Human Rights Watch: Terrorismusbekämpfung

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Letztes Update: vor 3 Jahre 39 Wochen

Ägypten: Schwere Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen im Nord-Sinai

Mi, 27.05.2020 - 10:50
Mai 28, 2019 Video Egypt: War Crimes in North Sinai

 Human Rights Watch’s two-year investigation documented crimes including mass arbitrary arrests, enforced disappearances, torture, extrajudicial killings, and possibly unlawful air and ground attacks against civilians.

(Beirut) - Ägyptische Militär- und Polizeikräfte begehen auf der Halbinsel Sinai schwere und weitverbreitete Menschenrechtsverletzungen gegen Zivilisten, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Vergehen erfolgen im Zuge der laufenden Kampagne gegen Mitglieder der Provinzgruppe Sinai, des lokalen ISIS-Ablegers, und stellen in einigen Fällen Kriegsverbrechen dar.

Der134-seitige Bericht ‘If You Are Afraid for Your Lives, Leave Sinai!’: Egyptian Security Forces and ISIS-Affiliate Abuses in North Sinai liefert einen detaillierten Einblick in einen kaum beachteten Konflikt, in dem seit der Eskalation der Kämpfe im Jahr 2013 Tausende Menschen verletzt oder getötet wurden – darunter Zivilisten, Kämpfer und Angehörige der Sicherheitskräfte. Die über zwei Jahre durchgeführten Recherchen von Human Rights Watch dokumentieren Verbrechen wie willkürliche Masseninhaftierungen, Verschleppungen, Folter, außergerichtliche Tötungen und möglicherweise rechtswidrige Angriffe auf Zivilisten durch Luft- und Bodenstreitkräfte. Obwohl ein Großteil der Menschenrechtsverletzungen auf das Konto der ägyptischen Militär- und Polizeikräfte geht, haben auch die extremistischen Milizen grausame Verbrechen verübt, etwa die Entführung, Folter und Ermordung von Anwohnern oder die standrechtliche Hinrichtung gefangengenommener Sicherheitskräfte.  Mai 28, 2019 Report If You Are Afraid for Your Lives, Leave Sinai!

Egyptian Security Forces and ISIS-Affiliate Abuses in North Sinai

„Statt die Bewohner des Sinai in ihrem Kampf gegen die Militanten zu unterstützen, haben die ägyptischen Sicherheitskräfte eine totale Geringschätzung für das Leben der Anwohner an den Tag gelegt und ihren Alltag in einen endlosen Albtraum verwandelt“, so Michael Page, stellvertretender Direktor der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Die grausame Behandlung der Bewohner des Sinai sollte ein weiterer Weckruf an Staaten wie die USA und Frankreich sein, die Ägyptens Anti-Terror-Maßnahmen blindlings unterstützen.“

Human Rights Watch interviewte für den Bericht 54 Bewohner des nördlichen Sinai im Zeitraum 2016 bis 2018. Befragt wurden zudem Aktivisten, Journalisten und andere Zeugen, darunter zwei ehemalige Offiziere der Armee, ein Soldat, ein ehemaliger Funktionär aus dem Nord-Sinai und ein ehemaliger Beamter der US-Sicherheitsbehörden, der mit Ägypten betraut war. Human Rights Watch wertete auch unzählige offizielle Erklärungen, Social-Media-Posts, Medienberichte und Dutzende Satellitenfotos aus, um die Zerstörung von Wohngebäuden zu belegen und geheime Hafteinrichtungen des Militärs zu identifizieren. Das ägyptische Militär hat faktisch jede unabhängige Berichterstattung aus Nord-Sinai verboten und mehrere Journalisten, die von dort berichtet hatten, verfolgt und inhaftiert.

Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass die Feindseligkeiten auf dem nördlichen Sinai das Niveau eines nicht-internationalen bewaffneten Konflikts erreicht haben, da es zu fortdauernden Kämpfen zwischen organisierten bewaffneten Gruppen kommt. Die Konfliktparteien haben das Kriegsvölkerrecht sowie lokale und internationale Menschenrechtsstandards verletzt.

Indem beide Seiten gezielt Zivilisten angreifen, Menschenrechtsverletzungen verüben und nicht zwischen Kämpfern und Zivilisten unterscheiden, haben sie grundlegende Rechte der Zivilbevölkerung bedeutungslos gemacht und jeden Freiraum für eine friedliche politische Mobilisierung oder Opposition zerstört.

„Wozu das alles? Sollen wir Waffen tragen? Sollen wir mit den Milizen oder der Armee zusammenarbeiten? Oder sollen wir wie Opfer leben? Alle machen Jagd auf uns“, so ein Anwohner, der gegenüber Human Rights Watch beschrieb, wie die Armee ihn bestrafte und sein Haus zerstörte, nachdem ISIS-Kämpfer ihn entführt und gefoltert hatten.

Offiziellen Erklärungen und Medienberichten zufolge wurden von Januar 2014 bis Juni 2018 3.076 mutmaßliche ISIS-Kämpfer und 1.226 Angehörige von Militär und Polizei durch die Kämpfe getötet. Die ägyptischen Behörden haben keine Zahlen zu zivilen Opfern veröffentlicht oder Fehlverhalten eingeräumt. Human Rights Watch deckte auf, dass die ägyptischen Behörden regelmäßig zivile Opfer zu den getöteten mutmaßlichen Kämpfern gezählt hat und dass Hunderte Zivilisten verletzt oder getötet wurden.

Ausgehend von den Erklärungen des Militärs und der Berichterstattung in den ägyptischen Medien geht Human Rights Watch davon aus, dass Militär- und Polizeikräfte von Juli 2013 bis Dezember 2018 mehr als 12.000 Bewohner vom Nord-Sinai festgenommen haben. Das Militär räumt offiziell 7.300 Verhaftungen ein, veröffentlicht jedoch nur selten Namen oder Tatvorwürfe. Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass viele dieser Menschen, willkürlich inhaftiert und gewaltsam verschleppt wurden. Einige wurden außergerichtlich hingerichtet. In den vergangenen Jahren haben vermutlich Tausende Menschen den Regierungsbezirk verlassen, entweder um vor dem Konflikt zu fliehen oder weil sie vom Militär aus ihren Häusern vertrieben wurden.

Nord-Sinai ist ein dünn besiedelter Verwaltungsbezirk mit weniger als 500.000 Einwohnern. Er grenzt an Israel und den Gaza-Streifen. Bewaffnete Gruppen existieren dort seit langem. Seit dem Volksaufstand von 2011, der zum Rücktritt des langjährigen Präsidenten Hosni Mubarak geführt hatte, kam es jedoch immer häufiger zu Angriffen auf staatliche Einrichtungen, Militärkräfte und israelische Truppen.

Als das ägyptische Militär den damaligen Präsident Mohammed Mursi im Juli 2013 zum Rücktritt zwang und verhaftete, eskalierte die Gewalt. Die lokale Miliz Ansar Bait al-Maqdis schloss sich Ende 2014 ISIS an und änderte ihren Namen in Wilayat Sinai (Provinzgruppe Sinai). Daraufhin entsandte die Armee mehr als 40.000 Soldaten der See-, Luft- und Bodenstreitkräfte. Ägypten koordinierte diesen Einsatz mit Israel und soll Israel laut Medienberichten erlaubt haben, Luftangriffe auf Ziele auf dem Sinai zu fliegen, welche der Miliz zugerechnet wurden.

In diesem Bericht dokumentiert Human Rights Watch mindestens 50 willkürliche Festnahmen, darunter 39 Fälle, in denen Militär und Polizei die Betroffenen verschleppte. Vierzehn dieser Personen bleiben auch drei Jahre später unauffindbar.

Die Armee hat Häftlinge in Isolation und unter miserablen Bedingungen festgehalten, weit entfernt von jeder richterlichen Kontrolle. Militär und Polizei haben sogar 12-jährige Kinder zusammen mit Erwachsenen inhaftiert. Frauen wurden üblicherweise getrennt festgehalten. Die Recherchen von Human Rights Watch zeigten, dass die Armee zu jedem beliebigen Zeitpunkt in den vergangenen Jahren vermutlich bis zu 1.000 Personen unter Geheimhaltung auf dem Militärstützpunkt Al-Galaa festgehalten hat. Die Basis ist eine der drei bedeutendsten Hafteinrichtungen, die der Bericht beschreibt.

Ehemalige Häftlinge erklärten, dass sie während der Inhaftierung durch Armee und Polizei schlecht mit Nahrungsmitteln versorgt wurden, es kaum medizinische Versorgung gab und sie in kleinen, überfüllten Zellen untergebracht waren. Soldaten und Polizeibeamte hätten viele Insassen gefoltert, etwa mit Schlägen und Elektroschocks. Human Rights Watch dokumentierte drei Todesfälle im Gewahrsam der Sicherheitskräfte.

Einige der heimlich Inhaftierten wurden ohne Gerichtsverfahren von Militär- und Polizeikräften in die Wüste gebracht und hingerichtet. Später wurde erklärt, die Opfer seien bei Schusswechseln ums Leben gekommen. Human Rights Watch dokumentierte 14 derartige Fälle. Sechs weitere waren bereits vor dem Bericht dokumentiert worden.

Die ägyptische Armee hat Bewohner vom Nord-Sinai zu Milizionären rekrutiert. Diese haben bei den Menschenrechtsverletzungen eine erhebliche Rolle gespielt. Die inoffiziellen und irregulären Milizen unterstützten das Militär, das vor dem Konflikt über keine nennenswerte Erfahrung im Nord-Sinai verfügt hatte, indem sie Informationen lieferten und im Auftrag des Militärs Missionen ausführten. Angehörige der Milizen nutzen ihre faktischen Befugnisse, um willkürlich andere Bewohner zu verhaften, alte Rechnungen zu begleichen und persönliche Streitigkeiten zu regeln. Sie waren zudem an Folter und außergerichtlichen Hinrichtungen beteiligt.

Die Provinzgruppe Sinai, der örtliche ISIS-Ableger, hat sich im nordöstlichsten Winkel des Gouvernements Nord-Sinai festgesetzt und unterhält dort auch nach sechs Jahren andauernder Kämpfe eine Präsenz. Die Kämpfer der Gruppe haben laut Aussage der Befragten schreckliche Verbrechen verübt, darunter die Entführung zahlreicher Anwohner und Angehöriger von Militär und Polizei sowie die außergerichtliche Hinrichtung einiger dieser Personen.

Die wahllosen Angriffe der Provinzgruppe Sinai, etwa durch den Einsatz selbstgebauter Sprengkörper in bewohnten Gebieten, haben Hunderte Zivilisten getötet und viele Anwohner zur Flucht gezwungen. Die Gruppe hat auch gezielt Zivilisten angegriffen. So waren Mitglieder von  Wilayat Sinai wahrscheinlich für einen Angriff auf die Al-Rawda-Moschee im Nord-Sinai verantwortlich, bei dem im November 2017 mindestens 311 Menschen getötet wurden, darunter auch Kinder. Dabei handelte es sich um den tödlichsten Anschlag einer nichtstaatlichen bewaffneten Gruppe in Ägyptens neuerer Geschichte. In Teilen von Rafah und Sheikh Zuweid, zweier Städte in Nord-Sinai, führte die Gruppe eigene Scharia-Gerichte ein, die unfaire „Gerichtsverfahren“ leiteten, Kontrollpunkte errichteten und islamische Regeln durchsetzten.

Der UN-Menschenrechtsrat und die Afrikanische Kommission der Menschenrechte und der Rechte der Völker sollen, angesichts der Tatenlosigkeit der ägyptischen Behörden, unabhängige Untersuchungsausschüsse zu den Menschenrechtsverletzungen auf dem Sinai einrichten. Ägyptens internationale Partner sollen unverzüglich jegliche sicherheitspolitische und militärische Unterstützung stoppen und so lange aussetzen, bis Ägypten seine Menschenrechtsverletzungen beendet. Kriegsverbrechen können nach internationalem Recht ohne zeitliche Begrenzung verfolgt werden. In vielen Staaten besteht nach dem Prinzip der universellen Gerichtsbarkeit die Möglichkeit, Personen für Kriegsverbrechen, welche diese in anderen Teilen der Welt begangen haben, festzunehmen und anzuklagen.

„Der ISIS-Ableger im Nord-Sinai verdient weltweite Ächtung und seine abscheulichen Verbrechen müssen verfolgt werden. Doch auch das Vorgehen der Armee, das von ebenso schweren Vergehen geprägt ist, sollte nicht gelobt, sondern aufs Schärfste verurteilt werden“, so Page. „Ägyptens engste Verbündete sollen ihre Unterstützung für diese von Missbrauch geprägte Militärkampagne stoppen, die Tausende Zivilisten ins Verderben gestürzt hat.“

Kategorien: Menschenrechte

Ägypten: Neues Vorgehen im Kampf gegen Dissidenten

Mi, 27.05.2020 - 10:50
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Ein Foto vom 26. Juli 2018 zeigt ägyptische Polizisten, die eine Straße in El-Arish, Provinzhaupstadt im Nord-Sinai, überwachen.

© 2018 Khaled Desouki/AFP/Getty Images

(Beirut) – Die ägyptischen Behörden griffen im Jahr 2018 zunehmend auf Anti-Terror- und Notstandsgesetze zurück, um friedlichen Widerstand gegen die Regierung zu verhindern. Journalisten und Menschenrechtsaktivisten wurden weiter verfolgt, so Human Rights Watch im heute veröffentlichten World Report 2019.

Präsident Abdel Fattah al-Sisi wurde bei den weitgehend unfreien und unfairen Wahlen im März für eine zweite Amtszeit wiedergewählt. Das Parlament verabschiedete eine Reihe neuer und sehr restriktiver Mediengesetze, die die ohnehin schwachen Regierungskritiker im Land zum Schweigen bringen.

„Das Jahr 2018 war in Ägypten davon geprägt, dass die Terrorbekämpfung als Vorwand genutzt wurde, um alle Formen von Dissens im Land zunichte zu machen“, so Michael Page, stellvertretender Leiter der Abteilung Naher Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Es gibt fast keinen Raum mehr, um friedlich die Regierung zu kritisieren, ohne dafür inhaftiert und unfairerweise als ‚Terrorist‘ verfolgt zu werden.“

In dem 674-seitigen World Report 2019, der 29. Ausgabe des Berichts, gibt Human Rights Watch einen Überblick über die Menschenrechtslage in mehr als 100 Ländern. In seiner Einleitung zeigt Executive Director Kenneth Roth, dass die in vielen Ländern auf Hass und Intoleranz bauenden Populisten auf Widerstand stoßen. Neue Allianzen von Regierungen, die die Menschenrechte schützen wollen und von der Zivilgesellschaft und der Öffentlichkeit unterstützt werden, machen es den Autokraten immer schwieriger, ihre Botschaft zu verbreiten. Diese Erfolge machen deutlich, wie die Menschenrechte verteidigt werden können und müssen – selbst in dunklen Zeiten.

Die Sicherheitskräfte des Innenministeriums und die Polizei sind verantwortlich für systematisches und weit verbreitetes Verschwindenlassen und für Folter von Gefangenen. Die unabhängige Kampagne „Stop Enforced Disappearance“ dokumentierte zwischen August 2017 und August 2018 230 Fälle, in denen Menschen verschleppt wurden.

Die Behörden setzten Hunderte Personen und Organisationen auf die nationale Terrorismus-Liste und beschlagnahmte deren Besitz wegen angeblicher Verbindungen zum Terrorismus, ohne dass die Betroffenen angehört oder andere Standards für faire Verfahren eingehalten wurden.

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen gingen die Sicherheitskräfte Ende Januar und im Februar massiv gegen friedliche politische Gegner von al-Sisi vor, in deren Zuge es zu einer Reihe willkürlicher Verhaftungen kam. Verhaftet wurden auch diejenigen, die sich für einen Wahlboykott aussprachen, darunter Abdel Moneim Abul Futuh, Präsidentschaftskandidat im Jahr 2012 und Vorsitzender der Partei Starkes Ägypten. Trotz seiner Herzerkrankung befindet er sich noch immer in Untersuchungshaft.

Einer weiteren Verhaftungswelle im Mai fielen unter anderem der Aktivist Hazem Abd al-Azim, der bekannte Menschenrechtsverteidiger Wael Abbas, der Arzt Shady al-Ghazaly Harb, die Aktivistin Amal Fathy und der Satiriker Shady Abu Zaid zum Opfer. Im August wurde neben zahlreichen anderen auch ein ehemaliger Botschafter verhaftet, Ma’soum Marzouk, der eine öffentliche Abstimmung darüber gefordert hatte, ob al-Sisi zurücktreten soll. Im Oktober und November inhaftierten die Behörden mindestens 40 Menschenrechtsaktivisten und Freiwillige, von denen viele bei der unabhängigen Menschenrechtsorganisation Ägyptische Koordination für Rechte und Freiheiten engagiert waren. Die Behörden verschleppten den Leiter der Organisation, Ezzat Ghoniem, im September.

Zudem verfolgten die Behörden weiterhin unzählige führende Menschenrechtsaktivisten und -organisationen im Land im Rahmen von Fall 173 aus dem Jahr 2011, der als „ausländische Finanzierung“-Fall bekannt ist. Zudem berichtete die UN-Sonderberichterstatterin für das Recht auf angemessenen Wohnraum nach ihrem Ägyptenbesuch im September, dass die Regierung sich mit Hauszerstörungen und Verhaftungen an Bürgern gerächt hat, die mit ihrem Team zusammengearbeitet hatten.

Ägyptische Gerichte verurteilten im Jahr 2018 zahllose Personen in fingierten Massenprozessen zum Tode, bei denen es um angebliche politisch motivierte Gewalt oder Verbindungen zu Terroristen ging. Zivile Berufungsgerichte und Berufungsgerichte des Militärs bestätigten mindestens 51 Todesurteile. Zudem haben die Behörden mindestens 46 Personen hinrichten lassen und führten sowohl vor Staatssicherheits- als auch vor Militärgerichten Prozesse gegen Hunderte Zivilisten durch, von denen keiner auch nur minimalste Verfahrensstandards einhielt.

Das restriktive Gesetz 80 aus dem Jahr 2016 zum Bau von Kirchen ermöglichte im Jahr 2018 einer kleinen Zahl von Kirchen, die bislang nicht offiziell genehmigt waren, eine Legalisierung unter Auflagen. Der Bau von Kirchen ist allerdings weiterhin nur eingeschränkt möglich. Die Behörden schlossen im Jahresverlauf 14 Kirchen, so die ägyptische Initiative für Persönlichkeitsrechte.

Im Mai fanden die ersten Gewerkschaftswahlen seit 12 Jahren statt. Daraus ging hevor, dass der regierungsnahe ägyptische Gewerkschaftsbund (ETUF) de facto weiterhin die Gewerkschaften im Land kontrolliert. Unabhängige Gruppen kritisierten, dass die Regierung Hunderte regimeferne oder –kritische Kandidaten von der Wahl ausschloss.

Im Nordsinai, wo Regierungskräfte eine mit dem Islamischen Staat verbundene Gruppe namens Provinz Sinai (Wilayat Sinai) bekämpfen, verübte die Armee schwerste Menschenrechtsverletzungen, die in bestimmten Fällen kollektive Bestrafung darstellen. Im Januar begann die Armee, in einem seit Jahren beispiellosen Ausmaß Wohnhäuser zu zerstören. Mindestens 3.600 Wohnungen und andere Gebäude waren betroffen.

Ägyptens internationale Verbündete konzentrierten sich weiterhin auf Zusammenarbeit in den Bereichen Terrorismus und Migration und kritisieren die Regierung äußerst selten öffentlich. US-Präsident Donald Trump sagte bei al-Sisis New York-Besuch im September, der ägyptische Präsident habe im Kampf gegen den Terrorismus „außerordentliche Arbeit“ geleistet.

Kategorien: Menschenrechte

Ägypten: Armee intensiviert Abriss von Häusern in Sinai

Mi, 27.05.2020 - 10:50
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A house that the Egyptian army demolished in March 2018 in al-Arish as “retaliation” against suspects. 

© 2018 Private

(Beirut) – Im Zuge ihrer Militäroperation gegen einen Ableger des Islamischen Staats hat die ägyptische Armee die Zerstörung von Häusern, Gewerbegebäuden und Landwirtschaftsbetrieben im Regierungsbezirk Nord-Sinai seit dem 9. Februar 2018 erheblich ausgeweitet, so Human Rights Watch heute. Die neuerlichen Verwüstungen betreffen Hunderte Hektar Landwirtschaftsflächen und mindestens 3.000 Wohn- und Gewerbegebäude. Zusammen mit dem Abriss von 600 Gebäuden im Januar handelt es sich dabei um die umfangreichsten Zerstörungen seit Beginn der Zwangsräumungen durch die Armee im Jahr 2014.

Die Abrissaktionen, von denen die meisten offensichtlich unrechtmäßig sind, gehen weit über die Grenzen der beiden offiziellen Sicherheits-Pufferzonen in den Städten Al-Arisch und Rafah hinaus. Offenbar als Vergeltung gegen Terrorverdächtige, Dissidenten und deren Angehörige zerstörte die Armee zudem etliche Gebäude in Al-Arisch.

„Private Wohnhäuser in Schutt und Asche zu legen, ist Teil des selben selbstzerstörerischen Sicherheitsplans, durch den auch der Zugang zu Lebensmitteln und die Bewegungsfreiheit eingeschränkt wurden, um die Bewohner des Sinai zu traktieren“, so Sarah Leah Whitson, Leiterin der Nahost-Abteilung von Human Rights Watch. „Die ägyptische Armee behauptet, sie schütze die Menschen vor Gewalttätern. Doch es ist absurd zu glauben, dass man diesen Menschen Sicherheit bringt, indem man ihre Häuser abreißt und sie von den Orten vertreibt, an denen sie zeitlebens gewohnt haben.“

 

Die Zerstörungen und Zwangsräumungen, die ohne richterliche Kontrolle und praktisch ohne Hilfsangebote oder Übergangsunterkünfte für die Betroffenen durchgeführt wurden, haben die negativen Auswirkungen der durch die Armee verhängten Einschränkungen für die Bewohner des Gebiets noch verstärkt. Die Armee hat seit 2013 im Rahmen ihrer andauernden Militäroperation im Norden des Sinai Häuser zerstört. Im Jahr 2014 kündigte die Regierung an, eine 79 Quadratkilometer große Pufferzone an der Grenze zu Gaza zu räumen, einschließlich der gesamten Stadt Rafah. Die Armee erklärte, die Räumung sei nötig, um die Einschleusung von Waffen und Kämpfern durch Tunnel aus Gaza zu unterbinden. Von Juli 2013 bis August 2015 riss die Armee mindestens 3.250 Gebäude ab. Ende 2017 begann sie erneut mit Zwangsräumungen.

