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BVerfGE 16, 194; DÖV 1963, 592; DVBl 1963, 670; JZ 1963, 750; MDR 1963, 735; NJW 1963, 1597; NJW 1963, 1667; Rpfleger 1963, 277

Daten

Fall: 
Liquorentnahme
Fundstellen: 
BVerfGE 16, 194; DÖV 1963, 592; DVBl 1963, 670; JZ 1963, 750; MDR 1963, 735; NJW 1963, 1597; NJW 1963, 1667; Rpfleger 1963, 277
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
10.06.1963
Aktenzeichen: 
1 BvR 790/58
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • LG München I, 14.10.1958 - II Qs 304/58

Rechtsnormen

Seitennummerierung nach:

BVerfGE 16, 194

Seiten:


BVerfGE 16, 194 (194):
Bei Anordnung einer Liquorentnahme nach § 81a StPO fordert das Grundrecht der körperlichen Unversehrtheit, daß der beabsichtigte Eingriff in angemessenem Verhältnis auch zu der Schwere der Tat steht.

 


BVerfGE 16, 194 (195):
Beschluß

des Ersten Senats vom 10. Juni 1963

-- 1 BvR 790/58 --

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Kaufmanns Robert N..., Bevolmächtigter: Rechtsanwalt ..., gegen die Beschlüsse des Amtsgerichts München vom 11. September 1958 - 8 Cs 67/57 - und des Landgerichts München I vom 14. Oktober 1958 - II Qs 304/58.

Entscheidungsformel:

Die Beschlüsse des Amtsgerichts München vom 11. September 1958 - 8 Cs 67/58 - und des Landgerichts München I vom 14. Oktober 1958 - II Qs 304/58 - verletzen das Grundrecht des Beschwerdeführers aus Artikel 2 Absatz 2 GG; sie werden aufgehoben. Die Sache wird an das Amtsgericht München zurückverwiesen.

  Gründe:

  A.

1. Der Beschwerdeführer war Geschäftsführer und mit einem Geschäftsanteil von 19000 DM Hauptgesellschafter der Münchner Modellstrickwaren-GmbH; Mitgesellschafter mit einem Geschäftsanteil von 1000 DM war seine mit ihm zusammenwohnende, jetzt 89 Jahre alte Mutter. Da er als Geschäftsführer wiederholt Fragebogen der Handwerkskammer, zu deren Beantwortung er sich nicht verpflichtet glaubte, nicht ordnungsgemäß ausgefüllt, sondern - wie die Staatsanwaltschaft vortrug - "mit ungenügenden, zynischen und teils völlig sinnlosen Vermerken versehen" hatte, wurden gegen die Gesellschaft zwei Bußgelder von je 500 DM verhängt; jedoch wurden diese Bußgelder, da der Beschwerdeführer als gesetzlicher Vertreter der Gesellschaft früher den Offenbarungseid geleistet hatte, als uneinbringlich niedergeschlagen. Weil der Beschwerdeführer diese Bußgeldbescheide verschuldet und somit der Gesellschaft einen Schaden von über 1000 DM zufügt habe, ist gegen ihn wegen eines Vergehens gegen § 81a GmbHG (Organuntreue) Anklage erhoben worden.


BVerfGE 16, 194 (196):
In der Hauptverhandlung ordnete der Amtsrichter die ärztliche Untersuchung des Angeklagten zur Prüfung seiner Zurechnungsfähigkeit an. Der Gerichtsarzt stellte nach ambulanter Untersuchung einen Verdacht auf Erkrankung des Zentralnervensystems fest; zur Klärung hielt er eine Blutuntersuchung und eine Untersuchung des Liquor (Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit) für notwendig, wozu es eines Einstichs in den Wirbelkanal mit einer langen Hohlnadel entweder im Bereich der oberen Lendenwirbel (Lumbalpunktion) oder im Nacken zwischen Schädel und oberstem Halswirbel (Okzipitalpunktion) bedarf. Da der Beschwerdeführer die Durchführung dieser Untersuchungen verweigerte, ordnete das Amtsgericht durch Beschluß vom 11. September 1958 auf Grund von § 81a StPO ihre Vornahme durch die Nervenklinik der Universität München an.

