Human Rights Watch: Behindertenrechte

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Letztes Update: vor 3 Jahre 39 Wochen

Menschen mit Behinderungen in Corona-Krise schützen

Mi, 27.05.2020 - 17:20
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 Ein Mann in einem Rollstuhl wäscht sich wegen des Corona-Virus die Hände an einem öffentlichen Waschbecken in Nairobi, Kenia. 

© 2020 Dennis Sigwe/SIPA via AP Images

(New York) - COVID-19 birgt für viele Menschen mit Behinderungen auf der ganzen Welt besondere Risiken, so Human Rights Watch. Die Regierungen sollen zusätzliche Maßnahmen ergreifen, um die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei der Reaktion auf die Pandemie zu schützen.

"Menschen mit Behinderungen gehören weltweit zu den am stärksten marginalisierten und stigmatisierten Menschen, selbst unter normalen Umständen“, so Jane Buchanan, stellvertretende Leiterin der Abteilung Behindertenrechte bei Human Rights Watch. „Wenn Menschen mit Behinderungen jetzt nicht schnell vor COVID-19 geschützt werden, werden sie mit der weiteren Ausbreitung der Pandemie einer ernsten Infektions- und Lebensgefahr ausgesetzt sein.“

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Karen McCall ist blind. Sie ist zurzeit in Selbst-Quarantäne in ihrem Haus in Ontario, Kanada, und hat keinen Zugang zu Informationen der Gesundheitsbehörden in Ontario.

© Karen McCall

Weltweit leben mehr als 1 Milliarde Menschen – also etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung - mit irgendeiner Form von Behinderung. Ältere, Menschen mit chronischen Gesundheitsproblemen oder Menschen mit Behinderungen, durch die etwa ihre Atmung beeinträchtigt wird, können besonders gefährdet sein, einen schweren Verlauf einer COVID-19-Infektion zu erleiden oder daran zu sterben.
 
Für andere bedeutet ihre Behinderung an sich kein höheres Infektionsrisiko. Aber sie sind aufgrund von Diskriminierung und Barrieren in den Bereichen Information, Sozialdienste, Gesundheitsversorgung, soziale Einbindung und Bildung in Gefahr.

In einer sich rasch entwickelnden Pandemie sind Informationen von entscheidender Bedeutung, damit die Menschen wissen, wie sie sich schützen können und wie sie während der Quarantäne oder der Selbstisolierung Zugang zu notwendigen Gütern und Dienstleistungen erhalten. Regierungen sollen auf allen Ebenen zuverlässige Informationen über die Krankheit für jeden zugänglich und rechtzeitig veröffentlichen sowie Präventionsmaßnahmen und Hilfsdienste bereitstellen.

Damit Menschen mit Behinderungen keine lebensrettenden Informationen vorenthalten werden, sollen Kommunikationsstrategien folgendes umfassen: qualifizierte Gebärdendolmetscher für Fernsehansagen, Websites, die für Menschen mit unterschiedlichen Behinderungen zugänglich sind, und Telefondienste mit Textmöglichkeiten für gehörlose oder schwerhörige Menschen. Die Kommunikation sollte in einfacher Sprache erfolgen, um ein Höchstmaß an Verständlichkeit zu erreichen.

Human Rights Watch sprach mit Karen McCall. Sie ist sehbehindert und befindet sich derzeit in Quarantäne in ihrem Haus in Ontario, Kanada, nachdem sie möglicherweise mit jemandem in Kontakt gekommen war, der positiv auf COVID-19 getestet wurde. Sie sagte, dass sie beim Zugang zu Informationen aus dem Gesundheitsministerium von Ontario auf Hürden gestoßen sei, da eine Online-Diashow über Präventionsmaßnahmen während des COVID-19-Ausbruchs nicht mit der Bildschirmlese- oder Vergrößerungstechnologie, auf die sie angewiesen ist, kompatibel sei.

Regierungen sollen bei der Entwicklung von Präventionsstrategien auch die besonderen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen berücksichtigen. Beispielsweise sollen zusätzliche Richtlinien zum Händewaschen für Menschen mit Behinderungen entwickelt werden, die nicht in der Lage sind, sich häufig oder allein die Hände zu waschen, oder keinen Zugang zu ausreichend Wasser für die Körperhygiene haben.

COVID-19 breitet sich schnell aus und ist besonders gefährlich für Menschen, die mit anderen auf begrenztem Raum zusammenleben. Millionen von Erwachsenen und Kindern mit Behinderungen leben in isolierten und oft überfüllten Einrichtungen, wo sie mit Vernachlässigung, Menschenrechtsverletzungen und unzureichender Gesundheitsversorgung zu kämpfen haben. Human Rights Watch hat Menschenrechtsverletzungen und schlechte Bedingungen in privaten und staatlichen Einrichtungen in Brasilien, Kroatien, Kasachstan, Indien, Russland und Serbien dokumentiert. Zehntausende Menschen werden fixiert und in kirchlichen oder staatlichen Einrichtungen in Ghana, Indonesien, Nigeria und Somaliland eingesperrt.

Die Regierungen sollen dringend Maßnahmen ergreifen, um Menschen mit Behinderungen (die ohne Risiko transportiert werden können) aus geschlossenen Institutionen und ähnlichen Einrichtungen zu holen und Neuaufnahmen zu verhindern. Kinder mit Behinderungen in stationären Einrichtungen sollen nach Möglichkeit zu ihren Familien zurückkehren.

Die Regierungen sollen Erwachsenen mit Behinderungen Zugang zu sozialer Unterstützung und Diensten für das Leben in der Gemeinschaft verschaffen. Innerhalb der Einrichtungen sollen die Behörden strikte Hygienevorschriften und die empfohlene körperliche Distanz einhalten und eine Besucherpolitik entwickeln, die den Schutz der Bewohner und des Personals mit den Bedürfnissen nach Familie und sozialer Verbindung in Einklang bringt.

Menschen mit Behinderungen, die zu Hause leben, sind für ihre grundlegenden, alltäglichen Bedürfnisse oft auf gemeindebasierte Sozialdienste angewiesen, auch beim Essen und der täglichen Hygiene. Unter den Gruppen, die sich für die Rechte von Behinderten einsetzen, gibt es ernsthafte Bedenken hinsichtlich der Aussetzung dieser Dienste. Hilfskräfte haben keine persönliche Schutzausrüstung, um die Verbreitung von Infektionen zu minimieren, oder sie infizieren sich selbst und müssen in Quarantäne.

Da die Politik eine soziale Isolierung fordert, um die Ausbreitung des Coronavirus einzudämmen, können Menschen mit psychosozialen Behinderungen, wie z.B. Angststörungen oder Depressionen, in besonderem Maße in Not geraten und von zusätzlichen psychosozialen Hilfsdiensten profitieren. Selbstisolierung und Quarantäne können für die meisten Menschen im Allgemeinen beunruhigend sein. Die Regierungen sollen sicherstellen, dass gemeindenahe Dienste weiterhin angeboten werden und Krisenberatungsprogramme für alle zugänglich sind. Eine Aussetzung dieser Dienste soll nicht zu einer Unterbringung von Menschen mit Behinderungen und älteren Menschen in Einrichtungen führen.

Kinder mit Behinderungen sind in vielen Ländern mit Hindernissen beim Zugang zu einer qualitativ hochwertigen, integrativen Bildung konfrontiert. Da die Regierungen Schulen schließen, führen viele von ihnen Online-Unterricht ein. Kinder mit verschiedenen Behinderungen könnten hiervon ausgeschlossen werden, wenn ihnen der Online-Unterricht nicht zugänglich gemacht wird, u.a. durch angepasstes, zugängliches Material und entsprechende Kommunikationsstrategien. Die Regierungen sollten zudem dafür sorgen, dass dieses Material und die Unterrichtspläne auch für Schülerinnen und Schüler zur Verfügung stehen, die keinen Internetzugang haben. Ohne staatliche Unterstützung könnten Eltern oder Betreuer Schwierigkeiten haben, von allen Leistungen zu profitieren, die die Schulen ihre Kindern bietet.

Im Libanon zum Beispiel wurden öffentliche und private Schulen geschlossen und der Unterricht wird online fortgesetzt. Amer Makarem von der Youth Association of the Blind sagte gegenüber Human Rights Watch, dass der Online-Unterricht und die Verteilung von Aufgaben für blinde oder sehbehinderte Schüler allgemein nicht zugänglich sind.

Ein COVID-19-Ausbruch wäre an Orten wie Flüchtlingslagern oder anderen provisorischen Lagern, wo Menschen auf engstem Raum zusammenleben und oft keinen Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen haben, eine Katastrophe. Menschen mit Behinderungen treffen unter solchen Umständen auf schwerwiegende Hürden beim Zugang zu

Unterkunft, Wasser, sanitären Einrichtungen und medizinischer Versorgung, so etwa in Bangladesch, Kamerun, der Zentralafrikanischen Republik, Griechenland, Syrien und Jemen.

Gemäß dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) müssen die Regierungen die Rechte auf Information, Gesundheit, Bildung und einen angemessenen Lebensstandard gewährleisten. Das CRPD verlangt von den Regierungen, dass sie die Zugangsmöglichkeiten für und die angemessene Unterbringung von Menschen mit Behinderungen gewährleisten und dass diese selbständig in der Gemeinschaft leben können, gegebenenfalls mit Unterstützung.  

"Mit das Wichtigste, was Regierungen zum Schutz von Menschen mit Behinderungen während der Corona-Pandemie tun können, ist regelmäßig Rücksprache mit ihnen zu halten, um sicherzustellen, dass die Politik ihren Bedürfnissen gerecht wird“, sagte Buchanan. „Es drohen sonst weitere Katastrophen, wenn Millionen von Menschen bei der Reaktion auf COVID-19 nicht berücksichtigt werden.“

Kategorien: Menschenrechte

Emojis mit Behinderung bringen Integration voran

Mi, 27.05.2020 - 17:20
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Die neuen Emojis zeigen Männer und Frauen mit unterschiedlichen Behinderungen.

© Apple

Als Person mit Behinderung habe ich mich selbst in den unzähligen Emojis, den kleinen Bildern in Smartphones, nie wiedergefunden. Es gibt Zauberer, Meerjungfrauen und -männer, Zombies und Vampire. Es gibt Tausende Emojis, aber bislang kein einziges mit Behinderung. Das wird sich nun ändern. Im Laufe des Jahres werden auf Smartphones 59 neue Emojis verfügbar, die Menschen mit Behinderungen darstellen. Die neuen Symbole umfassen Männer und Frauen mit einem breiten Spektrum an Behinderungen. Es wird Personen mit Blindenstock geben, mit Assistenzhund, Prothesen, Rollstühlen, und Hörgerät. Es gibt auch ein Emoji, das in Gebärden spricht.

Emojis sind zu einem wichtigen Bestandteil der Kommunikation vieler Menschen geworden. Mit ihnen werden Glückwünsche, Neuigkeiten aus dem eigenen Leben, gute und schlechte Stimmungen, Wünsche und Pläne mitgeteilt. Tatsächlich werden Emojis als die am schnellsten wachsende Sprache bezeichnet. Es ist einfach richtig, dass Menschen mit Behinderung, also die weltgrößte Minderheit, in dieser Kultur und Kommunikationsform gleichberechtigt repräsentiert werden und sie nutzen können.

Es ist noch immer ein langer Weg hin zur vollständigen Inklusion und angemessenen Repräsentation von Menschen mit Behinderung. Nichtsdestotrotz ist es ein großer Schritt nach vorne, dass sie nun in die Emojis einbezogen werden. Ich freue mich darauf, mein erstes Emoji mit einem Blindenstock zu versenden.

Kategorien: Menschenrechte

EU: Schüler mit Behinderungen an Europäischen Schulen mit Barrieren konfrontiert

Mi, 27.05.2020 - 17:20

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Ein 13-jähriger Junge mit einer Lernbehinderung macht Hausaufgaben. Er musste eine Europäische Schule verlassen. Die Schule hatte erklärt, sie könne ihn nicht angemessen unterstützen.

© 2018 Lea Labaki/Human Rights Watch (Brüssel) – Die Europäischen Schulen, ein Netzwerk aus 13 von den EU-Staaten gegründeten Schulen, tun nicht genug, um den Bedürfnissen von Kindern mit Behinderungen gerecht zu werden, so Human Rights Watch und das European Disability Forum in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Schulen werden hauptsächlich von Kindern besucht, deren Eltern bei der Europäischen Union arbeiten.

Der 22-seitige Bericht „‘Sink or Swim’: Barriers for Children with Disabilities in the European School System“ kommt zu dem Ergebnis, dass sich die Europäischen Schulen zwar zunehmend um Inklusion bemühen. Kinder mit Behinderungen sind aber noch immer mit Problemen konfrontiert. Sie werden abgelehnt, dazu gedrängt, die Schule zu wechseln, oder werden nicht angemessen unterstützt, damit sie in einem inklusiven Umfeld lernen und sich weiterentwickeln können.

„Wie können die EU-Institutionen behaupten, für Inklusion und Vielfalt einzustehen, wenn sie den Bedürfnissen der Kinder ihrer eigenen Mitarbeiter nicht gerecht werden?“, fragt Lea Labaki, Mitarbeiterin der Abteilung für die Rechte von Menschen mit Behinderungen bei Human Rights Watch. „Das System der Europäischen Schulen steht im Zentrum des europäischen Projekts – und bietet Kindern mit Behinderungen nicht die umfassend inklusive Bildung, die ihnen zusteht.“

Beim nächsten halbjährigen Treffen des Vorstands der Europäischen Schulen vom 4. bis 7. Dezember 2018 steht auch eine Diskussionen über einen internen Bericht über inklusive Bildung und eine Evaluierung der Bildungsförderung auf der Tagesordnung. Der Vorstand soll bei dieser Gelegenheit konkrete Maßnahmen entwickeln, um die Inklusion von Kindern mit Behinderungen in den Europäischen Schulen voranzubringen.

Human Rights Watch hat die Fälle von zwölf Kindern und einem jungen Erwachsenen mit unterschiedlichen Behinderungen dokumentiert, die auf die vier Europäischen Schulen in Brüssel und eine in Luxemburg gingen oder denen der Besuch einer dieser Schulen in den letzten fünf Jahren verweigert wurde. Zudem wurden 27 Personen befragt, darunter Kinder, Eltern, Schulleiter, Koordinatoren von Unterstützungsmaßnahmen, Experten für inklusive Bildung, das Büro des Europäischen Bürgerbeauftragten, Mitarbeiter der mit Personalfragen und Sicherheit befassten Generaldirektion der Europäischen Kommission und den stellvertretenden Generalsekretär der Europäischen Schulen.

„Zwar hat es im Laufe der Zeit ein paar Verbesserungen gegeben, aber das Schicksal der Schüler mit Behinderungen ist noch immer besorgniserregend“, so Yannis Vardakastanis, Präsident des European Disability Forum. „Wir wollen, dass die Europäischen Schulen ein Leuchtturm für ganz Europa werden, sich in jeglicher Hinsicht für Vielfalt einsetzen und gewährleisten, dass inklusive Bildung allen Schülern mit Behinderungen offen steht.“

Die EU und ihre 28 Mitgliedstaaten haben die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert, die das Recht von Kindern mit Behinderungen auf inklusive Bildung garantiert.

Trotz der Verpflichtungen, die die Staaten unter dieser Konvention haben, lassen die Europäischen Schulen zu, dass Kinder mit Behinderungen ausgeschlossen werden. In ihrer Richtlinie über Bildungsförderung ist festgehalten, dass die „Europäischen Schulen kein vollumfänglich inklusives Bildungssystem anbieten… [D]ie Schule hat das Recht, festzustellen, dass sie nicht in der Lage ist, den Bedürfnissen des Schülers gerecht zu werden.“

Neun befragte Eltern schilderten, dass sie sich unter Druck gesetzt fühlten, ihr Kind von der Schule zu nehmen. Einige berichteten zudem, dass sie sich durch Schulmitarbeiter belästigt fühlten, die sie wiederholt anriefen, um sich über das Verhalten oder die schulischen Leistungen ihres Kindes zu beschweren.

„Louise“, ein 15-jähriges Mädchen mit Legasthenie, verließ eine Europäische Schule, nachdem sie Jahre lang darum gekämpft hatte, dass auf ihre Lernbeeinträchtigung Rücksicht genommen wird, zum Beispiel, indem ihr Recht anerkannt wird, Fotos von der Tafel zu machen. „Die Schule war wie ein Ameisenhaufen. Jedes Jahr haben sie die besten ausgesiebt, um nur die Elite zu behalten“, sagt sie. „Bei denjenigen von uns, an denen irgendetwas 'defizitär' war, haben sie alles getan, um uns loszuwerden. Sie wollten, dass wir uns so schlecht fühlen, dass wir freiwillig gehen.“

Unter der UN-Konvention haben Kinder mit Behinderungen das Recht auf individualisierte Unterstützungsmaßnahmen und ein vernünftiges Maß an Entgegenkommen in der Schule. Dazu zählen angepasste Lehrmethoden, Materialien und Programme, Unterstützungstechnologien und alternative Prüfungsformate. Eltern zufolge erhalten Kinder solche Unterstützung nicht systematisch, sondern nur, wenn die jeweiligen Schulmitarbeiter dazu bereit sind.

Zudem bieten die Europäischen Schulen nur einen einzigen Lehrplan an, der zum Europäischen Abitur führt und der nicht an die unterschiedlichen Bedürfnisse, Stärken, Herausforderungen und Lernstile von Kindern mit Behinderungen angepasst werden kann. In einem Fall sagte der Schulleiter den Eltern eines Jungen mit Lernbeeinträchtigung, dass er in die Sekundarstufe versetzen werden könne, dort aber nie mithalten können werde und die Schule ihm „nur eine Art Tagesbetreuung“ anbieten könne.

Die 13 Europäischen Schulen in Belgien, Luxemburg, Deutschland, Spanien, den Niederlanden und Italien unterrichten 27.000 Kinder in 20 EU-Sprachen. Zwar gibt es keine Angaben zur Zahl der Schüler mit Behinderungen, aber knapp vier Prozent erhalten intensive Unterstützung „wegen besonderer Bildungsbedürfnisse“ und darunter sind viele Kinder mit Behinderungen.

Die Europäischen Institutionen gewähren Mitarbeitern einen Zuschuss, um Kinder mit Behinderungen auf eine private Schule zu schicken, bei denen jährlich Schulgebühren von bis zu 50.000 € fällig sind. Allein die Europäische Kommission finanziert derzeit den Schulbesuch von schätzungsweise 70 Kindern mit einem Gesamtbudget in Höhe von über 1,5 Millionen €, eine nicht zu unterschätzende Aufwendung von EU-Mitteln.

Die meisten der befragten Eltern sagten, dass einige Lehrer und Assistenten ihre Kinder mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln unterstützten und dass sich die grundsätzliche Einstellung in eine gute Richtung entwickele.

Damit solche positiven Erfahrungen der Normalfall werden, soll der Vorstand eine Richtlinie über inklusive Bildung verabschieden, Weiterbildungsmaßnahmen für Lehrer entwickeln und den Lehrplan flexibler gestalten. Die Europäische Kommission, die mehr als die Hälfte des Budgets der Europäischen Schulen zur Verfügung stellt, soll diesen Prozess vorantreiben und gewährleisten, dass ihre Gelder zu einem inklusiven System beitragen.

