

Vgl. Entsch. des R.O.H.G.'s Bd. 16 Nr. 93 S. 373; Bd. 21 Nr. 4 S. 9; Bd. 25 Nr. 24 S. 102.

Diesen Principien ist der Fall der Verletzung bei der Bedienung von Eisenbahnsignalapparaten in dem Erkenntnis des Reichsoberhandelsgerichts III. Senats vom 21. November 1878 in Sachen des Bahnwärters W. gegen die M.H.E.G. Rep. 1443/78 und dann in dem in Bd. 1 Nr. 26 S. 52 der Entscheidungen abgedruckten Erkenntnis des Reichsgerichts II. Senats nicht entzogen, sondern grundsätzlich (in einer der Beklagten gewiß nicht ungünstigen Weise) unterstellt worden, und sind ( unter Anwendung jener Principien) die damals vorliegenden Fälle nur mit Rücksicht auf die konkrete Lage derselben dahin entschieden, daß die Klagen abzuweisen seien. In ersterem Falle handelte es sich um eine Verletzung infolge des Reißens einer Kette beim Herunterlassen einer Laterne an einer Signalstange, nachdem der Zug, welchem das Signal erteilt war, bereits durchpassiert war, und heißt es in den Gründen der Entscheidung ausdrücklich (unter Hinweis auf diese Sachlage), daß in dem vorliegenden Falle ein ausnahmsweiser (also an sich als möglich und dann als beachtlich gesetzter) Einfluß der eigentümlichen Gefahren des Eisenbahnbetriebes auf den Unfall nicht ersichtlich sei.

In dem zweiten Falle handelte es sich um ein mitten am Tage durch Reißen einer Kette und Umschlagen eines Hebels zugefügte Verletzung, und heißt es in den Gründen wörtlich: " Besondere Umstände, wodurch im gegebenen Falle der Eisenbahnbetrieb, zu dessen Sicherung die Vorrichtung bestimmt war, dessen Bedienung besonders gefährlich gemacht habe, sind vom Kläger nicht behauptet."

In dem gegenwärtig vorliegenden Falle hat der Kläger solche Umstände behauptet und sind diese Umstände unstreitig.

Der Kläger hatte das Einfahrtssignal einem ankommenden Zuge zu geben, als es schon dunkelte. Im Dunkeln können Unfälle bei dem Eisenbahnbetriebe durch Stehenbleiben eines Zuges viel leichter eintreten als bei hellem Tage, weil die Beamten eines etwa nachfolgenden Zuges den stehenbleibenden Zug schwerer sehen können. Ein ankommender Zug muß still stehen, wenn ihm das Einfahrtssignal nicht gegeben wird. Der Kläger mußte daher als pflichtvoller Beamter (indem er sich diese verständiger Weise als möglich vorauszusetzenden Wirkungen der eigentümlichen Gefahren des Eisenbahnbetriebes bei dem unmittelbar sich vollziehenden Betriebe im Falle einer Stockung der Fahrt des ankommenden Zuges vergegenwärtigte) sich besonders beeilen, das Einfahrtssignal zu geben. Die Erteilung dieses Signals komplizierte sich, weil zur Wirksamkeit desselben die Beleuchtung nötig war. Umsomehr war Eile geboten. Bei einem eiligen Ziehen wird (nach den Grundsätzen der Lebenserfahrung) die Kraft beim Ziehen im höheren Grade angestrengt; durch den größeren Kraftaufwand bei dem eiligen Ziehen wird die schwankende Signalstange mehr erschüttert und durch die so verursachte stärkere Vibration derselben die ursächliche Kraft für das Herabfallen der an der Stange befindlichen Signalbrille gesteigert, während die pflichtmäßige Eile bei dem Heraufziehen der Laterne, welche mit der Signalbrille nicht in unmittelbarem Zusammenhange stand, den Ziehenden verhindern muß, das Schwanken der sich lösenden Signalbrille zu bemerken.

Es ist daher, nach den Gesetzen der Lebenserfahrung, in dem vorliegenden Falle anzunehmen, daß die klagefundamentale Verletzung des Klägers am 22. Januar 1878 bei dem Betriebe der von der Beklagten unternommenen) Eisenbahn und zwar durch die eigentümlichen Gefahren des Eisenbahnbetriebes verursacht worden ist, und zwar vermöge der kausalen Einwirkung dieser Gefahr auf das Verhalten des Klägers bei einer pflichtmäßigen, mit dem ( unmittelbar gegenwärtig sich vollziehenden) Betriebe der Eisenbahn in Beziehung stehenden Thätigkeit des Klägers.

Nach den oben entwickelten Normen sind also die Grundlagen des Klageanspruches nach dem §. 1 des Reichshaftpflichtgesetzes erbracht."