Der Beschwerdeführer legte Beschwerde ein, mit der er geltend machte, eine Liquorentnahme sei ein äußerst schmerzhafter Eingriff; sie sei nicht erforderlich, da seine Zurechnungsfähigkeit erst ein Jahr zuvor in einem auf Selbstanzeige eingeleiteten Meineidsverfahren auf Grund eingehender Begutachtung bejaht worden sei. Der Anordnung fehle die notwendige Bestimmtheit; da es mehrere Formen der Liquorentnahme gebe, hätte der vorzunehmende körperliche Eingriff genau bezeichnet werden müssen. Schließlich sei ein solch gewaltsamer Eingriff durchaus geeignet, seine durch übermäßige Arbeit ohnehin nervlich stark belastete psychische Struktur schwer zu erschüttern.

Das Landgericht verwarf die Beschwerde durch Beschluß vom 14. Oktober 1958 als unbegründet. Zu der Rüge mangelnder Bestimmtheit führte es aus: Der Beschluß des Amtsgerichts bestimme zwar nicht, ob Lumbal- oder Okzipitalpunktion vorgenommen werden solle. Das sei aber auch nicht notwendig; nach fernmündlich eingeholter Auskunft des Gerichtsarztes seien beide Eingriffe gleichwertig, daher könne dem durchführenden Arzt die Wahl überlassen werden.

2. Der Beschwerdeführer greift die vorgenannten Beschlüsse als Verletzung seiner Grundrechte aus Art. 2 Abs. 2 und Art. 103


BVerfGE 16, 194 (197):
Abs. 1 GG an. Das rechtliche Gehör sei vor allem dadurch verletzt, daß das Landgericht eine telefonische Auskunft des Gerichtsarztes verwertet habe, ohne dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Zur Verletzung des Rechts auf körperliche Unversehrtheit trägt er vor: Beide Methoden der Liquorentnahme hätten unangenehme Folgen, die Okzipitalpunktion aber in erheblich stärkerem Maße als die Lumbalpunktion. Daher hätten die Gerichte die Wahl zwischen ihnen nicht dem Arzt überlassen dürfen. Die Liquorentnahme gefährde die Gesundheit des Beschwerdeführers aufs schwerste, sei aber auch gar nicht notwendig, zumal es genügend andere Methoden zur Aufklärung der Zurechnungsfähigkeit gebe.

3. Der Bayerische Staatsminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde für unbegründet. Art. 2 GG sei nicht verletzt, da die Anordnung auf § 81a StPO, also auf einem Gesetz, beruhe.

Das Bundesverfassungsgericht hat ein Sachverständigengutachten des früheren Direktors der Neurologischen Universitätsklinik in Hamburg, Prof. Dr. Pette, darüber eingeholt, welche Bedeutung und welche körperlichen und seelischen Folgen Lumbal- und Okzipitalpunktion für den Betroffenen haben, ob sie für den Betroffenen gleichwertig sind oder ob die Okzipitalpunktion wesentlich schmerzhafter und gefährlicher ist, und wie weit eine Liquorentnahme zur Aufklärung der Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten unentbehrlich ist. Das Gutachten kommt zu folgendem Ergebnis:

"Lumbal -und Okzipitalpunktionen zeigten, von sachverständiger Hand durchgeführt, keine nachteiligen Folgen. Sie hätten keinen seelischen Schock und keine körperlichen Schäden zur Folge, insbesondere keine nachteiligen Folgen für die Gesundheit, auch dann nicht, wenn der Eingriff gegen den Willen des Betroffenen vorgenommen werde. Beide Formen der Liquorentnahme seien für den Betroffenen gleichwertig. Bei der Lumbalpunktion träten in etwa 10% der Fälle für mehrere Tage Kopf-, Rückenschmerzen und Übelkeit auf, nicht aber bei der Okzipitalpunktion, die im allgemeinen auch weniger schmerzhaft sei. Im vorliegenden Fall scheine es


BVerfGE 16, 194 (198):
nicht absolut gesichert, daß die Liquorentnahme zur Beurteilung des Geisteszustandes erforderlich sei, da die bisherigen Befunde keine objektiven Zeichen für eine organische Schädigung des Nervensystems ergeben hätten."

4. Der Bundesminister der Justiz hält die Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des rechtlichen Gehörs für begründet. Zur Verletzung von Art. 2 Abs. 2 GG weist er darauf hin, daß nach der neueren Rechtsprechung vor der Anordnung von Maßnahmen nach § 81a StPO zu prüfen sei, in welchem Verhältnis die Schwere des Eingriffs zu der Bedeutung der zu ahndenden Straftat stehe.