„Auch wenn die Mitarbeiter der Europäischen Schulen Anpassungen vornehmen, sollte es nicht von ihrem guten Willen abhängen, ob die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderungen berücksichtigt werden“, so Labaki. „Die Europäischen Schulen sollen sich in ihren Richtlinien und ihrer Praxis zu inklusiver Bildung verpflichten und dafür angemessen Ressourcen zur Verfügung stellen.“

Kategorien: Menschenrechte

USA: Schädliche Operationen an intersexuellen Kindern

Mi, 27.05.2020 - 17:20

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Ein intersexuelles Kind, das zweieinhalb Jahre alt ist, mit seinen Eltern im Garten. Die Eltern haben entschieden, dass sie jegliche unnötige Operationen aufschieben, bis ihr Kind darüber selbst entscheiden kann.

© 2017 Human Rights Watch

(Chicago, 25. Juli 2017) – In den USA nehmen Ärzte weiterhin medizinisch nicht notwendige Operationen vor, die intersexuelle Kinder dauerhaft schädigen können, so Human Rights Watch und interACT in einem heute veröffentlichten Bericht. Obwohl hierüber seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert wird, führen Ärzte immer noch Operationen an den Keimdrüsen, also den Eierstöcken oder Hoden, durch, ebenso wie an den inneren und äußeren Geschlechtsorganen. Diese Eingriffe werden durchgeführt, wenn die Kinder noch zu jung sind, um selbst darüber zu entscheiden. Dabei könnten die Eingriffe auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, ohne dass hieraus ein Risiko entstünde.  
 
Der 160-seitige Bericht „‘I Want to Be Like Nature Made Me’: Medically Unnecessary Surgeries on Intersex Children in the US” untersucht die körperlichen und psychologischen Schäden, die medizinisch nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern hinterlassen, die mit Chromosomen, Keimdrüsen, Geschlechtsorganen oder Genitalien geboren werden, die sich von denjenigen unterscheiden, die gesellschaftlich als typisch für Jungen oder Mädchen betrachtet werden. Zudem wird über die Kontroverse bezüglich dieser Art von Operationen innerhalb der medizinischen Fachwelt berichtet, ebenso wie über den Druck, der auf die Eltern ausgeübt wird, solche Operationen vornehmen zu lassen.  
 
Intersexuelle Menschen, die früher „Hermaphroditen” genannt wurden (ein Begriff, der heute als abwertend und überholt gilt), gibt es zwar viele, sie werden jedoch häufig missverstanden. Basierend auf einer in den 60er Jahren verbreiteten medizinischen Theorie, nehmen Ärzte chirurgische Eingriffe an intersexuellen Kindern – häufig schon im Säuglingsalter – vor. Erklärtes Ziel dabei ist, es den Kindern einfacher zu machen, „normal“ aufzuwachsen. Die Folgen sind häufig katastrophal und die angeblichen Vorteile sind größtenteils nicht nachgewiesen. Zudem gibt es nur selten dringende medizinische Faktoren, die einen sofortigen, irreversiblen Eingriff erfordern würden. 
 
„Nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern haben sowohl körperlich als auch psychologisch verheerende Folgen”, so Kimberly Zieselman, selbst eine intersexuelle Frau und Direktorin von interACT. „Obwohl Patientenvertreter die medizinische Fachwelt seit Jahrzehnten über die schlimmen Folgen solcher Eingriffe informieren, präsentieren viele Ärzte betroffenen Eltern eine solche Operation weiterhin als gute Option.“

Insgesamt entsprechen 1,7 Prozent aller Babys nicht dem, was man typischerweise als Junge oder Mädchen bezeichnen würde. Die Chromosomen, Keimdrüsen und die inneren und äußeren Geschlechtsorgane dieser Kinder weichen von den gesellschaftlichen Erwartungen ab. Manche Merkmale – wie etwa atypische äußere Genitalien – sind unmittelbar nach der Geburt ersichtlich. Andere, z.B. Keimdrüsen oder Chromosomen, die vom zugesprochenen Geschlecht abweichen, zeigen sich u.U. erst später, in einigen Fällen in der Pubertät. Ein Kind kann auch ohne Operation als Junge oder Mädchen aufwachsen. Operationen an den Genitalien oder Keimdrüsen von Kindern, die noch zu jung sind, um ihre geschlechtliche Identität zu kennen oder zu kommunizieren, bergen wiederum das Risiko, das Kind durch einen chirurgischen Eingriff dem falschen Geschlecht zwangsweise zuzuordnen.  
 
Die operative Entfernung der Keimdrüsen kann einer Sterilisation ohne die Einwilligung der Betroffenen gleichkommen und eine lebenslange Hormonersatztherapie nach sich ziehen. Eingriffe, um die Größe oder das Erscheinungsbild der Genitalien der betroffenen Kinder zu verändern, bergen ebenfalls Risiken. Hierzu gehören: Inkontinenz, Narbenbildung, Gefühlsverlust und psychologische Traumata. Die Eingriffe können nicht rückgängig gemacht werden, durchtrennte Nerven wachsen nicht wieder zusammen und Narbengewebe kann die Möglichkeiten für eine weitere Operation einschränken. 
 
Medizinische Fachprotokolle entstehen immer häufiger durch interdisziplinäre Teams, die an Fällen von „Differences of Sex Development“ arbeiten. Ein Großteil des medizinischen Fachpersonals erkennt mittlerweile an, dass die Eltern es vorziehen könnten, den Körper ihres Kindes unversehrt zu lassen. Ein Arzt, der in einem solchen Team arbeitet, sagte Human Rights Watch gegenüber: „Wir hören den erwachsenen Patienten zu, die uns sagen, dass sie das Gefühl haben, misshandelt und verstümmelt worden zu sein. Das nimmt einen natürlich extrem mit.“  
 
Dennoch gibt es auf diesem Gebiet weiterhin nur uneinheitliche, unzureichende und bruchstückhafte medizinische Versorgungsstandards. Zudem ist es unter Ärzten umstritten, wie sie die Rechte ihrer intersexuellen Patienten am besten respektieren und schützen können. Zwar sind bestimmte chirurgische Eingriffe eindeutig notwendig, dennoch führen Chirurgen in den USA auch riskante und medizinisch nicht notwendige, kosmetische Operationen an intersexuellen Kindern durch. Diese Eingriffe erfolgen häufig noch bevor die betroffenen Kinder sprechen können.  

 „Die medizinische Fachwelt hat in den letzten Jahrzehnten zwar Fortschritte beim Umgang mit Intersexualität gemacht, medizinisch nicht notwendige und irreversible Operationen an Kindern und Säuglingen sind jedoch weiterhin üblich”, so Kyle Knight, Mitarbeiter von Human Rights und Autor des Berichts. „Der Druck, sich anzupassen und ein „normales“ Leben zu führen, ist zwar vorhanden, es gibt jedoch keine Belege dafür, dass ein chirurgischer Eingriff dies tatsächlich erleichtert. Auf der anderen Seite ist aber durchaus belegt, dass ein solcher Eingriff das Risiko für lebenslange und irreparable Schäden birgt.“   
 
Menschenrechtsorgane der Vereinten Nationen haben in den vergangenen Jahren zunehmend Länder auf der ganzen Welt dafür kritisiert, weil sie medizinisch nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern nicht verbieten. In einem Bericht von 2013 stellte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter fest, dass „Kinder, die mit atypischen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden, häufig Opfer werden von irreversiblen Geschlechterzuordnungen, unfreiwilligen Sterilisierungen und unfreiwilligen Genitaloperationen… die Folgen hiervon können eine dauerhafte, irreversible Unfruchtbarkeit und schweres seelisches Leid sein.“  
 
Im Juli 2017 schrieben drei ehemalige Chirurgen aus den USA, sie seien der Meinung, „dass es nur unzureichende Belege dafür gibt, dass es psychosozialen Stress bedeutet, mit atypischen Genitalien aufzuwachsen”, und  dass „es zwar nur wenig Hinweise darauf gibt, dass kosmetische Genitaloperationen bei Säuglingen notwendig sind, um psychologische Schäden zu reduzieren, es auf der anderen Seite jedoch durchaus belegt ist, dass der Eingriff selbst schwere, irreparable Schäden und emotionalen Stress verursachen kann.“    
 
Der Bericht basiert auf umfangreichen Interviews, geführt von Kyle Knight von Human Rights Watch und Dr. Suegee Tamar-Mattis, Ärztin und wissenschaftliche Beraterin für Human Rights Watch. Insgesamt wurden 30 intersexuelle Erwachsene, 2 intersexuelle Kinder, 17 Eltern von intersexuellen Kindern und 21 medizinische Fachkräfte interviewt, darunter Gynäkologen, Endokrinologen, Urologen, Psychologen und anderes medizinisches Personal, welches mit intersexuellen Menschen arbeitet. Der Bericht enthält zudem ein umfangreiches Literaturverzeichnis und die verfügbaren Daten zu chirurgischen Eingriffen. 
 
Mehrere Ärzte gaben Human Rights Watch gegenüber an, dass ihnen zwar immer unbehaglicher zumute dabei sei, Eltern zu solchen Eingriffen zu raten, diese aber weiterhin in ihren Kliniken vorgenommen würden. Eltern gaben ihrerseits an, sich von den Ärzten unter Druck gesetzt zu fühlen, sich für eine solche Operation zu entscheiden. 
 
„Die Kinderärzte befinden sich in einer Machtposition. Und wenn die Angst der Eltern das Problem ist, dann muss genau dieses Problem gelöst werden. Es geht also nicht darum, ob operiert wird – das ergibt keinen Sinn, das löst gar nichts“, so ein Endokrinologe und Medizinprofessor gegenüber Human Rights Watch. „Wenn wir versuchen, Menschen in kulturell normative, hetero-normative Situationen zu drängen, dann besteht ein großes Risiko, dass wir schwerwiegende Fehler machen und Menschen irreparablen Schaden zufügen“, so ein Gynäkologe eines Teams, das an „Differences in sex development“ arbeitet.  
 
Die Eltern eines 8-Jährigen Kindes, das mit atypischen Geschlechtsmerkmalen geboren wurde, sagten: „Die Ärzte sagten uns, es sei wichtig, sofort zu operieren, da es traumatisch für unser Kind wäre, aufzuwachsen und anders als andere auszusehen. Was verursacht denn das größere Trauma? Diese Art von Operation oder ein wenig anders zu sein als andere?“  

 Diese und andere Eltern gaben Human Rights Watch gegenüber an, dass ihnen Treffen mit anderen Eltern und anderen intersexuellen Erwachsenen in Selbsthilfegruppen am meisten dabei geholfen hätten, ihre eigenen intersexuellen Kinder großzuziehen.  
 
Die Erfahrungen von Menschen, die sich Operationen unterzogen haben, und die Prinzipien der medizinischen Ethik legen zusammengenommen nahe, dass bestimmte chirurgische Eingriffe an Säuglingen und Kleinkindern nicht durchgeführt werden sollten, solange es keine Belege dafür gibt, dass der medizinische Nutzen solcher Eingriffe größer ist als die möglichen Folgeschäden, so interACT und Human Rights Watch. Zurzeit liegen derartige Belege einfach nicht vor, obwohl solche Operationen seit Jahrzehnten durchgeführt werden.  
 
Die US-Regierung und medizinische Einrichtungen sollen keine weiteren chirurgischen Eingriffe erlauben, deren Ziel es ist, die Keimdrüsen, Genitalien oder inneren Sexualorgane von Kindern mit atypischen Geschlechtsmerkmalen zu verändern, sofern diese Kinder zu jung sind, um aktiv mitzuentscheiden. Dieses Verbot soll in den Fällen greifen, wenn der Eingriff ein bedeutendes Risiko mit sich bringt und ohne weiteres auch später durchgeführt werden könnte, so Human Rights Watch und interACT.  
 
„Eltern intersexueller Kinder haben häufig Angst und wissen nicht genau, wie sie ihre Kinder vor einer Stigmatisierung schützen sollen”, so Zieselman. „Es ist für sie immer ein große Erleichterung, wenn sie andere Menschen treffen, die die gleichen intersexuellen Merkmale haben wie ihre eigenen Kinder, und sehen, dass diese ein gesundes und glückliches Leben führen.“ 

Kategorien: Menschenrechte

EU/Griechenland: Seelen der Asylsuchenden leiden im Stillen

Mi, 27.05.2020 - 17:20

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Souda refugee camp on the island of Chios. Poor living conditions in the camp and overcrowded hotspots, with little to no access to basic services, such as sanitation and proper shelter is key factor that contributes to psychological distress.

© April 2017 Private/Human Rights Watch

(Brüssel, 12. Juli 2017) – Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei, das bei der Bewältigung der Migration und Flüchtlingsströme nach Griechenland helfen sollte, hat katastrophale Auswirkungen auf die psychische Verfassung Tausender Frauen, Männer und Kinder, die seit März 2016 auf griechischen Inseln festsitzen, so Human Rights Watch heute.

Im Mai und Juni 2017 recherchierte Human Rights Watch auf der griechischen Insel Lesbos. Diese Recherchen dokumentieren, wie sich die psychische Verfassung von Asylsuchenden und Migranten verschlechtert. Es kommt zu Selbstverletzungen, Selbsttötungsversuchen, aggressivem Verhalten, Angstzuständen und Depressionen. Grund hierfür sind die griechischen Bestimmungen, die die Betroffenen zwingen, auf den Inseln zu bleiben, wo sie häufig unter katastrophalen Bedingungen ausharren müssen. Ziel dieser Bestimmungen ist es, das Asylverfahren zu beschleunigen und die Betroffenen in die Türkei zurückzubringen.

„Die seelischen Wunden, die Jahre des Konflikts hinterlassen haben, werden durch die furchtbaren Bedingungen auf den griechischen Inseln und durch die Unsicherheit und die unmenschliche Politik noch verschlimmert. Diese Wunden sind vielleicht nicht so unmittelbar sichtbar wie körperliche Wunden, sie können aber genauso lebensbedrohlich sein“, so Emina Ćerimović, Expertin für Behindertenrechte bei Human Rights Watch. „Die Europäische Union und Griechenland sollen sofort handeln, um diese stille Krise anzugehen und weiteres Leid zu verhindern.“

Tausende Asylsuchende, darunter Frauen und Kinder, sind Bedingungen ausgesetzt, die ihre Lage noch verschlimmern. Sie sitzen fest in EU-finanzierten Flüchtlingszentren, sog. Hot Spots und anderen Einrichtungen, in denen ständig neue Menschen ankommen und die Entscheidungen der griechischen Regierung lange auf sich warten lassen. Im Dezember 2016 schafften die EU und die griechischen Behörden Ausnahmeregelungen ab, die besonders schutzbedürftige Gruppen von der Auflage befreit hatten, auf den Inseln bleiben zu müssen.

Das Abkommen zwischen der EU und der Türkei, das im März 2016 unterzeichnet wurde, verpflichtet die Türkei, Asylsuchende aufzunehmen, deren Antrag abgelehnt wird und die auf dem Weg zu den griechischen Inseln durch türkisches Gebiet gereist sind. Im Gegenzug dafür sollte die Türkei Milliarden Euro an Hilfsgeldern und eine Liberalisierung der Visabestimmungen für türkische Staatsbürger erhalten. Zudem wurden die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wieder aufgenommen.

Human Rights Watch hat in Griechenland Vertreter des UN-Flüchtlingskommissariats (UNHCR), der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und der Europäischen Kommission getroffen, ebenso Vertreter der griechischen Asylbehörde, lokaler und internationaler Nichtregierungsorganisationen (darunter Behindertenorganisationen und Hilfsorganisationen), Anwälte und ehrenamtliche Helfer. Zudem führte Human Rights Watch Interviews mit 37 Geflüchteten, Asylsuchenden und anderen Migranten auf Lesbos, darunter auch unbegleitete minderjährige Migranten. Die große Mehrzahl der Interviewten beschrieb, wie sich die psychische Verfassung der Asylsuchenden und Migranten verschlechtert, die auf den griechischen Inseln festsitzen.

„Die Camps stellen ein Risiko für die psychische Verfassung dar“, so ein IOM-Beamter.

Die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen, die Menschen auf den Inseln Samos und Lesbos medizinisch versorgt, berichtete davon, dass Depressionen, Angststörungen und Psychosen weit verbreitet sind und dass die Anzahl der Menschen, die versucht haben, sich das Leben zu nehmen oder sich selbst verletzten, besonders seit Januar 2017 stark angestiegen ist.

Krieg und Vertreibung aus der Heimat können bereits für sich genommen Angstzustände und posttraumatische Belastungsstörungen (PTSD) bei Asylsucheden und Migranten auslösen. Jedoch gaben medizinische Helfer in Interviews an, dass die psychische Verfassung von Asylsuchenden und Migranten unter Faktoren leiden, die mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei zusammenhängen. Zu diesen Faktoren zählen die Unsicherheit, schwierige Bedingungen in den Flüchtlingslagern, fehlender Zugang zu Leistungen und Informationen zum Asylverfahren und zu ihrem weiteren Verbleib. Hinzu kommen Verzögerungen beim Asylverfahren, Inhaftierungen oder die Angst vor einer Festnahme und vor der Abschiebung in die Türkei, ebenso wie ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit.

Rabiha Hadji, eine 33-jährige kurdische Mutter von vier Kindern aus Syrien wurde im Hotspot Moria auf Lesbos festgehalten. Ihr Asylgesuch wurde abgelehnt mit der Begründung, dass die Türkei ein sicheres Drittland für sie und ihre Familie sei. „Meine Hoffnung ist gestorben, als sie mich hierhergebracht haben”, sagte sie. „Wir haben all’ das furchtbare Elend [in Syrien] erlebt, aber nie haben meine Kinder und ich ein Gefängnis gesehen [bis wir nach Griechenland kamen].” Zum Zeitpunkt des Interviews wartete sie auf ihre Abschiebung in die Türkei.

Ein EU-Beamter in Athen bestätigte, dass die lange Zeit der Unsicherheit negative Auswirkungen auf die psychische Verfassung der Menschen auf den Inseln habe. Auf die Frage, welche Schritte die EU unternehmen würde, um dieses Problem zu lösen, sagte der Beamte, das Ziel sei, die Verfahren zu beschleunigen und die Rückführungen in die Türkei zügiger durchzuführen, sodass Menschen nicht länger auf den Inseln bleiben müssten als unbedingt nötig.

Die lange Dauer der Asylverfahren ist zwar ein Faktor, der zum Leid der Betroffenen beiträgt, eine Beschleunigung könnte Asylsuchende jedoch an der Wahrnehmung ihrer Rechte hindern. Die Länge der Verfahren darf nicht auf Kosten der Qualität reduziert werden. Human Rights Watch hat seit dem Inkrafttreten des Abkommens Fälle dokumentiert, in denen während der Asylanhörungen keine oder nur ungeeignete Dolmetscher anwesend waren. Ebenso wurden Fälle dokumentiert, in denen es gravierende Lücken beim Zugang zu Informationen und Rechtsbeistand gab.

Die Erfassung und Überprüfung von Asylanträgen auf den Inseln wird priorisiert auf der Grundlage der Staatsangehörigkeit. Dies führt dazu, dass Menschen aus bestimmten Ländern, darunter Afghanistan und Irak, erhebliche Verzögerungen bei ihren Verfahren in Kauf nehmen müssen. Asylsuchende aus Ländern mit einer relativ niedrigen Anerkennungsquote, so etwa Algerien und Marokko, werden häufig inhaftiert, da die griechischen Behörden davon ausgehen, dass die Betroffenen nur Asyl beantragen, um ihre Abschiebung in die Türkei zu verzögern oder zu behindern. Dies gibt Anlass zur Sorge, dass es zu willkürlichen Inhaftierungen von Menschen aus bestimmten Ländern kommt.