Die jüngsten Zerstörungen umfassen auch Gebäude in einer neuen Sicherheits-Pufferzone um den Flughafen von Al-Arisch. Präsident Abdel Fattah al-Sisi erklärte, dies sei notwendig geworden, nachdem die Provinzgruppe Sinai (ein Ableger des IS auf dem Sinai) sich zu dem Raketenangriff auf einen Luftwaffenstützpunkt und einen Militärhelikopter am 19. Dezember 2017 bekannt hatte. Laut der Erklärung der Provinzgruppe Sinai galt der Anschlag dem Verteidigungsminister und dem Innenminister, die zu einem Besuch in das Gebiet gereist waren. Der Angriff ließ die beiden Minister unverletzt, tötete jedoch einen Armeeoffizier und verletzte zwei weitere. Darüber hinaus kam es zum Abriss einer geringen Zahl von Gebäuden in der Stadt Al-Arisch, der bevölkerungsreichsten Stadt auf dem nördlichen Sinai.

Human Rights Watch wandte sich am 10. und 11. Mai schriftlich an das ägyptische Verteidigungsministerium, den Gouverneur des Nord-Sinai Abdel Fattah Harhor sowie den Staatlichen Informationsdienst, um Auskünfte über die laufenden Abrissaktionen einzuholen, erhielt jedoch keine Antwort.

 

Mai 22, 2018 Video Video: Egyptian Army Building Demolition in Southern Rafah, Sinai

The Egyptian army has vastly expanded widespread destruction of homes, commercial buildings, and farms in the North Sinai governorate since February 9, 2018, as part of its military campaign against an affiliate of the Islamic State group there. 

 

Human Rights Watch wertete eine Serie von Satellitenbildern aus dem Zeitraum 15. Januar bis 14. April aus und fand Belege für einen weitreichenden Abriss von Gebäuden in mehreren Dörfern und Städten im Nord-Sinai. Die Auswertung der Satellitenbilder ergab, dass die Armee in diesen Monaten 3.600 Gebäude abgerissen und Hunderte Hektar Landwirtschaftsfläche planiert hatte, die sich innerhalb einer 12 Kilometer breiten Zone an der Grenze zu Gaza befanden. Eine weitere Häufung von Zerstörungen gab es nördlich des Flughafens von Al-Arisch, der südlich des Stadtzentrums liegt. Dort wurden mehr als 100 Gebäude zerstört. Die Fotos zeigen, dass es nach dem 9. Februar zu einer rapiden Ausweitung der Zerstörung kam. Während Human Rights Watch für den gesamten Januar 600 zerstörte Gebäude identifizierte, ließ die Armee zwischen dem 9. Februar, dem Tag, an dem die Regierung eine neue Großoffensive ankündigte, und dem 15. April mindestens 3.000 Häuser abreißen. Die Gesamtzahl der bislang im Jahr 2018 zerstörten Gebäude ist die höchste seit der Räumung der Pufferzone in Rafah im Oktober 2014.

Bei den meisten der in jüngster Zeit abgerissenen Gebäude handelte es sich um solche, die nach der Einrichtung der ursprünglichen fünf Kilometer breiten Pufferzone in Rafah noch stehen geblieben waren. Nun hat die Armee nahezu die gesamte Stadt, in der einst 70.000 Menschen lebten, zerstört. Die Auswertung von Satellitenbildern ergab auch, dass die Armee seit Mitte Januar mindestens 250 Gebäude außerhalb dieser Zone zerstört hat und wahrscheinlich Hunderte weitere im Jahr 2017. Die Armee begann offenbar auch mit dem Bau eines Stacheldrahtzauns, der die fünf Kilometer breite Pufferzone in Rafah vom restlichen Sinai abtrennen soll. Dies berichtete die unabhängige Nachrichtenwebseite Mada Masr am 18. Mai.

Aus drei Gesprächen mit Augenzeugen durch Human Rights Watch und damit übereinstimmenden Medienberichten geht hervor, dass die Sicherheitskräfte, insbesondere die Armee, in Al-Arisch mehrere Gebäude in Brand setzten oder abrissen, die Terrorverdächtigen oder deren Angehörigen gehörten. Die Armee kündigte immer wieder die Zerstörung von Dutzenden „Terroristenverstecken“ und „-fahrzeugen“ an, ohne jedoch weitere Details zu nennen. Ein Forscher des staatlichen Al-Ahram Zentrums für Politische und Strategische Studien erklärte, laut offizieller Erklärungen der Armee habe diese in den zehn Wochen nach Beginn der Offensive am 9. Februar rund 3.700 „Verstecke, Unterkünfte und Lagerräume“ von Terroristen zerstört.

Augenzeugen und Opfer, mit denen Human Rights Watch gesprochen hat, gaben an, die Armee habe kurz nach der Ankündigung einer Fünf-Kilometer-Pufferzone durch Präsident al-Sisi begonnen, im Umfeld des Flughafens von Al-Arisch Häuser abzureißen und Landwirtschaftsflächen zu planieren.

„Mein jüngerer Bruder rief mich an“, so ein im Exil lebender Mann, dessen Familienwohnsitz in der Stadt zerstört wurde. „Er sagte, die Sicherheitskräfte seien gekommen und hätten meine Mutter, Großmutter und meinen jüngeren Bruder gezwungen, das Haus zu verlassen. Dann hätten sie das ganze Gebäude in Brand gesetzt.“

Am 5. Januar erklärte das Volkskomitee in Al-Arisch, ein unabhängiger Zusammenschluss von Sippenführern und Aktivisten, die eskalierende Armeeoperation in der Stadt sowie die Einrichtung von Militärposten und die Zerstörung von Häusern bereiteten den Weg für eine Wiederholung der Ereignisse von Rafah.

Das Komitee rief die Regierung auf, den örtlichen Volksräten Verhandlungen mit den Behörden zu erlauben. Die Volksräte sind ein traditionelles System zur Anhörung der Bevölkerung über kommunale Vertreter. Um ein faires Verfahren zu gewährleisten, sollten Zwangsräumungen, selbst wenn sie aus Sicherheitserwägungen gerechtfertigt sind, nur nach ausführlichen und transparenten Verhandlungen mit der örtlichen Bevölkerung durchgeführt werden.

Internationales Recht verbietet Zwangsräumungen generell. Diese sind definiert als eine gegen den Willen der Betroffenen stattfindende vorläufige oder dauerhafte Vertreibung von Einzelpersonen, Familien oder Gemeinschaften aus ihren Wohnungen oder von ihrem Land, ohne dass ein geeigneter rechtlicher oder anderer Schutz vorhanden ist. Zu den geeigneten Schutzmechanismen gehören behördliche Anhörungen der Bewohner, angemessene und sinnvolle Benachrichtigungen sowie angemessene Entschädigungen oder Ersatzunterkünfte. In Konfliktgebieten sind absichtliche, wahllose oder unverhältnismäßige Angriffe auf Zivilisten und zivile Objekte verboten. Dies schließt auch den Abriss von Wohnhäusern ein, sofern dafür keine militärische Notwendigkeit besteht.

„Die Achtung des Rechts ist es, was Gesetzeshüter von Verbrecherbanden unterscheiden sollte. Doch die Bewohner des Sinai sind offenbar zwischen zwei Übeln gefangen: Der Zerstörung von Wohnhäusern durch die Armee auf der einen Seite und der brutalen Gewalt der Provinzgruppe Sinai auf der anderen“, so Whitson.

 

Kategorien: Menschenrechte

Irak: Fehler und Probleme bei Verfahren gegen mutmaßliche ISIS-Mitglieder

Mi, 27.05.2020 - 10:50

(Bagdad) – Die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan führen Tausende Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder des Islamischen Staates, ohne systematisch den unter irakischem Recht und Völkerrecht schwersten Verbrechen Vorrang einzuräumen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Das planlose Vorgehen und die grassierenden Verfahrensfehler können dazu führen, dass schwerste Menschenrechtsverletzungen während der ISIS-Besatzung in einigen Teilen des Iraks nicht verfolgt werden.

Dezember 5, 2017 Report Flawed Justice

Accountability for ISIS Crimes in Iraq

Der 76-seitige Bericht „Flawed Justice: Accountability for ISIS Crimes in Iraq“ untersucht die Überprüfung, Inhaftierung, Ermittlung und strafrechtliche Verfolgung einiger der Tausenden mutmaßlichen Mitglieder des Islamischen Staates (auch bekannt als ISIS) im Irak. Dabei traten schwere juristische Probleme zutage, die die Bemühungen unterminieren können, ISIS-Mitglieder zur Verantwortung zu ziehen. Insbesondere hat der Irak keinerlei Strategie, um eine glaubwürdige Strafverfolgung der für die schwersten Verbrechen verantwortlichen Personen zu gewährleisten. Stattdessen werden unter Anti-Terror-Gesetzen sämtliche Personen verfolgt, die selbst minimalster Verbindungen zu ISIS verdächtig sind. Dieses Vorgehen droht, sowohl zukünftige, kommunale Aussöhnungs- und Wiedereingliederungsprozesse negativ zu beeinträchtigen, als auch die Gerichte und Gefängnisse jahrzehntelang zu überlasten.

„Die ISIS-Prozesse sind eine verpasste Chance, der Bevölkerung, der Welt und auch ISIS zu beweisen, dass der Irak ein Rechtsstaat ist, in dem Verfahrensgarantien und Gerechtigkeit herrschen, die Verantwortlichen für schwerste Verbrechen vor Gericht gebracht werden und allen von diesem Krieg betroffenen Gemeinschaften Aussöhnung ermöglicht wird“, so Sarah Leah Whitson, Leiterin der Abteilung Naher Osten von Human Rights Watch. „Der irakischen Justiz gelingt es nicht, zwischen der Schuld zu unterscheiden, die Ärzte auf sich geladen haben, wenn sie unter der Herrschaft von ISIS Leben retteten, und der, die die Verantwortlichen für Verbrechen gegen die Menschlichkeit trifft.“

Der Bericht wird mit Regierungsangehörigen in Erbil und Bagdad diskutiert werden. Er basiert auf Informationen, die im Zeitraum November 2016 bis Juli 2017 in Erbil, im Gouvernement Ninawa und in Bagdad gesammelt wurden. Dazu wurden Gefängnisse besucht, in denen Tausende mutmaßliche ISIS-Mitglieder inhaftiert sind, sowie Gerichte in Ninawa, Bagdad und Erbil, in denen Prozesse gegen solche Personen geführt wurden. Zudem wurden führende Beamte der irakischen Regierung und der Regionalregierung von Kurdistan befragt, sowie mindestens 100 Familien mutmaßlicher ISIS-Mitglieder, Dutzende Personen, die unter der Herrschaft von ISIS Opfer schwerster Verbrechen wurden oder Angehörige verloren haben, Vertreter internationaler Nichtregierungsorganisationen, die zum irakischen Justizsystem arbeiten, Anwälte und anderen Rechtsexperte.

Das zentrale Ergebnis des Berichts ist, dass die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan der Strafverfolgung schwerster Menschenrechtsverbrechen und Anklagen, die das volle Spektrum der Verbrechen von ISIS abbilden, nicht systematisch Vorrang einräumen. Augenscheinlich ermitteln die Behörden unter Anti-Terror-Gesetzen gegen alle Verdächtigen, die sich in ihrem Gewahrsam befinden, und legen ihnen vorrangig eine ISIS-Mitgliedschaft zur Last, statt sich auf konkrete Handlungen und Verbrechen zu konzentrieren.

Gegen mindestens 7.374 Personen wurden seit dem Jahr 2014 solche Anklagen erhoben, 92 wurden zum Tode verurteilt oder hingerichtet. Insgesamt befinden sich schätzungsweise 20.000 Personen wegen mutmaßlichen Verbindungen zu ISIS in Haft, eine Zahl, die auf Informationen von Regierungsangehörigen beruht.

Der Bericht weist auf mögliche verfahrensrechtliche Probleme bei der Überprüfung von Personen hin, die von ISIS kontrollierte Gebiete verlassen. Das betrifft beispielsweise die Art, wie Listen von Verdächtigen geprüft werden, die Sicherheitskräfte vor Ort erstellt haben. Personen, die fälschlicherweise als Verdächtige identifiziert werden, bleiben teilweise monatelang in Willkürhaft.

Darüber hinaus halten die irakischen Behörden mutmaßliche ISIS-Mitglieder in überfüllten Einrichtungen und zum Teil unter unmenschlichen Bedingungen fest. Minderjährige werden nicht getrennt von erwachsenen Häftlingen untergebracht. Zudem ignorieren Beamte das Recht auf ein faires Verfahren, auch die im irakischen Recht verbrieften Rechte darauf, innerhalb von 24 Stunden von einem Richter angehört zu werden, während Befragungen Zugang zu einem Anwalt zu haben, Familien über eine Inhaftierung zu informieren und Familienangehörigen zu gestatten, mit den Gefangenen zu kommunizieren. Einige Gefangenen warfen den Behörden außerdem Folter vor, um sie dazu zu zwingen, ihre angebliche ISIS-Mitgliedschaft zu gestehen.

Unter den übermäßig breiten Anti-Terror-Gesetzen, auf deren Grundlage die irakische Regierung und die Regionalregierung von Kurdistan mutmaßliche ISIS-Mitglieder verfolgen, können Richter Anklagen gegen Personen erheben, denen keine konkreten Verbrechen, sondern ausschließlich Verbindungen zu oder Unterstützung von ISIS vorgeworfen wird. Von solchen Anklagen sind auch Personen betroffen, die in von ISIS geführten Krankenhäusern gearbeitet haben, sowie Köche, die Essen für Kämpfer zubereitet haben. Auf Verstöße gegen die Anti-Terror-Gesetze stehen harte Strafen, darunter lebenslange Haft oder die Todesstrafe, auch für eine bloße ISIS-Mitgliedschaft.

„Gestern habe ich den Fall eines ISIS-Kochs bearbeitet, und ich habe empfohlen, ihn mit dem Tode zu bestrafen. Wie hätten die ISIS-Kämpfer Menschen hinrichten können, wenn sie nicht am Abend zuvor eine ordentliche Mahlzeit bekommen hätten?“, so ein führender Richter aus der Terrorismusbekämpfung.

Mutmaßliche ISIS-Mitglieder wegen Verstößen gegen Anti-Terror-Gesetze anzuklagen statt wegen konkreter Verbrechen unter dem Strafgesetzbuch ist aus beweistechnischer Sicht oft einfacher, insbesondere bei Verbrechen, die inmitten des chaotischen Kriegsgeschehens verübt wurden. Aber dieses Vorgehen erschwert es, den schwersten Verbrechen Vorrang einzuräumen, sie zu ahnden und ein umfassendes, rechtliches Bild der Gräueltaten zu zeichnen, die ISIS im Irak verübt hat. Zudem bemühen sich die Behörden nicht darum, den Opfern zu ermöglichen, an den Prozessen teilzunehmen, nicht einmal als Zeugen.

Wenn mutmaßliche ISIS-Mitglieder belegen können, dass sie der Organisation gegen ihren Willen beigetreten sind und an keinem Verbrechen beteiligt waren, haben sie unter Umständen das Recht darauf, nach ihrer Verurteilung entlassen zu werden. Das Gesetz über Generalamnestie vom August 2016 (Nr. 27/2016) sieht das vor, aber die Richter wenden es nicht konsequent an. Die Regionalregierung von Kurdistan hat kein Amnestiegesetz für mutmaßliche oder verurteilte ISIS-Mitglieder erlassen und hat dies Sprechern zufolge auch nicht geplant.

Die Behörden sollen der Strafverfolgung schwerster Verbrechen jeglicher Art Vorrang einräumen. Außerdem sollen sie für diejenigen Personen, deren einziges Vergehen ihre ISIS-Mitgliedschaft war, Alternativen zur Strafverfolgung ausloten, etwa die Teilnahme an landesweiten Wahrheitsfindungsprozessen.

Mindestens sollen sie die Verfahren gegen Personen fallen lassen, deren Tätigkeiten unter ISIS-Herrschaft zum Schutz der Menschenrechte von Zivilisten beitrugen, etwa Personen, die im Gesundheits- oder Sozialwesen arbeiteten. Insbesondere für Kinder sollen die Behörden Alternativen zu Inhaftierung und Strafverfolgung finden und Rehabilitierungs- und Wiedereingliederungsprogramme entwickeln, um ihre Rückkehr in die Gesellschaft zu unterstützen.

„Das irakische Amnestiegesetz ersetzt keine landesweite Strategie, die faire Verfahren gewährleistet und Alternativen zu einer Strafverfolgung von Personen entwickelt, die nicht an den Gewaltakten und schweren Verbrechen von ISIS beteiligt waren“, sagt Whitson. „Der Irak braucht genauso dringend einen Plan für Wahrheits- und Versöhnungsprozesse wie einen Plan dafür, wie die schlimmsten Verbrecher hinter Gitter gebracht werden sollen.“

Kategorien: Menschenrechte

Türkei: Notstand ermöglicht Folter

Mi, 27.05.2020 - 10:50
Oktober 25, 2016 Report A Blank Check

Turkey’s Post-Coup Suspension of Safeguards Against Torture

(Istanbul) – Die türkische Polizei hat Menschen in Haft gefoltert und auf andere Art misshandelt, nachdem die in Folge des gescheiterten Putschversuches im Juli 2016 erlassenen Notverordnungen wichtige Schutzvorschriften außer Kraft gesetzt haben, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 47-seitige Bericht „A Blank Check: Turkey’s Post-Coup Suspension of Safeguards Against Torture“ dokumentiert, wie negativ es sich auf die Haftbedingungen und die Rechte von Gefangenen auswirkt, dass Schutzvorschriften durch Verordnungen geschwächt wurden, die im Zuge des staatlichen Ausnahmezustands erlassen wurden. Der Bericht geht auf 13 Fälle mutmaßlicher Menschenrechtsverletzungen in Haft seit dem Putschversuch ein, darunter Folter durch Stresspositionen, Schlafentzug, schwere Prügel, sexueller Missbrauch und Vergewaltigungsdrohungen.

„Indem sie Vorschriften zum Schutz vor Folter außer Kraft gesetzt hat, hat die türkische Regierung den Sicherheitsbehörden de facto einen Blankoscheck dafür ausgestellt, Gefangene nach Gutdünken zu foltern und zu misshandeln“, so Hugh Williamson, Leiter der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Die Fälle, die wir dokumentieren, deuten darauf hin, dass einige Beamte genau das getan haben. Die türkische Regierung muss die Schutzvorschriften auf der Stelle wieder in Kraft setzen.“

Eine Regelung in den Notverordnungen entbindet Regierungsangehörige von jeder Verantwortung für Handlungen im Zusammenhang mit dem Ausnahmezustand. Zweifel daran, dass die Regierung daran interessiert ist, Folter oder andere Misshandlungen zu verhindern, weckt auch die Entscheidung der Behörden, einen Türkeibesuch des UN-Sonderberichterstatters über Folter zu verschieben.

Human Rights Watch befragte mehr als 40 Anwälte, Menschenrechtsaktivisten, ehemalige Gefangene, medizinisches Personal und Gerichtsmediziner.

Mindestens 241 Polizisten und Zivilisten starben und bis zu 2.000 wurden verletzt, als Militärangehörige am 15. und 16. Juli versuchten, gegen die gewählte Regierung zu putschen. Human Rights Watch befragte auch einige Personen, die bei dem Versuch, den Putsch abzuwenden, verletzt wurden.

Kurz nach dem gescheiterten Staatsstreich rief die türkische Regierung den Notstand aus, wozu sie unter außerordentlichen Umständen befugt ist. Die Regierung hat auch das Recht - und sogar die Pflicht - die öffentliche Sicherheit zu wahren, im Zuge des Putschversuches verübte Verbrechen wie Mord und Körperverletzung zu untersuchen, und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.

Allerdings gibt der staatliche Notstand der Regierung keinen Freibrief dafür, Rechte auszusetzen. Das völkerrechtliche Folterverbot ist absolut und darf auch in Kriegs- und Notstandszeiten nicht eingeschränkt werden. Trotzdem setzen die Notverordnungen wichtige Vorschriften außer Kraft, die Gefangene vor Misshandlungen und Folter schützen.

Die Notverordnungen erhöhen die maximale Haftzeit bis zur richterlichen Prüfung von vier auf 30 Tage, verbieten Gefangenen bis zu fünf Tage lang, ihre Anwälte zu kontaktieren, und schränken sowohl das Recht auf freie Wahl eines Rechtsbeistandes ein, als auch das Recht, mit diesem vertrauliche Gespräche zu führen.

In einigen der dokumentierten Fälle verletzten Angehörige der Strafverfolgungsbehörden diese Rechte in einem Ausmaß, das sogar den großzügigen Ermessensspielraum der Notverordnungen sprengt.

„Der Polizist, der mich verhaftet hat... fing an, mir ins Gesicht und auf die Augen zu schlagen“, so ein ehemaliger Gefangener in einer Stellungnahme für die Staatsanwaltschaft. „Sie schlugen mir auf die Fußsohlen, auf den Bauch, sie quetschten meine Hoden und sagten dabei, sie würden mich kastrieren.“ Er schildert weiter, wie auf andere Teile seines Körpers eingeschlagen wurde.