  B.

Es kann dahingestellt bleiben, ob der Beschluß des Landgerichts auf einer Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruht. Die Verfassungsbeschwerde ist schon wegen Verletzung des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 GG) begründet.

1. Die Entnahme von Gehirn- und Rückenmarkflüssigkeit mit einer langen Hohlnadel ist ein nicht unerheblicher operativer Eingriff, ein Eingriff in die körperliche Unversehrtheit im Sinne des Art. 2 Abs. 2 GG. Mag er auch, wenn er nach den Regeln der ärztlichen Kunst vorgenommen wird, normalerweise ungefährlich sein, so sind doch Störungen des Gesundheitszustandes wie Schmerzen und Übelkeit möglich, nach dem Gutachten des Sachverständigen bei der Lumbalpunktion sogar in 10% aller Fälle zu erwarten; in besonderen Fällen kann die Liquorentnahme aber auch zu ernsten Komplikationen führen (vgl. die Angabe über Kontraindikationen bei Pschyrembel, Klinisches Wörterbuch, 123. bis 153. Aufl., Stichwort Lumbalpunktion). So hat auch das Reichsversicherungsamt - in anderem Zusammenhang - schon vor Jahrzehnten in einer dann ständig festgehaltenen Rechtsprechung diesen Eingriff gewürdigt, indem es entschieden hat, daß die Verweigerung der Liquorentnahme die Entziehung einer Rente nicht rechtfertige (siehe Amtliche Nachrichten für Reichs


BVerfGE 16, 194 (199):
versicherung 1929, S. 164; 1930, S. 163; Entscheidungen und Mitteilungen des Reichsversicherungsamtes Band 46 [1940] S. 263). Dabei stützt es sich auf ein Gutachten des Reichsgesundheitsamtes, das eine mit hoher Wahrscheinlichkeit anzunehmende Gefahrlosigkeit nur dann als gesichert bezeichnet, wenn außer besonderen Vorsichtsmaßregeln bei der eigentlichen Durchführung des Eingriffs vorher durch eingehende fachärztliche Untersuchung das Vorliegen von Gehirngeschwülsten ausgeschlossen werden könne. Auch die relative Schmerzlosigkeit hat es nur mit erheblichen Einschränkungen bejaht. Das Gutachten hat besonders hervorgehoben, daß bei Neurotikern die Gefahr neurotischer Fixation des Eingriffs bestehe, die bei einer gegen den Willen des Kranken durchgeführten Lumbalpunktion noch erhöht würde. Übrigens rechnet auch die Zweite Verordnung zur Durchführung des Gesetzes zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 5. Juli 1955 (BGBl. I S. 402) die Liquorentnahme zu den Eingriffen, die nur mit Einwilligung des Kranken vorgenommen werden dürfen.

2. Das Recht auf körperliche Unversehrtheit kann auf Grund eines einfachen Gesetzes eingeschränkt werden (Art. 2 Abs. 2 Satz 3 GG). Als formelles Gesetz genügt § 81a StPO dieser Forderung.

a) Das Gesetz zur Wiederherstellung der Rechtseinheit auf dem Gebiete der Gerichtsverfassung, der bürgerlichen Rechtspflege, des Strafverfahrens und des Kostenrechts vom 12. September 1950 (BGBl. S. 455), das dem § 81a StPO die jetzt geltende Fassung gegeben hat, nennt das Grundrecht des Art. 2 Abs. 2 GG nicht als eingeschränkt. Dies berührt aber die Verfassungsmäßigkeit der Bestimmung nicht. Die den Strafverfolgungsbehörden darin gegebenen Befugnisse waren bereits in Art. 2 Nr. 4 des Ausführungsgesetzes zu dem Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung vom 24. November 1933 (RGBl. I S. 1000) enthalten; das Vereinheitlichungsgesetz hat sie neu gefaßt, aber


BVerfGE 16, 194 (200):
nicht verschärft. Art. 19 Abs. 1 Satz 2 GG trifft diesen Fall nicht (BVerfGE 5, 13 [15 ff.]).

b) Auch inhaltlich widerspricht § 81a StPO in dem hier allein erheblichen Umfang - der Zulässigkeit der Anordnung einer zwangsweisen Liquorentnahme gegen den Beschuldigten - dem Grundgesetz nicht.

aa) Nach § 81a StPO sind zur Feststellung von Tatsachen, die für das Verfahren von Bedeutung sein können, die Entnahme von Blutproben und andere körperliche Eingriffe, die von einem Arzt nach den Regeln der ärztlichen Kunst zu Untersuchungszwecken vorgenommen werden, gegenüber dem Beschuldigten ohne seine Einwilligung zulässig, wenn kein Nachteil für seine Gesundheit zu befürchten ist.