Diese diskriminierende Behandlung und der Frust über verzögerte Asylverfahren führen zu Unruhen in den Hotspots und in den Hafteinrichtungen, sowie zu psychischen Problemen, so Human Rights Watch.

Die griechischen Behörden sollen mit Unterstützung der EU sicherstellen, dass Asylsuchende einen realen Zugang zu einem fairen und effizienten Asylverfahren erhalten, das sich nach Einzelansprüchen und nicht nach der Staatsangehörigkeit richtet. Asylsuchende sollen aufgenommen werden, sodass ihr Anspruch auf Schutz in Griechenland geprüft werden kann. Die EU und die griechische Regierung sollen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass Asylsuchende und Migranten zügig Informationen in einer Sprache erhalten, die sie verstehen.

Zudem soll die griechische Regierung die Einpferchungspolitik auf den Inseln beenden, besonders für Risikogruppen. Sie soll mithilfe der EU und des UNHCR Asylsuchende aufs Festland bringen und ihnen angemessene Unterkünfte zur Verfügung stellen. Auch soll die griechische Regierung alle Kinder in Schulen anmelden, Erwachsenen Arbeitsvisa ausstellen und Möglichkeiten zum Arbeiten bieten.

„Die Europäische Union und die griechische Regierung sollen die Würde und Menschlichkeit jener wiederherstellen, die Schutz suchen, anstatt eine Umgebung für sie zu schaffen, in der die Psyche der Betroffenen noch mehr leidet“, so Ćerimović.

 
Kategorien: Menschenrechte

EU: Hilfen müssen auch Flüchtlinge mit Behinderungen erreichen

Mi, 27.05.2020 - 17:20

(Brüssel) – Das Europäische Parlament soll sicherstellen, dass Finanzhilfen der Europäischen Union für Flüchtlinge auch Menschen mit Behinderungen zugutekommen, so Human Rights Watch und das European Disability Forum gemeinsam im Vorfeld einer Veranstaltung, die am 28. März im Europäischen Parlament in Brüssel stattfindet. Tausende Asylsuchende sitzen seit über einem Jahr unter schrecklichen Bedingungen in Griechenland fest, seit das Flüchtlingsabkommen der EU mit der Türkei verabschiedet wurde. Die beiden Organisationen befürchten, dass Flüchtlinge mit Behinderungen bei den humanitären Hilfsmaßnahmen nicht ausreichend berücksichtigt werden.

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Lagkadika camp, Thessaloniki, home to 234 asylum seekers and other migrants, as of January 5, 2017. The rocky terrain in many camps makes it difficult for people who use wheelchairs to move independently, including to access basic services such as toilets or showers. Photograph by Emina Cerimovic. © October 2016 Human Rights Watch

 

Die Veranstaltung „Refugees with Disabilities: Overlooked, Underserved” wird gemeinsam organisiert vom European Disability Forum, Human Rights Watch und Brando Benifei, Mitglied des Europäischen Parlaments und stellvertretender Vorsitzender der  Interfraktionellen Arbeitsgruppe Behinderte des Europäischen Parlaments, eine Gruppe in der sich Mitglieder aller Parteien aktiv für die Rechte von Menschen mit Behinderungen einsetzen. Bei der Veranstaltung werden EU-Parlamentarier, Vertreter der Europäischen Kommission, Organisationen von Menschen mit Behinderungen, Flüchtlinge sowie UN- und Hilfsorganisationen anwesend sein.

„Flüchtlinge mit einer Behinderung sind einem größeren Risiko ausgesetzt, Opfer von Gewalt zu werden, so etwa von sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt, ebenso wie von Diskriminierung. Zudem laufen sie Gefahr, vom Zugang zu humanitärer Hilfe ausgeschlossen zu werden, wie auch von Bildung, Existenzgrundlagen und Gesundheitsversorgung”, so Gunta Anca, Vize-Präsidentin des European Disability Forums und Podiumsrednerin bei der Veranstaltung im Europäischen Parlament. „Die Europäische Union ist rechtlich verpflichtet, dass die humanitäre Hilfe auch Menschen mit Behinderungen zugutekommt.”

Zu den weiteren Podiumsrednern gehören Christos Stylianides, EU-Kommissar für humanitäre Hilfe und Krisenschutz, Nujeen Mustafa, eine junge Frau aus Syrien mit Behinderung, Edouard Rodier, Europadirektor des Norwegischen Flüchtlingsrats, und Emina Ćerimović, Expertin für Behindertenrechte bei Human Rights Watch.

Januar 18, 2017 Video Greece: Refugees with Disabilities Overlooked, Underserved

Refugees, asylum seekers, and other migrants with disabilities are not properly identified and do not enjoy equal access to services in reception centers in Greece, Human Rights Watch said today. Together with thousands of other migrants and asylum seekers, they remain unprotected from freezing temperatures.

Die Teilnehmer werden über konkrete Probleme sprechen, denen Flüchtlinge, Asylsuchende und andere Migranten in Europa ausgesetzt sind, und darüber, welche Schritte die EU unternehmen soll, um diese Probleme anzugehen. Nujeen Mustafa, die im Rollstuhl sitzt und 2015 auf der Flucht vor dem Syrienkrieg nach Deutschland kam, wird betonen, dass hinter den Statistiken über Migration Menschen stecken, die vor tödlicher Gewalt fliehen, manchmal unter widrigsten Umständen. Sie verdienen es, würdevoll aufgenommen zu werden, egal ob sie eine Behinderung haben oder nicht.

Im Januar veröffentlichte Human Rights Watch Rechercheergebnisse, die zeigten, dass Menschen mit Behinderungen nicht angemessen im Aufnahmesystem in Griechenland  identifiziert werden. Recherchen des European Disability Forums brachten im Oktober 2016 ähnliche Ergebnisse. Beide Organisationen dokumentierten, dass Menschen mit Behinderungen Probleme hatten, Zugang zu Grundversorgungen zu bekommen, wie etwa Unterkunft, sanitäre Einrichtungen und medizinische Versorgung. Wie alle anderen auch hatten Menschen mit Behinderungen nur begrenzten Zugang zu psychologischer Unterstützung.

Addressing the rights and needs of people with disabilities and other at-risk people, such as unaccompanied minors, older people and pregnant women, should be at the core of the EU’s response to refugees. Emina Ćerimović

Disability Rights Researcher

Im Oktober traf Human Rights Watch im Camp Eliniko in Athen den 8-jährigen Ali aus Afghanistan. Ali sitzt im Rollstuhl und konnte die Toiletten im Camp nicht benutzen, da diese zu eng waren und es keine Rampe gab. Deshalb musste er Windeln tragen. Nachdem sein Zustand sich aufgrund der fehlenden medizinischen Versorgung und Bewegungsrehabilitation verschlechterte, holte ihn das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR schließlich aus diesen verheerenden Bedingungen. Er wurde mit seiner Familie in einer Wohnung in Athen untergebracht, so das UNHCR gegenüber Human Rights Watch im Januar 2017. Auf die Bedürfnisse vieler anderer Menschen mit Behinderungen wurde jedoch bislang noch nicht eingegangen.

Eines der Probleme ist die schlechte Verwaltung der finanziellen Hilfsmittel durch die griechischen Regierung, das UNHCR und andere humanitäre Hilfsorganisationen. Ein weiteres Problem ist, dass die EU, insbesondere die Europäischen Kommission, nicht ausreichend kontrolliert und überwacht, ob die Mittel Menschen mit Behinderungen und anderen gefährdeten Gruppen zugutekommen.

„Die Rechte und Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen und anderen gefährdeten Gruppen, wie etwa minderjährige unbegleitete Flüchtlinge, ältere Menschen und schwangere Frauen, sollten im Zentrum der humanitären Hilfsmaßnahmen der EU stehen”, so Ćerimović „Es muss eine Rechenschaftspflicht geben für die umfangreichen Finanzhilfen der Europäischen Union für Flüchtlinge und Asylsuchende, sodass nachvollziehbar ist, wohin diese Gelder fließen“

Das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das 2010 von der Europäischen Union ratifiziert wurde, verlangt von EU-Behörden, dass sie den Schutz und die Sicherheit von Menschen mit Behinderungen sicherstellen in Situationen wie etwa bewaffneten Konflikten, humanitären Notlagen oder Naturkatastrophen. 

Die humanitäre Hilfe in Griechenland ist laut Experten die teuerste, die es je gab, wenn man die Kosten pro Begünstigtem betrachtet. Die griechische Regierung soll mit Unterstützung der EU und ihrer Mitgliedsstaaten alle Hindernisse in ihrem Asylsystem  aus dem Weg räumen, die Flüchtlinge davon abhalten, die Hilfe zu erhalten, die sie benötigen.

Die Europäische Kommission soll auch sicherstellen, dass die Hilfsmittel allen Flüchtlingen zugutekommen und niemand benachteiligt wird, auch  nicht jene mit Behinderungen. Ein erster wichtiger Schritt wäre eine klare Anweisung der Europäischen Kommission an die griechische Regierung und ihre Partneragenturen, die an Hilfsprogrammen für Flüchtlinge beteiligt sind. Diese sollen sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen nicht ausgeschlossen werden. Zudem soll die Kommission Informationen darüber einfordern, wie Menschen mit Behinderungen und andere gefährdete Gruppen von den Programmen, die die EU finanziert, profitieren.

Das Europäische Parlament soll seine Aufsichtsfunktion nutzen, um sicherzustellen, dass die Hilfen der EU niemanden diskriminieren und dass Rechenschaft abgelegt wird für die Verwendung der Gelder für Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten in Europa.

Die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sollen zudem die Umsiedlung von Asylsuchenden, auch von jenen mit Behinderungen, von Griechenland in andere EU-Länder beschleunigen.

„Als Dachverband von über 80 Millionen Menschen mit Behinderungen in Europa werden wir die Europäische Union immer wieder an ihre Verpflichtungen erinnern, die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu schützen und zu stärken, bis alle Flüchtlinge und Migranten, die eine Behinderung haben, unter würdigen Bedingungen aufgenommen werden”, so Anca.

Kategorien: Menschenrechte

Griechenland: Ein Jahr des Leids für Asylsuchende

Mi, 27.05.2020 - 17:20

(Athen, 15. März 2017) – Wegen des EU-Türkei-Deals sitzen Tausende Menschen seit dem vergangenen Jahr unter katastrophalen Bedingungen auf den griechischen Insel fest und erhalten keinen Zugang zu Asylverfahren und Flüchtlingsschutz, so Human Rights Watch heute. Die Organisation veröffentlicht ihre Einschätzung im Vorfeld des ersten Jahrestages des Abkommens, das am 18. März 2016 unterzeichnet wurde.

Um das Abkommen umzusetzen, verfolgt die griechische Regierung eine Einhegungspolitik, unter der sie Asylsuchende auf den Inseln festhält, etwa in den sogenannten „Hotspots“ und in anderen Aufnahmeeinrichtungen. So will sie eine rasche Fallbearbeitung und Rückführung in die Türkei gewährleisten. Allerdings sind die Einrichtungen auf den griechischen Inseln massiv überbelegt und die Zustände in ihnen katastrophal, weil weiterhin Menschen neu ankommen, Hilfsgelder falsch eingesetzt werden, Entscheidungsprozesse langsam voran gehen und griechische Berufungsausschüsse Sammelabschiebungen in die Türkei wiederholt als unsicher abgelehnt haben. Zudem gelingt es den griechischen Behörden nicht, besonders schutzbedürftige Asylsuchende zu identifizieren und auf das Festland zu überstellen. All diese Faktoren führen zu einer massiven Verschlechterung der Sicherheitslage in den Einrichtungen, sowie zu unnötigem Leid und Verzweiflung.

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Algerische Asylsuchende in einem von Flüchtlingen besetzten Haus auf Lesbos. Angehörige bestimmter Staaten, darunter Algerien, werden grundsätzlich als mutmaßliche „Wirtschaftsmigranten“ betrachtet. Sie werden so behandelt, als seien ihre Schutzgesuche offensichtlich unbegründet, und ihre Anträge werden häufig abgelehnt. 

©2017 Arash Hampay für Human Rights Watch

„Der EU-Türkei-Deal ist auf ganzer Linie eine Katastrophe für die Menschen, die er eigentlich schützen soll – die Asylsuchenden, die unter schrecklichen Bedingungen auf den griechischen Inseln gefangene sind“, so Eva Cossé, Griechenlandexpertin bei Human Rights Watch. „Die griechischen Behörden sollen gewährleisten, dass Menschen, die an griechischen Stränden ankommen, angemessenen Zugang zu Asyl erhalten, und ihre Einhegungspolitik aufgeben.“

Seit der EU-Türkei-Deal in Kraft trat, besuchte Human Rights Watch wiederholt staatliche und informelle Aufnahmeeinrichtungen auf den griechischen Inseln, zuletzt im Februar 2017 diejenigen auf Lesbos. Dutzende Interviews mit Asylsuchenden und Migranten, die auf den Inseln festsitzen, zeigen, dass das Abkommen sich negativ auf ihre Menschenrechte auswirkt. Auch auf den Festland ist die Lage in vielen staatlichen Aufnahmeeinrichtungen katastrophal, aber dort sind die Aussichten darauf, dass die Aufnahmebedingungen und die Asylverfahren verbessert werden können, besser als auf den Inseln.

Angaben des UNHCR, der Flüchtlingsagentur der Vereinten Nationen, zufolge beträgt die maximale Aufnahmekapazität der staatlichen und informellen Aufnahmeeinrichtungen auf den fünf Inseln, auf denen die meisten Asylsuchenden und Migranten ankommen, offiziell 8.759 Personen. Faktisch beherbergten sie am 14. März 12.963 Menschen. In vielen Einrichtungen befinden sich fast doppelt so viele Personen als vorgesehen ist. Entsprechend sind die Zentren damit überfordert, dass weiterhin kleinere Zahlen von Flüchtlingen aus Konfliktgebieten wie Syrien, dem Irak und Afghanistan auf den Inseln ankommen. Auch auf dem Festland sind die Bedingungen in einigen Einrichtungen schlecht und müssen verbessert werden, um den humanitären Standards zu genügen, zu deren Einhaltung Griechenland verpflichtet ist.

Einerseits erhält Griechenland substantielle Unterstützung von EU-Institutionen und -Mitgliedsstaaten. Anderseits übt die Europäische Kommission Druck auf die Regierung aus, die Verfahrensgarantien und Schutzbestimmungen für verletzliche Gruppen zu schwächen, um die Umsetzung des Abkommens und Überstellungen in die Türkei zu beschleunigen.

Das Abkommen beruht auf der problematischen Annahme, die Türkei sei ein sicheres Land für Asylsuchende. Das ermöglicht Griechenland theoretisch, Menschen dorthin abzuschieben, ohne ihr Asylgesuch inhaltlich zu prüfen. Aber wenige Monate nach Inkrafttreten des Abkommens kamen griechische Berufungsausschüsse in vielen Fällen zu der richtigen Einschätzung, dass die Türkei Flüchtlinge nicht ausreichend schützt und die Asylanträge der jeweils betroffenen Personen in Griechenland regulär inhaltlich geprüft werden sollten.

Daraufhin änderte Athen die Zusammensetzung der Berufungsausschüsse im Juni auf Druck der EU. Die neuen Ausschüsse entschieden in mindestens 20 Fällen, dass die Türkei sicher sei, obwohl Asylsuchende, die nicht aus Europa stammen, dort keinen Schutz erhalten. Die Kategorisierung der Türkei als „sicher“ fechten zwei syrische Asylsuchende seit dem 10. März vor dem obersten Verwaltungsgericht Griechenlands, dem Staatsrat, an.

Bislang wurde keine einzige Person mit der Begründung, ihr Asylgesuch sei unzulässig, weil sie auch in der Türkei angemessenen Schutz erhalten könnte, dorthin abgeschoben. Aber falls der Staatsrat den Widerspruch abweist, könnte das den Weg für Massenabschiebungen in die Türkei ebnen.

In einem im Dezember 2016 veröffentlichten Aktionsplan empfahl die Europäische Kommission härtere Maßnahmen, um die Zahl der Rückführungen in die Türkei zu erhöhen. Unter anderem sollen besonders schutzbedürftige Gruppen und Personen, die für Verfahren zur Familienzusammenführung in Betracht kommen, nicht mehr von der Pflicht, auf den Inseln zu verbleiben, ausgenommen werden. Stattdessen sollen sie ebenfalls das Schnellverfahren durchlaufen, das in einer Rückführung in die Türkei münden kann. Weiter empfahl die Kommission, die Inhaftierung auf den Inseln zeitlich auszuweiten und die Widerspruchsrechte zu begrenzen. Das griechische Parlament plante, in der Woche vom 13. März 2017 über Gesetzesänderungen zu beraten, um diese Empfehlungen umzusetzen.

Griechenland soll sich dem Druck der EU widersetzen, den Schutz besonders gefährdeter Asylsuchender zu schwächen, die Inhaftierung auf den Inseln auszudehnen, Widerspruchsrechte zu begrenzen und Asylsuchende in die Türkei abzuschieben, ohne zuvor ihre Schutzansprüche zu prüfen.

Das EU-Türkei-Abkommen fordert nicht ausdrücklich, Asylsuchende auf den Inseln festzuhalten. Allerdings berufen sich Sprecher der EU und der griechischen Behörden auf seine Umsetzung, um die Einhegungspolitik zu rechtfertigen. Dass die Überführung von Asylsuchenden auf das Festland mögliche Abschiebungen in die Türkei verkomplizieren könnte, ist keine akzeptable Entschuldigung dafür, Menschen unter Bedingungen festzuhalten, die ihre Gesundheit gefährden und massive Ängste schüren.

„Wenn es der EU ernst damit ist, das Recht auf Asyl zu bewahren, muss sie dringend einen scharfen Blick darauf werfen, wie sich die Probleme des EU-Türkei-Deals in der Praxis auswirken“, so Cossé. „Ein besser organisiertes und rechtebasiertes Vorgehen der EU würde Griechenland entlasten, den Schutz verbessern und das Leid von Menschen, die bereits vor Krieg und Verfolgung geflohen sind, reduzieren.“

Kategorien: Menschenrechte

Griechenland: Flüchtlinge mit Behinderungen übersehen und unterversorgt

Mi, 27.05.2020 - 17:20
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"Der 8-jährige Ali vor einem provisorischen Schutzraum im Camp Elliniko in Athen, wo er mit seinen Eltern, Geschwistern und mehr als 3.000 weiteren Asylsuchenden und Migranten im Oktober 2016 lebte." Foto von Emina Cerimovic.

(Brüssel, 18. Januar 2017) – Flüchtlinge, Asylsuchende und andere Migranten mit Behinderungen werden in griechischen Aufnahmeeinrichtungen nicht angemessen identifiziert und haben daher keinen gleichen Zugang zur Grundversorgung, so Human Rights Watch. Gemeinsam mit Tausenden anderen Migranten und Asylsuchenden sind sie eisigen Temperaturen schutzlos ausgeliefert.

