BVerfG, 22.11.1951 - PBvV 1/51
Gutachten
des Bundesverfassungsgerichts vom 22. November 1951
– PBvV 1/51 –
über die Frage, ob das vom Deutschen Bundestag am 12. Juli 1951 beschlossene Gesetz zur Durchführung des Artikel 108 Absatz 2 des Grundgesetzes der Zustimmung des Bundesrates bedarf.
Das Gesetz hatte folgenden Wortlaut:
§ 1 Mitwirkung des Bundes bei der Verwaltung der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer
(1) Bei der Verwaltung der Einkommensteuer und der Körperschaftssteuer, die dem Bund im Falle der Inanspruchnahme eines Teiles der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer durch den Bund im Rechnungsjahr 1951 teilweise zufließen und deren Verwaltung der Bund insoweit den Landesfinanzbehörden übertragen hat, wirkt der Bundesminister der Finanzen nach Maßgabe der Absätze 2 und 3 mit.
(2) Die Allgemeinen Verwaltungsvorschriften nach Art. 108 Abs. 6 des Grundgesetzes werden durch die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates erlassen. Soweit die Bundesregierung dieses Recht nicht für sich beansprucht, können die Landesbehörden allgemeine Verwaltungsvorschriften erlassen. Diese bedürfen der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen, soweit dieser nicht auf die Ausübung des Zustimmungsrechtes allgemein oder im Einzelfall verzichtet. Das gleiche gilt für Anordnungen nach § 131 der Reichsabgabenordnung, die sich auf eine Mehrheit von Fällen beziehen.
(3) Vereinbarungen und vereinbarungsähnliche Maßnahmen im Sinne von § 220 Ziff. 3 der Reichsabgabenordnung bedürfen der Zustimmung des Bundesministers der Finanzen. Das gleiche gilt für Erlaß (§ 131 der Reichsabgabenordnung) und Stundung (§ 127 der Reichsabgabenordnung) im Einzelfall, wenn bestimmte, durch Rechtsverordnung des Bundesministers der Finanzen mit Zustimmung des Bundesrates festgesetzte Grenzen überschritten werden.§ 2 Überwachung durch den Bund
(1) Für die in § 1 Abs. 1 bezeichneten Abgaben überwachen der Bundesminister der Finanzen und seine Beauftragten, im Zusammenwirken mit den für die Finanzverwaltung zuständigen Obersten Landesbehörden, die Gleichmäßigkeit der Gesetzesanwendung und die Ordnungsmäßigkeit der Verwaltung.
(2) Die für die Finanzverwaltung zuständigen Obersten Landesbehörden werden dem Bundesminister der Finanzen und seinen Beauftragten auf Anfordern die Unterlagen, die sich auf die Verwaltung der in § 1 Abs. 1 bezeichneten Abgaben beziehen, zur Einsichtnahme vorlegen oder vorlegen lassen.
(3) Art. 85 Abs. 4 und Art. 108 Abs. 4 des Grundgesetzes bleiben unberührt.§ 3 Betriebsprüfungsstellen des Bundes
Die Betriebsprüfungsstellen, die der Bund zur Prüfung der durch Bundesfinanzbehörden verwalteten Steuern eingerichtet hat oder künftig einrichtet, können auch die in § 1 Abs. 1 bezeichneten Abgaben prüfen. Den Landesfinanzbehörden ist dabei Gelegenheit zur Mitwirkung zu geben.§ 4 Ermächtigung zum Erlaß von Verwaltungsvorschriften
Die Bundesregierung wird ermächtigt, die zur Durchführung dieses Gesetzes erforderlichen allgemeinen Verwaltungsvorschriften zu erlassen.§ 5 Erstreckung des Gesetzes auf Berlin
Dieses Gesetz gilt für Berlin, sobald eine den Artikeln 106 und 120 des Grundgesetzes entsprechende Regelung für Berlin getroffen ist und das Land Berlin gemäß Art. 87 Abs. 2 seiner Verfassung die Anwendung dieses Gesetzes für Berlin beschließt.§ 6 Inkrafttreten
Dieses Gesetz tritt am Tag nach seiner Verkündung in Kraft.
Der Bundesrat war der Auffassung, daß das Gesetz seiner Zustimmung bedürfe, beschloß aber, die Zustimmung nicht zu erteilen. Der Bundespräsident hat das Gesetz nicht ausgefertigt. Auf Grund einet neuen Regierungsvorlage (BT-Drucks. Nr. 3101) ist das Bundesgesetz zur Durchführung des Art. 108 Abs. 2 des Grundgesetzes (Zweites Gesetz über die Finanzverwaltung) vom 15. Mai 1952 (BGBl. I S. 293) erlassen worden.].
Die von dem Bundespräsidenten dem Bundesverfassungsgericht gemäß § 97 Abs. 2 BVerfGG vorgelegte Frage beantwortet das Plenum des Bundesverfassungsgerichts wie folgt:
Das Gesetz zur Durchführung des Artikels 108 Absatz 2 des Grundgesetzes bedarf der Zustimmung des Bundesrates.