Die in der Literatur gegen die Verfassungsmäßigkeit dieser Bestimmung erhobenen Bedenken sind unbegründet. Sie richten sich einerseits dagegen, daß kein bestimmter Grad von Tatverdacht gefordert werde, die Bestimmung sei daher eine handgreifliche Verletzung der Unschuldsvermutung" (so Sax, Grundsätze der Strafrechtspflege in Bettermann/Nipperdey/Scheuner, Grundrechte III/2, S. 973 ff., vor allem 983 ff.); andererseits dagegen, daß die in § 81a StPO verwandten Begriffe der scharfen Grenzen entbehren (so Sarstedt bei Löwe/Rosenberg, Strafprozeßordnung, 21. Aufl. 1962, Anm. 1 zu § 81a). Daß die besondere Stellung des Beschuldigten ihm gegenüber besondere Eingriffe erlaubt, fordern die elementaren Bedürfnisse des Strafrechts. Eine sinngemäße Auslegung des § 81a StPO muß aber selbstverständlich dazu führen, vor einer richterlichen Anordnung zu prüfen, ob der jeweils bestehende Grad von Tatverdacht die Maßnahme rechtfertigt. Daher kann hingenommen werden, daß das Gesetz nicht die formelle Feststellung hinreichenden Tatverdachts fordert wie für die Eröffnung des Hauptverfahrens oder einen dringenden Tatverdacht wie für die Anordnung der Untersuchungshaft.

Es ist richtig, daß die in § 81a StPO verwendeten Begriffe weitgehend unbestimmt sind. Diese Unbestimmtheit führt aber


BVerfGE 16, 194 (201):
nicht zur Ungültigkeit der Bestimmung. Daß der Gehalt einer unvollkommen gefaßten Vorschrift erst durch Auslegung unter Berücksichtigung ihres Zwecks - jetzt auch unter Beachtung der Wertmaßstäbe des Grundgesetzes - erschlossen werden muß, ist nichts Ungewöhnliches; Sarstedt selbst weist darauf hin, daß bei sinngemäßer Interpretation körperliche Eingriffe gegen den Beschuldigten nur zulässig sind, wenn sie "in einem angemessenen Verhältnis zur Schwere der Beschuldigung, zur Stärke des Verdachts, zur Wahrscheinlichkeit eines Ergebnisses und zu dessen Erkenntniswert stehen". Darüber hinaus besteht auch für Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit, die der Wortlaut des Gesetzes deckt, eine absolute Grenze, deren Überschreitung den Wesensgehalt dieses Grundrechts antasten würde.

Bei einer verfassungsrechtlichen Würdigung der Bestimmung ist vor allem zu berücksichtigen, daß die Anordnung in die Hand des Richters gelegt ist; denn der Staatsanwaltschaft und ihren Hilfsbeamten in §81a Abs. 2 StPO bei Gefahr im Verzuge gegebenen Befugnissen kommt für die schwereren Eingriffe wie die Liquorentnahme keine praktische Bedeutung zu. Von dem Richter erwartet aber das Gesetz, daß er dort, wo er einem Verwaltungsakt ähnliche Maßnahmen zu treffen hat, dieselbe spezifisch richterliche Denkweise anwendet wie bei der Nachprüfung von Handlungen, die Verwaltungsbehörden im Rahmen ihres Ermessens vorgenommen haben. Darin liegt gerade der Grund für die gesetzliche Übertragung schwerwiegender Anordnungen auf den Richter.

bb) Greifen somit die gegen die Gültigkeit der Norm bestehenden verfassungsrechtlichen Bedenken nicht durch, so ist doch nicht ausgeschlossen, daß einzelne der in Betracht kommenden Eingriffe als durch die Verfassung schlechthin verboten angesehen werden müssen. Hierzu gehört die Liquorentnahme nicht, wie das Gericht nach dem Gutachten des Sachverständigen annehmen muß.

c) Auch bei der Entscheidung über die Liquorentnahme hat der Richter demnach, wie bei allen staatlichen Eingriffen in die Frei