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Die Europäische Union hat der griechischen Regierung, den Vereinten Nationen (UN) und Nichtregierungsorganisationen erhebliche Mittel zur Verfügung gestellt, um Einrichtungen auf den griechischen Inseln in der Ägäis zu betreiben, die als „Hotspots“ bezeichnet werden, sowie Lager auf dem Festland. Aber für Asylsuchende und andere Migranten mit Behinderungen ist es besonders schwer, Zugang zur Grundversorgung – zu Unterkünften, sanitären Einrichtungen und Gesundheitsversorgung – zu erhalten. Wie andere besonders verletzliche Migranten können auch sie nur selten eine psychische Gesundheitsfürsorge in Anspruch nehmen. Zum Beispiel konnte eine ältere Frau, die einen Rollstuhl nutzt, seit einem Monat nicht mehr duschen.

 

„Menschen mit Behinderungen werden bei der Grundversorgung übersehen, obwohl sie zu den verletzlichsten Asylsuchenden und Migranten zählen“, so Shantha Rau Barriga, Leiterin der Abteilung Rechte von Menschen mit Behinderungen von Human Rights Watch. „Die griechischen Behörden, die EU, die UN und Hilfsorganisationen sollen sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen nicht durch das Netz fallen.“

 

Die Flüchtlingsagentur der UN (UNHCR), acht internationale Hilfsorganisationen und eine örtliche Gruppe, die in griechischen Flüchtlingszentren arbeiten, geben alle an, dass sie wenige oder keine Programme haben, die gezielt auf die Rechte und Bedürfnisse von Asylsuchenden, Flüchtlingen und anderen Migranten mit Behinderungen eingehen.

 

Wegen des hochproblematisches ‚Deals‘ zur Rückführung von Menschen aus der EU in die Türkei, Grenzschließungen entlang der Balkan-Route, Missmanagement und der mangelnden Zusammenarbeit der EU-Regierungen sitzen etwa 62.700 Asylsuchende und andere Migranten in Griechenland fest. Angaben EU-Kommission zufolge wurden bis zum 12. Januar 2017 gerade einmal 7.448 Personen im Rahmen des EU-Umsiedlungsmechanismus verteilt oder sollen in Kürze umverteilt werden – das sind etwa 12 Prozent der 66.400, die im Jahr 2015 zugesagt wurden. Diejenigen, die in Griechenland bleiben müssen, leben unter erbärmlichen und instabilen Bedingungen, ohne Zugang zu angemessener Versorgung und Unterkünften. Tausende Flüchtlinge leben überall in Griechenland im strengen Winter, bei Temperaturen von -14 Grad, in einfachen Zelten. Diejenigen, die eine Behinderung haben, gehören zu dem am stärksten gefährdeten Personen.

 

Aus Untersuchungen auf dem griechischen Festland und den Inseln im Oktober 2016 und Januar 2017 sowie Telefoninterviews im Dezember 2016 und Januar 2017 geht hervor, dass Asylsuchende und Flüchtlinge mit Behinderungen nicht ordentlich identifiziert werden, zum Teil wegen beschleunigter Registrierungsverfahren und unzureichend instruierter Mitarbeiter. Da ihnen Angaben über die Zahl und Bedürfnisse der Menschen fehlen, können Hilfsorganisationen nicht angemessen reagieren.

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Yasami und Ali Habibi aus Afghanistan, ihre 6-jährigen Zwillinge, ihr 2-jähriger Sohn sowie Alis 14-jähriger Bruder lebten alle in diesem Zelt im Camp Eiliniko in Athen, als Human Rights Watch im Oktober 2016 mit ihnen sprach. Ihr 6-jähriger Sohn hat eine Lern- und Gehbehinderung. Foto von Emina Cerminovic

Die von Asylsuchenden und Migranten dringend benötigte, psychische Gesundheitsfürsorge ist ebenfalls völlig unzureichend. Die Hälfte der 40 von Human Rights Watch befragten Migranten gab an, dass sie selbst oder Familienangehörige in Folge der Gewalt in ihren Heimatländern, ihrer gefährlichen Reise, der Trennung von Familien oder der Ungewissheit und Unsicherheit in den Lagern traumatisiert sind, unter Angststörungen oder Depressionen leiden.

 

„Amra“, eine 19-jährige Frau aus Afghanistan, berichtete, dass sie im Kara Tepe-Lager auf Lesbos darum gebeten hatte, mit einem Arzt über ihre Selbstmordgedanken zu sprechen. „Ich will mir nichts antun, ich kämpfe“, sagte sie. Eine Hilfsorganisation, die im Lager arbeitet, beriet sie zweimal, sagte ihr dann aber, dass sie ihr nicht weiterhelfen könne. Nach dem Besuch von Human Rights Watch konnte sie ein paar Mal zu einem Psychologen gehen.

 

Seit 2015 stellte die Europäische Kommission der griechischen Regierung über 125 Millionen Euro zur Verfügung, fast 370 Millionen Euro gingen an Hilfsorganisationen und internationale Organisationen der Flüchtlingshilfe, darunter an UNHCR. Die griechische Regierung und UNHCR stehen in der Kritik, weil sie die EU-Gelder nicht genutzt haben, um die Bedingungen in den Lagern vor Wintereinbruch angemessen zu verbessern, so dass nun Tausende bei Minustemperaturen schlafen.

 

UNHCR und die griechische Regierung sollen gewährleisten, dass die Mittel allen Flüchtlingen gleichermaßen zugutekommen, auch Menschen mit Behinderungen. Die EU soll von den Partnern, die Projekte implementieren, Informationen einfordern und sicherstellen, dass die von ihr geförderten Programme auch tatsächlich Menschen mit Behinderungen und andere verletzliche Gruppen erreichen. Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollen ihre Bemühungen intensivieren und Griechenland, das auch mit wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hat, zusätzliche Ressourcen zur Verfügung stellen. Außerdem sollen sie gewährleisten, dass die Hilfe gleichmäßig auf alle Lager verteilt wird.

 

Die griechischen Behörden, mit Unterstützung anderer EU-Mitgliedstaaten, sowie UNHCR und andere Organisationen sollen unverzüglich sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen und weitere Risikogruppen, auch Kinder, gleichen Zugang zu Grundversorgung in Flüchtlingszentren und -lagern haben, etwa zu Wasser und sanitären Einrichtungen, Nahrungsmitteln, Unterkunft und Gesundheitsfürsorge, einschließlich psychischer Gesundheitsfürsorge und psychosozialer Unterstützung. Wenn Behörden und Organisationen das nicht tun, so ist dies diskriminierend und verletzt sowohl das UN-Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen als auch EU-Recht.

 

UNHCR und die griechische Regierung sollen ihren Mitarbeitern vor Ort klare Richtlinien zur Identifikation und Registrierung von Menschen mit Behinderungen zur Verfügung stellen und dabei Behinderungen berücksichtigen, die nicht sichtbar sind, etwa geistige Behinderungen oder psychische Erkrankungen. Mitarbeiter der Aufnahme- und Identifikationsdienste und Beamte, die Asylverfahren durchführen, sollen darin ausgebildet werden, Menschen mit Behinderungen zu identifizieren, angemessen auf ihre Bedürfnisse zu reagieren und ihnen während des gesamten Verfahrens Zugang zu Unterstützung zu ermöglichen. Flüchtlinge, Asylsuchende und Migranten mit Behinderungen sollen in diese Maßnahmen einbezogen und konsultiert werden.

 

Angesichts der aktuellen Witterungsbedingungen soll die griechische Regierung mit Unterstützung von UNHCR unverzüglich und mit Priorität alle Menschen mit Behinderungen und Angehörige anderer Risikogruppen wie schwangere Frauen, Kinder und ältere Menschen, die noch in Zelten leben, in beheizten Wohneinheiten mit Warmwasserversorgung unterbringen. Alle, die zurzeit in Zelten leben, sollen so bald wie möglich angemessen untergebracht werden.

 

Auf lange Sicht sollen die griechischen Behörden mit Unterstützung der EU und UNHCR die Lager-Unterbringung für alle Migranten abschaffen und gemeindenahe Unterkünfte zur Verfügung stellen. Das Leben in Lagern kann die Traumata von Flucht und Vertreibung sowie andere Gefahren verschärfen, darunter tätliche und sexualisierte Gewalt und Gesundheitsrisiken.

 

„Angaben der UN zufolge hat ein Siebtel der Weltbevölkerung eine Behinderung. Aber die UN und andere übersehen Menschen mit Behinderung, wenn sie auf eine humanitäre Krise reagieren“, so Barriga. „Die katastrophale Situation von Asylsuchenden und Migranten mit Behinderungen in Griechenland ist ein Weckruf. Die UN und die EU müssen diese Probleme ernst nehmen.“

Kategorien: Menschenrechte

Indonesien: Psychisch Erkrankte werden festgekettet

Mi, 27.05.2020 - 17:20
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A male resident is chained to a wooden platform bed at the Bina Lestari healing center in Brebes, Central Java. The chain is so short that it does not allow him to move around and he is forced to eat, sleep, and urinate in this room. © 2016 Andrea Star Reese for Human Rights Watch 

(Jakarta, 21. März 2016) – In Indonesien werden Menschen mit psychosozialen Behinderungen häufig festgekettet oder sie werden unter Zang in Einrichtungen eingewiesen, wo ihnen Misshandlung droht, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 74-seitige Bericht „Living in Hell: Abuses against People with Psychosocial Disabilities in Indonesia ” zeigt, wie Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig angekettet oder in überfüllten Einrichtungen in unhygienischen Verhältnissen eingesperrt werden. Dies geschieht ohne die Einwilligung der Betroffenen. Grund hierfür ist die Stigmatisierung von psychisch erkrankten Menschen und das fehlende Angebot von angemessenen Hilfsdiensten oder psychiatrischer Gesundheitsfürsorge vor Ort. In den Einrichtungen drohen den Betroffenen physische und sexuelle Gewalt, Zwangsbehandlung, wie etwa Elektroschocks, Isolation, Verbote und Zwangsmaßnahmen zur Empfängnisverhütung.

„Menschen mit psychischen Erkrankungen anzuketten, dies ist in Indonesien zwar illegal, dennoch ist es nach wie vor eine weit verbreitete, brutale Praxis” so Kriti Sharma,  Mitarbeiterin in der Abteilung Menschen mit Behinderungen und Autorin des Berichts. „Menschen verbringen Jahre festgekettet in Holzhütten oder Ziegenställen, einfach weil ihre Familien nicht wissen, was sie sonst mit ihnen machen sollen. Und die Regierung bietet ihnen keine vernünftige, humane Alternative.” 

Menschen mit psychischen Erkrankungen anzuketten, dies ist in Indonesien zwar illegal, dennoch ist es nach wie vor eine weit verbreitete, brutale Praxis. Menschen verbringen Jahre festgekettet in Holzhütten oder Ziegenställen, einfach weil ihre Familien nicht wissen, was sie sonst mit ihnen machen sollen. Und die Regierung bietet ihnen keine vernünftige, humane Alternative. Kriti Sharma

Mitarbeiterin in der Abteilung Menschen mit Behinderungen

Human Rights Watch führte Interviews mit 149 Personen, darunter Erwachsene und Kinder mit psychosozialen Behinderungen, deren Familien, Pflegekräften, anderen Fachleuten auf dem Gebiet psychischer Krankheiten, Leitern von psychiatrischen Einrichtungen, Regierungsbeamten und Aktivisten für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Human Rights Watch besuchte insgesamt 16 Einrichtungen auf den Inseln Java und Sumatra, darunter psychiatrische Kliniken, soziale Pflegeeinrichtungen und religiöse Heilzentren. Human Rights Watch dokumentierte 175 Fälle in fünf Provinzen, in denen Menschen derzeit angekettet oder eingesperrt werden bzw. dies bis vor kurzem Praxis war.

Mehr als 57.000 psychisch erkrankte Menschen werden mindestens einmal in ihrem Leben Opfer des sog. pasung – d.h. sie werden angekettet und eingesperrt. Den neuesten Statistiken der Regierung zufolge sind derzeit etwa 18.800 Menschen angekettet. Obwohl die Regierung diese Praxis 1977 verboten hat, werden Menschen mit psychosozialen Behinderungen nach wie vor von ihren Familien, traditionellen Heilern und Einrichtungpersonal angekettet, manchmal sogar jahrelang.

In einem Fall berichtete der Vater einer Frau mit einer psychosozialen Behinderung Human Rights Watch gegenüber, er habe seine Tochter in einen Raum gesperrt. Zuvor hatte er Rat bei religiösen Heilern gesucht, nachdem seine Tochter die Blumenbeete der Nachbarn zerstört hatte. Als sie versuchte, sich einen Weg aus dem Raum zu graben, fesselten die Eltern ihre Hände hinter ihrem Rücken. Sie blieb nackt auf dem schmutzigen Boden. Ganze 15 Jahre lang aß, schlief und verrichtete sie ihre Notdurft in dem Raum, bevor ihre Eltern sie schließlich freiließen.

Die Regierung Indonesiens hat bereits einige Schritte unternommen, um diese Praxis abzuschaffen. Die Ministerien für Gesundheit und Soziales haben jeweils eine Kampagne gegen das Anketten gestartet. Ein neues Gesetz zu psychischen Erkrankungen sieht vor, die psychiatrische Gesundheitsfürsorge in die medizinische Grundversorgung zu integrieren. Teams von Regierungsbeamten, medizinischem Personal und Personal aus öffentlichen Einrichtungen haben die Aufgabe, die Betroffenen von ihren Ketten zu befreien. Da die Regierung Indonesiens jedoch teils stark dezentralisiert ist, erfolgt die Umsetzung des Gesetzes und der Aufgaben auf lokaler Ebene nur sehr langsam.

Indonesien hat 250 Millionen Einwohner, jedoch nur zwischen 600 und 800 Psychiater. Somit kommt nur ein Psychiater auf 300.000 bis 400.000 Menschen. Es gibt lediglich 48 psychiatrische Kliniken, mehr als die Hälfte davon befinden sich in nur vier der 34 indonesischen Provinzen. Von der Regierung erhobene Daten zeigen, dass 2015 nur 1,5 Prozent des Staatsbudgets in den Gesundheitssektor geflossen sind. 90 Prozent jener Menschen, die eine medizinische Versorgung wünschen, erhalten diese nicht, da es kein ausreichendes Angebot gibt. Die Regierung hat vor, bis 2019 eine flächendeckende Gesundheitsversorgung, auch für psychische Erkrankungen, einzuführen. 

In den wenigen Einrichtungen und Diensten, die es gibt, werden die Grundrechte von Menschen mit psychosozialen Behinderungen häufig nicht respektiert. Somit tragen sie zu Menschenrechtsverletzungen bei, so das Fazit von Human Rights Watch. „Stellen Sie sich vor, Sie leben in der Hölle. Genauso ist das hier“, sagte Asmirah, eine 22-jährige Frau mit einer psychosozialen Behinderung, über ein religiöses Heilzentrum in Brebes, in dem sie gegen ihren Willen lebte.

Das Gesetz in Indonesien macht es ziemlich leicht, einen Menschen mit einer psychosozialen Behinderung zwangseinweisen zu lassen. Human Rights Watch erfuhr von 65 Fällen von Zwangseinweisungen in Einrichtungen. Keine der Personen, mit denen Human Rights Watch Interviews in Einrichtungen führte, befand sich freiwillig dort. Bei denen am längsten währenden Fällen, die Human Rights Watch dokumentierte, handelte es sich um sieben Jahre in einer sozialen Pflegeeinrichtung und 30 Jahre in einer psychiatrischen Klinik.

In einigen Einrichtungen geben die Überfüllung und die hygienischen Bedingungen Anlass zu ernster Sorge. Dort sind Läuse und Krätze weit verbreitet. In Pantri Laras 2, einer sozialen Pflegeeinrichtung in einem Vorort der Hauptstadt Jakarta, wurde Human Rights Watch Zeuge davon, wie etwa 90 Frauen in einem Raum lebten, der eigentlich nur Platz für maximal 30 bietet.

„In vielen dieser Einrichtungen herrschen katastrophale Zustände bei der Körperpflege der Patienten, einfach weil diese nicht raus oder baden dürfen”, so Sharma. „Häufig werden Menschen gezwungen, an ein und demselben Ort zu schlafen, zu essen und ihre Notdurft zu verrichten.“

In 13 der 16 Einrichtungen, die Human Rights Watch besucht hat, wurden Menschen regelmäßig zur Medikamenteneinnahme gezwungen. Zudem wurden sie häufig alternativen „Behandlungen“ unterzogen. So werden ihnen etwa „magische“ Kräutertinkturen verabreicht, kräftige Massage durch traditionelle Heiler oder ihnen werden Koranzitate ins Ohr gesprochen. In drei der sechs  psychiatrischen Kliniken, die Human Rights Watch besuchte, wurde der Einsatz der Elektrokrampftherapie ohne Betäubung und ohne Zustimmung der Betroffenen dokumentiert. In einer dieser Kliniken wurden sogar Kinder dieser Therapie unterzogen.

Zudem ist Zwangsisolation eine häufig angewandte Praxis, die auch als Strafe eingesetzt wird, falls Anweisungen nicht befolgt werden, es zu Konflikten oder sexuellen Handlungen kommt.

Human Rights Watch hat Fälle von physischer und sexueller Gewalt dokumentiert. In sieben der Einrichtungen, die Human Rights Watch besucht hat, konnte das männliche Personal jederzeit ungehindert den Bereich der weiblichen Patienten betreten bzw. war sogar für diesen Bereich verantwortlich. Somit sind Mädchen und Frauen einem erhöhten Risiko ausgesetzt, Opfer sexueller Gewalt zu werden. In Heilzentren waren Männer und Frauen nebeneinander angekettet, sodass Frauen keine Fluchtmöglichkeit hatten, wenn sie Opfer sexueller Gewalt wurden. Zudem verabreichte das Personal in drei Einrichtungen Frauen ohne ihr Wissen oder ihr Einverständnis Mittel zur Empfängnisverhütung.

Die Regierung Indonesiens soll unverzüglich alle öffentlichen und privaten Einrichtungen untersuchen und diese dann regelmäßig kontrollieren. Gegen jene Einrichtungen, in denen Menschen mit psychosozialen Behinderungen angekettet oder misshandelt werden, soll die Regierung unverzüglich vorgehen. Zudem soll Indonesien Maßnahmen einleiten, mittels derer sichergestellt wird, dass Menschen mit psychosozialen Behinderungen über ihr Leben selbst bestimmen können und keine Behandlung ohne ihre Einverständniserklärung erfolgen darf.

Die Regierung soll das entsprechende Gesetz von 2014, den sog. Mental Health Act dahingehend ändern, dass Menschen mit psychosozialen Behinderungen dieselben Rechte erhalten wie alle anderen indonesischen Bürger. Zudem soll die Regierung den Gesetzentwurf zu Menschen mit Behinderungen ändern und verabschieden, sodass die indonesische Gesetzgebung mit dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen der Vereinten Nationen im Einklang steht. Indonesien hat dieses UN-Abkommen 2011 ratifiziert.

Die Regierung soll Unterstützung vor Ort bereitstellen, die freiwillig von den Betroffenen in Anspruch genommen werden kann. Zudem sollen Dienstleistungen für psychische Gesundheit in Zusammenarbeit mit den Betroffenen selbst entwickelt werden. Gleiches gilt für Schulungen von Personal in dem Bereich, von Krankenschwestern bis zu Psychiatern, so Human Rights Watch.