Das Verhalten der Polizei und der Druck, den die Behörden ausüben, unterminiert auch die Integrität ärztlicher Untersuchungen von Personen in Polizeigewahrsam und Haft, denn diese Untersuchungen müssen oft in Gefängnissen und in Anwesenheit von Polizisten durchgeführt werden. Außerdem weigerten sich die Behörden wiederholt, Gefangenen und ihren Anwälten ärztliche Gutachten auszuhändigen, die ihre Vorwürfe, in Haft oder bei der Verhaftung misshandelt worden zu sein, stützen könnten. Als Begründung verwiesen die Verantwortlichen auf die Geheimhaltungspflicht in laufenden Ermittlungen.

Angehörige der Strafverfolgungsbehörden wenden die Notverordnungen nicht nur auf Personen an, die verdächtigt werden, sich am Putschversuch beteiligt zu haben, sondern auch auf Gefangene, die angeblich Verbindungen zu bewaffneten kurdischen oder linken Gruppierungen haben. Auch diesen Menschen wird jeder Schutz vor Folter und anderer unfairer Verfolgung entzogen.

All dies geschieht in einem überwältigenden Klima der Angst. Anwälte, Gefangene, Menschenrechtsaktivisten, medizinisches Personal und Gerichtsmediziner fürchten ständig, dass sie die nächsten auf der langen Liste angeblicher Putsch-Befürworter sind. Diese Ängste sind nicht ungerechtfertigt. Unter anderem haben die Behörden mehr als 200 Anwälte in Untersuchungshaft genommen und werfen ihnen eine Beteiligung am Putschversuch vor, so die Vereinigung der Rechtsanwaltskammern in der Türkei.

Anwälte, medizinisches Personal, kürzlich entlassene Gefangene und Familienangehörige von Gefangenen schildern 13 unterschiedlich schwere Folter- und Misshandlungsfälle nach dem Putschversuch. Sie berichten von Misshandlungsmethoden wie Stresspositionen, Schlafentzug, schwere Schläge, sexualisierte Misshandlungen und Vergewaltigungsdrohungen. In einem Fall waren mehrere Gefangene zugleich betroffen. Die Namen der meisten Gefangenen und ihrer Anwälte werden aus Sicherheitsgründen nicht veröffentlicht, da die Betroffenen Vergeltungsakte befürchten.

Angehörige der türkischen Regierung, auch Präsident Recep Tayyip Erdoğan, erklärten nach dem Putschversuch, dass sie Folter nicht tolerieren würden. Aber die Behörden reagieren nicht angemessen auf die aktuellen Foltervorwürfe. Stattdessen behaupten sie, diejenigen, die diese Vorwürfe äußern, seien voreingenommen, und werfen ihnen vor, den Putschversuch zu unterstützen oder Propaganda für die Gülen-Bewegung zu machen. Diese wird von einem ehemaligen Vertrauten der Regierung geführt, der sich derzeit im selbstgewählten Exil in den USA aufhält, und soll der Regierung zufolge für den gescheiterten Staatsstreich verantwortlich sein.

Mehmet Metiner, der für die Regierungspartei im Parlament sitzt und das parlamentarische Subkomitee für Gefängnisangelegenheiten leitet, gab kürzlich bekannt, dass die Kommission Foltervorwürfe von inhaftierten, mutmaßlichen Gülen-Anhängern nicht untersuchen werde. Weit verbreitete, systematische Folter ist schon seit langer Zeit ein Problem in der Türkei. Allerdings sind die Berichte über Folter und Misshandlungen in Polizeigewahrsam in den Jahren von 2002 bis Mitte 2015 deutlich zurückgegangen, zum Teil deshalb, weil einige Schutzvorschriften verbessert wurden. Etwa wurden die Maximaldauer der Untersuchungshaft reduziert, bessere Verfahren zur Dokumentation von Festnahmen und von Aussagen der Gefangenen eingeführt, frühzeitiger Zugang zu Rechtsberatung ermöglicht, und eine verbindliche und regelmäßige ärztliche Untersuchung von Gefangenen festgeschrieben.

„Folter ist wie eine ansteckende Krankheit - wenn sie ausbricht, verbreitet sie sich; es ist schmerzhaft zu erleben, wie schnell sich die Lage wieder verschlechtert“, so ein Anwalt, der in Folge des Putschversuches verhaftet wurde. Er ist überzeugt, dass die Personen, die mit ihm verhaftet wurden, gefoltert wurden.

„Es wäre eine Tragödie, wenn zwei hastig erlassene Notverordnungen all die Fortschritte zunichtemachen würden, die die Türkei im Kampf gegen Folter gemacht hat“, sagt Williamson. „Die Behörden sollen unverzüglich die gefährlichsten Vorschriften annullieren und die erschütternden Vorwürfe von Folter und Misshandlung in Polizeigewahrsam und in anderen Hafteinrichtungen untersuchen.“

Ausgewählte Zeugenaussagen aus dem Bericht

Eine Anwältin aus Ankara schildert die Behandlung ihres Klienten, ein Beamter, dem Beteiligung am Putschversuch vorgeworfen wird, im Hauptsitz der türkischen Polizei in Ankara:

Mehrere Polizisten standen hinter ihm. Er saß auf einem Stuhl vor einem Tisch. Um ihn zum Reden zu bringen, schlugen sie ihn mit Plastiksträngen, die normalerweise als Handschellen benutzt werden, und verpassten ihm Faustschläge gegen den Kopf und seinen Oberkörper. Er konnte nichts tun, um sich zu schützen, da seine Hände gefesselt waren...

Irgendwann musste ich mich abwenden. Ich weiß nicht, wie oft sie ihn geschlagen haben. Ich konnte nicht mehr hinsehen. Ich wusste, dass ich nichts tun konnte, damit das aufhört. Am Ende machte er eine Aussage...

Ich war die einzige Anwältin vor Ort. Überall war Gewalt und die Polizisten waren nicht erfreut, mich zu sehen. Sie sagten: „Wozu brauchen diese Leute einen Anwalt?“

In seiner Aussage für die Staatsanwaltschaft in Antalya schildert Eyüp Birinci, wie er in Polizeigewahrsam behandelt wurde:

Meine Augen waren verbunden. Ich spürte, dass drei oder vier Personen im Raum waren. Nur der Polizeibeamte, der mich verhaftet hat, sprach... „Sag uns, was du weißt, was du in Antalya machst“, sagte er, als sie mich nackt auszogen...

Der Polizist, der mich verhaftet hat und dessen Namen ich nicht kenne, fing an, mir ins Gesicht und auf die Augen zu schlagen... Sie schlugen mir auf die Fußsohlen, auf den Bauch, sie quetschten meine Hoden und sagten dabei, sie würden mich kastrieren... Sie zwangen mich, mit dem Gesicht zum Boden zu liegen, und verdrehten meinen linken und meinen rechten Arm hinter meinem Rücken... Dann drehten sie mich auf den Rücken, befeuchteten meine Füße und fingen an, auf sie zu schlagen. Sie schlugen meine Armen mit Schlagstöcken. Sie machten meinen Nacken nass und schlugen auf ihn ein... Sie steckten mir sogar den Schlagstock in den Mund und drehten ihn herum... Sie zwangen mich, aufzustehen und dann schlugen sie mich mit ihren Fäusten. Sie schlugen mir mehrere Minuten lang in den Bauch und sagten mir jedes Mal, dass ich gerade stehen soll.

İ.B. übergab seinem Anwalt eine Aussage, die er im Gefängnis verfasst hat und in der er seine Behandlung in der Istanbuler Polizeizentrale in der Vatan-Straße beschreibt:

Sie sagten mir drei Tage in Folge, dass ich nun meinen Anwalt treffen würde, und brachten mich dann immer in den Verhörraum [in der Vatan-Straße]. Sie zogen mich aus, zerrissen meine Kleidung und bedrohten mich, während sie meine Sexualorgane quetschten und mich auf widerwärtige Art schlugen. Einer sagte, ich habe deine Mutter hergebracht, und wenn du nicht redest, vergewaltige ich sie vor deinen Augen. Sie zogen mir eine Tüte über den Kopf, fesselten meine Hände hinter meinem Rücken und lachten mich aus, während sie meinen Kopf auf den Boden oder gegen die Wand schlugen, zwangen mich, mich nach vorne zu beugen, und brüllten: „Gibt es hier keinen starken Kerl, der den hier vergewaltigt?“ Mein ganzer Körper war übersät mit Spuren der Schläge... Sie beschimpften und traten mich, versuchten, mich dazu zu bringen, zuzugeben, dass ich Menschen kenne, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe. Ich sollte ein Verbrechen gestehen, das ich nicht begangen habe. Sie sagten, sie würden mir noch viel schlimmeres antun, wenn ich das nicht tue, und, dass sie sieben oder acht Leute hätten, die vor Gericht gegen mich aussagen würden, so dass ich nie wieder aus dem Gefängnis herauskäme. Wenn ich nicht mitspiele und ihnen die Namen gebe, würden sie mein Leben zerstören. Jeden Tag, wenn ich ein medizinisches Gutachten bekam, in dem Schläge erwähnt wurden, verprügelten sie mich wieder. Sie sagten, besorg dir so viele Berichte wie du willst, es liegt eh alles in unserer Hand.

Kategorien: Menschenrechte

USA: Obama soll Edward Snowden begnadigen

Mi, 27.05.2020 - 10:50

(New York) – US-Präsident Barack Obama soll Edward Snowden begnadigen, dies fordert ein Bündnis aus Menschenrechtsorganisationen und Prominenten. Snowden hatte das Massenüberwachungsprogramm des US-Auslandsgeheimdiensts NSA (National Security Agency) offengelegt.

Urge President Obama to pardon Snowden

Urge President Obama to pardon Snowden in recognition of his service to his country and allow him to return home with dignity!

Sign the petition

Die Begnadigungskampagne für Snowden wird unterstützt durch die American Civil Liberties Union, Amnesty International und Human Rights Watch. Sie wird bis zum Ende von Obamas Amtszeit laufen und argumentieren, dass Snowdens Handeln gut für die USA war und die demokratische Debatte weltweit gefördert hat. Die Kampagne ruft Menschen aus der ganzen Welt auf, Präsident Obama über pardonsnowden.orgsite zu schreiben. Der Fall Snowden findet zurzeit wieder größere Aufmerksamkeit anlässlich des Filmstarts “Snowden” von Regisseur Oliver Stone, mit Joseph Gordon-Levitt in der Hauptrolle.

Aufklappen

Edward Snowden bei seinem Treffen mit Menschenrechtlern und russischen Funktionären auf dem Moskauer Flughafen Scheremetjewo am 12. Juli 2013.

© 2013 Tanja Lokschina/Human Rights Watch

„Dank Edward Snowdens mutigem Handeln haben wir historische Fortschritte in unserm Kampf für Überwachungsreformen und verbesserte Cyber-Sicherheit gemacht”, so der Vorsitzende der American Civil Liberties Union (ACLU) Anthony D. Romero. „Es ist unbestreitbar, dass unsere Demokratie durch Edward Snowden besser geworden ist und genau für solche Fälle gibt es das Mittel der Begnadigung. Präsident Obama soll von dieser Möglichkeit Gebrauch machen, um Gutes zu tun anstatt einen amerikanischen Whistleblower im Exil sitzen zu lassen.“

Die Kampagne für die Begnadigung Snowdens wird ebenfalls unterstützt von prominenten Rechtswissenschaftlern, politischen Sachverständigen, führenden Menschenrechtsaktivisten, Technologen und Künstlern. Dutzende Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, engagieren sich in der Kampagne und rufen den Präsidenten dazu auf, das Recht auf Begnadigung in Snowdens Fall zu nutzen. Hierzu zählen George Soros, Gründer und Vorsitzender der Open Society Foundations, Steve Wozniak, Mitgründer von Apple, Bruce Ackerman, Juraprofessor an der Yale-Universität; der Pentagon Papers Whistleblower Daniel Ellsberg; sowie die Schauspieler Daniel Radcliffe, Maggie Gyllenhaal und Danny Glover, die Schriftstellerinnen Joyce Carol Oates und Eve Ensler und Wikipedia-Gründer Jimmy Wales. 

Die ACLU, Amnesty International und Human Rights Watch arbeiten gemeinsam an der Kampagne, die mit ganzseitigen Anzeigen in den US-Zeitungen The Washington Post und Politico startete.

Der Aufschrei nach Snowdens Enthüllungen hatte weitreichende nationale und internationale Folgen. Ein vom Präsidenten ernannter Ausschuss prüfte das NSA-Überwachungsprogramm und empfahl anschließend Dutzende Reformen. Letztes Jahr befand ein US-Bundesberufungsgericht das von Snowden enthüllte Überwachungsprogramm der NSA für illegal. Im Monat darauf verabschiedete der US-Kongress den USA Freedom Act, ein Gesetz, das der Erfassung von Anrufdaten durch die US-Regierung ein Ende setzte. Es war das erste Mal seit den 1970er Jahren, dass der Kongress die Überwachung durch die Regierung einschränkte. Journalisten der britischen Zeitung The Guardian und der US-Zeitung Washington Post gewannen 2014 den Pulitzer Preis für ihre Berichterstattung über die Enthüllungen Edward Snowdens. Obama selbst sagte, die Debatte, die der Whistleblower angestoßen hat, „wird uns stärker machen“.

„Edward Snowden hat eine der wichtigsten Debatten über die Überwachung durch die Regierung in den letzten Jahrzehnten angestoßen. Das hat zu außergewöhnlichen Reformen geführt, von denen unsere Privatsphäre noch heute profitiert. Ihn dafür zu bestrafen, dies würde die gefährliche Botschaft senden, dass Zeugen von Menschenrechtsverletzungen, die hinter verschlossenen Türen begangen werden, besser nicht an die Öffentlichkeit gehen sollen“, so Salil Shetty, Generalsekretär von Amnesty International.

Die US-Regierung hat Snowden unter dem Espionage Act (Spionagesetz) angeklagt, ein Gesetz aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, das keinen Unterschied macht zwischen der Weitergabe von Geheimnissen an fremde Regierungen gegen Bezahlung und der Weitergabe von Geheimnissen an Journalisten, die im öffentlichen Interesse handeln. Müsste Snowden auf der Grundlage der vorliegenden Anklage vor Gericht erscheinen, würden sämtliche Argumenten dafür, dass sein Handeln für die Öffentlichkeit hilfreich war, unzulässig sein.

„Es wird Zeit, dass wir Snowden als einen Whistleblower anerkennen, der eine große Rolle beim Schutz unserer Rechte spielte. Er verdient Anerkennung, kein Gerichtsverfahren“, so Kenneth Roth, Executive Director von Human Rights Watch. „Die illegalen Aktivitäten der Regierung öffentlich zu machen, das darf einen nicht ins Gefängnis oder ins Exil bringen. Präsident Obama soll Snowden begnadigen und ihn in die USA zurückholen, damit er sich für die Sicherheit und die Privatsphäre aller Menschen einsetzen kann.“

Obama hat in der Vergangenheit in vier Fällen Menschen vor der Eröffnung eines Gerichtsverfahrens begnadigt. Alle Fälle standen im Zusammenhang mit dem Atomabkommen, das die USA im vergangenen Jahr mit dem Iran abgeschlossen hat.

Weitere Information zur Snowden-Kampagne finden Sie hier:
www.pardonsnowden.org; oder www.HRW.org/Snowden

Kategorien: Menschenrechte

Doppelte Bedrohung

Mi, 27.05.2020 - 10:50

Hinter vielen bedeutenden Entwicklungen des vergangenen Jahres im Bereich der Menschenrechte stand die Angst: Die Angst vor Folter und Tod in Syrien und anderen Konfliktgebieten. Und Unterdrückung zwang Millionen Menschen zur Flucht aus ihrer Heimat. In Europa und andernorts verleitete die Angst vor den gesellschaftlichen Folgen des Zustroms von Asylsuchenden viele Regierungen dazu, ihre Tore zu schließen. Führende Politiker sahen sich aus Angst vor neuen Terroranschlägen veranlasst, Rechte einzuschränken und Flüchtlinge oder Muslime zum Sündenbock zu erklären. Diverse Autokraten trieb die Angst um, von ihrer Bevölkerung zur Rechenschaft gezogen zu werden. Die Folge war ein beispielloses weltweites Vorgehen gegen die Fähigkeit der Menschen, sich zusammenzuschließen und ihren Ansichten Gehör zu verschaffen.

In Europa und den USA gelangte die polarisierende Rhetorik des „Wir gegen die“ vom politischen Rand in die gesellschaftliche Mitte. Unverhohlene Islamfeindlichkeit und die schamlose Dämonisierung von Flüchtlingen wurden zur Währung einer zunehmend durchsetzungsfähigen Politik der Intoleranz.

Diese Trends bedrohen die Menschenrechte auf zweierlei Art, die eine wohlbekannt, die andere weniger wahrnehmbar. Offensichtlich ist die Gefährdung, die von den Rückschritten bei den Menschenrechten ausgeht, mit denen viele Regierungen auf den Flüchtlingszustrom und die Entscheidung des selbst erklärten „Islamischen Staats“ (ISIS) reagieren, auch Ziele außerhalb des Nahen Ostens anzugreifen. Die weniger offensichtliche Bedrohung liegt darin, dass immer mehr autoritäre Regierungen versuchen, die Zivilgesellschaft an die Kette zu legen. Dies gilt insbesondere für Gruppen der Zivilgesellschaft, die das Verhalten ihrer Regierung kritisch beobachten und dies öffentlich thematisieren.

Unter den westlichen Regierungen, die mit einer Beschneidung der Menschenrechte drohen, befinden sich auch einige der bisher engsten Verbündeten der Menschenrechtsbewegung. Ihre Stimme wird dringend gebraucht, um den weitreichenden Bestrebungen zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft in vielen Staaten der Welt entgegenzutreten – denn dadurch werden der Schutz der Menschenrechte und die Menschenrechte an sich infrage gestellt.

Schuldzuweisungen gegen Flüchtlinge sowie Muslime und versäumte Gelegenheiten bei der Terrorbekämpfung

Etwa eine Million Asylsuchende sind im vergangenen Jahr auf dem Seeweg nach Europa geflohen, doch sie bilden nur einen Teil der insgesamt mehr als 60 Millionen Menschen, die weltweit infolge von Krieg und Unterdrückung auf der Flucht sind. Dies markiert den höchsten Stand seit dem Zweiten Weltkrieg. Die wichtigste Triebfeder dieser Entwicklung war zuletzt der brutale Konflikt in Syrien. Dies lag zum einen an den Gräueltaten von ISIS und anderen bewaffneten Gruppen, vor allem aber am Vorgehen der Regierung Baschar al-Assads, die wahllos zivile Bevölkerungszentren in den Oppositionsgebieten angreifen ließ. Rund 4 Millionen syrische Flüchtlinge flohen zunächst in benachbarte Staaten, mehr als 2 Millionen von ihnen in die Türkei und eine Million in den Libanon, wo die Flüchtlinge heute fast ein Viertel der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Die rund eine Million Menschen, die im vergangenen Jahr nach Europa gelangten, bilden dort nur einen Bruchteil der jeweiligen Landesbevölkerung – etwa 1,25 Prozent in Deutschland, wo angesichts von Angela Merkels bemerkenswerter Führungsrolle und Willkommenshaltung die meisten Flüchtlinge Zuflucht suchten. Bezogen auf die gesamte EU-Bevölkerung liegt dieser Anteil bei 0,20 Prozent, falls es eine Umverteilung der Flüchtlinge in Europa geben wird.

Schon vor den ISIS-Anschlägen im November in Paris, bei denen mindestens zwei Attentäter eingesetzt wurden, die mit den Flüchtlingen nach Europa eingesickert waren, hatte der unkontrollierte und mitunter chaotische Flüchtlingszustrom europaweit tiefe Besorgnis erregt. Infolge der Anschläge intensivierte die EU ihre Gegenmaßnahmen: Neue Stacheldrahtzäune wurden errichtet und immer neue Einschränkungen des Grenzverkehrs verhängt, während geschürte Ängste und Islamfeindlichkeit auflebten. Die EU versprach der Türkei 3 Milliarden Euro an Hilfsgeldern, um den Flüchtlingsstrom einzudämmen. Diese Schritte entsprechen dem seit geraumer Zeit von der EU verfolgten Ziel, die Verantwortung für die Flüchtlinge auf andere abzuwälzen. Dies steht nicht nur im Widerspruch zu den Konventionen zum Schutz der Flüchtlingsrechte, welche die EU ratifiziert hat, sondern auch zur historischen Erfahrung vieler Europäer, die auf der Flucht vor Nationalsozialismus oder Kommunismus selbst vom Flüchtlingsschutz profitiert haben.

Europas Bedenken, wonach von den neuen Flüchtlinge eine terroristische Gefahr ausgehen könnte, sind wenig mehr als eine gefährliche Ablenkung vom hausgemachten gewaltbereiten Extremismus. Dafür spricht die Tatsache, dass die Attentäter von Paris vorwiegend belgische und französische Staatsbürger waren. Die Wurzeln der Radikalisierung sind komplex, stehen jedoch auch im Zusammenhang mit der sozialen Ausgrenzung von Zuwanderergruppen, der anhaltenden Diskriminierung, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung, die in den Randbezirken einiger europäischer Großstädte allgegenwärtig sind, und dem Auseinanderklaffen der Erwartungen und Perspektiven unter aufeinanderfolgenden Generationen.

Bei manchen Menschen – und es genügen bereits wenige – können diese Umstände eine Bereitschaft zu politischer Gewalt entstehen lassen. Ein zentraler Bestandteil des gesellschaftlichen Diskurses sollte deshalb die Frage sein, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann; ganz zu schweigen von der Frage, wie sich die damit verknüpften und weitreichenderen Probleme der Ungleichheit und der Arbeitslosigkeit lösen lassen.