BVerfGE 16, 194 (202):
heitssphäre, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zwischen Mittel und Zweck zu beachten. Wenn auch das öffentliche Interesse an der Aufklärung von Verbrechen, das in dem rechtsstaatlich besonders wichtigen Legalitätsprinzip (§152 Abs. 2 StPO) wurzelt, im allgemeinen selbst Eingriffe in die Freiheit des Beschuldigten rechtfertigt, so genügt dieses allgemeine Interesse um so weniger, je schwerer in die Freiheitssphäre eingegriffen wird. Für die Beurteilung der Verhältnismäßigkeit zwischen Zweck und Maßnahme muß daher auch in Betracht gezogen werden, welches Gewicht die zu ahndende Tat hat. Das gilt besonders für die in den §§ 81 und 81a StPO zugelassenen schwerwiegenden Maßnahmen, die zur Feststellung der Zurechnungsfähigkeit des Beschuldigten dienen; hier fordert eine dem Sinn der Grundrechte Rechnung tragende Gesetzesanwendung, daß der beabsichtigte Eingriff in angemessenem Verhältnis zu der Schwere der Tat steht, damit nicht die mit der Aufklärung der Tat verbundenen Folgen den Täter stärker belasten als die zu erwartende Strafe. Der Richter ist daher verfassungsrechtlich gehalten, im einzelnen Fall eine gesetzlich an sich zulässige Maßnahme auch am Übermaßverbot zu messen (Maunz/Dürig, Kommentar zum Grundgesetz, Randnr. 40 zu Art. 2 Abs. 2). Dieser Grundsatz ist für die Einweisung des Beschuldigten in eine öffentliche Heil- oder Pflegeanstalt zur Vorbereitung eines Gutachtens über seinen Geisteszustand nach § 81 StPO allgemein anerkannt (vgl. auch Nr. 47 der Richtlinien für das Strafverfahren). Auf die Untersuchungshaft hat das Bundesverfassungsgericht diesen Grundsatz bereits wiederholt angewandt (BVerfGE 10, 271 [274 und Leitsatz]). Eine verfassungskonforme Auslegung des § 81a StPO gebietet daher, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit hier in derselben Weise anzuwenden, wie dies Gerichte bisher ohnehin schon vielfach getan haben (vgl. LG Göttingen, MDR 1952, 629 (630 a. E.); BayObLGSt 1956, 180 (186); OLG Celle, Nds. Rechtspflege 1957, 15 [16]).

3. Im vorliegenden Fall haben die Gerichte diese Grundsätze außer acht gelassen. An der Gesellschaft, als deren Geschäftsführer


BVerfGE 16, 194 (203):
der Beschwerdeführer gehandelt hat, war außer ihm nur noch seine betagte Mutter mit einem kleinen Bruchteil des Geschäftskapitals beteiligt. Es liegt nahe, daß sie sein Handeln gegenüber der Handwerkskammer gebilligt hat oder daß der Beschwerdeführer doch wenigstens mit einer solchen Billigung rechnen durfte. Die Zustimmung aller Gesellschafter schließt allerdings eine Untreue gegenüber der Gesellschaft nach der Rechtsprechung zu § 81a GmbHG nicht aus, denn das Vermögen der Gesellschaft haftet den Gläubigern und muß ihnen als Kreditunterlage erhalten werden (BGHSt 3, 23 und die dort angeführte Rechtsprechung). Im vorliegenden Fall ist aber, da die Bußgelder niedergeschlagen worden sind, niemand geschädigt worden, weder die Gesellschaft selbst noch etwaige Gläubiger. Im ganzen handelt es sich um eine Bagatellsache, derentwegen nur eine geringe Strafe, unter Umständen sogar Einstellung wegen Geringfügigkeit in Betracht kommen dürfte. Demgegenüber ist die Liquorentnahme in ihren beiden Formen ein nicht belangloser körperlicher Eingriff; wegen einer Bagatellangelegenheit den Beschuldigten gegen seinen Willen einem solchen Eingriff zu unterwerfen, ist nicht gerechtfertigt.

Da die Gerichte in Verkennung der Tragweite des Grundrechts des Art. 2 Abs. 2 GG das Prinzip der Verhältnismäßigkeit außer acht gelassen haben, waren die angefochtenen Beschlüsse aufzuheben. Die Sache ist an das Amtsgericht zurückzuverweisen (§ 95 Abs. 2 BVerfGG).