Gründe
1. Das Gesetz zur Durchführung des Art. 108 Abs. 2 GG regelt die Verwaltung der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer. Das Aufkommen aus diesen Steuern fließt grundsätzlich den Ländern zu (Art. 106 Abs. 2 GG). Der Bund hat auf Grund des Art. 106 Abs. 3 GG durch das Gesetz über die Inanspruchnahme eines Teils der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer durch den Bund im Rechnungsjahr 1951 vom 23. Oktober 1951 (BGBl. I S. 864) einen Anteil von 27 v. H. für sich in Anspruch genommen. Durch § 34 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes über die Finanzverwaltung (FVG) vom 6. September 1950 (BGBl. I S. 448) war bereits den Landesfinanzbehörden als Auftragsverwaltung "die Verwaltung desjenigen Teils der Einkommensteuer und der Körperschaftsteuer, den der Bund für sich in Anspruch nimmt", übertragen worden.
2. Das Gesetz regelt nicht nur die Verwaltung des Teils der Einkommensteuer und Körperschaftsteuer, den der Bund für sich in Anspruch nimmt. Seine Bestimmungen wirken sich auch auf den Teil aus, der den Ländern verbleibt (siehe die Begründung zum Regierungsentwurf, Allgemeiner Teil, Abs. 4, und die Ausführungen des Vertreters des Bundesministers der Finanzen, Ministerialdirigenten Mersmann, in der Sitzung des Rechtsausschusses des Bundesrats vom 18. April 1951 – Kurzprotokoll S. 6 –). Der den Ländern zufließende Teil der Steuern wird gemäß Art. 108 Abs. 3 GG durch die Landesfinanzbehörden als landeseigene Angelegenheit verwaltet. Das Gesetz befaßt sich also nicht nur mit der Auftragsverwaltung, sondern auch mit der landeseigenen Finanzverwaltung. Alle Vorschriften des Gesetzes gelten für beide Verwaltungsarten.
3. Dem Bundesrat steht im allgemeinen gegen Gesetzesbeschlüsse des Bundestags nach Abschluß des Vermittlungsverfahrens nur der Einspruch zu, der überstimmbar ist. In bestimmten Fällen, in welchen der Interessenbereich der Länder besonders stark berührt wird, hat der Bundesrat jedoch einen größeren Einfluß auf das Zustandekommen des vom Bundestag beschlossenen Gesetzes, nämlich das Recht der Zustimmung. Diese Fälle sind im Grundgesetz einzeln ausdrücklich aufgeführt (sog. Enumerationsprinzip).
4. Ein solches Zustimmungserfordernis enthält Art. 108 Abs. 3 Satz 2 GG, der vorschreibt, daß der Bund durch zustimmungsbedürftiges Bundesgesetz das von den Landesfinanzbehörden anzuwendende Verfahren regeln kann. Die Frage, ob diese Vorschrift auf das dem Bundespräsidenten zur Ausfertigung vorgelegte Gesetz anzuwenden ist, muß bejaht werden. Das Gesetz enthält in der Tat Bestimmungen über das von den Landesfinanzbehörden anzuwendende Verfahren. So bindet § 1 Abs. 2 Satz 4 und Abs. 3 bestimmte Anordnungen und Verwaltungsakte der Landesfinanzbehörden an die Zustimmung des Bundesministers der Finanzen. In § 2 Abs. 1 und in § 3 Satz 2 schreibt es allgemein ein "Zusammenwirken" oder "Mitwirken" mit den Bundesfinanzbehörden vor. Diese Vorschriften sind nicht auf die den Ländern auftragsweise übertragene Verwaltung des dem Bund zufließenden Steueranteils beschränkt, sondern erstrecken sich notwendigerweise auch auf die – landeseigene – Verwaltung des den Ländern verbleibenden Steueraufkommens.
Nach Art. 108 Abs. 3 Satz 2 GG ist es, soweit es sich um das Zustimmungserfordernis handelt, unerheblich, wer die Gesetzgebungshoheit über die Steuern hat oder wem die Steuern zufließen. Es kommt lediglich darauf an, wem die Verwaltung der Steuern obliegt. Werden die Steuern von Landesfinanzbehörden verwaltet, dann bedürfen Bundesgesetze über das von diesen Behörden anzuwendende Verfahren der Zustimmung des Bundesrats, gleichgültig, ob die Behörden landeseigene Verwaltung ausüben oder auftragsweise für den Bund tätig werden. Dies ergibt sich auch aus einer Gegenüberstellung mit Art. 108 Abs. 1 Satz 2 GG, der für die gesetzliche Regelung des von den Bundesfinanzbehörden anzuwendenden Verfahrens eine Zustimmung des Bundesrats nicht verlangt.
5. Da das Gesetz schon auf Grund des Art. 108 Abs. 3 Satz 2 GG der Zustimmung des Bundesrats bedarf, kann unentschieden bleiben, ob es, wie der Bundesrat behauptet, auch nach Art. 105 Abs. 3 GG oder etwa schon deshalb zustimmungsbedürftig ist, weil es eine (materielle) Änderung des § 34 Abs. 1 Nr. 4 des Gesetzes über die Finanzverwaltung, also eines Zustimmungsgesetzes, enthält.
6. Die in der 58. Sitzung des Rechtsausschusses des Bundesrats vom 18. April 1951 bei Beratung der ursprünglichen Vorlage der Bundesregierung erörterten weiteren verfassungsrechtlichen Fragen hat das Bundesverfassungsgericht entsprechend der Begrenzung der Fragestellung auf die "bestimmte verfassungsrechtliche Frage" (§ 97 Abs. 1 BVerfGG) der Zustimmungsbedürftigkeit des Gesetzes nicht geprüft.