Stattdessen war die öffentliche Debatte erfüllt von Stimmen des Hasses und der Angst vor „Muslimen“, die häufig mit „Flüchtlingen“ gleichgesetzt werden. Diese Botschaften müssen vor allem deshalb zurückgewiesen werden, weil sie falsch sind. In der heutigen Welt problemloser Flugreisen und rascher sozialer Veränderungen gehören Muslime zu praktisch jeder lebendigen Gesellschaft. Sie sollten – wie alle anderen auch – nicht mit Diskriminierung zu kämpfen haben.

Ganze Bevölkerungsgruppen aufgrund der Taten einzelner zu verunglimpfen, dies wirkt sich kontraproduktiv auf die Bemühungen zur Terrorprävention aus. Denn genau diese spaltende und entfremdende Antwort auf den Terror ist es, die seine Drahtzieher benötigen, um neue Rekruten zu gewinnen. Gleichzeitig untergräbt sie die Bereitschaft zur Zusammenarbeit mit den Strafverfolgungsbehörden, die zur Verhütung von Terroranschlägen unverzichtbar ist.

Über ihr gesellschaftliches und nachbarschaftliches Umfeld sind Muslime oft diejenigen, die mit der größten Wahrscheinlichkeit von einer im radikalen Islam verankerten terroristischen Bedrohung erfahren. Damit sind sie am besten gewappnet, um andere von Gewaltakten abzubringen und potentielle Gewalttäter anzuzeigen. Wer Muslime pauschal anschwärzt, riskiert, sie von dieser wichtigen Form der Kooperation mit den Ordnungskräften abzubringen.

Wir sollten aus der schändlichen und unsinnigen Antwort der USA auf die Anschläge vom 11. September 2001 lernen, nicht nur im Hinblick auf die berüchtigten Foltermethoden, das Verschwindenlassen Verdächtiger in CIA-Geheimgefängnissen und die langfristigen Inhaftierungen ohne Gerichtsverfahren in Guantanamo Bay. Sondern wir sollten auch Einwanderungsgesetze und die Regeln über den Statuts wichtiger Zeugen (Material Witness Statute) in den Blick nehmen, wodurch ausländische Staatsbürger aufgrund ihrer Religion oder Ethnizität unter bewusster Umgehung rechtswahrender strafrechtlicher Prozeduren inhaftiert wurden.

Die Menschenrechte über Bord zu werfen oder Menschen mit einem bestimmten religiösen oder sozialen Profil zum Sündenbock zu erklären schadet nicht nur den Betroffenen, sondern entfremdet sie auch von der Terrorbekämpfung. Dies ist das Gegenteil dessen, was gebraucht wird. Eine kluge Antiterrorpolitik – dies haben uns viele schmerzliche Erfahrungen gelehrt – muss die Menschenrechte achten.

Flüchtlingsschutz schützt auch die Aufnahmeländer

Da die Flüchtlinge und Asylsuchenden nach ihrer verzweifelten Flucht vor Verbrechen und endloser Gewalt in Staaten wie Syrien, dem Irak, Afghanistan und Eritrea, kaum Chancen haben, in den Nachbarländern angemessene Arbeit, Unterkunft, Bildung und einen klaren Rechtsstatus zu erhalten, ist den meisten jedes Mittel recht, um nach Europa zu gelangen. Die Frage ist also, nicht ob, sondern wie diese Menschen ans Ziel gelangen: Auf einem geordneten Weg, welcher Sicherheitskontrollen ermöglichen würde, oder auf dem chaotischem Weg über Schleuser.

Infolge der europäischen Politik blieb den Flüchtlingen bislang kaum eine andere Wahl, als auf hoher See ihr Leben zu riskieren, um eine Chance auf Asyl zu erhalten. Solange an den griechischen Inseln unkoordiniert Boote anlanden, wird es kaum möglich sein, die Ankommenden systematisch zu kontrollieren und vermeintliche Terroristen abzufangen.

Eine sicherere und menschlichere Alternative wäre es, wenn die EU die Aufnahme von Flüchtlingen ausweiten und in größerem Umfang humanitäre Visa an den ersten Zufluchtsorten vergeben würde, etwa im Libanon oder in Pakistan.

Die UN-Flüchtlingsagentur UNHCR könnte, sofern sie dabei angemessen unterstützt wird, ihre Kapazitäten zur Überprüfung von Flüchtlingen ausbauen und diese an die Aufnahmeländer weiterleiten. Durch ausgeweitete Aufnahmeprogramme könnte Europa signalisieren, dass es seine Türen nicht plötzlich schließen wird und es nicht nötig ist, schnellstmöglich ein klappriges Boot zu besteigen und das Mittelmeer zu überqueren, wo im vergangenen Jahr etwa 3.770 Menschen ertrunken sind, ein Drittel davon Kinder. Eine gut organisierte Erfassung und Überprüfung der Flüchtlinge würde auch der Sicherheit der Europäer dienen.

Die Einrichtung von Antragsstellen in Nachbarstaaten würde auch eine Umverteilung in nicht-europäische Länder ermöglichen. Dies betrifft nicht nur klassische Aufnahmeländer wie die Vereinigten Staaten, Kanada und Australien, sondern auch die Golf-Staaten und Russland, die mehr leisten müssen als bisher.

Nicht jeder Asylsuchende wird einer solchen geordneten Route folgen. Ebenso wenig dürfen Menschen prinzipiell dazu gezwungen werden. Der Erfolg derartiger Maßnahmen wird hauptsächlich davon abhängen, wie großzügig sie gestaltet sind: Je mehr Flüchtlinge darin eine vernünftige Chance zur Umsiedlung ohne jahrelange Aufenthalte in Flüchtlingslagern sehen und je eher sie während der Wartezeit ein normales Leben führen können, desto unwahrscheinlicher wird es, dass sie die lebensgefährliche Alternative wählen. Ein praktikables Aufnahmeprogramm würde dazu beitragen, den Strom irregulärer Flüchtlinge einzudämmen, welcher die Grenzkontrolleure an den Küsten Südeuropas derzeit überfordert.

In den meisten Fällen reisen die Asylsuchenden, denen es gelungen ist, über Griechenland oder Italien nach Europa zu gelangen, weiter in Richtung Norden. Dort treffen sie auf ähnlich chaotische Zustände. Die schwerfällige Umsetzung des EU-Plans zur organisierten Umsiedlung hat, zusammen mit dem fortschreitenden Bau von Grenzzäunen nach dem Sankt-Florians-Prinzip durch Länder wie Ungarn, Slowenien und Mazedonien, zu einem gewaltigen unkontrollierten Flüchtlingsstrom geführt, der für all jene ein Geschenk ist, die sich der Kontrolle durch die Ordnungskräfte entziehen wollen.

Würden alle EU-Staaten ihre Zusagen zur Aufnahme von Asylsuchenden umsetzen und gemeinsam ein geregeltes Aufnahmeverfahren anbieten, könnte dies effektivere Sicherheitskontrollen ermöglichen und Asylbewerbern einen Anreiz bieten, daran auch teilzunehmen. Dies wäre ein erster Schritt hin zu einer gemeinsamen, durch alle EU-Staaten geteilten Verantwortlichkeit, die für ein gemeinsames EU-Asylsystem und die Vermeidung einer Überforderung einzelner EU-Staaten unverzichtbar ist. Eine solche Option könnte auch dazu beitragen, die derzeit geltenden Dublin-Bestimmungen zu ersetzen. Diese verorten die gesamte Verantwortung für Asylsuchende bei den Erstaufnahmeländern, zu denen einige der am wenigsten dazu befähigten EU-Mitgliedstaaten gehören.

Europa steht mit seiner kontraproduktiven Flüchtlingspolitik nicht allein, besonders im Hinblick auf Flüchtlinge aus Syrien. Auch in den USA verunglimpfen einige Amtsträger und Politiker syrische Flüchtlinge als Sicherheitsrisiko, obwohl die wenigen Syrer, denen die Einreise gestattet wird, dort ein eingehendes zweijähriges Überprüfungsverfahren mit wiederholten Befragungen, Hintergrundprüfungen durch mehrere US-Behörden und biometrischer Datenerfassung durchlaufen. Für potentielle Terroristen dürfte dies kaum ein attraktiver Weg sein. Sie dürften es vorziehen, als Studenten oder Touristen einzureisen, was mit weitaus schwächeren Kontrollen verbunden ist. Von allen Personengruppen, die in die USA einreisen, werden Flüchtlinge am intensivsten überprüft.

Dennoch unternahmen 30 US-Gouverneure den Versuch, die Aufnahme syrischer Flüchtlinge in ihre Bundesstaaten zu verbieten. Es wurde sogar ins Gespräch gebracht, muslimischen Nicht-US-Bürgern pauschal die Einreise zu verweigern, wenngleich diese Idee auf breite Ablehnung stieß. Ganz anders reagierte Kanada unter der Führung seines neuen Premierministers Justin Trudeau: Es beschleunigte die Aufnahme von 25.000 syrischen Flüchtlingen, die auf alle 10 Provinzen verteilt und überwiegend herzlich empfangen wurden. Der Premier begrüßte die ersten Flüchtlinge sogar persönlich am Flughafen. Damit warb er für einen respektvollen Umgang und erteilte Angst und Misstrauen eine Absage.

Massenüberwachung vs. kluge Antworten auf den Terrorismus

Politiker auf beiden Seiten des Atlantiks instrumentalisierten die terroristische Bedrohung nicht nur, um Flüchtlinge zu Sündenböcken zu machen. Sie sahen darin auch eine Gelegenheit, um ihre ohnehin schon mächtigen Überwachungsapparate noch stärker auszubauen.

In den USA nutzte CIA-Direktor John Brennan die Anschläge von Paris als Argument gegen die jüngsten technischen und rechtlichen Einschränkungen der massenhaften Sammlung von Telefon-Metadaten durch die Geheimdienste, welche angesichts des von Edward Snowden im Jahr 2013 enthüllten Ausmaßes der Massenüberwachung noch gemäßigt ausfielen.

Zwei unabhängige Kontrollgremien, die Zugang zu geheimen Informationen hatten, stellten übereinstimmend fest, dass Metadaten in keinem einzigen Fall maßgeblich zur Vereitelung eines Terroranschlags beigetragen hatten, obwohl zu ihrer Sammlung massiv in die Privatsphäre eingegriffen worden war.

FBI-Direktor James Comey nahm die Anschläge von Paris zum Anlass, Pläne wieder aufleben zu lassen, mit denen Internetfirmen zum Einbau sogenannter „Hintertüren“ selbst in ihre stärksten Verschlüsselungsmethoden verpflichtet werden sollen.

Viele Unternehmen arbeiten seit der öffentlichen Bestürzung über die Snowden-Enthüllungen an der Entwicklung sichererer Systeme. Doch Hintertüren, die ausschließlich von „den Guten“ benutzt werden können, gibt es nicht. Sie verhelfen zwangsläufig auch Kriminellen dazu, kritische Infrastruktur zu bedrohen oder die vertrauliche Kommunikation gewöhnlicher Nutzer zu gefährden. Terroristen dürften ohnehin eigene Verschlüsselungsmethoden finden, die nicht auf dem Massenmarkt erhältlich sind.

Auch europäische Amtsträger schienen versucht, das Ausmaß der Massenüberwachung zu erweitern. So verabschiedete Frankreich ein neues Geheimdienstgesetz, das die Befugnisse der Behörden zum massenhaften Ausspähen stärkte, in Großbritannien laufen ähnliche Maßnahmen. Bei zahlreichen Anschlägen in Europa befanden sich unter den Tätern jedoch auch Personen, die der Polizei zwar bekannt waren, gegen die aber aufgrund mangelnder Ressourcen nicht weiter ermittelt wurde.

Frankreichs Präsident François Hollande schien dieses Problem zu erkennen, als er versprach 8.500 neue Polizeibeamte einzustellen, die Spuren nachgehen sollten, statt lediglich neue Datenberge aufzutürmen, ohne über die Mittel zu ihrer Auswertung zu verfügen. Dennoch billigte Frankreich nach den Anschlägen in Paris auch potentiell willkürliche Polizeimethoden: So rief Präsident Hollande den Notstand aus und ermöglichte den Sicherheitskräften damit Durchsuchungen und Verhaftungen ohne Vollstreckungsbefehl.

Das Fehlen einer richterlichen Prüfung lässt selektive Personenkontrollen um ein Vielfaches wahrscheinlicher werden – in diesem Fall selektive Kontrollen junger muslimischer Männer. Polizeikontrollen auf der Grundlage solcher Verdächtigenprofile bedrängen seit geraumer Zeit vor allem jene Bevölkerungsteile, zu denen der Kontakt im Sinne der Gewaltprävention eigentlich kultiviert werden sollte.

Stärkung der Zivilgesellschaft durch Soziale Medien

Während Europa und die USA über vermeintliche Verbindungen zwischen Flüchtlingsthematik und Terrorismus besorgt sind, treibt viele autoritäre Regierungen die Angst vor dem Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und sozialen Medien um.

Eine dynamische Zivilgesellschaft trägt dazu bei, dass die Regierung ihrer Bevölkerung dient. Für einen einzelnen Bürger ist es schwierig, eine größere Zuhörerschaft zu erreichen. Wenn sich jedoch viele Bürger in einer zivilgesellschaftlichen Vereinigung zusammenschließen, verstärkt dies ihre Stimmen und versetzt sie in die Lage, Einfluss auf die Regierung zu nehmen. Die Zivilgesellschaft, also die Gesamtheit aller nichtstaatlichen Vereinigungen und Organisationen, welche es der Bevölkerung erlauben, sich für geteilte Anliegen zusammenzuschließen, ist ein unverzichtbarer Bestandteil jeder Demokratie, die ihres Namens würdig ist. Unabhängige und handlungsfähige zivilgesellschaftliche Vereinigungen sorgen dafür, dass Regierungen Schulen bauen, den Zugang zur Gesundheitsversorgung sichern, die Umwelt schützen und eine Vielzahl anderer Maßnahmen ergreifen, die der zivilgesellschaftlichen Vorstellung des Gemeinwohls dienen.

So mancher Funktionär betrachtet Anregungen aus der Bevölkerung jedoch nicht als Orientierungshilfe für seine Politik, sondern als Bedrohung. Wenn sich Entscheidungsträger vorrangig für ihr eigenes Vorankommen und das ihrer Verwandten und Kumpanen interessieren, ist das letzte, was sie sich wünschen, eine mündige Öffentlichkeit, die Ressourcen koordiniert und bündelt, um Korruption, Misswirtschaft und Inkompetenz in der Regierung zu untersuchen, bloßzustellen, zu kritisieren und zu beseitigen.

Auf einem anderen Gebiet, auf dem sich viele Autokraten eigentlich bereits jedes Anscheins von Demokratie entledigt haben, benötigen sie heute dennoch eine demokratische Fassade, um die Voraussetzungen für Legitimität zumindest zum Schein zu wahren. So wie die Autokraten gelernt haben, Wahlen zu manipulieren, um ihr politisches Überleben zu sichern, so versuchen sie heute, zwischen den Wahlen zu verhindern, dass eine mündige Öffentlichkeit ihre autokratischen Pläne durchkreuzt. Indem sie der Zivilgesellschaft jeden Spielraum nehmen, ersticken sie deren Bemühungen, ihr selbstsüchtiges Regiment zu kritisieren oder gar infrage zu stellen.

In den vergangenen Jahren haben die sozialen Medien in diesen Wettstreit zwischen Staat und Gesellschaft die Karten neu gemischt. Noch vor wenigen Jahren war die Zivilgesellschaft auf traditionelle Medien angewiesen, um sich breites Gehör zu verschaffen. Die endliche Anzahl traditioneller Nachrichtenmedien in jedem beliebigen Land erleichterte dabei die Zensur.

Dank des Aufstiegs der sozialen Medien kann heute jeder die traditionellen Medien umgehen und ohne journalistischen Intermediär unzählige Menschen erreichen, besonders da, wo die sozialen Medien über Mobilgeräte leicht zugänglich sind. Dies hat die Fähigkeit der Zivilgesellschaft, sich Gehör zu verschaffen und Veränderungen einzufordern, erheblich gestärkt. Die Folgen des Aufstiegs der sozialen Medien sind jedoch nicht ausnahmslos positiv: Zu ihren Nutzern gehören auch Provokateure und Trolle, die von Regierungen dazu angestiftet oder sogar dafür bezahlt werden, die offizielle Propaganda zu unterstützen. Dennoch ist eine Öffentlichkeit, die ihre Anliegen über die sozialen Medien kundtun kann, eine wichtige Ergänzung zu den etablierten Medien, wenn es darum geht, die offizielle Linie zu hinterfragen.

Am dramatischsten manifestierte sich diese Entwicklung in den Aufständen in der Arabischen Welt, die Ende 2010 ausbrachen, in der Maidan-Revolution in der Ukraine im Jahr 2014 und in der Occupy Central-Bewegung in Hongkong. Jedes dieser Ereignisse demonstrierte die Synergie zwischen einer unzufriedenen Öffentlichkeit und einer Zivilgesellschaft, die es vermag, Menschen über die sozialen Netzwerke auf die Straße zu bringen.

Das Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und sozialen Medien kam jedoch auch auf weniger spektakuläre Weise zum Tragen. Von China über Venezuela bis nach Malaysia zwang es Regierungen, die am liebsten uneingeschränkt und von oben herab regieren, sich dem öffentlichen Druck zu stellen und ihren Bürgern in zunehmendem Maße Rechenschaft abzulegen.

Unterdrückung, Korruption oder bloße Gleichgültigkeit haben einen schwächeren Stand, wenn sie von einer gut vernetzten und koordinierten Gesellschaft hinterfragt werden können.

Die Antwort der Autokraten

Nicht willens eine solche Einschränkung ihrer Herrschaft durch das Volk hinzunehmen schlugen die Autokraten zurück und brachten so eine folgenreiche, sich selbst verstärkende Entwicklung in Gang. Die autoritären Regierungen haben voneinander gelernt, ihre Methoden verfeinert und ihre Erkenntnisse geteilt. Und sie haben die weitreichendste Offensive gegen die Zivilgesellschaft seit Jahrzehnten eingeleitet.

Die typischen Instrumente der Autokraten sind heute zum einen der Versuch, zivilgesellschaftlichen Vereinigungen ihr Recht zu verwehren, im Ausland Gelder einzuwerben, wenn inländische Quellen fehlen, und zum anderen sie mit dehnbaren Vorschriften handlungsunfähig zu machen. Dies bedroht den Wunsch nach einer Regierung, die ihre Bevölkerung besser vertritt, der duch die sozialen Medien ihren mündig gewordenen Nutzern als mögliche Realität versprochen wurde.

Diesen besorgniserregenden Trend zur Kenntnis zu nehmen bedeutet jedoch nicht, die Zivilgesellschaft für tot zu erklären. Mit demselben enormen Potenzial, mit dem mündig gewordene Bevölkerungen ihre zutiefst verunsicherten Autokraten zu dem Versuch getrieben haben, die Gesellschaft wieder in eine fragmentierte, gefügige Form zu bringen, können sie auch zurückschlagen. Noch ist ungewiss, wer in diesem Duell  zwischen dem Streben der Völker nach rechenschaftspflichtigen Regierungen und der Gier der Autokraten nach entfesselter Herrschaft die Oberhand behalten wird.

Die entscheidenden Dritten in dieser Auseinandersetzung sind die Regierungen, die sich zu den Prinzipien der Menschenrechte als Grundlage der demokratischen Herrschaft bekennen. Ihre Bereitschaft, sich an Prinzipien zu halten und nicht der Versuchung zu erliegen, reichen oder mächtigen Autokraten entgegenzukommen, kann ausschlaggebend dafür sein, ob sich Diktaturen oder rechtswahrende repräsentative Regierungen durchsetzen. Doch solange westliche Mächte beim Umgang mit Flüchtlingen und der Bekämpfung des Terrorismus die Menschenrechte verletzen, bleibt ihre Fähigkeit kompromittiert, den übergeordneten Katalog der Menschenrechte zu schützen.

Gründe der Geheimniskrämerei

Schon bei oberflächlicher Betrachtung scheinen die Bestrebungen zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft vor allem von Regierungen angeführt zu werden, die etwas zu verbergen haben. Je nach dem, wer für die Verstöße verantwortlich ist, kann es sich dabei um Verfehlungen der Regierung handeln, welche die Behörden lieber nicht ansprechen möchten, Belege für Fehlverhalten, die geheim bleiben sollen, oder ein Thema, das von der Tagesordnung verschwinden werden soll. Da Regierungen die Zivilgesellschaft drangsalieren, um ihrer Rechenschaftspflicht aus dem Weg zu gehen, sind die Themen, die sie unterdrücken, ein guter Indikator ihrer tiefsten Ängste.

China und Russland, die beiden wohl einflussreichsten Akteure in diesem Kontext, sind hierfür gute Beispiele. In beiden Fällen schloss die Regierungen stillschweigend einen Pakt mit der Bevölkerung: Im Gegenzug für eine strikte Begrenzung der politischen Teilhabe versprachen sie ein rasches Wirtschaftswachstum und verbesserte Chancen zur persönlichen Entfaltung. Heute haben beide Regierungen Schwierigkeiten, ihren Teil des Vereinbarung einzulösen.

Dies liegt zum Teil daran, das der Mangel an öffentlicher Kontrolle zu wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen geführt hat. Die russische Elite kassierte Öl- und Gaseinnahmen, ohne für die Diversifizierung der von Kohlenwasserstoffen abhängigen Wirtschaft zu sorgen, die eine kritische Öffentlichkeit möglicherweise eingefordert hätte. Angesichts der stark fallenden Öl- und Gaspreise und der Sanktionen nach den militärischen Aktivitäten des Kreml in der Ukraine wurde die Wirtschaftslage zunehmend heikel.

In China hemmen die gleichen Symptome, an denen das politische System krankt, auch das Wachstum der Wirtschaft. Dazu gehören der Impuls, scheinbar kontroverse Informationen, etwa zur Reaktion auf den Börsencrash im August, zu beschönigen, die Abhängigkeit von einer Justiz, die als Handlanger der Kommunistischen Partei agiert, statt unabhängig über Vertragsdispute und andere Streitigkeiten zu urteilen, und eine Antikorruptionskampagne, die gleichzeitig als politische Säuberungsaktion dient.