„Der Gedanke, dass ein Mensch 15 Jahre lang in einen Raum gesperrt wird und dort in seinen eigenen Exkrementen und seinem Urin sitzt, isoliert und ohne irgendwelche Pflege, ist einfach nur grauenvoll”, so Sharma. „So viele Menschen haben mir gesagt. ‚Das ist wie ein Leben in der Hölle.‘ Und das ist es wirklich.”

Kategorien: Menschenrechte

Kroatien: Eingesperrt und vernachlässigt

Mi, 27.05.2020 - 17:20

(Genf) – Mehr als 8.200 Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen in Kroatien leben nach wie vor isoliert in Einrichtungen und psychiatrischen Kliniken, wo sie nur wenig Kontrolle über Entscheidungen haben, die ihr Leben betreffen, so Human Rights Watch. In dieser Woche werden die Vereinten Nationen Kroatiens Umsetzung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen prüfen.

Zwar hat die kroatische Regierung einige Fortschritte beim Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen gemacht, jedoch werden Menschen nur langsam und schleppend aus abgeschirmten Einrichtungen gebracht und in lokalen Wohnprojekten betreut. Menschen mit bestimmten Formen von Behinderung dürfen immer noch nicht über ihr eigenes Leben entscheiden. Der Regierungsplan zur Deinstitutionalisierung sollte alle staatlichen und privaten Einrichtungen einschließen, in denen Menschen mit Behinderungen leben. Die Regierung soll das Gesetz zur Rechtsfähigkeit prüfen, so dass alle Menschen mit Behinderungen die Möglichkeit haben und auch dazu ermutigt werden, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

„Menschen mit Behinderungen waren ihr ganzes Leben lang eingesperrt. Ihnen blieben so viele Dinge versagt, die für uns ganz selbstverständlich sind, wie beispielsweise zur Schule zu gehen und zu arbeiten oder selbst zu entscheiden, wann man morgens aufsteht“, so Emina Ćerimović, Koenig-Fellow von Human Rights Watch. „Die kroatische Regierung muss mehr tun, um lokale Unterbringungs- und Pflegemöglichkeiten auszubauen und diese Menschen zu unterstützen, so dass sie so leben können, wie sie es sich wünschen.“

Zwischen April und August 2014 führte Human Rights Watch Interviews mit 87 Personen in drei Regionen Kroatiens, darunter mit Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen und deren Familien, Angestellten in Einrichtungen und Sprechern von Nichtregierungsorganisationen, darunter Organisationen für Menschen mit Behinderungen. Ebenso sprach Human Rights Watch mit Regierungsbeamten sowie mit der Ombudsfrau für Menschen mit Behinderungen. Human Rights Watch konnte dokumentieren, dass Menschen in zentralen Einrichtungen verschiedenen Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind: sie leben isoliert von der Gesellschaft, werden verbal angegriffen, sind Opfer von Zwangsbehandlung, haben keine Privatsphäre und können sich nicht frei bewegen.

In einem heute von Human Rights Watch veröffentlichten Video sprechen Menschen mit psychosozialen Behinderungen über die Vorteile eines in die Gesellschaft integrierten Lebens, nachdem sie davor manchmal ihr ganzes Leben in isolierten Einrichtungen verbracht hatten.

„Ich habe meine Würde wieder. Ich fühle mich wieder wie ein Mensch”, so Jelica, 58, die 17 Jahre in einer Einrichtung verbracht hat, bevor sie 2012 in ein lokales Wohnprojekt zog. „In dem Heim…fühlte ich mich wie im Gefängnis, als würde man mich irgendwie bestrafen… Aber jetzt habe ich meine Menschenwürde wieder. Denn jetzt treffe ich wieder meine eigenen Entscheidungen.“

Elf der 46 staatlichen Einrichtungen haben mit der Deinstitutionalisierung begonnen, und seit Juli 2014 sind 458 Menschen mit geistigen Behinderungen und 96 Menschen mit psychosozialen Behinderungen in lokalen Wohnprojekten untergebracht.

Dennoch ist mehr als 8.200 Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen, die derzeit in Kroatien in allen möglichen Formen von Einrichtungen leben, das Recht auf ein in die Gesellschaft integriertes Leben weiterhin verwehrt.

Der Plan der kroatischen Regierung zur Deinstitutionalisierung und Reformierung von Fürsorgeeinrichtungen („Master Plan”), der 2011 verabschiedet wurde, schließt mehr als 1.800 Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen aus, die derzeit in den 24 privat betriebenen, jedoch staatlich finanzierten Einrichtungen leben. Auch klammert der Master Plan die sogenannten Familienheime und Pflegefamilien aus. Familienheime werden von einzelnen Privatpersonen betrieben. Dort werden bis zu 20 Menschen mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen untergebracht. Erwachsene mit Behinderungen werden ohne ihre Zustimmung und mit nur begrenztem Kontakt nach außen in Pflegefamilien untergebracht.

Die kroatische Regierung betrachtet diese Kategorien als nicht-institutionelle Unterbringungsformen. Die Recherchen von Human Rights Watch zeigten jedoch, dass es sich bei den Familienheimen tatsächlich um kleine Institutionen handelt und dass Pflegeheime, in denen Menschen ohne ihre Einwilligung untergebracht werden, auch eine Form von Einrichtung darstellen, da die Betroffen nur wenig Interaktion mit der Außenwelt haben.

Menschen mit psychosozialen Behinderungen, die gegen ihren Willen langfristig in einer psychiatrischen Klinik untergebracht werden, fallen ebenfalls nicht unter den Master Plan.

Ivan ist Ende Zwanzig und hat eine psychosoziale Behinderung. Seit 16 Jahren lebt er in einer psychiatrischen Klinik. „Ich finde es demütigend und traurig, dort zu sein“, sagte er Human Rights Watch. „Ich möchte so schnell wie möglich raus.“

Etwa 18.000 Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen in Kroatien stehen unter der Vormundschaft des Staates. Sie sind weder rechtsfähig noch haben sie die Möglichkeit, Entscheidungen über grundlegende Rechte zu treffen, so etwa das Recht zu heiraten und eine Familie zu gründen, einen Arbeitsvertrag zu unterzeichnen oder Eigentum zu besitzen. Die große Mehrheit der Betroffenen lebt unter vollständiger Vormundschaft, in der der jeweilige Vormund, der häufig vom Staat benannt wird, sämtliche Entscheidungen trifft.

2008 hat Kroatien das Abkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert. Dieses Menschenrechtsabkommen fordert Regierungen dazu auf, von der Politik der Institutionalisierung und Vormundschaft Abstand zu nehmen und stattdessen Möglichkeiten für Menschen mit Behinderungen zu schaffen, besser in die Gesellschaft intergiert zu leben und mit Unterstützung, falls nötig, Entscheidungen über ihr eigenes Leben zu treffen.

„Die meisten von uns genießen die Freiheit zu leben, wo und wie sie möchten, ohne daran zu denken, dass die Regierung ihnen diese Freiheit nehmen könnte“, so Ćerimović. „Kroatien, das derzeit jüngste EU-Mitglied, muss sich von diesen bevormundenden Haltungen und Praktiken verabschieden, die auf der Annahme basieren, Menschen mit Behinderungen könnten keine eigenen Entscheidungen treffen. Kroatien soll Menschen mit Behinderungen stärken und unterstützen.”

Die kroatische Regierung soll sicherstellen, dass alle Menschen mit Behinderungen, die ohne ihre Einwilligung in einer staatlichen oder privaten Einrichtung, langfristig in einer psychiatrischen Klinik, in einem Familienheim oder in einer Pflegefamilie untergebracht sind, Teil des Prozesses der Deinstitutionalisierung werden, so Human Rights Watch. Die Regierung soll zudem Förderprogramme finanziell unterstützen, die Unterbringungsmöglichkeiten und selbst gewählte Unterstützung für ein unabhängigeres Leben bieten. Diese Förderprogramme sollen allen Menschen mit Behinderungen zugänglich sein, egal wo eine Person untergebracht ist.

Die Regierung Kroatiens soll das Vormundschaftssystem durch eine Politik der Unterstützung und Entscheidungshilfe ersetzen. Diese neue Politik soll die Autonomie, den Willen und die Präferenzen von Menschen mit Behinderungen respektieren, so Human Rights Watch.

Auch soll die kroatische Regierung Organisationen für Menschen mit Behinderungen finanziell unterstützen ebenso wie andere Gruppen, die Leistungen und Unterstützung anbieten.

Human Rights Watch hat dokumentiert, dass sich immer mehr Menschen, die in Programmen für Menschen mit Behinderungen arbeiten, der Probleme der Institutionalisierung bewusst werden. Ladislav Lamza, Direktor des Heims für psychisch kranke Erwachsene in Osijek, einer Sozialeinrichtung für Erwachsene mit psychosozialen Behinderungen, sagte Human Rights Watch: „Wir verstehen jetzt, dass solche Einrichtungen nicht der richtige Ort für einen langfristigen Aufenthalt sind. Nur auf den ersten Blick wird den Betroffenen all das gegeben, was sie brauchen. In Wahrheit jedoch nimmt es den Menschen das Wichtigste – einen Sinn im Leben.”

Recherche
2010 hat Human Rights Watch zum ersten Mal in dem Bericht „‘Once You Enter, You Never Leave’: Deinstitutionalization of Persons with Intellectual or Mental Disabilities in Croatia” die Bedingungen dokumentiert, unter denen Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen in Kroatien in Einrichtungen leben. Human Rights Watch erfuhr von mehr als 9.000 Menschen mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen, die in Einrichtungen leben und keinen Zugang zu individuellen Wohn- und Hilfsprogrammen haben. Die erneute Recherche 2014 bestand neben Interviews auch in Besuchen in vier Fürsorgeheimen, einer psychiatrischen Klinik und sieben lokalen Wohnprojekten in drei Regionen Kroatiens: Slavonija, Zentralkroatien und Kvarner. Human Rights Watch sprach auch mit Angestellten und ehemaligen Bewohnern von zwei Fürsorgeheimen für Menschen mit psychosozialen Behinderungen sowie einer psychiatrischen Klinik. Eine privat betriebene, jedoch staatlich finanzierte Einrichtung, das Rehabilitationszentrum Nada in Karlovac, erteilte keine Besuchserlaubnis. Die meisten der Menschen, mit denen Interviews geführt wurden, werden hier nicht mit ihrem richtigen Namen erwähnt, um ihre Privatsphäre zu schützen.

Im August 2014 hat Human Rights Watch ein Memorandum beim UN-Komitee für die Rechte von Menschen mit Behinderungen eingereicht, bevor dieses eine Liste von Problemen in Kroatien zusammenstellte.

Das Leben nach der Einrichtung
Josip, 34, hat eine schwach ausgeprägte geistige Behinderung und lebte in einer Einrichtung, seit er ein Baby war. Er kennt seine Familie nicht und hatte nie ein Wochenende oder einen Urlaub außerhalb der Einrichtung verbracht. Er ist nie zur Schule gegangen, hat noch nie einen Job gehabt oder sein eigenes Essen gekocht. Er hat nie selbst entschieden, was er anzieht oder isst, und hat bislang sein Schlafzimmer mit bis zu zehn anderen geteilt.

Im September ist Josip in eine Wohnung gezogen. Nun ist er zum ersten Mal tagtäglich von Menschen außerhalb der Einrichtung umgeben, auch von Menschen ohne Behinderung. Zum ersten Mal kann er sich frei bewegen.

„In Zorkovac [einer Zweigstelle der Einrichtung], können wir nur bis zu einem Schild laufen, dann müssen wir umkehren und zurücklaufen”, sagte er uns, als er noch in der Einrichtung lebte. „In Karlovac [der Stadt, in die er nun gezogen ist] kann ich mich frei bewegen, so viel ich will.”

Dijana Borović, Direktorin des Rehabilitationszentrums in Ozalj, in dem Josip lebte, sagte Human Rights Watch: „Es war wie ein Gefängnis. Wir machen sie abhängig von uns. Wir tun alles für sie. Selbst wenn sie etwas alleine machen, so geschieht das nur unter unserer Aufsicht.”

Im September 2014 wurde Zorkovac geschlossen und mit Josip zogen 57 andere Personen aus und leben nun in Wohnungen.

Menschen mit Behinderungen, die in Einrichtungen leben müssen, bleibt nicht nur verwehrt, selbst zu entscheiden, wo und wie sie leben, sie haben auch nur begrenzten Zugang zu Bildung, Arbeit und gesundheitlicher Versorgung. So waren beispielsweise die Zähne der Menschen, die Human Rights Watch in Einrichtungen besuchte, in einem schlechten Zustand. Angestellte sagten, die Bewohner der Einrichtung hätten nur unzureichenden oder gar keinen Zugang zu zahnärztlicher Versorgung. Jovan, 54, sagte dass er in den acht Jahren, die er in der Džakovička Breznica Einrichtung verbracht hat, nie eine zahnärztliche Kontrolle, eine Füllung oder eine Zahnreinigung bekommen habe.

Die meisten Menschen, mit denen Human Rights Watch Interviews führte, berichteten, sie hätten keine Privatsphäre und müssten einer strengen, immer gleichen, täglichen Routine folgen. Ivan, Ende Zwanzig mit einer psychosozialen Behinderung, sagte, die Bewohner der Einrichtung müssten jeden Morgen vor acht Uhr aufstehen, um frühstücken zu können: „Frühstück gibt es von 8 Uhr bis 8:15 Uhr. Wenn man das verpasst hat, muss man bis zur nächsten geplanten Mahlzeit [um 12 Uhr] warten.

Einige Menschen wurden gezwungen zu arbeiten. Ognjen, 51, der an einer paranoiden Schizophrenie leidet, hat insgesamt 12 Jahre in verschiedenen Einrichtungen verbracht. „Wir wurden gezwungen zu arbeiten“, sagte er, „Wir mussten den ganzen Tag draußen auf dem Feld verbringen. Morgens schlossen sie das Heim ab und öffneten es erst wieder spät am Abend. Mitten im Sommer, wenn die Sonne runterbrennt, muss man auf dem Feld arbeiten.“

Die meisten waren durchaus zuversichtlich, dass sie in der Gemeinschaft leben könnten, selbst wenn sie hierfür Unterstützung bräuchten. Josip braucht Hilfe beim Kochen und Wäsche waschen. Iva, 43, die eine geistige Behinderung hat, sagte:

Wir kochen, waschen, wir machen alles alleine. Wir haben Unterstützung. Ich lebe lieber in der Wohnung als in der Einrichtung. Nein, nein, nein. Ich will nie wieder zurück in die Einrichtung. Ich kann nicht zurück, weil das hier jetzt mein Zuhause ist.

Erwachsene, die in Pflegeheimen lebten, sagten Human Rights Watch, dass das Leben in einer eigenen Wohnung sich sehr von dem in Pflegeheimen unterscheide. Marina, 42, die an paranoider Schizophrenie leidet, lebte über mehrere Jahre in fünf verschiedenen Pflegeheimen. „In einem Pflegeheim zu leben war nicht einfach“, sagte sie. „Man musste um 7 Uhr morgens aufstehen und arbeiten. Man wurde gezwungen zu arbeiten, meistens auf dem Feld. Ich pflanzte und erntete Kartoffeln von früh morgens bis spät abends.”

Marina, die jetzt in einem Gemeinschaftsprojekt der unabhängigen Gruppe Susret lebt, sagte über ihr neues Leben: „Es ist ein Vorteil. Man kann Essen kaufen und es alleine essen. Man kann spazieren gehen.“

Hürden beim Übergang
Human Rights Watch dokumentierte, dass Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen, die in Einrichtungen leben und unter den Plan zur Deinstitutionalisierung fallen, auf verschiedene Hürden treffen, wenn sie unabhängiger leben wollen. So muss erst das Personal der Einrichtung überprüfen, ob die betroffene Person dazu bereit ist. Das ist Bedingung für einen Auszug.

Menschen mit Behinderungen haben das Recht zu entscheiden, wo sie leben, und sollten keinem „Eignungstest” unterzogen werden. Die Bedürfnisse und Stärken von Personen sollten nur beurteilt werden, um die Art der Unterstützung und Hilfe für die Personen zu bestimmen.

Vormunde behalten weiterhin das Recht zu entscheiden, wo und mit wem die Personen, denen die Rechtsfähigkeit entzogen wurde, leben dürfen. Laut Sozialrecht dürfen Menschen mit Behinderungen, die nicht mehr rechtsfähig sind, ohne ihre Zustimmung in Einrichtungen wie Fürsorgeheimen, Pflegeheimen und auch Pflegefamilien untergebracht werden. Laut Gesetz ist die Unterbringung in einer Einrichtung eine Sozialleistung und ein „Recht“.

Die Einwilligung des Vormunds für eine Unterbringung ersetzt die Zustimmung der betroffenen Person selbst. Das Gesetz sieht keine Prüfung oder Anfechtung dieser Entscheidung vor. Die Leiter von vier verschiedenen Einrichtungen sagten Human Rights Watch, dass die große Mehrheit der Menschen mit Behinderungen in jeder dieser Einrichtung ihrer Rechtsfähigkeit beraubt wurde.

Das Vormundschaftssystem schränkt zudem das Recht der Menschen mit Behinderungen ein, Einrichtungen zu verlassen. „Der Vormund hat das Recht, den Vorgang zu stoppen, auch wenn das nicht dem Wunsch der betroffenen Person entspricht“, so Mladen Mužak, Leiter der Wohneinheit im Rehabilitationszentrum Zagreb. „Ohne die Einwilligung des Vormunds können wir gar nichts tun.“

Im Juni 2014 verabschiedete das Parlament ein neues Familiengesetz, das die volle Vormundschaft abschafft, den Gerichten jedoch weiterhin erlaubt, Personen unter eine Teilvormundschaft zu stellen, und somit die Möglichkeit der betroffenen Person einschränkt, in einigen Bereichen eigene Entscheidungen zu treffen. Lokale Anwälte für Rechte von Menschen mit Behinderungen haben Bedenken geäußert, dass diese Regelung dazu führen könnte, dass ein Gericht festlegt, zu welchen Tätigkeiten eine Person nicht allein in der Lage ist und über die demnach ein Vormund entscheiden kann. Hierbei geht es insbesondere um Entscheidungen bezüglich der Gesundheitsversorgung, des Eigentums und des Wohnorts. Solche Entscheidungen, verbunden mit dem Mangel an regelmäßigen gerichtlichen Kontrollen und anderen Schutzmaßnahmen könnten zu einem vollständigen faktischen Verlust der Rechtsfähigkeit führen und setzt Menschen dem Risiko aus, gegen ihren Willen in Einrichtungen oder psychiatrischen Kliniken untergebracht zu werden.

Im Mai berichtete Vildana, 44, die eine geistige Behinderung hat und im Rehabilitationszentrum Zagreb lebt:

Zuerst hat meine Mutter [auch ihr Vormund] ja gesagt…jetzt sagte sie „nein”… Ich will hier nicht wohnen. Ich möchte in meiner eigenen Wohnung leben oder bei meiner Mutter. Meine Mutter erlaubt mir nicht, alleine zu leben.“

Angestellte der Einrichtung zeigten sich enttäuscht, da sie der Meinung sind, Vildana könne durchaus ein unabhängiges Leben führen.