Diese von oben verordnete Politik, die nicht durch eine unabhängige öffentliche Debatte in die Schranken gewiesen werden kann, hat zu einer konjunkturellen Abkühlung, wenn nicht gar zur Rezession geführt. Während schwindende Vermögen Zweifel an der Leistung der Herrschenden aufkommen lassen, agieren die russische und die chinesische Regierung so repressiv, wie seit Jahrzehnten nicht mehr.

Der Kreml ging – zunächst als Antwort auf die Proteste gegen Putin in den Jahren 2011 und 2012 und später, als er den Nationalismus schürte, um seine Vision einer neuen russischen Identität zu fördern, mit zunehmender Intensität – gegen die russische Zivilgesellschaft vor, die eines der wichtigsten Produkte der Auflösung der Sowjetherrschaft darstellt. In diesem vergifteten Klima gelingt es dem Kreml leichter, die Aufmerksamkeit von den wachsenden Problemen der russischen Wirtschaft auf andere Themen abzulenken.

Die chinesische Regierung erkennt die Notwendigkeit, den wachsenden Erwartungen der Bevölkerung zu entsprechen, zwar in gewissem Maße an. Doch während sie von Rechtsstaatlichkeit spricht und selektiv einzelne Beamte wegen Korruption anklagt, lässt sie Anwälte und Aktivisten verhaften, die den Mut haben, außerhalb der staatlichen Lenkung für diese Ziele einzutreten. Und es erschließt sich von selbst, dass die von der Regierung manipulierte Justiz keine Rechtsstaatlichkeit bietet. Pekings selektives Vorgehen gegen Korruption untergräbt vielmehr den dringend notwendigen Aufbau eines unabhängigen Justizsystems. Ähnliche Tendenzen sind auch in anderen Bereichen erkennbar.

Hinter den Bestrebungen zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft stehen häufig Amtsträger, die versuchen, sich dadurch vor einer drohenden Strafverfolgung oder anderen Sanktionen für ihre illegalen Aktivitäten zu retten:

  • Recep Tayyip Erdoğan, der ehemalige Premierminister und heutige Präsident der Türkei, leitete, nachdem es zu Massenprotesten gegen seine zunehmend autokratische Regierungsführung gekommen war, die schärfsten Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft seit mindestens einem Jahrzehnt ein. Er verschärfte die Gangart weiter, als Tonbandaufnahmen an die Öffentlichkeit gelangten, die nahelegten, dass er und seine Familie in Korruptionsfälle verstrickt waren. Als seine seit drei Legislaturperioden regierende Partei bei den Wahlen im Juni keine absolute Mehrheit errang, antwortete der Präsident mit Razzien gegen Medien und politische Gegner. Aus der Wiederholung der Wahlen im November ging Erdoğans Partei schließlich als Sieger hervor.
  • In Kenia griffen führende Amtsträger zivilgesellschaftliche Gruppen an, die sich für eine Strafverfolgung der mutmaßlichen Drahtzieher der Gewalt nach den Wahlen im Jahr 2007, einschließlich des Vizepräsidenten William Ruto, durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) eingesetzt hatten. Kenia nahm zudem Gruppen ins Visier, die Menschenrechtsverletzungen durch die Sicherheitskräfte im Zusammenhang mit Antiterroreinsätzen dokumentiert hatten. Die Einsätze waren eine Reaktion, dass es mehr Anschläge mit Schusswaffen und Granaten in verschiedenen Landesteilen gegeben hatte.
  • Als Reaktion auf den im März 2009 durch den IStGH erlassenen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Baschir verwies der Sudan zahlreiche in Darfur tätige Hilfsorganisationen des Landes und verbot Gruppen, die sich öffentlich für Gerechtigkeit und Menschenrechte eingesetzt hatten.
  • In Südafrika ging die Regierung von Präsident Jacob Zuma gegen eine Organisation vor, die erfolgreich dagegen geklagt hatte, dass die Regierung Baschir empfangen und sich über die Haftbefehle des IStGH hinweggesetzt hatte.
  • Angesichts der wachsenden internationalen Empörung über die Ausweitung des illegalen Siedlungsbaus, verabschiedete Israel ein Gesetz, das dazu benutzt werden könnte, zivilgesellschaftliche Vereinigungen und Einzelpersonen zu bestrafen, die dazu aufrufen, wirtschaftliche oder andersartige Verbindungen mit den israelischen Siedlungen bzw. Israel zu kappen. Der Oberste Gerichtshof befand das Gesetz im vergangenen Jahr in weiten Teilen für zulässig.

Andere Regierungen wurden aktiv, wenn Wahlen oder eine Beschränkung der Amtszeit den Machterhalt bedrohten:

  • Als es in Burundi zu breiten Protesten gegen die Entscheidung des Präsidenten Pierre Nkurunzizas gekommen war, eine verfassungsmäßig fragwürdige dritte Amtszeit anzustreben, ging die Regierung scharf und häufig gewaltsam gegen die Zivilgesellschaft vor. Der führende Menschenrechtler des Landes, Pierre Claver Mbonimpa wurde von Schüssen getroffen und schwer verletzt. Zwei seiner engsten Verwandten wurden bei separaten Zwischenfällen getötet.
  • In der Demokratischen Republik Kongo wurden Menschenrechtler und jugendliche Demokratieaktivisten inhaftiert, geschlagen und bedroht. Sie hatten friedliche Demonstrationen organisiert und Kritik an der möglichen Verlängerung der Amtszeit von Präsident Joseph Kabila geübt, welche die verfassungsmäßige Obergrenze von zwei Amtsperioden überschritten hätte. Regierungsvertreter behaupteten völlig unbegründet, die Aktivisten hätten „terroristische Aktivitäten“ oder eine „gewaltsame Erhebung“ geplant. Die Sicherheitskräfte lösten friedliche Demonstrationen der Gruppe mit tödlicher Gewalt auf.
  • Venezuelas Präsident Nicolás Maduro ließ in den Monaten vor den Parlamentswahlen Kritiker und Bürgerrechtsgruppen schikanieren, verhaften und dämonisieren. Bei den Wahlen musste Maduro schließlich eine Niederlage einstecken, was die meisten Beobachter auf seine schlechte Wirtschaftspolitik zurückführten.
  • Die ecuadorianische Polizei ging mit überzogener Härte gegen Bürger vor, die gegen eine geplante Verfassungsänderung demonstrierten. Die Novelle sollte eine unbegrenzte Wiederwahl des Präsidenten ermöglichen. Präsident Rafael Correas ließ daraufhin nicht gegen die ausfälligen Polizisten ermitteln, sondern gratulierte ihnen zu ihrer „Professionalität“.

Manchen Regierungen geht es auch darum, ohne Beteiligung der Öffentlichkeit oder unabhängige jeglicher Kontrolle Rohstoffvorkommen auszubeuten:

  • Das ölreiche Aserbaidschan ließ führende Bürgerrechtler inhaftieren, um    Unruhen wegen der unübersehbaren Korruption und Misswirtschaft im Staatsapparat zu verhindern. Europa war offenbar zu sehr damit beschäftigt, dem Land Öl und Gas abzukaufen und es von Russlands Einfluss abzuwerben, um die Vorfälle in nennenswerter Weise zu kritisieren.
  • In Usbekistan, wo Regierungsbeamte persönlich von den Erträgen aus dem Baumwollsektor profitieren, gerieten Personen ins Visier der Behörden, die versucht hatten, die Zwangsarbeit auf den Baumwollfeldern zu dokumentieren und bloßzustellen. Die Weltbank verstärkte ihre Investitionen in den usbekischen Baumwollsektor und brachte ihre Bedenken lediglich bei nichtöffentlichen Gesprächen von fragwürdigem Nutzen zum Ausdruck.

Hinter diesen verschiedenen Motiven für die Repression der Zivilgesellschaft steht die Überzeugung der Autokraten, eine strukturierte öffentliche Debatte entspreche einer politischen Bedrohung. Ihre Regime halten es offenbar für besser, die Menschen in ihrer Vereinigungsfreiheit einzuschränken, als die Gefahr einzugehen, dass ihre Unzufriedenheit auf breite Resonanz trifft.

Diese Angst vor freien öffentlichen Debatten hat eine Reihe von Methoden hervorgebracht, mit denen Zivilgesellschaft eingeschränkt oder gelähmt wird. Dazu gehören neben Drohungen, Gewalt, willkürlichen Inhaftierungen und fingierten Anklagen auch zwei zunehmend gängige Vorgehensweisen: Die Einschränkung des Rechts, finanzielle Unterstützung aus dem Ausland einzuwerben, und die Verhängung willkürlicher und repressiver Vorschriften.

Einschränkung des Rechts, finanzielle Unterstützung einzuwerben

In vielen wirtschaftlich schwachen Ländern fehlt es an Geldgebern, die zivilgesellschaftliche Organisationen mit größeren Zuwendungen unterstützen können. Selbst wenn einzelne Personen wohlhabend genug sind, um solche Spenden zu tätigen, bringen Autokraten sie oft davon ab, indem sie gezielt ihre Geschäftsinteressen angreifen. Die Androhung einer Steuerprüfung, der Nichtausstellung notwendiger Genehmigungen oder der Kürzung öffentlicher Aufträge reicht üblicherweise aus, um die Betroffenen von finanziellen Zuwendungen an regierungskritische Gruppierungen abzubringen.

Wenn die potentiellen Spender im Inland verängstigt sind oder nicht über die nötigen Mittel verfügen, um größere Summen beizutragen, machen zivilgesellschaftliche Vereinigungen naturgemäß von ihrem Recht Gebrauch, im Ausland um Unterstützung zu werben. Dieses Recht ist nun zum bevorzugten Ziel repressiver Regierungen geworden. Sie versuchen mit Hochdruck, ausländische Spenden an Vereinigungen zu unterbinden, die sich für den Schutz der Menschenrechte oder für mehr Verantwortlichkeit bei der Regierung einsetzen.

Indien praktiziert diese Methode, ungeachtet seiner demokratischen Traditionen, schon seit geraumer Zeit im Rahmen des Gesetzes zur Regulierung von Auslandszuwendungen. Dieses verpflichtet zivilgesellschaftliche Vereinigungen, eine offizielle Genehmigung einzuholen, bevor sie Spenden aus dem Ausland entgegennehmen dürfen. Die Bereitschaft der Regierung, solche Zuwendungen zu genehmigen, ist dabei offenbar umso geringer, je „sensibler“ die Arbeit der betreffenden Gruppierung ist. Während Vereinigungen, die Versorgungsleistungen anbieten, relativ ungestört operieren können, wird die Arbeit von Menschenrechtsgruppen häufig eingeschränkt. Unter Premierminister Narendra Modi gerieten vor allem Umweltschutzorganisationen in die Schusslinie, weil sie vermeintlich gegen offizielle Entwicklungsprogramme opponierten. Eine Aktivistin, die ins Visier geriet, war für ihre Arbeit zu den Ausschreitungen gegen Muslime in Gujarat im Jahr 2002 bekannt, in die auch Modi, damals noch als Ministerpräsident, verwickelt gewesen sein soll.

Russland setzt solche Einschränkungen ebenfalls aggressiv ein. Es brandmarkte Organisationen, die Spenden aus dem Ausland erhalten, zunächst als „ausländische Agenten“ (was im Russischen die unschöne Konnotation „Verräter“ oder „Spion“ trägt), und blockierte dann bestimmte ausländische Spender als „unerwünschte ausländische Organisationen“ unter Strafandrohung für jeden, der mit ihnen kooperiert.

Andere ehemalige Sowjetrepubliken ahmen das Vorgehen Russlands mittlerweile nach. So berät Kirgisiens Parlament über ein eigenes Gesetz zu „Auslandsagenten“, das sich stark am russischen Vorbild orientiert. Kasachstan führte eine gesetzliche Pflicht ein, Zuwendungen an zivilgesellschaftliche Organisationen über einen von der Regierung ernannten „Vermittler“ abzuwickeln, der nach eigenem Ermessen über die Verteilung der Mittel entscheiden kann. Weißrussland verlangt die Anmeldung aller ausländischen Spenden bei einer Behörde, die jede Zuwendung blockieren kann, wenn deren Verwendungszweck nicht auf einer begrenzten Liste offiziell genehmigter Einsatzgebiete steht. Aserbaidschan leitete strafrechtliche Ermittlungen gegen einige der wichtigsten ausländischen Spender ein, fror die Konten von Dutzenden ihrer Empfänger ein, inhaftierte Schlüsselfiguren der Menschenrechtsbewegung und führte eine Genehmigungspflicht für jeden ausländischen Spender und jedes geförderte Projekt ein.

In China sind einige der wichtigsten Bürgerrechtsgruppen, insbesondere Menschenrechtsorganisationen, in hohem Maße auf Spenden von außen angewiesen. Die Regierung wird voraussichtlich in naher Zukunft ein neues Gesetz zu ausländischen NGOs verabschieden, mit dem sie ausländische Geldquellen umfassender kontrollieren kann. Dies würde besonders Organisationen treffen, die keine Versorgungsleistungen anbieten, sondern politische Lobbyarbeit betreiben.

Neben Indien war auch Äthiopien ein Vorreiter derartiger Methoden, als es im Jahr 2009 für alle Organisationen, die sich mit den Menschenrechten und der Regierungsführung befassten, den Anteil ausländischer Spenden am Gesamtbudget auf 10 Prozent begrenzte. Dies kam einer Schließung der meisten Monitoring-Organisationen gleich. In Kenia erwägt die Regierung die Einführung einer ähnlichen Obergrenze von 15 Prozent, mit der Begründung, die Befürworter der Ermittlungen des IStGH verfolgten eine „ausländische Agenda“.

Angola erlaubt Spenden ausländischer Geber nur mit Genehmigung der zuständigen Regierungsstelle. In Venezuela urteilte der Oberster Gerichtshof im Jahr 2010, dass jede Organisation, die Spenden aus dem Ausland erhält, wegen „Landesverrats“ belangt werden kann. In der Nationalversammlung entschied eine regierungstreue Mehrheit, internationale Unterstützung für Vereinigungen zu verbieten, die „politische Rechte verteidigen“ oder „die Leistung staatlicher Organe überwachen“ – ein freimütiges Zeugnis ihrer Furcht. In Marokko sind fünf Bürgerrechtsaktivisten wegen „Gefährdung der inneren Sicherheit“ angeklagt, weil sie mit ausländischen Geldern ein Seminar zur Förderung des Bürgerjournalismus per Smartphone-App organisiert hatten.

Rechtfertigungen der Repression

Autokraten rechtfertigen ihre Entscheidung, den Zugang zivilgesellschaftlicher Gruppen zu ausländischen Spendern einzuschränken, gerne mit nationalistischer Rhetorik: „Wie können diese Ausländer es wagen, sich in innere Angelegenheiten einzumischen?“ Dieselben Regierungen, die sich eifrig um ausländische Investitionen und internationale Handelsabkommen bemühen, kritisieren Bürgerrechtsgruppen, die im Ausland Spender werben.

Viele Regierungen begrüßen ausländische Finanzhilfen, solange diese in die eigene Tasche fließen oder an Organisationen, die Versorgungsleistungen anbieten. Manche schalten sich im Ausland in eben jene Debatten ein, die sie der Zivilgesellschaft im Inland nicht zugestehen.

Diese Widersprüche lassen sich nicht mit dem Argument auflösen, die Zivilgesellschaft mische sich in unangemessener Weise in staatliche Belange ein. In der Privatwirtschaft gehört es zum Alltag, dass Unternehmen Lobbyarbeit betreiben, um Gesetze und Regularien in ihrem Sinne zu beeinflussen, oder sich an Debatten zur Staatstätigkeit beteiligen. Ausländische Finanzhilfen fließen häufig in die Erbringung essentieller staatlicher Leistungen. Verglichen mit den Geldern, welche durch Investitionen, Handel oder Entwicklungshilfe ins Land strömen, nimmt sich der Spendenbedarf zivilgesellschaftlicher Vereinigungen verschwindend gering aus. 

Warum also geht man gezielt nur gegen die Zivilgesellschaft vor? Weil diese in der Lage ist, die Bevölkerung für Kritik an staatlicher Misswirtschaft zu mobilisieren, vor allem dann, wenn ihre Botschaft sich über die sozialen Medien multipliziert. Wo die Medien bereits mundtot gemacht wurden, wie es in diesen autoritären Szenarien meist der Fall ist, ist die Zivilgesellschaft der einzige Akteur, der die Amtsträger dazu drängen kann, nicht im eigenen Interesse, sondern im Interesse der Bürger zu handeln. Jeder Angriff auf das Recht, im Ausland Spender zu werben, ist in Wahrheit ein Angriff auf den koordinierten Versuch, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen.

Regierungen rechtfertigen die Entscheidung, zivilgesellschaftliche Gruppen ihres Rechts zu berauben, im Ausland Gelder zu beschaffen, auf vielerlei Art. Häufig vergleichen sie ihre Restriktionen mit jenen, die in etablierten Demokratien gelten. So ist es in einigen Demokratien politischen Kandidaten verboten, ihre Wahlkampagnen mit ausländischen Geldern zu finanzieren.

Doch die Einschränkungen, die es zivilgesellschaftlichen Vereinigungen verbieten, Mittel aus dem Ausland entgegenzunehmen, gehen weit über den Kontext der Wahlen hinaus. Sie schränken die Möglichkeiten der Zivilgesellschaft ein, sich zu organisieren und zu einem breiten Spektrum von Themen Stellung zu beziehen, die keinen Bezug zu bevorstehenden Wahlen haben.

Die lässt sich weder mit internationalen Menschenrechtsnormen noch irgendeinem anderen Demokratieverständnis rechtfertigten, wie der UN-Sonderberichterstatter Maina Kiai in einem kürzlich veröffentlichten Bericht klarstellte. Eine freie Partizipation der Öffentlichkeit ist unverzichtbar, damit Bürger sich differenzierter einbringen können als durch den gelegentlichen Akt des Wählens. Nur so können sie zu den vielfältigen Themen, welche außerhalb des Wahlkampfs auf der Tagesordnung stehen, Position beziehen und ihren Ansichten Gehör verschaffen.

Auch in Demokratien geltende Gesetze wie der „Foreign Agents Registration Act“ in den USA müssen für die Rechtfertigungsversuche der Autokraten herhalten. Dieser verpflichtet jede Person, die im Namen einer ausländischen Regierung handelt, sich als Bevollmächtigter (engl. agent) zu registrieren. Dies gilt damit jedoch nur für natürliche oder juristische Personen, die tatsächlich als Vertreter einer ausländischen Regierung oder unter deren direkter Kontrolle agieren. Spenden an zivilgesellschaftliche Organisationen sind praktisch nie mit derart direkten Anweisungen verbunden. Hier liegt kein Vertreterverhältnis vor, das eine besondere Offenlegung, geschweige denn ein Verbot rechtfertigen würde. In vielen Fällen sind die Spender ohnehin keine Regierungen, sondern Privatpersonen oder private Stiftungen.

Einige Regierungen, etwa in Kambodscha, Ägypten, Tadschikistan und Indien, rechtfertigen Einschränkungen ausländischer Spenden an zivilgesellschaftliche Organisationen auch als Notwendigkeit der Terrorbekämpfung. Staaten wie China, Pakistan und Bangladesch stellten ihre Gesetzentwürfe zur Beschränkung von Auslandsspenden ebenfalls in direkten Zusammenhang mit der Terrorgefahr. Da Terrorgruppen die Finanzierung ihrer Verbrechen jedoch ebenso gut über Deckfirmen abwickeln können, verbergen sich hinter der Sonderbehandlung auch hier andere Bedenken.

Die Ironie liegt letztlich darin, dass dieselben Regierungen, die zivilgesellschaftlichen Vereinigungen eine Finanzierung aus dem Ausland erschweren, selbst enorme Summen für Lobbyisten oder PR-Firmen ausgeben, um ihr eigenes Ansehen in der Welt aufzupolieren. So gaben Russland, China, Ägypten und Aserbaidschan allein in Washington etliche Millionen Dollar aus, um ihrer Repression ein gutmütiges Antlitz zu verleihen, während sie die eigene Zivilgesellschaft, die versucht eben diese Repression zu lindern, ausbluten ließen. In welchem Maß grenzüberschreitende Zuwendungen als besorgniserregende Einflussnahme auf den öffentlichen Diskurs gewertet werde, scheint davon abzuhängen, ob die Gelder dazu dienen, die offizielle Linie zu hinterfragen oder zu stützen.

Alles in allem geht es bei den Bemühungen, den Zugang der Zivilgesellschaft zu ausländischen Spenden einzuschränken, nicht um Transparenz oder verantwortungsvolle Regierungsführung, sondern darum, eine koordinierte Kontrolle der Regierungsgeschäfte zu verhindern, indem man die – angesichts des Fehlens bzw. der Einschüchterung von Spendern im Inland – einzig verbleibenden unabhängigen Geldquellen blockiert.

Wenn es diesen Regierungen wirklich darum ginge, die Gesellschaft vor ausländischen Geldern zu schützen, müssten sie in die Zurückgezogenheit Nordkoreas verfallen. Tatsächlich versuchen sie jedoch, eine selektive Blockade zu errichten, welche Investitionen und Finanzhilfen zum eigenen Vorteil durchlässt, während sie Gelder blockiert, die dazu verwendet werden könnten, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Jede von der Regierung vorgenommene Unterscheidung zwischen kommerziellen und wohltätigen Mitteln oder zwischen Finanzhilfen an den Staat und Spenden an zivilgesellschaftliche Vereinigungen, sollte als das erkannt werden, was sie ist: der Versuch, die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit der Bürger und damit ihr Eintreten für eine rechenschaftspflichtige Regierungsführung zu hemmen.

Tod durch Vorschriften

Neben der Drosselung des Geldflusses versuchen Autokraten, die Zivilgesellschaft auch mit immer neuen Gesetzen und Vorschriften zu lähmen. Solche Regeln haben den Vorteil, dass sie gewöhnlich, routinemäßig und unpolitisch erscheinen. Gegen manche Vorschriften ist tatsächlich nichts einzuwenden, etwa die Pflicht zu ehrlicher und transparenter Buchführung, zur Einhaltung des Arbeitsrechts oder zur behördlichen Registrierung. Autokraten, die die Zivilgesellschaft ersticken wollen, missbrauchen gesetzliche Vorschriften jedoch für viel weitreichendere Zwecke, nämlich zur Untergrabung der Unabhängigkeit zivilgesellschaftlicher Vereinigungen.

Eine gängige Methode besteht darin, zu behaupten, die Zivilgesellschaft gefährde irgendeine unklar definierte Vorstellung des Allgemeinwohls. Diese beinhaltet typischerweise den Machterhalt der Regierung oder die Fortsetzung von Maßnahmen, die eine einflussreiche Klientel bedienen.

  • Russland stellte Enthüllungen über militärische Verluste bei „Spezialeinsätzen“ unter Strafe, zu denen rein zufällig auch die Militäraktionen des Kreml in der Ost-Ukraine gehören. Kritiker der russischen Annexion der Krim mussten ebenfalls mit einer Strafverfolgung rechnen.
  • China verabschiedete eine Reihe von Gesetzen zur inneren Sicherheit, Cybersicherheit und Terrorbekämpfung, die friedliche Kritik mit der Bedrohung der nationalen Sicherheit vermengen. Das Gesetzentwurf über ausländische NGOs verspricht nebulös, zivilgesellschaftliche Vereinigungen daran zu hindern, „Chinas nationale Interessen“, „das öffentliche Interesse der Gesellschaft“ oder „die öffentliche Ordnung und Sittlichkeit“ zu gefährden.
  • Kasachstan erhob die „Anstiftung sozialer, nationaler, Klans bzw. Klassen betreffender oder religiöser Uneinigkeit“ zum Straftatbestand, den die Regierung wiederholt dazu nutzte, Kritiker mundtot zu machen.
  • Ungarn ging mit einer Anklage wegen „Betrugs“ gegen Organisationen vor, die zu Korruption und Menschenrechtsfragen arbeiten.
  • Die Türkei inhaftierte Journalisten und schloss Medienkanäle, welche die Bereitschaft gezeigt hatten, der staatlichen Korruption auf den Grund zu gehen, die Politik der Regierung zu hinterfragen oder über Hinweise auf Waffenlieferungen an syrische Oppositionsgruppen zu berichten.
  • Das ugandische Parlament verabschiedete ein Gesetz, das – sofern es in Kraft tritt – bis zu drei Jahren Haft für die Leiter unabhängiger Vereinigungen vorsieht, deren Organisationen gegen weitreichende und unklar formulierte „besondere Verpflichtungen“ verstoßen, etwa das Verbot von Handlungen, die „den Interessen Ugandas oder der Würde des ugandischen Volkes abträglich“ sind.
  • Im Sudan droht Journalisten und zivilgesellschaftlichen Aktivsten, die sich kritisch äußern, eine Anklage wegen „Verbrechen gegen den Staat“, die im Falle eines Schuldspruchs die Todesstrafe nach sich zieht.
  • Kambodscha ließ Vereinigungen schließen, die „Frieden, Stabilität und die öffentliche Ordnung gefährden oder der nationalen Sicherheit, der nationalen Einheit oder der Kultur und Tradition der kambodschanischen Gesellschaft schaden“.
  • In Marokko ordnete ein Gericht die Schließung einer Vereinigung an, die sich für die Rechte der Bewohner der Region Ifni eingesetzt hatte, weil die Gruppe Marokkos „territoriale Integrität“ beschädigt habe.
  • Ecuadors Präsident Rafael Correa ermächtigte seine Regierung, Vereinigungen aufzulösen, die „den öffentlichen Frieden gefährden“. Die Regierung nutzte diese Befugnis, um eine Umweltschutzorganisationen zu schließen, die sich gegen Ölbohrungen im ökologisch empfindlichen Amazonasbecken ausgesprochen hatte.
  • Boliviens Präsident Evo Morales bevollmächtigte seine Regierung im Jahr 2013, jede zivilgesellschaftliche Vereinigung aufzulösen, deren rechtlicher Vertreter wegen Handlungen strafrechtlich belangt wird, welche „die Sicherheit und die öffentliche Ordnung untergraben“.

Angesichts der intensivierten Bemühungen westlicher Regierungen zur Terrorbekämpfung haben andere Staaten ein Geschick darin entwickelt, die Kritik an ihrem harten Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft mit unklaren Äußerungen zur Terrorgefahr umzulenken.

  • Ägyptens Präsident Abdel Fattah al-Sisi erklärte, bei der Niederschlagung der Moslembruderschaft – und der von ihr ausgehenden Bedrohung in der Wahlkabine – sei es in Wahrheit um die Bekämpfung des Terrorismus gegangen. Al-Sisis Vorgehen wird von den Golf-Monarchien mit Milliardenbeträgen unterstützt. Die Königshäuser haben große Angst vor einer Bewegung, welche den politischen Islam, für den sich sie vorgeblich einsetzen, mit freien Wahlen verbindet, die den Monarchen ein Gräuel sind.
  • Kenia setzte zwei Menschenrechtsorganisationen auf seine Liste mutmaßlicher Förderer des Terrorismus, die Verbrechen der Sicherheitskräfte bei Antiterroreinsätzen dokumentiert hatten. Die beschuldigten Gruppen mussten Gerichtsverfahren anstrengen, um sich von den unterstellten Verbindungen zum Terror freisprechen und die Sperrung ihrer Konten aufheben zu lassen.
  • In China wird ein Gesetz diskutiert, welches in die Definition des Terrorismus auch „Gedanken, Aussagen oder Verhaltensweisen“ einschließt, welche „die Gestaltung der nationalen Politik beeinflussen“ sollen. Der Entwurf enthält zudem ein pauschales Verbot „anderer terroristischer Aktivitäten“, mit dem sich beliebige Aktivitäten als terroristische Straftaten auslegen lassen.
  • Brasilien erwägt die Einführung eines Antiterrorgesetzes, welches überzogen breit gefasste und unklare Formulierungen enthält, welche die „Befürwortung des Terrorismus“ ohne jede weitere Präzisierung als Straftat definieren. Das Gesetz enthält eine weitere Bestimmung, die zur Strafverfolgung von Demonstranten eingesetzt werden könnte, wenn diese Straßen und Gebäude „übernehmen“.

Hinter diesen Versuchen, zivilgesellschaftliche Vereinigungen auf die offiziellen Vorstellungen des Allgemeinwohls festzulegen, steht ein falsches Verständnis der Rolle der Zivilgesellschaft. In einer Gesellschaft, die das Recht achtet, sollte es allen frei stehen, sich zusammenzuschließen, um ihre eigene Vorstellung des Allgemeinwohls zu vertreten. Darin sollten sie nur durch solche Einschränkungen gehemmt werden, die direkten Schaden für Dritte verhindern. Viele dieser Zielvorstellungen werden sich von den Absichten der Regierung unterscheiden, doch genau darum geht es. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Regierung den Bedürfnissen ihrer Bevölkerung entspricht, ist dann am höchsten, wenn diese frei darüber diskutieren kann, worin diese Bedürfnisse bestehen und wie ihnen am besten gedient werden kann. Dass Menschen sich zusammenschließen, um ihre Standpunkten Nachdruck zu verleihen, ist ein unverzichtbarer Teil dieses Prozesses, ganz gleich in welchen Variationen und Permutationen sich solche Zusammenschlüsse bilden.

Wenn Regierungen mit unklar formulierten Gesetzen über das Gemeinwohl oder die nationalen Interessen versuchen, die Zivilgesellschaft an die Kette zu legen, schränken sie das Spektrum der öffentlichen Debatte ein. Dies erfolgt sowohl durch staatliche Zensur, als auch durch die Selbstzensur der Bevölkerungsgruppen, die zu begreifen versuchen, welche Aussagen und Handlungen erlaubt sind. Dies verletzt nicht nur die Rechte derer, die Vereinigungen gründen und ihren Ansichten Gehör verschaffen möchten. Es führt auch dazu, dass die Regierung eher den Privatinteressen ihrer Führer und deren mächtigster Verbündeter dient als der Bevölkerung.

Homophobie kommt gelegen

Eine zunehmend beliebte Methode zur Unterdrückung der Zivilgesellschaft ist es, gegen Vereinigungen von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT) vorzugehen oder gegen Personen, die sich für deren Rechte einsetzen. Viele repressive Regierungen argumentieren analog zu ihrer Ablehnung ausländischer Spendengelder mit der Behauptung, Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender seien ihrer Kultur fremd und eine vom Westen aufgezwungene Erscheinung.

Freilich „exportiert“ kein westliches Land Schwule und Lesben, die es seit Menschengedenken in jedem Land gibt, auch wenn ihre Sichtbarkeit weitgehend ein Produkt des vor Ort herrschenden Ausmaßes der Unterdrückung ist. Das einzige, was tatsächlich aufgezwungen wird, sind die dominanten Ansichten über Geschlechterrollen und Sexualität, welche die Regierung einer schutzlosen Minderheit diktiert.

Wie auch die allgemeineren Attacken auf die Zivilgesellschaft sind die Angriffe auf LGBT-Vereinigungen offensichtlich dort am intensivsten, wo am dringendsten von anderen Themen abgelenkt werden soll. Die lautstärksten Vorkämpfer repressiver LGBT-Gesetze weltweit – Wladimir Putin in Russland, Yoweri Museveni in Uganda, Nigerias Ex-Präsident Goodluck Jonathan und Yahya Jammeh in Gambia – stehen wegen ihrer verfehlten Regierungsführung unter politischem Druck. Sich als Hüter „traditioneller Werte“ darzustellen ist eine komfortable Methode, um Diskussionen über das eigene Fehlverhalten aus dem Weg zu gehen. Da dieser Trick jedoch nicht auf Dauer funktioniert, ist die staatliche Homophobie häufig nur der Auftakt für weitreichendere Maßnahmen gegen die Zivilgesellschaft – der sprichwörtliche Kanarienvogel in der Kohlegrube.

Geschlossene Gesellschaften

Den strengsten Autokraten genügt es nicht, der Zivilgesellschaft enge Grenzen zu setzen. Sie verbieten oder zerschlagen diese vollständig. In Staaten wie Nordkorea, Usbekistan, Turkmenistan, Eritrea oder Ruanda existiert praktisch keine unabhängige Zivilgesellschaft mehr. Koordinierte Stellungnahmen zum Verhalten der Regierung kommen nicht in Frage. In vielen anderen Staaten wie Ägypten, Bahrain, Saudi-Arabien, dem Sudan, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Weißrussland führt die Gründung einer zivilgesellschaftlichen Vereinigung, welche die Regierung zur Rechenschaft zieht, auf direktem Weg ins Gefängnis.

Viele der Regime, die bei der Unterdrückung der Zivilgesellschaft führend sind, versuchen heute dennoch, sich als demokratisch und rechenschaftspflichtig zu präsentieren und so in den Genuss der damit verbundenen Vorteile zu kommen – natürlich ohne eine echte Kontrolle ihres Handelns durch zivilgesellschaftliche Vereinigungen zu erlauben. Diese Regierungen nutzen auch am häufigsten Einschränkungen ausländischer Spenden und vage formulierte Vorschriften als Vorwand für ihre Unterdrückung. Regierungen, deren Demokratieverständnis sich hingegen auf die Achtung der Menschenrechte stützt, sollten deutlich machen, dass sie diese Vorwände durchschauen und dass das Ende der Unterdrückung eine Vorbedingung für die Aufnahme normaler Beziehungen ist.

Menschenrechte als Ausweg

Da die Weltgemeinschaft dank einfacherer Transport- und Kommunikationsmittel immer besser vernetzt ist, lassen sich Menschenrechtsprobleme nur noch selten isoliert auf ein einziges Land bezogen betrachten.

Gräueltaten in Syrien und Afghanistan lösen Flüchtlingskrisen in Europa aus. Europas Reaktion bzw. das Ausbleiben einer angemessenen Reaktion beeinträchtigt andernorts den Aufbau von Gesellschaften, in denen Menschen verschiedener Kulturen, Religionen und sexueller Orientierungen respektiert weren. Die Vereinfachung und die Demokratisierung moderner Kommunikation durch das Internet und insbesondere durch die sozialen Medien fordern Regierungen in der ganzen Welt heraus, sich ihrer Rechenschaftspflicht gegenüber der Bevölkerung auf eine aktivere und umfassendere Art und Weise zu stellen.

Angesichts der Tumulte in der heutigen Welt wird es nicht einfach sein, dieser Herausforderung gerecht zu werden. Veränderungen können bedrohlich erscheinen, sei es für eine Gemeinschaft, die nostalgisch nach Erinnerungen an größere Homogenität greift, eine Nation, die mit wachsender Unsicherheit konfrontiert ist, oder einen Diktator, der verzweifelt an der Macht festhält.

Wenn wir Gesellschaften aufbauen wollen, die jedes einzelne ihrer Mitglieder achten, Staaten, die die beste Strategie zu ihrer Verteidigung finden, oder Regierungen, die ihrer Bevölkerung möglichst effizient dienen, dann ist die Weisheit, die in den internationalen Menschenrechtsstandards verankert ist, ein unverzichtbar Wegweiser.

Wer diese Weisheit preisgibt, begibt sich auf dünnes Eis.

Kenneth Roth ist Executive Director von Human Rights Watch

Kategorien: Menschenrechte

US-Gipfel: Gesetze zu ausländischen Terrorkämpfern überarbeiten

Mi, 27.05.2020 - 10:50

Die Länder, die an dem von den Vereinigten Staaten geleiteten Gipfel zur Terrorbekämpfung teilnehmen, sollen sicherstellen, dass alle Maßnahmen internationalen Menschenrechtsstandards entsprechen, die Menschen davon abhalten sollen, sich extremistischen Gruppierungen anzuschließen. Am 29. September 2015 wird US-Präsident Barack Obama am Rande der UN-Vollversammlung zu einem Gipfel treffen empfangen, an dem mehr als 100 Staats- und Regierungschefs teilnehmen.

Mehr als 30 Länder haben Gesetze oder Maßnahmen eingeführt, um gegen sogenannte ausländische Terrorkämpfer vorzugehen. Die meisten dieser Maßnahmen wurden verabschiedet, nachdem der UN-Sicherheitsrat das Thema in seiner Resolution 2178 vom September 2014 behandelt hatte. Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass die zu weit gefasste Terminologie in diesen Gesetzestexten gegen bestimmte religiöse Gruppen gerichtet werden könnte. Ebenso könnte hierdurch die Meinungsfreiheit unterdrückt werden. Auch könnte das Recht auf Freizügigkeit übermäßig eingeschränkt werden und Verdächtigte könnten ohne offizielle Anklage für einen langen Zeitraum in Haft genommen werden.

„Regierungen müssen die Bevölkerung vor Gewalt durch extremistische Gruppen schützen. Doch dies ist kein Freibrief dafür, grundlegende Menschenrechte mit Füßen zu treten”, so Letta Tayler, Expertin für Terrorismus und Terrorbekämpfung von Human Rights Watch. „Die Staats- und Regierungschefs sollen sicherstellen, dass die sogenannten Gesetze zu ausländischen Terrorkämpfern überarbeitet werden, damit diese kein Werkzeug zur Unterdrückung werden.“ 

Resolution 2178 hält alle UN-Mitgliedstaaten dazu an, Straftatbestände einzuführen für jene Personen, die ins Ausland reisen oder zu reisen beabsichtigen, um sich dort einer ausländischen Terrororganisation anzuschließen oder eine solche zu unterstützen. Die Resolution sieht ebenfalls vor, dass die Mitgliedstaaten die Rekrutierung und Finanzierung von mutmaßlichen ausländischen Terrorkämpfern unter Strafe stellen. Zudem sollen sie Informationen über mutmaßliche ausländische Terrorkämpfer untereinander austauschen und Maßnahmen gegen gewalttätigen Extremismus entwickeln.

Mindestens 33 Länder haben seit 2013 Gesetze, Verordnungen oder Maßnahmen erlassen, um dem Strom von Menschen, die ins Ausland reisen, um sich extremistischen Gruppen anzuschließen, Einhalt zu gebieten. 24 Länder haben diese Maßnahmen eingeführt, nachdem der UN-Sicherheitsrat Resolution 2178 verabschiedet hatte.

Die Staats- und Regierungschefs sollen den Gipfel dazu nutzen, um die Umsetzung der Resolution 2178 zu prüfen, damit das jeweilige Vorgehen der Staaten im Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards und humanitärem Völkerrecht steht, so Human Rights Watch.

Resolution 2178 verlangt, dass alle Maßnahmen im Einklang mit dem Menschenrechtsschutz stehen, zu dem sich das jeweilige Land verplichtet hat. Jedoch werden die Begriffe „Terrorismus“ oder „terroristische Handlungen“ nicht definiert, sodass Regierungen viel Spielraum haben, um Definitionen festzulegen oder beizubehalten, die zum Beispiel die Ausübung des Rechts auf Meinungsfreiheit und anderer Menschenrechte unter Strafe stellen.  

So gelten etwa laut Saudi Arabiens 2014 verabschiedeten Gesetzen und Verordnungen zur Terrorbekämpfung auch jene Taten als „terroristisch”, die „dem Ansehen des Staates schaden”, ohne dass bei solchen Taten Gewalt angewendet wird. Gleiches gilt für „die Teilnahme an Konferenzen, Seminaren oder Treffen innerhalb oder außerhalb [des Königreiches], die auf die Sicherheit der Gesellschaft abzielen oder darauf, Unfrieden zu stiften.”

Demokratische Staaten haben ebenfalls Bestimmungen erlassen, die Anlass zur Sorge um die Einhaltung der Menschenrechte geben. Die 2014 und 2015 in Großbritannien erlassenen Gesetze erlauben es den Behörden, eingebürgerten Briten, die aufgrund von Verstößen gegen die Gesetze zu ausländischen Terrorkämpfern verurteilt wurden, die Staatsbürgerschaft zu entziehen, selbst wenn dies die Betroffenen staatenlos macht. Zudem darf der Staat ein maximal zweijähriges Wiedereinreiseverbot gegen jene verhängen, die lediglich im Verdacht stehen, in derartige Aktivitäten verwickelt zu sein. Diese Maßnahmen könnten Menschen willkürlich das grundlegende Recht nehmen, in ihr eigenes Land einzureisen.

Ein 2015 in Deutschland verabschiedetes Gesetz erlaubt es den Behörden, Pässe und Personalausweise jener Bürger, die als ein Sicherheitsrisiko betrachtet werden, durch Ausweispapiere zu ersetzen, auf denen vermekt ist: „Berechtigt nicht zum Verlassen Deutschlands“. Kritiker mahnen, dass diese Ersatzdokumente zu einer Stigmatisierung der Betroffenen führten.

Mehrere Länder haben die Regelungen zu einer verlängerten Haft ohne Anklage oder Prozess ausgeweitet oder wiedereingeführt. Das vage und weit gefasste Sicherheitsgesetz, das 2015 in Malaysia verabschiedet wurde, führt eine Inhaftierung von bis zu zwei Jahren ohne Prozess für all jene Aktivitäten ein, die mutmaßlich in Verbindung zu ausländischen Terrorgruppen stehen wieder ein. Die Haft kann dann unbegrenzt immer wieder für zwei Jahre verlängert werden.

Die Verfügung von 2015 in Tadschikistan, die es allen Bürgern unter 35 verbietet, zu den heiligen Stätten des Islam Mekka und Medina zu reisen, um dort an der jährlichen Pilgerfahrt Haddsch teilzunehmen, schränkt die Religionsfreiheit massiv ein, so Human Rights Watch.

Der Sicherheitsrat soll eine Resolution verabschieden, die vorsieht, dass die Definitionen von „Terrorismus” und „terroristischen Handlungen” im Einklang mit internationalen Menschenrechtsstandards, dem Flüchtlingsrecht und dem humanitären Völkerrecht stehen, so Human Rights Watch. Diese Definitionen sollen beispielsweise jene Handlungen ausschließen, die nicht darauf abzielen, Menschen zu töten, ernsthaft körperlich zu verletzen oder als Geiseln zu nehmen.

„Die Resolution des Sicherheitsrats zu ‚ausländischen Terrorkämpfern’ lässt Regierungen freie Hand dabei, was oder wer für sie als terroristisch gilt”, so Tayler. „Anstatt die Welt sicherer zu machen, besteht durch die damit verbundenen repressiven Maßnahmen die Gefahr, dass genau die Menschen, die mit extremistischen Gruppen sympathisieren, verärgert und somit zusätzlich ermutigt werden, sich diesen Gruppen anzuschließen.“

Folgende Länder haben seit 2013 Maßnahmen gegen ausländische Terrorkämpfer verabschiedet:
Ägypten, Australien, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Dänemark, Deutschland, Frankreich, Großbritannien Irland, Italien, Jordanien, Kamerun, Kanada, Kasachstan, Kenia, Libyen, Malaysia, Marokko, Mazedonien, Neuseeland, die Niederlande, Norwegen, Österreich, Pakistan, Russland, Saudi Arabien, die Schweiz, Spanien, Tadschikistan, Tschad, Tunesien, Usbekistan und die Vereinigten Arabischen Emirate.

Folgende Ländern haben neue oder zusätzliche Maßnahmen gegen ausländische Terrorkämpfer vorgeschlagen: Albanien, Australien, Bulgarien, China, Großbritannien, Kanada, Kuwait, Lettland, Montenegro, die Niederlande, Norwegen, Schweden und Serbien.
 