Der Leiter der Wohneinheit einer Einrichtung sagte Human Rights Watch: „Ständig gibt es Probleme mit Eltern, die sich in das Programm [zur Deinstitutionalisierung] einmischen.“

Tanja, 30, die an paranoider Schizophrenie leidet, ist auf unbestimmte Zeit in der psychiatrischen Klinik von Lopača untergebracht. „Ich wollte hier nach den ersten vier Jahren raus, aber ich kann nicht, da ich einen Vormund habe“, sagte Tanja. „Ich sagte es meiner Schwester und meinem Arzt, aber mein Vormund darf bestimmen“, fügte Tanja hinzu. „Ich kann alleine wohnen, wenn ich Unterstützung bekomme. Ich möchte frei wie ein Vogel sein!“

Tin, Anfang 30, hat eine psychosoziale Behinderung. Er lebt seit mehr als sieben Jahren in Lopača. „Ich bin zu jung, um hier mein ganzes Leben zu verbringen.”

Die Recherchen von Human Rights Watch haben gezeigt, dass es nur begrenzte lokale Wohnmöglichkeiten und Unterstützung für Menschen mit Behinderungen gibt, denen es erlaubt ist, eine Einrichtung zu verlassen. Viele Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen, die Human Rights Watch interviewt hat, sagten, sie hätten keine reelle Möglichkeit, über ihre Wohnsituation zu entscheiden und darüber, von wem sie Unterstützung bekommen, wenn sie die Einrichtung verlassen. Um Hilfe vom Staat für Wohnen und Hilfsdienste zu erhalten, leben sie normalerweise in Wohnungen, die von der jeweiligen Einrichtung organisiert wurden und von dieser auch überwacht werden. Die Menschen erhalten auch weiterhin Hilfe und Unterstützung von der Einrichtung. Wer lieber bei Freunden oder der Familie leben möchte, hat keinen Anspruch mehr auf staatlich finanzierte Unterstützung für das Wohnen und die Hilfsdienste.

Radmila Stojanović, Vorsitzende der Vereinigung Susret, die Menschen mit psychosozialen Behinderungen Unterstützung und Wohnmöglichkeiten bietet, sagte: „Menschen mit psychosozialen Behinderungen bekommen nur Unterstützung vom Staat, wenn sie Teil eines Programms sind. Verlässt man das Programm, verliert man das Geld und die Unterstützung.“

Neda Memišević, Rechtsexperte bei der Vereinigung zur Integrationsförderung, einer unabhängigen Organisation, sagte:

Das Problem mit dem System in Kroatien ist, dass die Person selbst kein Einkommen oder Kontrolle über ihr Geld hat. Sie hat keinen Zugang zu finanzieller Unterstützung für eine Wohnung. Nur das System [Wohnungsdienstleister] hat diesen Zugang.

Kroatiens Programm für persönliche Unterstützung, das Menschen mit Behinderungen zuhause hilft, die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu erleichtern, und finanzielle Unterstützung bieten soll, ist nur für Menschen mit schweren körperlichen Behinderungen verfügbar.

Senada, die eine leichte geistige Behinderung hat, lebte in einem Gemeinschaftswohnprogramm der Vereinigung zur Integrationsförderung, das 2006 angelaufen war. In dieser Zeit erhielt Senada die Unterstützung, die sie brauchte. Nachdem sie jedoch dieses Programm verließ, um ein unabhängiges Leben zu führen, sagt sie:

Ich bekomme keinerlei Unterstützung, obwohl ich sie brauche. Ich bräuchte jemanden, der mir hilft, meinen Haushalt zu führen, da ich Probleme mit meinen Händen habe. Aber ich bekomme diese Unterstützung nicht und ich alleine kann sie mir nicht leisten. Um Unterstützung zu bekommen, muss man in ein Programm gehen.

Kein Zugang zu weiteren Rechten
Der physische Umzug von einer Einrichtung in eine Wohnung ist für Menschen mit Behinderungen enorm wichtig. Zugleich beinhaltet das Recht, besser in die Gesellschaft integriert zu leben, auch die Wahl und die Kontrolle über das eigene Leben und sollte den Genuss vieler anderer Rechte ebenfalls erleichtern. Laut des internationalen Abkommens sollte es Menschen mit geistigen und psychosozialen Behinderungen möglich sein, zur Schule zu gehen, zu arbeiten, Zugang zur Gesundheitsversorgung zu haben und Freizeitaktivitäten auf die gleiche Art wie andere durchführen zu können.

Die meisten Menschen, mit denen Human Rights Watch Interviews führte, sagten, einer ihrer größten, unerfüllten Wünsche sei es, eine Arbeit zu haben. Goran Karaš ist Vorsitzender einer lokalen Selbsthilfeorganisation, die mit Menschen arbeitet, die Einrichtungen verlassen haben. Er sagt:

Eine Arbeit zu haben ist ihnen sehr wichtig. Sie brauchen das Geld, aber auch die Unabhängigkeit, die eine Arbeit mit sich bringt. Sie fühlen sich wertvoll. Sie bieten immer ihre Hilfe an, sie möchten helfen, um zu beweisen, dass sie wertvoll sind. In den Einrichtungen, in denen sie gelebt haben, wurde alles für sie gemacht. Sie haben nie eine Chance bekommen.

Arbeit ist auch ein Weg aus der Langeweile und der Isolation. Luka, ein 46-jähriger Mann aus Osijek, der Teilzeit in einem Laden arbeitet, sagte: „Ich bin froh, dass ich arbeiten kann, dass ich mich mit Menschen umgeben kann. Wenn ich nach der Arbeit nach Hause gehe, fühle ich mich toll. Ich bin von Menschen umgeben und das ist ein wunderbares Gefühl.“

Allerdings ist es Menschen mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen, die die kroatische Rentenversicherungsanstalt aufgrund einer medizinischen Untersuchung für arbeitsunfähig erklärt hat, gesetzlich untersagt zu arbeiten.

Zudem schafft das kroatische Sozialsystem weitere Nachteile, die Menschen mit Behinderungen von einer Arbeit abhalten. So haben beispielsweise diejenigen, die Vollzeit arbeiten, keinen Anspruch auf eine Wohnung. Fehlende Schulbildung, Stigmatisierung und Diskriminierung machen es für Menschen mit Behinderungen sehr schwierig, eine Arbeit zu finden.

Auch der Zugang zum Gesundheitssystem stellt eine Herausforderung dar. Menschen mit geistigen oder psychosozialen Behinderungen, die eine Einrichtung verlassen haben, müssen in der Regel weiterhin ihre Arzttermine in der Einrichtung wahrnehmen. Ähnlich gestaltet sich die Situation für Menschen mit psychosozialen Behinderungen, die das Heim für psychisch kranke Erwachsene in Osijek verlassen haben.

Lamza, Leiter des Heims, sagte: „Die Allgemeinärzte verweisen Menschen mit psychosozialen Behinderungen, die das Heim verlassen haben, in der Regel an die psychiatrische Klinik in Popovač“, die anderthalb Stunden entfernt ist.

In ihrem Bericht für 2014 an die Vereinten Nationen sagte die kroatische Ombudsfrau für Menschen mit Behinderungen, dass es nicht einmal einen minimalen Fortschritt bei der ambulanten Behandlung von Menschen mit psychosozialen Behinderungen gegeben habe. Auch habe es keine Verbesserung bei der Qualität der Gesundheitsversorgung gegeben, die den Betroffenen zur Verfügung steht. Dies führe zu unnötigen Krankenhausaufenthalten.

Blick nach vorn: Vielversprechende Entwicklungen in Kroatien
Trotz dieser Hürden fand Human Rights Watch diverse individuelle Wohnmöglichkeiten und auch Unterstützungsdienste, die von den Einrichtungen selbst oder von lokalen Nichtregierungsorganisationen organisiert werden.

So werden seit 2012 beispielsweise die Bewohner des Heims für psychisch kranke Erwachsene in Osijek aktiv in den Prozess der Deinstitutionalisierung eingebunden. Einige Bewohner leben seit bis zu 20 Jahren in dem Heim, das ein Programm mit dem Namen „Ich, genauso wie du“ entwickelt hat, um die Hierarchie innerhalb der Institution abzuschaffen und die Zusammenarbeit von Menschen mit psychosozialen Behinderungen, die in Einrichtungen lebten, mit Dienstleistern und Menschen vor Ort selbst zu fördern.

Jede Person wird etwa sechs Monate lang auf das Leben außerhalb der Einrichtung vorbereitet. Die Angestellten helfen, Bedürfnisse, Stärken, Lebensziele und Pläne zu definieren, darunter wie, wo und mit wem sie leben möchten und welche Unterstützung sie benötigen. Diese individuelle Planung beinhaltet auch das Erlernen von Alltagstätigkeiten wie das Kochen, die Haushaltsführung, die Körperhygiene und sogar soziale Interaktion. Zu diesem Zweck hat das Heim eine „Übungswohnung“ eingerichtet, wo die Bewohner lernen können, zu kochen, abzuwaschen und ihre Kleidung zu bügeln.

Wenn die Bewohner in eine Wohnung gezogen sind, erhalten sie vom Personal der Einrichtung regelmäßig Unterstützung auf der Grundlage ihrer individuellen Bedürfnisse. So erhalten sie Unterstützung bei finanziellen Angelegenheiten, bei der Nutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln und beim Zugang zu medizinscher Versorgung.

Bis Oktober 2014 hatten 33 Menschen mit psychosozialen Behinderungen die Einrichtung verlassen, um in verschiedenen Wohnungen in Osijek zu leben. Alle Betroffenen, mit denen Human Rights Watch sprach, berichteten, dass sie eine angemessene Unterkunft hätten und sich in die Gemeinschaft integriert fühlten. Einige gehen einer Teilzeitbeschäftigung nach und haben Betreuer, die ihnen helfen und sie unterstützen. Weitere zehn der insgesamt 150 Menschen, die derzeit noch in der Einrichtung leben, sollen bis Ende 2014 in von der Regierung bereitgestellte Wohnungen ziehen. Weitere 70 sollen in Wohnungen ziehen, die von Open Society Foundations mitfinanziert werden.

In ähnlichen Programmen des Rehabilitationszentrums in Ozalj im Südwesten Kroatiens und des Rehabilitationszentrums Zagreb erhalten Bewohner mit geistigen Behinderungen Notizbücher, in denen sie ihre Bedürfnisse and Wünsche festhalten können. Gemeinsam mit persönlichen Betreuern können sie ihre Ziele und Gedanken darüber teilen, wer ihnen die nötige Unterstützung bieten könnte, um das zu erreichen, was ihnen wichtig ist. Das können Selbsthilfegruppen für Menschen mit Behinderungen sein, genauso wie Freunde und Nachbarn.

Amorevera, eine lokale Gruppe in Dugo Selo, in der Nähe von Zagreb, arbeitet mit der Selbsthilfevereinigung zusammen, um solch eine Unterstützung anzubieten. Ziel ist es, das Selbstvertrauen und die Talente von Menschen mit geistigen Behinderungen zu stärken, die ihr ganzes Leben in Einrichtungen verbracht haben, wo ihre Meinung nur selten zählte. Es finden wöchentliche Treffen mit Menschen mit geistigen Behinderungen statt, in denen sie dazu ermutigt werden, über ihre Rechte, ihre Beziehungen, Wünsche und andere Anliegen zu sprechen, die wichtig für sie sind. Persönliche Betreuer sind hierbei nicht anwesend, um den Menschen zu ermöglichen, frei zu sprechen und sich eine eigene Meinung zu bilden.

Goran Karaš, Vorsitzender von Amorevera, sagte Human Rights Watch:

Wir konnten sehen, wie sie zu ihren Betreuern blickten, wenn wir ihnen Fragen zu bestimmten Themen stellten. Sie erwarteten, dass ihre Betreuer für sie antworten würden. Man konnte spüren, wie unsicher sie waren. Also beschlossen wir, die Betreuer nicht mehr zu den Treffen einzuladen, und wir bemerkten, dass die Menschen dann offener wurden und sprachen. Wir ermutigen sie, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen.

Human Rights Watch fand heraus, dass Menschen mit geistigen Behinderungen, die Mitglieder von Selbsthilfeorganisationen sind, auch mehr über ihre Rechte wussten und entschlossener waren, selbst Entscheidungen über ihr Leben zu treffen. So hat beispielsweise Iva Treffen der Selbsthilfeorganisation besucht, bevor sie aus einer Einrichtung auszog. Als sie nach ihrem Wunsch gefragt wurde auszuziehen, antwortete sie:

Meine Mutter wollte nicht, dass ich gehe, aber sie ist glücklich, dass ich in die Wohnung gezogen bin. Ich habe ihr gesagt, sie soll unterschreiben. Ich sagte ihr, wenn du nicht unterschreibst, bin ich nicht mehr deine Tochter, ich schaue dich dann nicht mehr an. Dann hat sie unterschrieben. Ich wollte hier ausziehen, weil ich sehen wollte, wie andere Menschen leben… meine Wohnung ist toll. Ich könnte sterben vor Glück. Was soll ich tun? Es ist wunderbar, dass ich eine Wohnung und Mitbewohner habe. Ich kann auch andere Entscheidungen treffen. Ja, das kann ich.

 

Kategorien: Menschenrechte

Russland: Kinder mit Behinderung Opfer von Gewalt und Vernachlässigung

Mi, 27.05.2020 - 17:20

(Moskau) – Fast 30 Prozent aller Kinder mit Behinderung in Russland leben in staatlichen Waisenhäusern, wo sie unter Umständen Gewalt erfahren und vernachlässigt werden, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Russland soll diese Menschenrechtsverletzungen an Kindern mit Behinderung, die in staatlicher Obhut leben, beenden und die Kinder dabei unterstützen, dass sie bei ihren Familien oder in anderen familiären Verhältnissen leben können anstatt in staatlichen Einrichtungen.

Der 93-seitige Bericht „Abandoned by the State: Violence, Neglect, and Isolation for Children with Disabilities in Russian Orphanages” dokumentiert, dass viele Kinder und Jugendliche mit Behinderung, die in staatlichen Waisenhäusern leben oder lebten, dort Opfer von schwerem Missbrauch und Vernachlässigung durch das Personal wurden. Die Entwicklung der betroffenen Kinder wurde hierdurch nachhaltig beeinträchtigt. Einige der Kinder, mit denen Human Rights Watch Interviews führte, berichteten, vom Personal des Waisenhauses geschlagen, mit Betäubungsmitteln ruhig gestellt worden und für Tage oder Wochen am Stück in psychiatrische Kliniken gebracht worden zu sein. Diese Maßnahmen dienten dazu, die Kinder zu kontrollieren und zu bestrafen.  

„Gewalt an und Vernachlässigung von Kindern mit Behinderung brechen einem das Herz und sind absolut beklagenswert”, so Andrea Mazzarino, Mitarbeiterin der Europa- und Zentralasien-Abteilung bei Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Die russische Regierung soll eine Null-Toleranz-Politik gegenüber Gewalt an Kindern in staatlichen Einrichtungen etablieren. Zudem soll sie umgehend Programme fördern, die das Ziel haben, die Kinder nicht von ihren Familien zu trennen.”  

Grundlage des Berichts sind mehr als 200 Interviews mit Kindern, Familienmitgliedern, Interessenvertretern und Waisenhauspersonal, ebenso wie Besuche in zehn staatlichen Waisenhäusern in ganz Russland, in denen Kinder mit Behinderungen leben. Die meisten der Kinder, die dort leben, haben eine Familie. Das Personal in den Einrichtungen, die Human Rights Watch besuchte, versuchte jedoch bisweilen, Besuche der Eltern oder anderer Familienmitglieder zu unterbinden, da solche Kontakte die Kinder „verderben“ würden. Die Kinder würden sich an zu viel Aufmerksamkeit gewöhnen.  

Kinder und Kinderrechtsaktivisten berichteten, dass Kinder in Waisenhäusern häufig keinen Zugang zu gesundheitlicher Versorgung, gesunder Nahrung, Fürsorge und Spielmöglichkeiten hätten. Zudem erhielten viele Kinder keine oder nur eine unzureichende Schulbildung. Zu den Hauptgründen für das Verhalten gegenüber den Kindern gehört der Mangel an Personal in Waisenhäusern ebenso wie der Mangel an angemessener Unterstützung sowie an Weiterbildungen für das Personal. Kinder haben, wenn überhaupt, nur wenig reelle Möglichkeiten, Hilfe zu suchen oder Missbrauch zu melden.

Mindestens 95 Prozent der Kinder, die in russischen Waisenhäusern oder in Pflege leben, haben noch wenigstens einen Elternteil. Die russische Regierung hat sich öffentlich dazu verpflichtet, die Politik der übermäßigen Unterbringung von Kindern, auch von Kindern mit Behinderung, in staatlichen Einrichtungen zu beenden. Regierungsbeamte haben jedoch der besonderen Situation von Kindern mit Behinderung, die in solchen Einrichtungen untergebracht sind, nicht genug Aufmerksamkeit beigemessen.

In den von Human Rights Watch dokumentierten Fällen wurden viele Kinder mit Behinderung in Waisenhäusern untergebracht, nachdem Beamte der Gesundheitsfürsorge Druck auf die Eltern ausgeübt hatten. Die Beamten hatten behauptet, den Kindern mangele es an Entwicklungspotential und dass die Eltern nicht für sie sorgen könnten. Der fehlende  Zugang zu einer angemessenen Schulbildung sowie zu Rehabilitationsmaßnahmen, gesundheitlicher Versorgung und anderer staatlicher Unterstützung in vielen Regionen Russlands beeinflusst ebenfalls die Entscheidung der Eltern, ob sie ihre Kinder in eine staatliche Einrichtung geben oder sie in einer solchen lassen.

Human Rights Watch dokumentierte, dass in Waisenhäusern jene Kinder, deren Behinderungen vom Personal als „die schwerwiegendsten” eingeschätzt werden, von den anderen getrennt und in so genannten „Liegeräumen” untergebracht wurden. Dort müssen sie dann in Gitterbetten liegen oder werden mit Lumpen an Möbelstücke gebunden. Vielen dieser Kinder wird wenig Aufmerksamkeit geschenkt, außer wenn sie gefüttert oder gewickelt werden. Viele der Kinder in diesen Räumen haben nur selten, wenn überhaupt, die Möglichkeit, ihre Betten zu verlassen, in Kontakt mit anderen Kindern zu kommen oder nach draußen zu gehen. Diese Praxis der Unterbringung von Kindern in jenen „Liegeräumen” ist diskriminierend und soll beendet werden, so Human Rights Watch.

„Viele Kinder mit Behinderung in den „Liegeräumen” leiden an physischen, emotionalen und intellektuellen Entwicklungsstörungen”, so Mazzarino. „Diese Tragödie könnte vermieden werden, wenn alle Kinder mit Behinderung anständige Nahrung bekämen sowie Zugang zu gesundheitlicher Versorgung und Bildung, auf die sie ein Recht haben.“  

Human Rights Watch sprach mit vielen Mitarbeitern von Waisenhäusern, die ihren Wunsch äußerten, Kindern dabei zu helfen, ihr Entwicklungspotential auszuschöpfen. Dennoch werden Kinder vom Waisenhauspersonal häufig in nicht hinnehmbarer Weise behandelt, da dem Personal die angemessene Unterstützung fehlt. So gibt es etwa keine Weiterbildung über gewaltfreier, disziplinarischer Methoden oder über die körperlichen Bedürfnisse und Ernährungsbedürfnisse von Kindern mit verschiedenen Formen von Behinderungen.  