Kategorien: Menschenrechte

Verbotene Drohnen-Angriffe verhindern

Mi, 27.05.2020 - 10:50

In einer lauen Sommernacht im August 2012 tötete ein US-Drohnenangriff fünf Männer, die sich hinter einer Moschee in Khaschamir, im Südosten des Jemen, versammelt hatten. Drei von ihnen waren mutmaßliche Mitglieder von Al Kaida auf der Arabischen Halbinsel (Aqap). Bei den beiden anderen handelte es sich um Persönlichkeiten aus der Dorfgemeinschaft. Der erste, Salim bin Ali Jaber, war ein Geistlicher, der gegen die Gewalt von Aqap gepredigt hatte. Der zweite, sein Cousin Walid, war Polizist. Wie Augenzeugen und Verwandte mir berichteten, waren die mutmaßlichen Aqap-Mitglieder auf Salim Jaber zugegangen, um ihn davon abzuhalten, gegen die Gruppe zu predigen.

Heute wird das Verwaltungsgericht Köln in einem beispiellosen Verfahren mit Anhörungen im Namen dieser Verwandten beginnen. Die jemenitischen Kläger berufen sich darauf, dass der US-Luftwaffenstützpunkt Ramstein in Rheinland-Pfalz vermeintlich in den Drohnenangriff, der ihre Angehörigen tötete, verwickelt war. Deutschland, so ihre Argumentation, verletze seine verfassungsrechtliche Verpflichtung, das Recht auf Leben zu schützen, indem die USA Ramstein für todbringende Drohneneinsätze nutzen könnten.

Nach Recherchen des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ und Intercept ist Ramstein der Dreh- und Angelpunkt des geheimen US-Drohnenprogramms. Die Bundesregierung hält dem entgegen, die USA hätten zugesichert, dass von Deutschland aus keine Drohnen befehligt oder gesteuert werden. Diese Sprachregelung verschleiere jedoch die große technische Bedeutung des Stützpunkts für die Drohnenschläge, so die Kläger.

Mit einer Ausdehnung des Rechts auf Leben auf Nicht-Bundesbürger auf ausländischem Staatsgebiet würden die Richter unerforschtes juristisches Neuland beschreiten, doch schon das Verfahren an sich sollte die Bundesregierung aufhorchen lassen. Allein im Jemen wurden durch US-Drohnenschläge bislang mindestens 444 Menschen getötet. Auch wenn die USA nicht preisgeben wollen, wie viele Opfer Zivilisten waren, so dürften die Jabers nicht die Einzigen bleiben, die derartige Fälle vor deutsche Gerichte bringen.

Während nun das Verwaltungsgericht Köln am Zug ist, sollte zugleich die Bundesregierung dafür sorgen, dass ausländische Streitkräfte Ramstein nicht für völkerrechtswidrige Angriffe nutzen. Dies sind Operationen, bei denen in bewaffneten Konflikten wahllos oder unverhältnismäßig Zivilisten getötet werden. Oder es handelt sich um Angriffe, bei denen Menschen getötet werden, die keine unmittelbare Bedrohung für andere darstellen – ohne dass dies im Rahmen eines bewaffneten Konflikts stattfindet.

Die Bundesregierung sollte die USA auch drängen, Licht ins Dunkel des verdeckten Tötungsprogramms zu bringen, damit – wenn ein Angriff sein Ziel verfehlt – die Opfer zumindest wissen, von wem sie Wiedergutmachung einfordern können.

Deutschlands enge sicherheitspolitische Kooperation mit den USA darf kein Grund dafür sein, sich vor diesem Thema zu drücken. Im Gegenteil: Berlin könnte mit seinem Einfluss in Washington darauf hinwirken, dass die USA einen völkerrechtlich vertretbaren Kurs einschlagen.

Obwohl die USA beteuern, zivile Todesopfer durch Drohnenschläge seien selten, bekennen sie sich praktisch nie zu solchen Angriffen oder bestätigen die Zahl der Todesopfer nur dann, wenn Amerikaner oder Staatsbürger ihrer westlichen Verbündeten unter den Opfern sind. Die Angehörigen von Salim und Walid Jaber haben bis heute weder ein Bekenntnis der USA zu dem Angriff in Khaschamir erhalten, geschweige denn eine Entschuldigung. Ein geheimes US-Dokument, das Intercept vorliegt, belegt, dass Washington bereits zwei Tage nach dem Angriff wusste, dass „mögliche Unbeteiligte“, einschließlich eines Aqap-kritischen Geistlichen, getötet wurden.

Trotzdem dauerte es zwei Jahre, bis die Jabers eine Entschädigung erhielten – eine informelle Barzahlung von 100 000 US-Dollar über einen jemenitischen Geheimdienstbeamten, der erklärte, das Geld stamme aus den USA. Diese Doppelmoral lässt auch die Jabers nicht kalt: „Es war ein großer Schock“, so Faisal Jaber über Obamas Entschuldigung. Die Botschaft der USA sei klar: „Ob wir unschuldig sind oder nicht – Obama ist es egal, wie viele Jemeniten er tötet.“

Mitte Mai riefen zehn Nichtregierungsorganisationen – darunter auch Human Rights Watch sowie ECCHR und Reprieve, die beiden Organisationen, welche die Jabers vertreten – die US-Regierung auf, einen systematischen Ansatz für den Umgang mit Antiterroroperationen, bei denen Zivilisten getötet oder verletzt werden, zu entwickeln, unabhängig von der Staatsangehörigkeit der Opfer. Die USA sollten solche Fehlschläge, insbesondere auch den Tod von Salim und Walid Jaber, gründlich und unabhängig untersuchen, die Ergebnisse veröffentlichen und die zivilen Opfer entschädigen.

Deutschland sollte sich nicht nur aus moralischen, sondern auch aus strategischen Gründen für ein solches System einsetzen. Durch den Angriff in Khaschamir wurden die Leichenteile von Salim und Walid Jaber über das gesamte Moscheegelände verteilt. Wenn Dorfbewohner heute auf die Fotos der verstreuten Überreste blicken, „denken sie an Amerika“, so Faisal Jaber. Sollte die Bundesregierung nicht dafür sorgen, dass Deutschland bei derartigen Angriffen keine Rolle spielt, könnten die Dorfbewohner beim Anblick dieses Grauens eines Tages auch an Deutschland denken.

Kategorien: Menschenrechte

Folter weiter unbestraft

Mi, 27.05.2020 - 10:50

Endlich wurde der lange erwartete Untersuchungsbericht des US-Senats über die Foltermethoden des CIA veröffentlicht. Er liefert einen wichtigen Anlass, um darüber nachzudenken, was wir aus diesem beschämenden Kapitel der US-amerikanischen Geschichte gelernt haben und wie wir verhindern können, dass es sich wiederholt.

Zweifellos wird viel darüber diskutiert werden, dass Folter nicht „funktioniert“ - dass Folter, wenn überhaupt, nur wenige wertvolle Informationen zu Tage gefördert hat, die nicht bereits auf anderen, rechtmäßigen Wegen ermittelt worden waren oder hätten ermittelt werden können. Es ist enttäuschend, dass wir diese Diskussion überhaupt führen müssen, vor allem angesichts des rechtlichen und moralischen Verbots von Folter und anderer Misshandlungen. Zum Beispiel ist das Verbot in der Genfer Konvention festgeschrieben, sogar in Kriegszeiten. Allerdings scheint es verlockend zu sein, das Illegale und Unmoralische als etwas Notwendiges zu legitimieren, wenn unsere Sicherheit so massiv bedroht wird wie durch die Anschläge vom 11. September 2001. Deswegen ist dieser Befund wichtig.

Die CIA wehrt sich massiv dagegen. Der Geheimdienst besteht darauf, dass er sich durch Folter - oder, um den bliebten Euphemismus zu verwenden, „erweiterte Verhörmethoden“ - wichtige Erkenntnisse verschafft habe. Aber natürlich kann er uns dazu nichts näheres sagen, weil die Details der Geheimhaltung unterliegen. Was uns zu denken geben sollte, das ist, dass die meisten Mitglieder des Untersuchungsausschusses und bekannte Senatoren aus allen politischen Spektren Folter als ineffektiv einschätzen, während die lautesten Befürworter die Folterer selbst sind. Dieses umstrittene Argument ist eine sehr schwache Grundlage dafür, eine so fundamentale Regel wie das Folterverbot zu durchbrechen.

Darüber hinaus widerspricht die CIA jeder im Nachhinein formulierten Vermutung, dass es sich bei ihren „erweiterten Verhörmethoden“ um Folter handelt. Sie argumentiert, dass sie sich auf die Einschätzungen der Rechtsabteilung des Justizministerium habe verlassen könne, denen zufolge diese Praktiken keine Folter seien. Aber der Untersuchungsbericht hat aufgedeckt, dass diese Methoden tatsächlich härter und brutaler waren, als die CIA zum damaligen Zeitpunkt eingestanden hatte. Darüber hinaus lesen sich die berüchtigten „Folter Memos“ wie erzwungene, intellektuell unehrliche Versuche, das Unvertretbare zu rechtfertigen. Sie wurden verfasst, um die Grundlage für genau die juristische Verteidigungsstrategie zu schaffen, die der Geheimdienst nun verfolgt - dass er sich auf die Rechtsberatung einer autorisierten Exekutivbehörde verlassen habe, so dass unfair wäre, sein Vorgehen nachträglich zu kritisieren. Aber jeder Soldat im Kriegseinsatz weiß, dass es falsch ist, einen offensichtlich rechtswidrigen Befehl zu befolgen. Die Leitung der CIA hätte sich genauso verhalten müssen.

Es bleibt bedauerlich, dass sich die leitenden Juristen der Bush-Administration aus der Verantwortung für ihre Beteiligung an Folter stehlen konnten, insbesondere angesichts ihrer Verpflichtungen als öffentliche Würdenträger und ihrer ethischen Pflicht als Juristen, das Recht zu wahren. Ihre Gutachten waren keine vertretbaren Interpretationen widersprüchlicher Rechtsvorschriften, die unterschiedlich gedeutet werden können. Vielmehr haben sie parteiische Freifahrtsscheine für Verbrechen ausgestellt. Sie sollten mindestens wegen Amtsmissbrauch abgemahnt, wenn nicht sogar als Mittäter strafrechtlich verfolgt werden.

Die strafrechtliche Verfolgung sollte nicht bei den Juristen enden, sondern auch die führenden Beamten der Bush-Regierung einschließen, die Folter genehmigt und ihre Anwendung beaufsichtigt haben. Präsident Obama ist zugute zu halten, dass er die „erweiterten Verhörmethoden“ in dem Moment beendet hat, in dem er vor sechs Jahren in sein Amt gewählt wurde. Allerdings lehnt er standhaft ab, eine umfassende Untersuchung der Anwendung von Folter nach den Anschlägen vom 11. September 2001 zu genehmigen. Stattdessen erlaubt er nur kleinteilige Untersuchungen unerlaubter Verhörmethoden, von denen bislang keine zu Strafverfahren geführt hat. Anscheinend erachtet er es als zu polarisierend, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, als zu wahrscheinlich, dass solche Schritte dazu führen würden, dass der Kongress seine Schwerpunkte in der Gesetzgebung blockiert - obwohl seine bisherige Zurückhaltung keinesfalls eine Ära der Zusammenarbeit im Kongress eingeleitet hat.

In der Konsequenz versagt nicht nur das Rechtssystem. Durch Obamas Weigerung, das Folter-Verbot ohne Einschränkung durchzusetzen, bleibt Folter eher eine politische Option als ein Verbrechen. Die Botschaft an zukünftige Präsidenten, die mit einem massiven Sicherheitsproblem umgehen müssen, lautet, dass das nationale und internationale Folterverbot ohne Folgen ignoriert werden kann.

Wenn schon keine Strafverfahren eingeleitet werden, sollten wenigstens Maßnahmen ergriffen werden, die eine erneute Hinwendung zur Folter unwahrscheinlich machen. Wegen ihrer traditionellen Geheimhaltungspolitik und ihrer fehlenden öffentlichen Kontrolle sollte die CIA zukünftig keine Verdächtigen mehr gefangenhalten. Stattdessen sollte das Justizministerium (oder bei Kriegsgefangenen das Militär) dafür zuständig sein. Wenn Verdächtige für Verhöre inhaftiert werden, sollte das Internationale Komitee des Roten Kreuzes (IKRK) immer und ausnahmslos sofortigen und regelmäßigen Zugang zu diesen Personen erhalten. Dank seiner Politik der Vertraulichkeit ist nicht zu befürchten, dass das IKRK sensible Untersuchungen unterminiert, und seine Anwesenheit würde potenzielle Folterer entmutigen.

Wenn Folter angewendet wird, dann sollten Whistleblower besser geschützt werden, und die Opfer sollten das Recht haben, vor US-amerikanischen Gerichten Entschädigung einzuklagen. Schließlich sollten sich alle Behörden offen zu ihrer Pflicht bekennen, nicht auf Rechtsauffassungen zu vertrauen, die offensichtlich dazu dienen, kriminelle Handlungen zu legitimieren. Auch sollte erneut bekräftigt werden, dass es keine zulässige Verteidigung ist, eindeutig illegale Befehle befolgt zu haben.

Kenneth Roth ist der Exekutiv-Direktor von Human Rights Watch.

Kategorien: Menschenrechte

USA: Überwachung gefährdet Journalismus, Recht und Demokratie

Mi, 27.05.2020 - 10:50

(Washington, DC)Die großflächige Überwachung in den USA behindert Journalisten und Anwälte massiv bei ihrer Arbeit, so Human Rights Watch und die American Civil Liberties Union in einem heute gemeinsam veröffentlichten Bericht. Die Überwachung unterminiert die Medienfreiheit und den Anspruch auf Rechtsbeistand. Letztlich nimmt sie den Menschen in den Vereinigten Staaten die Möglichkeit, ihre Regierung zur Verantwortung zu ziehen.

Der 120-seitige Bericht „With Liberty to Monitor All: How Large-Scale US Surveillance is Harming Journalism, Law, and American Democracy“ basiert auf Interviews mit Dutzenden Journalisten, Rechtsanwälten und hochrangigen Vertretern der US-Regierung. Er dokumentiert, wie Journalisten und Anwälte, die sich mit Fragen der nationalen Sicherheit befassen, aufwändige Maßnahmen ergreifen oder ihre Arbeitsweise ändern mussen, um ihre Kommunikation, Quellen und vertrauliche Informationen zu schützen. Damit reagierten sie auf die beispiellose Überwachung der elektronischen Kommunikation und Transaktionen durch die US-Regierung. Der Bericht belegt, dass die staatlichen Überwachungs- und Geheimhaltungsmaßnahmen die Pressefreiheit, das Recht auf Informationen und das Recht auf Rechtsbeistand unterminieren. All diese Menschenrechte sind unabdingbar in einer Demokratie.

„Die Arbeit von Journalisten und Anwälte ist in einer Demokratie äußerst wichtig“, so der Autor der Berichts Alex Sinha, Aryeh Neier Fellow bei Human Rights Watch und der American Civil Liberties Union. „Wenn diese Arbeit leidet, tun wir es auch.“

Auswirkungen der Überwachung auf Journalisten
Für den Bericht wurden Gespräche mit 50 Journalisten geführt, die für Medien wie The New York Times, Associated Press, ABC und NPR zu den Themen Geheimdienste, nationale Sicherheit und Rechtsdurchsetzung arbeiten.

Die USA hat sich lange weltweit als Vorreiter der Medienfreiheit präsentiert. Doch die für den Bericht befragten Journalisten teilten mit, dass sie durch die staatliche Überwachung daran gehindert werden, über Themen von großem öffentlichem Interesse zu berichten.

Viele Journalisten und ihre Informanten beobachten die Überwachung mit wachsender Sorge, zumal die Behörden hart gegen undichte Stellen vorgehen. Unter anderem wurden die Kontaktmöglichkeiten zwischen Geheimdienstmitarbeitern und Medienvertretern eingeschränkt und die Ermittlungen gegen Informanten verstärkt. Zudem wurde das „Inside Threat Program“ eingeführt, das Bundesbeamte verpflichtet, „verdächtiges“ Verhalten von Kollegen anzuzeigen, sofern es darauf hindeuten könnte, dass diese vertrauliche Informationen preisgeben wollen.

Viele Journalisten sagten, dass die Überwachungsmaßnahmen ihre Informanten einschüchterten, so dass diese sogar zögerten, über nicht geheime Angelegenheiten zu sprechen, die von öffentlichem Interesse sind. Viele Informanten fürchteten, nicht mehr als vertrauenswürdig betrachtet zu werden oder ihre Stelle zu verlieren, im schlimmsten Fall strafrechtlich verfolgt zu werden.

„Die Leute haben zunehmend Angst, über irgendetwas zu sprechen“, berichtete ein Gewinner des Pulitzer-Preises, sogar über Angelegenheiten, die nicht der Geheimhaltung unterliegen und an denen ein legitimes, öffentliches Interesse besteht.

Viele Journalisten berichteten darüber, aufwändige Techniken in einer Atmosphäre großer Unsicherheit anzuwenden, um Spuren zu ihren Quellen zu verwischen. Dazu zählte, Verschlüsselungssoftware und Computer zu verwenden, die vollständig von unsicheren Netzwerken, auch dem Internet, isoliert sind, mit Informanten nur über Wegwerf-Telefone zu kommunizieren oder überhaupt keine elektronischen Kommunikationsmittel mehr zu verwenden. Diese neue Arbeitsweise ist mühsam und verlangsamt die Suche nach zunehmend verunsicherten Informanten, so dass immer weniger Informationen an die Öffentlichkeit gelangen.

In dieser Situation sind wichtige Informationen über staatliche Aktivitäten nur eingeschränkt öffentlich zugänglich, und die Medien können nur bedingt als kritische Beobachter der Regierung fungieren.

Viele Journalisten hatten den Eindruck, dass die Regierung sie nicht mehr als wichtige Kritiker ihrer Aktivitäten und als Partner für eine gesunde Demokratie sieht, sondern als potentielle Verdächtige. Ein bekannter Journalist brachte auf den Punkt, was viele empfinden: „Ich will nicht von der Regierung dazu gezwungen werden, mich wie ein Spion zu verhalten. Ich bin kein Spion, ich bin Journalist.“

Auswirkungen der Überwachung auf Rechtsanwälte
Viele Anwälte befürchteten, dass sie auf Grund der massiven Überwachung nicht mehr in der Lage sind, ihre Schweigepflicht zu wahren. Verletzen sie diese, drohen ihnen disziplinarische Maßnahmen der Anwaltskammern oder sogar Anzeigen.

Anwälte müssen auch deswegen frei Informationen mit ihren Mandanten austauschen können, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen und Prozessstrategien zu entwickeln. Angesichts der Überwachung fällt es insbesondere, aber nicht ausschließlich, Strafverteidigern immer schwerer, das Vertrauen ihrer Mandanten zu gewinnen und ihre Strategien geheim zu halten. Unter diesen Umständen ist nicht gewährleistet, dass sie ihre Mandanten wirkungsvoll vertreten können.

Genau wie Journalisten fühlten sich Anwälte zunehmend gezwungen, ihre digitalen Spuren zu verwischen. Manche verwendeten Wegwerf-Telefone, andere nutzen Sicherheitstechnik und wieder andere reisten immer häufiger persönlich zu Treffen. Wie viele Journalisten sind auch zahlreiche Anwälte frustriert oder wütend über diese Situation. „Es kann doch nicht wahr sein, dass ich mich wie ein Drogendealer verhalten muss, um die Daten meiner Mandanten zu schützen“, sagte einer.

Mit der Angst davor, dass die Schweigepflicht verletzt werden könnte, erodiert das Recht auf anwaltlichen Beistand. Dieses Recht ist eine tragende Säule der Verfahrensgerechtigkeit, die durch internationale Menschenrechtsstandards und in der Verfassung der USA garantiert wird.

Die amerikanische Regierung ist dazu verpflichtet, die nationale Sicherheit zu schützen. Gemäß Menschenrechtsstandards kann sie dazu Überwachungsmaßnahmen ergreifen, aber nur wenn diese rechtmäßig, notwendig und verhältnismäßig sind. Zudem muss sichergestellt sein, dass die Eingriffe so gering wie möglich gehalten werden, um die Bevölkrung vor akuten Bedrohungen der nationalen Sicherheit zu schützen. Viele der bestehenden Überwachungsprogramme sind willkürlich und unverhältnismäßig. Sie gefährden die Rechte auf freie Meinungsäußerung und Rechtsbeistand und schränken die Möglichkeit der Öffentlichkeit ein, die Regierung zur Verantwortung zu ziehen. Überwachungsprogramme, die sich gegen andere Staatsbürger wenden, bieten sogar noch weniger Schutz. Die US-Regierung soll ihre Überwachungsprogramme reformieren und gewährleisten, dass sie gezielt und rechtmäßig sind, die Transparenz in den Bereichen nationale Sicherheit und Überwachung vergrößern und Maßnahmen ergreifen, um Informanten und Medienvertreter besser zu schützen.

„Die USA präsentiert sich als Land der Freiheit und Demokratie. Aber mit ihren Überwachungsmaßnahmen gefährdet die Regierung das, wofür sie angeblich steht“, so Sinha. „Die USA muss sich dringend damit auseinander setzen, dass sie mit ihrer großflächigen Überwachung viele unveräußerliche Menschenrechte verletzt.“

Kategorien: Menschenrechte

USA: Terrorismus-Verfolgung oft Illusion

Mi, 27.05.2020 - 10:50

(Washington, DC) – Das US-Justizministerium und der Inlandsgeheimdienst FBI (Federal Bureau of Investigation) führen menschenrechtswidrige, verdeckte Anti-Terror-Operationen durch, in deren Zuge sie amerikanische Muslime auf Grund ihrer Religion und ethnischer Identität verfolgen, so Human Rights Watch und das Menschenrechtsinstitut der Columbia Law School in einem heute veröffentlichten Bericht. Viele der mehr als 500 Prozesse, die seit dem 11. September 2001 im Zusammenhang mit Terrorismus vor US-amerikanischen Bundesgerichten geführt wurden, haben ausgerechnet die Bevölkerungsgruppe entfremdet, die dazu beitragen kann, Anschläge zu verhindern.

Der 214-seitige Bericht „Illusion of Justice: Human Rights Abuses in US Terrorism Prosecutions“ analysiert 27 Terrorismus-Verfahren auf Bundesebene, von der Einleitung der Ermittlungen bis zum Urteilsspruch und den Haftbedingungen. Er dokumentiert die gravierenden menschlichen Kosten mancher Anti-Terror-Praktiken, darunter übermäßig aggressive, verdeckte Ermittlungen und unnötig restriktive Haftbedingungen.

„Die US-Regierung sagt den Amerikanern, dass sie für Sicherheit sorgt, indem sie Terrorismus innerhalb der USA verhindert und verfolgt“, so Andrea Prasow, stellvertretende Leiterin des Human Rights Watch-Büros in Washington und eine der Autoren des Berichts. „Aber wenn man genauer hinsieht, wird klar, dass viele der vermeintlichen Terroristen nie ein Verbrechen begangen hätten, wenn die Strafverfolgungsbehörden sie nicht dazu ermutigt, gedrängt und manchmal dafür bezahlt hätten.“

Viele der Strafverfahren richteten sich tatsächlich gegen Individuen, die an der Planung oder Finanzierung von Terror-Anschlägen beteiligt waren. Aber zahlreiche andere Verdächtige sind augenscheinlich keinen derartigen Aktivitäten nachgegangen, als die Regierung Ermittlungen gegen sie aufnahm. Auch wurden in vielen Fällen verfahrensrechtliche Grundsätze verletzt und die Verdächtigen menschenrechtswidrigen Haftbedingungen ausgesetzt. Beides hat zu unverhältnismäßig langen Gefängnisstrafen geführt.

Der Bericht basiert auf mehr als 215 Interviews mit Personen, denen Verbrechen im Zusammenhang mit Terrorismus zur Last gelegt oder die für solche verurteilt wurden, mit ihren Familienangehörigen und Mitglieder ihrer Gemeinschaft, mit Verteidigern, Richtern, aktiven und ehemaligen Staatsanwälten, Regierungsangehörigen, Wissenschaftlern und anderen Experten.

In manchen Fällen hat das FBI gesetzestreue Bürger zu Terroristen gemacht, indem es den Betroffenen nahe gelegt oder sie dazu ermutigt hat, Anschläge zu verüben. Mehreren Studien zufolge ergingen knapp 50 Prozent der Anti-Terror-Urteile auf Bundesebene seit dem 11. September 2001 in Verfahren, in denen Informanten eine zentrale Rolle spielten. Bei fast 30 Prozent ging es um verdeckte Operationen, an denen Informanten aktiv beteiligt waren.

Beispielsweise sagte ein Richter im Prozess gegen die vier „Newburgh Terroristen“, die Regierung „hat sich das Verbrechen ausgedacht, die Mittel zur Verfügung gestellt und alle wichtigen Hindernisse aus dem Weg geräumt“. So habe sie einen Mann zu einem Terroristen gemacht, „der ein Possenreißer shakespeareschen Ausmaßes ist“. Den Angeklagten wurde zur Last gelegt, Sprengstoffattentate gegen Synagogen und einen Angriff auf einen Militärstützpunkt geplant zu haben.

Das FBI nahm oft besonders verletzliche Personen ins Visier, darunter Menschen mit intellektuellen und geistigen Einschränkungen und Notleidende. Die Regierung agierte durch Informanten, plante die Anschläge, überzeugte oder drängte die Zielpersonen dazu, sich zu beteiligen, und stellte die notwendigen Ressourcen zur Verfügung.

„Die US-Regierung muss damit aufhören, amerikanische Muslime wie Terroristen in Wartehaltung zu behandeln“, sagt Prasow. „Es ist unter US-Recht für einen Terrorverdächtigen fast unmöglich zu beweisen, dass er zu der Tat verleitet wurde. Dazu kommt, dass die Strafverfolgungsbehörden besonders verletzliche Menschen ausnutzen, etwa geistig oder intellektuell beeinträchtigte oder sehr arme Personen. Das ist ihr Rezept für massive Menschenrechtsverletzungen.“

Zum Beispiel wurde Rezwan Ferdaus wegen des Versuchs, ein Regierungsgebäude in die Luft zu sprengen, zu 17 Jahren Haft verurteilt. Obwohl ein FBI-Agent sogar zu Ferdaus Vater sagte, dass sein Sohn „offensichtlich“ psychische Probleme habe, wählte der Geheimdienst ihn für eine verdeckte Operation aus und installierte einen Informanten in seiner Moschee. Dieser entwickelte gemeinsam mit Ferdaus den Plan, das Pentagon und das Kapitol anzugreifen. Das FBI versorgte sie mit falschen Waffen und zahlte Ferdaus‘ Reisekosten. Dessen psychischer und körperlicher Zustand verschlechterte sich im Laufe der Anschlagsplanung. Er litt so stark unter Depressionen und Krampfanfällen, dass sein Vater seine Arbeit aufgeben musste, um ihn zu pflegen.

Darüber hinaus hat die US-Regierung den Tatbestand „materieller Unterstützung“ auf Handlungen ausgedehnt, bei denen keine Intention erkennbar ist, Terrorismus zu unterstützen. Die Gerichte haben Prozesstaktiken akzeptiert, die das Recht auf ein faires Verfahren verletzen, indem sie etwa unter Zwang erlangte Beweise zugelassen haben, geheime Beweise, die nicht angefochten werden können, und hetzerische Beweise für Terrorismus ohne Bezug zu den Angeklagten. Weiterhin haben sie die Geheimhaltungsstrategie der Regierung durchgesetzt, unter der Überwachungsvollmachten nur begrenzt angefochten werden können.

Ahmed Omar Abu Ali ist US-Staatsbürger und wurde bei einer Razzia nach Bombenanschlägen auf Wohngebiete in der saudi-arabischen Hauptstadt Riad festgenommen und ohne Anklage inhaftiert. Er behauptete, dass er ausgepeitscht und mit Amputationen bedroht wurde, bis er den saudischen Ermittlern gegenüber ein falsches Geständnis abgelegt hatte. Als ihm in Virginia der Prozess gemacht wurde, wies der Richter seine Foltervorwürfe zurück und lies das Geständnis als Beweismittel zu. Ali wurde der Beteiligung an einer Verschwörung, materieller Unterstützung von Terroristen und einer Verschwörung zur Ermordung des Präsidenten schuldig gesprochen. Er wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, die er in Einzelhaft im Hochsicherheitsgefängnis in Florence, Colorado, verbüßt.

Die US-Regierung setzt mutmaßliche Terroristen harten und zum Teil menschenrechtswidrigen Haftbedingungen aus, die oft in keinem Verhältnis zum Sicherheitsrisiko stehen. Unter anderem befinden sich die Angeklagten außerordentlich lange in Einzelhaft. Ihre Kommunikationsmöglichkeiten sind vor dem Prozess so massiv eingeschränkt, dass sie nur begrenzt zu ihrer eigenen Verteidigung beitragen können und eher bereit sind, auf schuldig zu plädieren. Richter haben übermäßig hohe Haftstrafen verhängt. Nach ihrer Verurteilung leiden einige Häftlinge unter drakonischen Haftbedingungen, einschließlich sehr langer Einzelhaft und massiven Einschränkungen ihres Kontakts zu ihren Familienangehörigen und anderen Personen, zum Teil ohne Begründung oder der Möglichkeit, dagegen Rechtsmittel einzulegen.

Auch Uzair Parcha wurde in Einzelhaft festgehalten, nachdem er sich nicht schuldig bekennen wollte. Neun Monate zuvor war er verhaftet worden, weil er Terroristen materiell unterstützt haben soll. Auf Grund von besonderen Verwaltungsmaßnahmen (Special Administrative Measures, SAMs), die seinen Kontakt zu anderen Personen zum Schutz der nationalen Sicherheit einschränkten, durfte er nur mit den Gefängniswärtern sprechen.

„Ich habe Tage und Wochen erlebt, in denen ich nichts anderes gesagt habe außer ‚bitte machen Sie das Licht aus‘, ‚dürfte ich bitte einen Anruf bei meinem Anwalt machen/Toilettenpapier/einen Rasierer bekommen‘ und so weiter, oder mich dafür bedankt habe, dass sie das Licht ausgemacht haben“, schreibt er in einem Brief an die Autoren des Berichts. Nach seiner Verurteilung wurden die SAMs verändert, so dass er mit anderen Insassen sprechen durfte. „Ich habe die härteste Seite der SAMs kennen gelernt, während ich nach US-Recht unschuldig war“, resümiert Parcha.

Diese Menschenrechtsverletzungen haben negative Auswirkungen auf die muslimische Gemeinschafte in den USA. Indem sie Terror-Verdächtige zum Teil schon identifizierte, bevor die Zielperson irgendeine Gewaltabsicht gezeigt hat, hat die Regierung parallel laufende Bemühungen unterminiert, Beziehungen zu muslimischen Gemeinschaften und Gruppen aufzubauen, die wichtige Quellen für Informationen sein könnten, mit denen Terroranschläge verhindert werden können.

Manche Gemeinschaften schreckt das Vorgehen der Regierung davon ab, mit den Exekutivorganen zusammenzuarbeiten. Einige Muslime sagten, dass sie aus Angst davor, von der Regierung und deren Informanten überwacht zu werden, aufpassen, was sie zu wem sagen, und wie oft sie Gottesdienste besuchen.

„Anstatt US-Amerikaner, also auch US-amerikanische Muslime, vor Anschlägen zu schützen, halten die von uns dokumentierten Praktiken die Strafverfolgungsbehörden davon ab, reale Bedrohungen zu untersuchen“, so Prasow. „Es ist möglich, Menschenrechte in der Terrorismusbekämpfung zu achten. Dann ist es auch wahrscheinlichder, dass echte Kriminelle gefangen werden.“

 

 

Kategorien: Menschenrechte

NSA bespitzelte laut Snowden Menschenrechtsorganisationen

Mi, 27.05.2020 - 10:50

(New York) – Der ehemalige Mitarbeiter des US-Geheimdiensts NSA, Edward Snowden, erklärte gegenüber dem Europarat , die NSA habe Menschenrechtsorganisationen bespitzelt. Snowden sagte nicht, welche Organisationen im Einzelnen betroffen waren. Sollte diese Aussage zutreffen, wäre dies ein Beispiel für ein Verhalten, welches die US-Regierung weltweit verurteilt.

„Sollte es wahr sein, dass die NSA Organisationen wie Human Rights Watch und Amnesty International bespitzelt hat, wäre dies empörend und bezeichnend für die Überschreitungen, die das US-Recht den Sicherheitsbehörden erlaubt“, so Dinah PoKempner, Rechtsexpertin bei Human Rights Watch. „Dies wären ein weiterer Beleg dafür, dass die USA ihr System der wahllosen Überwachung reformieren muss.“

Der Schutz von Menschenrechtsverteidigern zählte bislang zu den Prioritäten des US-Außenministeriums. Die mutmaßlichen Aktivitäten stehen in krassem Widerspruch zu den stets hochgehaltenen Werten der Vereinigungs- und Meinungsfreiheit.

Kategorien: Menschenrechte

Privatsphäre: Wie Regierungen Massenüberwachung verteidigen

Mi, 27.05.2020 - 10:50

Mit seinen Enthüllungen über das gigantische Ausmaß der Überwachung unserer privaten Telekommunikation, die nicht etwa aufgrund gezielter Ermittlungen zur Aufklärung von Straftaten erfolgt, sondern Bestandteil einer umfassenden nachrichtendienstlichen Informationsgewinnung ist, hat Edward Snowden der Welt einen großen Dienst erwiesen.

Zwar wurden durch die von ihm angestoßene Debatte bereits einzelne Verbesserungen beim Schutz unserer Privatsphäre erreicht. Um jedoch zu begreifen, wie viel noch zu tun bleibt, müssen wir uns die Argumentation der US-Regierung genauer ansehen, mit der diese die massenhafte Ausspähung als rechtmäßig verteidigt.

Angesichts der engen Partnerschaft zwischen den Geheimdiensten Australiens und der Vereinigten Staaten im Rahmen des „Fünf-Augen“-Bündnisses (dem auch Großbritannien, Kanada und Neuseeland angehören), besteht Grund zu der Annahme, dass die australische Regierung ähnlich argumentiert.

Zunächst einmal beruft sich die amerikanische Regierung darauf, dass es bei den sogenannten Metadaten unserer Kommunikation keinen Anspruch auf Privatsphäre gibt. Metadaten sind höchst persönliche und äußerst aufschlussreiche Informationen darüber, mit wem wir telefonieren oder wem wir eine E-Mail schreiben, wonach wir im Internet suchen, welche Webseiten wir aufrufen und sogar, wo wir uns aufhalten (da unsere Telefone als Ortungsgeräte dienen).

Das wird damit begründet, dass wir bereits in dem Moment, wo wir Informationen mit einem Dritten wie einem Telefon- oder Internetunternehmen „teilen“, auf unsere Privatsphäre verzichten. Australien scheint ähnlich zu argumentieren, wenn man sieht, wie problemlos die Regierung vielen Geheimdiensten Zugang zu diesen Informationen gewährt.

Vor 35 Jahren bestätigte der Oberste US-Gerichtshof in einem Urteil zu Telefonverbindungsdaten eine Lesart dieser Sichtweise. Ebenso gut hätte er urteilen können, dass ein Telekommunikationsunternehmen, ähnlich wie ein Arzt oder ein Anwalt, dem wir uns anvertrauen, verpflichtet ist, diesem Vertrauen zu entsprechen. Dem war aber nicht so.

Angesichts der zunehmenden Bedeutung von elektronischer Kommunikation in unserem Leben und den deutlich erweiterten Möglichkeiten der Regierung zu deren Überwachung hat der Gerichtshof jetzt Bedenken gegenüber dieser Argumentation des „Teilens“ erkennen lassen.

Möglicherweise ist das einer der Gründe dafür, dass Präsident Barack Obama letzte Woche eine Gesetzesinitiative zur Abschaffung der massenhaften Erhebung von Telefondaten in den USA durch die Regierung ankündigte. Eine Einschränkung zur Erfassung von Metadaten, die E-Mails, Recherchen im Internet und unseren Aufenthaltsort betreffen, hat er allerdings nicht eingeräumt. Ebenso wenig gestand er ein Recht auf den Schutz der Privatsphäre bei den Metadaten zu.

Angeblich soll das massenhafte Sammeln von Metadaten helfen, Terroranschläge zu verhindern. Die US-Regierung kann jedoch nicht einen einzigen terroristischen Angriff benennen, zu dessen Vereitelung dieses Programm wesentlich beigetragen hätte.

Zweitens behauptet die US-Regierung, dass unsere Privatsphäre durch das Sammeln privater Telekommunikationsdaten nicht verletzt werde, sondern erst, wenn diese Daten gelesen, analysiert und abgehört werden.

Diese Behauptung ist bisher noch nicht von einem öffentlichen Gericht überprüft worden. Sie wurde aber offensichtlich von einem geheim tagenden Gericht gebilligt, das über die Überwachungsanträge der Nachrichtendienste entscheidet, nachdem einzig die Regierung dazu angehört worden war.

Das einzige Argument, das die Regierung öffentlich vorgebracht hat, ist die allzu simple Metapher, dass man einen Heuhaufen brauche, um eine Nadel zu finden. Die Regierung müsse also unsere gesamten Kommunikationsdaten sammeln, um genau über die Information zu verfügen, die auf terroristische Aktivitäten hinweisen könnte.

Diese Begründung lässt jedoch die Auflage zu einer Farce verkommen, wonach die Regierung nur dann in unsere Privatsphäre eindringen darf, wenn sie nachweisen kann, dass dies für strafrechtliche Ermittlungen notwendig ist.

In der Logik der Regierung gäbe es selbst dann nichts einzuwenden, wenn sie Videokameras in unseren Schlafzimmern installieren würde, die direkt mit einem Regierungscomputer verbunden wären, sofern die Regierung verspricht, die Videos erst dann zu sichten, wenn ein triftiger Grund dafür vorliegt. Die Kameras in unseren Laptops und Smartphones könnten diese Funktion sogar schon erfüllen.

Wenn der Kongress Obamas aktuellem Reformvorschlag zustimmt, wäre künftig nicht mehr die Regierung für die massenhafte Erhebung der Verbindungsdaten von amerikanischen Staatsbürgern verantwortlich, sondern die Telefongesellschaften.

Vor allem aber müssten die Telefongesellschaften diese Daten nicht länger als üblich speichern, wie es in Australien vorgeschlagen wurde. Es gibt keine nachvollziehbaren Kriterien dafür, dass der Nutzen älterer Verbindungsdaten die Verletzung der Privatsphäre rechtfertigt.

Dennoch bleiben Fragen bezüglich der Erhebung anderer Kommunikations- und personenbezogener Daten durch die Regierung offen. Unklar ist auch, welche Nachweise der Kongress von der Regierung verlangen wird, damit diese Zugang zu den Daten der Telefongesellschaften erhält.

Drittens, und das betrifft auch die Inhalte unserer Kommunikation (und nicht nur die Metadaten), darf die Regierung nach amerikanischem Recht E-Mails lesen und Telefonanrufe von Personen abhören, die sich außerhalb der Vereinigten Staaten befinden und keine US-Staatsbürger sind, was wohl für die meisten Leser dieses Artikels gilt.

Zu diesem Standpunkt gelangt die US-Regierung aufgrund einer eingeschränkten Auslegung internationaler Menschenrechtsstandards, wonach sie nicht verpflichtet sei, das Recht auf Privatsphäre von Staatsbürgern anderer Länder im Ausland zu wahren. Der UN-Menschenrechtsausschuss widersprach dem letzte Woche, doch die Obama-Regierung scheint nicht von ihrer Position abzurücken.

Australische Staatsbürger haben vielleicht den Eindruck, dass sie zumindest vor einer Überwachung durch die eigene Regierung geschützt sind. Diese hat aber immer noch die Möglichkeit, sich sämtliche private Kommunikation, an der ein Australier beteiligt ist und die sie auf legalem Wege nicht direkt abfangen kann, von einem ihrer „Fünf-Augen“-Partner zur Verfügung stellen zu lassen.

Möglich waren all diese Eingriffe in unsere Privatsphäre, weil niemand davon wusste. In den Vereinigten Staaten sind sie hinter verschlossenen Türen von Kongressausschüssen und von einem Sondergericht genehmigt worden, das keine öffentliche Rechenschaftspflicht hat. Viele hatten es geahnt, aber ganz sicher konnten wir erst sein, als Edward Snowden diese Debatte in Gang gesetzt hat.

Allerdings könnte es jetzt zu überzogenen Reaktionen kommen. Es gibt bereits Vorschläge, das Internet in regional getrennte Netzwerke aufzuteilen. Demnach würden Daten innerhalb der Grenzen eines Landes bleiben, um ein Ausspähen von außen zu vermeiden.

Selbst wenn dies möglich wäre, könnte sich dieser Vorschlag als Fehler erweisen, weil das Recht auf Meinungsfreiheit und die Privatsphäre in vielen Ländern wie etwa China weniger geschützt sind als in den USA oder Australien. Westliche Internetunternehmen wissen, dass sie ihre Daten nicht in China speichern dürfen, wenn sie es der Regierung in Peking erschweren wollen, Kritiker zu identifizieren und zu verhaften. China wäre nichts lieber, als einen Grund für lokale Datenspeicherung geliefert zu bekommen.

Die Antwort auf die Auswüchse der Massenüberwachung liegt vielmehr darin, den Konsens über bereits bestehende und international gültige Standards für den Schutz der Privatsphäre zu stärken. Brasilien und Deutschland haben beim UN-Menschenrechtsrat einen Prozess eingeleitet, der unser heutiges Verständnis dieser Standards vor dem Hintergrund moderner Telekommunikation auf den neuesten Stand bringen soll.

Wenn diese Debatte öffentlich statt hinter verschlossenen Türen stattfindet, hat unser Recht auf Privatsphäre eine größere Chance vor der Datensammelwut von Geheimdiensten gerettet zu werden. Australien soll diese Bemühungen unterstützen und seinen Verbündeten in Washington drängen, sich an die neuen Regeln zu halten, die im Zuge dieser Resolution festgelegt werden.

Kategorien: Menschenrechte

Belgien: Abscheuliche Anschläge fordern Dutzende Verletzte und Tote

Mi, 27.05.2020 - 10:50

(Brüssel) – Die Bombenanschläge am Flughafen Zaventem und in der Brüsseler U-Bahn am 22. März 2016 sind verabscheuungswürdige Gewalttaten, so Human Rights Watch heute. Offiziellen Quellen zufolge wurden durch die Anschläge Dutzende Menschen getötet und zahlreiche verletzt.

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Ein Mann stellt nach den Bombenanschlägen in Brüssel eine belgische Flagge auf, Belgien, 22. März 2016 

© 2016 Reuters

In den vergangenen zehn Tagen kamen auch in der Türkei und der Elfenbeinküste zahlreiche Menschen durch Bombenanschlägen ums Leben.

„Unser Mitgefühl gilt all jenen, die Freunde und Angehörige verloren haben, und den zahllosen Opfern dieser verabscheuungswürdigen Angriffe“, so Lotte Leicht, EU-Direktorin von Human Rights Watch. „Es ist ein Moment des Schreckens. Umso mehr sollten wir diese Tiefschläge gegen unsere elementarsten Grundsätze zum Anlass nehmen, die Menschenrechte und die Rechtsstaatlichkeit zu verteidigen.“

Human Rights Watch appelliert an die belgischen Behörden, sich bei ihren Bemühungen zur Verhütung weiterer Anschläge sowie möglicher Vergeltungsakte gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen und Personen klar zum Prinzip der Rechtsstaatlichkeit und zu den Menschenrechten zu bekennen.

„Jetzt gilt es die Menschenrechtsprinzipien zu schützen, welche die Extremisten gezielt verletzen“, so Leicht. „Darin besteht unsere gemeinsame Herausforderung.“

Kategorien: Menschenrechte