Laut internationalem Recht ist Russland verpflichtet, Kinder vor jeder Art von Gewalt oder Vernachlässigung zu schützen und sicherzustellen, dass Kinder mit Behinderung nicht gegen den Willen der Eltern von ihnen getrennt werden. Ebenso müssen die Kinder vor jeder Form von Diskriminierung geschützt werden.

Einer der Schritte, die die russische Regierung geplant hat, um der hohen Rate von Kindern in staatlichen Einrichtungen zu begegnen, ist die Entwicklung des Nationalen Aktionsplans für Kinderrechte von 2012 bis 2017. Dieses Dokument sieht vor, dass Kinder nicht einfach in staatliche Einrichtungen abgeschoben werden und dass die Anzahl der Kinder in staatlichen Einrichtungen reduziert wird. Diese und andere politische Maßnahmen legen jedoch zu wenig Augenmerk auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern mit Behinderung. Auch fehlen konkrete Pläne für die Umsetzung und die Überwachung der Maßnahmen.

Nun da die Regierung erkannt hat, dass die Unterbringung von Kindern in staatlichen Einrichtungen reduziert werden muss, müssen auch klare, durchführbare Pläne erstellt werden, wie dieses Ziel erreicht werden kann, so Human Rights Watch. Die Regierung soll die Kinder so unterstützen, dass sie bei ihren Familien bleiben können, oder, für Fälle, in denen dies nicht möglich ist, die Programme für Pflegschaft und Adoption ausweiten.  

Russland fehlt ein landesweites System, um Kinder mit Behinderung in Pflege- oder Adoptivfamilien unterzubringen. Zudem berichteten solche Familien von Hürden in ihren Gemeinden, wie etwa mangelnder Unterstützung und Angbrote für Bildung  und andere Leistungen. Die Familien berichteten auch von der negativen Einstellung von Regierungsbeamten.

Die russische Regierung soll einen zeitgebundenen Plan entwerfen, um die übermäßige Unterbringung von Kindern in Waisenhäusern zu beenden, so Human Rights Watch. Diese Unterbringung in staatlichen Einrichtungen soll nur eine kurzfristige Lösung sein, auf die nur unter klar bestimmten Umständen zurückgegriffen wird, die sie zur besten Option im Interesse des Kindes machen. Zudem muss die Unterbringung im Einklang mit internationalem Recht stehen. Die Regierung soll ferner soziale Unterstützung und andere Leistungen bereitstellen, um Familien zu helfen, Kinder mit Behinderungen zuhause aufwachsen zu lassen.

Internationale und nationale Geber sollen Mittel für Programme zur Verfügung stellen, die Kindern helfen, den Weg aus den Waisenhäusern in ein familiäres Umfeld zu finden. Ebenso sollen Programme unterstützt werden, die die Integration der Kinder in die Gemeinde fördern, darunter den Zugang zu Schulen und zu gesundheitlicher Versorgung.

„Solange die russische Regierung und die Geber nicht handeln, werden Zehntausende russische Kinder in vier Wänden leben, isoliert von ihren Familien, von ihrem Umfeld und anderen Kindern. Ihnen werden die Möglichkeiten versagt bleiben, die andere Kinder haben”, so Mazzarino. „Die russische Regierung kann viel mehr tun, um Eltern bei der Erziehung von Kindern mit Behinderung zu unterstützen, und diese nicht in staatliche Einrichtungen abschieben.“

Kategorien: Menschenrechte

Russland: Hürden für Menschen mit Behinderungen beseitigen

Mi, 27.05.2020 - 17:20

(Moskau) – Millionen von Menschen mit Behinderungen stehen in Russland noch immer vor erheblichen Barrieren, die sie an der gesellschaftlichen Teilhabe hindern, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Russland wird im März 2014, in genau 177 Tagen, die Paralympischen Winterspiele in Sotschi austragen.

Der 118-seitige Bericht „Barriers Everywhere: Lack of Accessibility for People with Disabilities in Russia beruht auf insgesamt 123 Interviews mit Menschen mit Behinderungen und deren Familien in sechs Städten in Russland. Es werden die Hürden dokumentiert, die Menschen mit Behinderungen im täglichen Leben überwinden müssen, sei es beim Zugang zu Behörden, Geschäften und Gesundheitseinrichtungen, zu ihrem Arbeitsplatz oder öffentlichen Verkehrsmitteln.

Offiziellen Statistiken zufolge leben mindestens 13 Millionen Menschen mit Behinderungen in Russland, das sind etwa neun Prozent der Bevölkerung.

„Die russische Regierung hat einige öffentlichkeitswirksame Maßnahmen zur Verbesserung der Barrierefreiheit ergriffen. Alltägliche Dinge hingegen, etwa der Weg zur Arbeitsstelle oder der Besuch beim Arzt, stellen für Menschen mit Behinderungen ein mühsames Unterfangen dar“, so Andrea Mazzarino, Researcher für Behindertenrechte in der Abteilung Europa und Zentralasien von Human Rights Watch. „Wenn die Regierung nicht handelt, bleiben Millionen Menschen mit Behinderungen aus der Gesellschaft ausgeschlossen.“

Russland hat das Übereinkommen der Vereinten Nationen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen 2012 ratifiziert. Die Behindertenrechtskonvention (BRK) verpflichtet die Regierung, einen gleichberechtigten Zugang zur physischen Umwelt und zu Diensten, die der Öffentlichkeit offenstehen oder für sie bereitgestellt werden, auch für Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten. Außerdem muss die Regierung sicherstellen, dass Menschen mit Behinderungen die gleichen Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben.

Human Rights Watch hat Menschen mit verschiedenen Arten von Behinderungen oder multiplen Behinderungen in Moskau, Sankt Petersburg, Ulan-Ude und Sotschi sowie in kleineren Städten in der Region Moskau und Leningrad befragt. In den Interviews gaben Männer, Frauen wie Kinder eine Reihe von Hindernissen an, mit denen sie zu kämpfen haben. So sind etwa Menschen mit körperlichen Behinderungen, die im Rollstuhl sitzen oder auf Krücken laufen, unter Umständen an ihr Zuhause gebunden oder in ihren Möglichkeiten, am Alltagsleben teilzunehmen, stark eingeschränkt: Aufzüge sind außer Betrieb oder existieren nicht oder Rampen zu öffentlichen und privaten Gebäuden, an Straßenkreuzungen oder Haltestellen sind zu steil, zu eng oder gar nicht erst vorhanden.

Blinde Menschen oder Menschen mit eingeschränkter Sehkraft haben mit fehlenden taktilen und reflektierenden Markierungen unter anderem auf Gehwegen und in öffentlichen Verkehrsmitteln zu kämpfen. Ein blinder Mann, der zwischen einem Moskauer Außenbezirk und der Innenstadt zur Arbeit pendelt, berichtete Human Rights Watch, dass er schon dreimal vom Bahnsteig gefallen ist, weil er die Bahnsteigkante nicht rechtzeitig erkannte. Einmal hat er sich dabei die Hand gebrochen.

Oft sind auch die Dienstleistungen im Gesundheitswesen für Menschen mit Behinderungen unzulänglich, weil es in ihren Gemeinden an Fachärzte mangelt, Untersuchungsgeräte für sie physisch nicht zugänglich sind oder weil das medizinische Personal nicht direkt mit ihnen sprechen will.

Menschen mit verschiedenen Arten von Behinderungen, einschließlich geistigen Behinderungen und psychosozialen Problemen, haben in Russland aufgrund von Diskriminierung durch die Arbeitgeber und wegen fehlender Chancengleichheit beim Zugang zu Bildung Schwierigkeiten, einen Job zu finden. In Moskau berichtete zum Beispiel die 28-jährige, sehbehinderte Yuliana, dass potenzielle Arbeitgeber ihre Bewerbung für die Stelle einer Schulpsychologin 2009 mit der Begründung ablehnten: „Sie sehen schlecht. Wie wollen Sie mit Kindern arbeiten?“ Statistiken der russischen Regierung zufolge sind 20 Prozent der Menschen mit Behinderungen, so wie sie von der Regierung definiert werden, arbeitslos. Das entspricht in etwa dem Niveau einiger anderer Länder in Europa.

Manche Menschen mit Behinderungen sind laut eigenen Aussagen mit einer Vielzahl von Hindernissen konfrontiert. Ein Aktivist für Behindertenrechte in Moskau, der selbst im Rollstuhl sitzt, meinte: „Bei Barrierefreiheit verhält es sich wie bei einer Kette. Wenn ein Glied nicht funktioniert, dann funktioniert das ganze Ding nicht.“

„Das russische Recht ist im Hinblick auf die Gewährleistung eines barrierefreien Zugangs unter anderem zu Wohnraum, Verkehrsmitteln, Rehabilitation und Information für Menschen mit Behinderungen eigentlich recht stark“, so Mazzarino. „Die Realität entspricht allerdings nicht der Rechtslage. Die russischen Behörden setzen die Gesetze zur Barrierefreiheit nicht um und unternehmen nichts, wenn Bürger mit Behinderungen auf ein Problem hinweisen.“

Im Anschluss an die Olympischen Winterspiele im Februar wird Russland vom 7. bis 16. März die Paralympischen Spiele 2014 in Sotschi am Schwarzen Meer ausrichten. Mehr als 1.300 Athleten mit Behinderungen werden in fünf Paralympischen Sportarten antreten: Ski Alpin, Biathlon, Skilanglauf, Sledge-Eishockey und Rollstuhlcurling.

Als die Sowjetunion 1980 Gastgeber der Olympischen Sommerspiele war, lehnte es eine Austragung der Paralympics damals mit der Begründung ab: „Es gibt in der UdSSR keine Behinderten.“

Russland hat sich als Gastgeber der Spiele verpflichtet, einen barrierefreien Zugang zu den Unterkünften für die Athleten, zu Sportstätten und anderen Einrichtungen zu gewährleisten und die Barrierefreiheit in der Stadt Sotschi zu erhöhen. Die Regierung kündigte an, mehr als hundert barrierefreie Busse bereitzustellen, Hunderte von Gebäuden an die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen anzupassen und Bushaltestellen mit Orientierungshilfen für Menschen mit sensorischen Behinderungen auszustatten. Durch die Paralympischen Spiele sollen auch der Austragungsort und das Austragungsland nachhaltig gefördert werden.

Human Rights Watch hat jedoch festgestellt, dass die Einwohner von Sotschi trotz all dieser Bemühungen im Grunde auf die gleichen Barrieren stoßen wie in anderen Städten: Menschen mit Behinderungen sind an ihr Zuhause gebunden, Autos werden widerrechtlich auf ausgewiesenen Stellflächen für Menschen mit Behinderung geparkt, Verkehrsmittel und öffentliche Einrichtungen sind oft nicht barrierefrei. Zudem werden Menschen mit Behinderungen immer noch diskriminiert.

Maria (Name geändert), eine 26-jährige Frau in Sotschi, die im Rollstuhl sitzt, ist über Monate an ihre kommunale Wohnung in der dritten Etage gebunden, weil es in dem Gebäude keine behindertengerechte Rampe und keinen funktionierenden Aufzug gibt. Sie kriecht von einem Zimmer zum anderen, weil der Flur in ihrer Wohnung zu eng für ihren Rollstuhl ist. Seit dem Jahr 2000 schreibt Maria immer wieder an die lokale Verwaltung mit der Bitte um Zuteilung einer barrierefreien Wohnung, die ihr aufgrund einer ärztlichen Verordnung von Staats wegen zusteht. Die Behörden antworteten, dass ein entsprechender Wohnraum nicht verfügbar sei.

„Mit der Austragung der Paralympics hilft Russland Athleten mit Behinderungen aus der ganzen Welt, ihr Potenzial und ihre Leistungen zu demonstrieren“, so Mazzarino. „Entscheidend ist nun, dass die Regierung auch die Grundrechte der eigenen Bürger mit Behinderungen sicherstellt, die weit weniger sichtbar sind. Denn oft wird ihnen schon die grundlegende Teilhabemöglichkeit an der Gesellschaft verweigert.“

Im Zuge der Implementierung der Behindertenrechtskonvention hat die Regierung ein mehrere Milliarden Rubel schweres Programm für ein barrierefreies Umfeld (2011–2015) in die Wege geleitet, in dessen Rahmen verschiedenen Regionen technische und finanzielle Ressourcen zur Verfügung gestellt werden, um Dienstleistungen und Infrastrukturen zugänglicher zu machen. Das Programm ist ein wichtiger Schritt zur Verbesserung der Barrierefreiheit, weist aber erhebliche Einschränkungen auf. Die Bedürfnisse von Menschen mit geistigen oder seelischen Behinderungen sind in dem Programm nicht ausdrücklich berücksichtigt. Zudem werden nur die Regionen unterstützt, die eigene Mittel für die Barrierefreiheit zu Verfügung stellen können.

Human Rights Watch fordert die russische Regierung nachdrücklich zur konsequenten Durchsetzung der föderalen Gesetze zur Barrierefreiheit auf, insbesondere durch Schulungen von Beamten auf lokaler Ebene, damit diese schnell und effektiv auf Bürgerklagen in Zusammenhang mit Barrierefreiheit reagieren können. Zudem soll Russland zur Bekämpfung von Diskriminierung Gesetzesänderungen verabschieden und der negativen Haltung der Öffentlichkeit gegenüber Menschen mit Behinderungen entgegenwirken, vor allem durch entschlossene öffentliche Stellungnahmen auf höchster Regierungsebene.

„Ein barrierefreies Umfeld ist nicht von heute auf morgen realisierbar“, so Mazzarino. „Aber die Regierung kann und soll sicherstellen, dass die Gesetze greifen und dass schnell und wirksam auf Klagen reagiert wird.“

Ausgewählte Aussagen aus dem Bericht:

„Die Rampe zu meinem Wohnhaus ist zu steil, sodass ich das Gebäude nicht verlassen kann. Die Lehrer meiner Tochter und die anderen Eltern glauben, sie sei ein Waisenkind, weil ich nicht für sie da sein kann.“

– Eine Frau mit körperlicher Behinderung in Ulan-Ude.

„Notfälle sind ein großes Problem. Man ist auf seine Verwandten angewiesen. Wer ruft den Notfalldienst an, wenn etwas passiert? Man kann ja keine SMS schicken. Ich war dort [bei der Stadtverwaltung] und sagte ihnen, dass sie einen SMS-Dienst bräuchten. Das war vor einem Jahr. Passiert ist nichts.“

– Ein Aktivist für Behindertenrechte mit Hörbehinderung in Ulan-Ude.

„Man muss auf sein Gedächtnis vertrauen, um zu wissen, wo man in einen Minibus [Marschrutka] ein- und aussteigt, weil die Haltestellen nicht angekündigt werden. Wenn ein Minibus an der falschen Stelle hält, ist man verloren.“

– Ein Mann mit eingeschränkter Sehkraft in Moskau.

„Es gibt keine staatlichen Stellen, die Menschen mit geistigen Behinderungen und Entwicklungsstörungen helfen, sich auf den Arbeitsmarkt vorzubereiten und einen Job zu finden.“

– Ein Aktivist für Behindertenrechte in Moskau.

„Das Problem mit diesem Gesetz ist, dass es keine Mechanismen zu seiner Umsetzung gibt.“

– Ein Aktivist für Behindertenrechte in Moskau zum föderalen Gesetz zur Barrierefreiheit.

Kategorien: Menschenrechte

China: Diskriminierung und Ausgrenzung von Kindern mit Behinderung beenden

Mi, 27.05.2020 - 17:20

(New York) – Kinder mit Behinderung stehen in China vor erheblichen Schwierigkeiten, wenn sie Zugang zu Bildung erhalten wollen. Ein erheblicher Anteil von ihnen erhält überhaupt keine Schulbildung, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Regierungsbestimmungen für das Hochschulwesen erlauben es Universitäten, Bewerber bzw. Studenten mit bestimmten körperlichen oder geistigen Behinderungen abzulehnen bzw. auszuschließen.

In China leben offiziellen Zahlen zufolge mindestens 83 Millionen Menschen mit Behinderung. Mehr als 40 Prozent von ihnen können weder lesen noch schreiben. Laut den Statistiken der Regierung besucht nahezu jedes Kind in China eine Grundschule. Dies gilt allerdings nicht für Kinder mit Behinderung, von denen 28 Prozent nicht die ihnen zustehende grundlegende Schulbildung erhalten.

Der 75-seitige Bericht „‘As Long as They Let Us Stay in Class’: Barriers to Education for Persons with Disabilities in China“ dokumentiert, wie schwer es für Kinder und Jugendliche mit Behinderung ist, eine gewöhnliche Schule in ihrem Wohnumfeld zu besuchen.

Der Human Rights Watch-Bericht stützt sich auf mehr als 60 Interviews, die vorwiegend mit Kindern und Jugendlichen mit Behinderung sowie mit deren Eltern geführt wurden. Zudem wurden offizielle Daten und Sachverständigenurteile zur chinesischen Bildungspolitik herangezogen. Die chinesische Regierung hat neue Bestimmungen und Regeln für den Bildungszugang von Menschen mit Behinderung eingeführt und versprochen, die Einschulungsrate unter Kindern mit Behinderung zu erhöhen, und ihnen verschiedenste Schulgebühren erlassen. Der Bericht zeigt dennoch, wie Schulen diesen Schülern die Aufnahme verweigern, sie zum Schulabbruch drängen oder ihnen keine angemessene Ausstattung zur Verfügung stellen, welche es ihnen ermöglichen würde, die mit ihrer Behinderung verbundenen Hindernisse zu überwinden.

„Kinder mit Behinderung haben wie alle anderen Kinder ein Recht darauf, ganz normal zur Schule zu gehen. Außerdem steht ihnen eine Förderung entsprechend ihrer besonderen Lernbedürfnisse zu“, so Sophie Richardson, China-Direktorin von Human Rights Watch. „Doch viele Schulen bieten ihnen nicht das, was sie brauchen, oder verweigern es ihnen schlichtweg.“

Mit der Ratifizierung des Übereinkommens über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (CRPD) machte die chinesische Regierung im Jahr 2008 einen wichtigen Schritt nach vorn. Die Konvention verpflichtet China, ein integratives Bildungssystem aufzubauen, in dem allgemeine Bildungseinrichtungen für Kinder mit Behinderung zugänglich sind und in dem alle Kinder gemeinsam lernen und spielen. Untersuchungen zufolge erzielen sowohl Kinder mit Behinderung als auch Kinder ohne Behinderung in einem integrativen Umfeld bessere Lernerfolge, insofern sie angemessen gefördert werden.

Aktuell dürfen Kinder mit Behinderung nur dann herkömmliche Schulen besuchen, wenn sie die „Fähigkeit zur Anpassung“ an die physischen Gegebenheiten und das Lernumfeld der Schule nachweisen können. Integration lässt sich zweifellos nicht über Nacht herstellen, doch der chinesischen Regierung fehlt eine klare und einheitliche Strategie zum Erreichen dieses Ziels. Zudem setzt sie nur geringe Mittel für die Integration von Schülern mit Behinderung in das etablierte Schulsystem ein.

Die Regierung ist verpflichtet, dafür zu sorgen, dass die Schulen allen Schülern mit Behinderung „angemessene Einrichtungen“ zur Verfügung stellen, um die Auswirkungen ihrer Einschränkungen auf den Lernerfolg so gering wie möglich zu halten. Ausnahmen sind nur zulässig, wenn solche Einrichtungen dem Staat erhebliche Schwierigkeiten oder Ausgaben verursachen würden. Human Rights Watch fand im allgemeinen Schulsystem jedoch wenig bis keine solchen Einrichtungen vor. Dies galt für alle Altersstufen. In einem Fall erklärten Eltern ausdrücklich, die Schule habe sie darüber informiert, dass – da ihr Kind sich in „einem normalen Umfeld“ befinde – es dem Kind obliege, sich anzupassen, und nicht die Schule. In einem anderen Fall erklärte eine Mutter, sie müsse ihr Kind täglich mehrmals eine Treppe hoch- bzw. heruntertragen, da sich Klassenzimmer und Toilette auf unterschiedlichen Etagen befänden. Teilweise ignorieren Lehrer Kinder mit Behinderung vollständig, da sie aufgrund ihrer mangelhaften oder fehlenden Ausbildung im Bereich der integrativen Erziehung nicht wissen, wie sie deren Bedürfnissen gerecht werden können.

Schüler mit Behinderung, denen es trotz dieser Hindernisse gelingt, weiterführende Schulen zu besuchen, stoßen dort auf weitere Erschwernisse. Gemäß offizieller Bestimmungen müssen Schüler sich medizinischen Untersuchungen unterziehen, deren Ergebnisse im Rahmen des Bewerbungsprozesses an Universitäten weitergeleitet werden. Die Richtlinien der Regierung gestatten es Universitäten zudem, die Aufnahme von Bewerbern mit bestimmten körperlichen oder geistigen Behinderungen zu begrenzen oder zu verweigern. So kann Bewerbern mit Sehbehinderungen etwa der Zugang zu rund einem Dutzend Studiengängen verwehrt werden – von Dutzend weiteren, etwa Jura oder Ökologie, wird ihnen abgeraten.

Obwohl Schüler mit Behinderung Zugang zu spezialisierten Schulen haben, die im Allgemeinen gut ausgestattet sind, bedeutet der Besuch dieser Schulen eine gesellschaftliche Ausgrenzung von Schülern mit Behinderung. Zudem verlangen sie in vielen Fällen, dass Kinder schon in sehr jungem Alter von ihren Familien getrennt werden. Die Schulen verfügen außerdem nur über ein begrenztes Bildungsangebot jenseits der unteren Mittelstufe.

Bei der Umsetzung eines integrativen Bildungsangebots tragen die Lehrer eine Schlüsselrolle. Dennoch gaben die meisten Befragten an, dass Lehrer an herkömmlichen Schulen ihre Unterrichtsmethoden nur in Ausnahmefällen an die Bedürfnisse von Kindern mit Behinderung anpassen.

Lehrer an chinesische Schulen erhalten kaum institutionelle Unterstützung: Trotz Klassengrößen von häufig 30 bis 60 Schülern, stehen ihnen keine Hilfskräfte zur Verfügung und sie erhalten keine Ausbildung in integrativer Unterrichtsgestaltung. Ihre Schulen erhalten wenig bis gar keine Finanzmittel für die Bereitstellung behindertengerechter Einrichtungen.

„In jedem Klassenzimmer sitzen Kinder mit unterschiedlichsten Lernpotenzialen zusammen. Ihre Lehrer müssen über die nötigen Qualifikationen verfügen, um sie alle zum Lernen zu ermuntern und in ihrer Entwicklung zu fördern“, so Richardson. „Schon eine Verbesserung der Lehrerausbildung könnte einiges dazu beitragen, dem Problem der Ausgrenzung entgegenzutreten.“

Der Bericht dokumentiert auch Versäumnisse auf Seiten der quasi-staatlichen Vereinigung Behinderter Menschen in China (CDPF) und des Bildungsministerium im Hinblick auf die Bekämpfung von Diskriminierung, die Bereitstellung einer angemessenen Ausstattung in gewöhnlichen Schulen und die Aufklärung von Eltern und Kindern mit Behinderungen über ihre Rechte und Optionen im Bildungssystem.

Human Rights Watch fordert die chinesische Regierung auf, eine klare Strategie für den Aufbau eines integrativen Bildungssystems zu entwickeln. Sie soll zudem die bestehenden Gesetze und Bestimmungen reformieren und in Übereinstimmungen mit China Verpflichtungen im Rahmen der CRPD bringen. Obwohl die 1994 eingeführten Bestimmungen für die Ausbildung von Menschen mit Behinderungen derzeit überarbeitet werden und der neue Entwurf einige Verbesserungen enthält, erfüllt er immer noch nicht die rechtlichen Verpflichtungen der Regierungen im Sinne der CRPD.

Human Rights Watch appelliert zudem an China, Richtlinien für angemessene Unterkünfte zu formulieren, die der CRPD entsprechen, und einen Monitoring-Mechanismus zu schaffen, der effektiv gegen Fällen von Diskriminierung vorgehen kann. Zudem soll die Regierung Eltern durch Informations- und Sensibilisierungsprogramme unterstützen, damit sie über die Rechte und Bildungsmöglichkeiten ihrer Kinder informiert sind.

„Der Aufbau eines integrativen Bildungssystems ist mehr als nur eine gesetzliche Verpflichtung“, so Richardson. „Er ist auch entscheidend für die Bekämpfung von Vorurteilen und Diskriminierung und zur Schaffung einer toleranten und einbeziehenden Gesellschaft.“

Kategorien: Menschenrechte

Südsudan: Willkürliche Verhaftungen, katastrophale Haftbedingungen

Mi, 27.05.2020 - 17:20

(Juba) – Unfaire Gerichtsverfahren, unrechtmäßige Haft und katastrophale Bedingungen in südsudanesischen Gefängnissen zeigen, dass der junge Staat dringend sein Justizsystem reformieren muss, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht.

Der 105-seitige Bericht „Prison Is Not for Me: Arbitrary Detention in South Sudan“ dokumentiert die Verletzung von Verfahrensrechten, systematischen und widerrechtlichen Freiheitsentzug und inakzeptabel harte Haftbedingungen. Er stützt sich auf Untersuchungen in einem Zeitraum von zehn Monaten vor und nach der Unabhängigkeit des Südsudan am 9. Juli 2011.

„Was Gefangene im Südsudan erleben, enthüllt massive Probleme im gerade entstehenden Justizsystem“, sagt Daniel Bekele, Leiter der Afrika-Abteilung von Human Rights Watch. „Der Südsudan ist ein neuer Staat. Er braucht dringend ein funktionierendes Rechtssystem, das die Menschenrechte und die Würde des Einzelnen schützt. Das ist die Grundlage für Rechtsstaatlichkeit und Verantwortlichkeit.“

Untersucht wurden 12 der 79 Gefängnisse, die sich in Regionen mit den größten Gefangenenzahlen befinden. Der Bericht stützt sich auf die Aussagen von mehr als 250 Insassen und zahlreichen Justizbeamte, Gefängnispersonal, Polizisten, Staatsanwählten und traditionellen Autoritäten.

Unzählige Menschenrechtsprobleme bestehen auf allen Ebenen des Justizsystems.

Ein Drittel der etwa 6.000 im Südsudan inhaftierten Menschen wurde nicht verurteilt. Zum Teil wird ihnen nicht einmal ein Verbrechen zur Last gelegt. Dennoch befinden sie sich über lange Zeit in Haft und warten darauf, dass Polizisten, Staatsanwälte und Richter ihre Fälle bearbeiten.

Die überwiegende Mehrheit der Häftlinge hat keinen Rechtsbeistand, weil sie sich keinen Anwalt leisten kann und kein funktionierendes Rechtshilfesystem existiert. Richter haben Menschen zu langen Gefängnisstrafen oder sogar zum Tod verurteilt, obwohl sie die Anklage ohne Unterstützung nicht verstehen konnten. Sie konnten auch keine Zeugen benennen, um sich zu verteidigen.

Das Strafrechtssystem frustriert und verwirrt die meisten Gefangenen. Ein männlicher Insasse, der wegen Mordes angeklagt ist, sagt: „Ich bin hier jetzt seit fünf Jahren […] und habe noch keinen Richter gesehen. Das Gericht hat den Fall noch nicht aufgerufen. Der Generalstaatsanwalt hat keine Ahnung von den Gesetzen. Die Polizei auch nicht.“

Im pluralen Rechtssystem des Südsudan bestehen neben offiziellen auch traditionelle Gerichte. Ob diese rechtsstaatliche Verfahren garantieren können, ist zweifelhaft. Ihre Vorsitzenden sind nicht juristisch ausgebildet und haben zahlreiche Menschen für Taten zu Gefängnisstrafen verurteilt, die im südsudanesischen Strafrecht keine Verbrechen darstellen. Zwar sind traditionelle Gerichte teilweise zugänglicher und effizienter als staatliche, aber ihre Rechtssprechungs- und Verurteilungskompetenzen sind nicht klar geregelt.

Vielen Häftlingen werden eheliche oder sexuelle Vergehen wie Ehebruch oder heimliche Heirat vorgeworfen. Dass diese Tatbestände im geschriebenen Recht und im Gewohnheitsrecht existieren, verletzt die international geschützten Rechte auf Privatsphäre und darauf, den Ehepartner selbst zu wählen. Andere Personen befinden sich auf unbestimmte Zeit in Haft, weil sie Rechnungen, gerichtlich festgesetzte Bußgelder oder Entschädigungen, häufig in Form einer bestimmten Anzahl Rinder, nicht begleichen können. Die meisten wissen nicht, wann sie entlassen werden.

Darüber hinaus wird einigen Menschen, die sich derzeit in Haft befinden, gar kein Verbrechen zur Last gelegt. Andere wurden an Stelle von Verwandten oder Freunden festgenommen. Etwa 90 Häftlinge sind nur deswegen im Gefängnis, weil sie anscheinend geistige Behinderungen haben. Die Menschen im Südsudan haben jahrzehntelang Kriegstraumata erlebt, aber das Land hat keine psychosozialen Einrichtungen. Personen mit psychischen Beeinträchtigungen werden kurzerhand in Gefängnisse gesteckt, weil sie nirgends die notwendige Behandlung erhalten.

„Viele südsudanesische Häftlinge sind rechtswidrigen Verhaftungen und Verfahren zum Opfer gefallen. Sie werden ohne jede Rechtsgrundlage festgehalten. Manche werden für Taten verurteilt, die schlicht und ergreifend nicht kriminalisiert werden dürfen, weil das in ihre Grundrechte und -freiheiten eingreift“, so Bekele. „Solche Verhaftungen sind nach dem Völkerrecht willkürlich - also illegal - und verletzen oft auch die Verfassung und Gesetze des Südsudan selbst.“

Katastrophale Zustände in den Gefängnissen verschlimmern die Lage derjenigen, die ungerechtfertigt in Haft sind. Die Infrastruktur in den Gefängnissen ist rudimentär, in manchen Fällen sogar völlig zerstört oder in Auflösung begriffen. Die Zellen sind unhygienisch, stark überfüllt und nicht ausreichend belüftet.

Die Gefangenen bekommen nicht genug zu essen, in manchen Gefängnissen auch nicht genug Wasser. Sie erkranken leicht, werden dann aber selten angemessen behandelt, wenn sie die Medikamente nicht selbst bezahlen können. Zehn Insassen des Gefängnisses in Aweil und mindestens fünf des Gefängnisses in Bentiu starben allein im vergangenen Jahr an behandelbaren Krankheiten.

Auch berichten Insassen, dass Gefängniswärter sie oft mit Stöcken oder Peitschen schlagen, um sie für Regelverstöße zu bestrafen. Manche werden dauerhaft mit schweren Ketten gefesselt. Dies verletzt nationale und internationale Standards für die Anwendung von Zwangsmitteln und stellt verbotene grausame, unmenschliche und erniedrigende Strafen dar.

In allen von Human Rights Watch besuchten Gefängnissen werden Kinder gemeinsam mit Erwachsenen festgehalten. Ihnen werden weder Rehabilitierungsprogramme noch ausreichende Bildungsmöglichkeiten angeboten, obwohl der südsudanesischen Child Act beides vorsieht.

Internationale Geber haben sich darauf konzentriert, Gefängnisse zu bauen. Sie müssen sich auch dafür einsetzen, die Haftbedingungen zu verbessern, und gewährleisten, dass die Einrichtungen Minimalstandards einhalten. Weiterhin ist ihre Unterstützung erforderlich, um Lebensmittel-Notrationen und Medikamente in ausreichender Menge anzuschaffen. Dieser Bedarf ist umso größer, seit die Regierung im Februar die Ölproduktion und den -export gestoppt und die Budgets aller Regierungsinstitutionen gekürzt hat.

Das Justiz- und das Innenministerium sowie die Judikative sollen unverzüglich die Akten aller Häftlinge überprüfen - und dabei von internationalen Organisationen und Gebern unterstützt werden. Sie müssen unrechtmäßig inhaftierte Personen identifizieren und alle entlassen, deren andauernde Haft nicht gerechtfertigt ist. Einzelfallprüfungen und eine bessere Zusammenarbeit innerhalb des Justizsektors können dazu beitragen, willkürliche Haft zu verhindern. Das würde auch die Anzahl der Gefangenen verringern und erfordert keine substantiellen Ausgaben.

Zusätzlich soll der Südsudan gewährleisten, dass sich Polizisten, Staatsanwälte und Richter ausreichend über Verfahrensgarantien und Standards für faire Verfahren weiterbilden. Die bestehenden Ausbildungsprogramme sind zu oberflächlich und sprechen einige der genannten Probleme nicht an. Die Regierung muss darüber hinaus ein funktionierendes Rechtshilfesystem einrichten. Auch dabei ist die Unterstützung von Gebern erforderlich.

Nur weitreichende Justiz- und Gesetzesreformen können die Haftzeit vor dem eigentlichen Verfahren begrenzen, die strafrechtlichen Kompetenzen von traditionellen Gerichten definieren und Haftstrafen für Ehebruch und Zahlungsverzug bei Schulden abschaffen. Auch die Haft von Menschen, die Anzeichen geistiger Behinderungen zeigen, muss unverzüglich beendet werden. Es ist dringend notwendig, dass Menschen mit psychischen Erkrankungen Zugang zu Behandlung erhalten.

„Menschen, die Verbrechen begehen, müssen rechtskräftig verurteilt werden“, sagt Bekele. „Aber Freiheitsentzug ist eine der härtesten Sanktionen, die eine Regierung über eine Person verhängen kann. Sie soll nur nach einem rechtsstaatlichen, fairen Verfahren angewandt werden, das dem südsudanesischen Recht und internationalen Menschenrechtsverpflichtungen entspricht.“
 

Kategorien: Menschenrechte

Peru: Behindertenrechte in der Wahlkabine

Mi, 27.05.2020 - 17:20

(Lima) – Peru soll massive Barrieren abbauen, die Menschen mit Behinderung daran hindern, ihr Wahlrecht und andere Bürgerrechte auszuüben. Wenn das Land die Hürden nicht beseitigt, unterminiert es seine Vorreiterrolle als einer der ersten Staaten, die im Jahr 2008 die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen ratifiziert haben.

Der 89-seitige Bericht„’I Want to be a Citizen Just Like Any Other‘: Barriers to Political Participation for People with Disabilities in Peru” dokumentiert das Ergebnis einer erst im vergangenen Oktober geänderten Politik, die Menschen mit sinnlichen, intellektuellen und psychosozialen Einschränkungen willkürlich ihr Wahlrecht verweigerte. Sie gelten als rechtlich unfähig, Wahlentscheidungen zu treffen. Der Bericht untersucht auch andere Barrieren, die Menschen mit diesen oder anderen Behinderungen davon abhalten, ihre politischen Rechte auszuüben. Etwa erhalten sie nur schwer die zum Wählen erforderlichen Ausweisdokumente. Darüber hinaus fehlt ein Unterstützungssystem, das Menschen mit Behinderung dabei hilft, Wahlentscheidungen zu treffen.

„Peruaner mit Behinderung sind nicht weniger Staatsbürger als alle anderen“, sagt Shantha Rau Barriga, Expertin für die Rechte behinderter Menschen bei Human Rights Watch. „Jeder Mensch hat das Recht zu wählen und an der Gesellschaft Teil zu haben. Das Rechtssystem und die Regierungspolitik müssen darauf ausgerichtet sein, dass alle die Unterstützung erhalten, die sie benötigen. Niemand darf willkürlich und grundlos ausgeschlossen werden.“

Der Bericht basiert auf Interviews mit mehr als 100 Personen mit Behinderung und ihren Familien sowie mit Angehörigen der peruanischen Regierung und Behindertenrechtlern.

Das System gesetzlicher Verbote, das Menschen unter Vormundschaft stellt, und öffentliche Register, in denen Menschen als „geistig behindert“ klassifiziert werden, führen zu Schwierigkeiten in nahezu allen Lebensbereichen. Dies kann dazu führen, dass die Betroffenen kein Konto eröffnen können, keine Arbeit finden, keine Immobilien besitzen oder erben können, nicht heiraten dürfen oder offizielle Dokumente im Namen ihrer Kinder nicht unterschreiben können.

Das peruanische Zivilgesetzbuch ermöglicht, dass eine Person mit bestimmten intellektuellen oder geistigen Behinderungen gerichtlich für unfähig erklärt wird, für sich und ihr Eigentum zu sorgen. In diesem Fall wird ein Vormund eingesetzt, der im Namen der Person handelt. Dieses Verfahren entzieht den Betroffenen de facto ihre Bürgerrechte.

Demgegenüber schreibt Artikel 12 der Behindertenrechtskonvention fest, dass Menschen mit Behinderung Rechts- und Handlungsfähigkeit in allen Lebensbereichen gleichberechtigt mit allen anderen genießen. Das Komitee, das die Umsetzung der Konvention beobachtet, hat die peruanische Regierung dazu aufgerufen, die Praxis gerichtlicher Verbote abzuschaffen.

„Ich habe das Recht zu wählen, ich habe das Recht zu arbeiten“, sagt Maria Alejandra Villanueva, eine führende Aktivistin der Peruanischen Vereinigung von Menschen mit Down-Syndrom. „Das entscheidet niemand anderes als ich selbst.“

Das Komitee zur Beseitigung aller Arten von Diskriminierung von Menschen mit Behinderung der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) hat seine Mitgliedstaaten, auch Peru, aufgefordert, die Rechtsfähigkeit aller, auch von Menschen mit Behinderungen, zu achten. Es schlägt vor, Verbote durch andere Praktiken wie unterstützte Entscheidungsfindung zu ersetzen.

In Peru gibt es kein institutionalisiertes System, das Menschen mit Behinderung dabei unterstützt, ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Deshalb lassen sich Angehörige als Vormunde einsetzen. Sie sehen innerhalb des bestehenden Rechtssystems keine andere Möglichkeit, den Besitz und die Interessen eines Familienmitglieds mit Behinderung zu wahren, etwa sein Recht auf eine Rente oder auf Sozialleistungen.

Auch physische und andere Barrieren stehen der Ausübung des Wahlrechts im Weg. Das peruanische Wahlgesetz sieht barrierefreie Wahleinrichtungen vor. Das wird jedoch nicht überall umgesetzt. Menschen mit Behinderung und Wahlbeobachter berichten, dass sehr viele Wahllokale unzugänglich sind.

Silvia, eine Frau mit einer körperlichen Beeinträchtigungen aus Punto, sagt: „Die Wahllokale sind nicht auf Menschen mit Behinderung ausgerichtet, nicht einmal auf Personen, die vor ein paar Tagen einen Unfall hatten. Sie befinden sich im zweiten und dritten Stock. Jemand im Rollstuhl kommt da nicht hin.“

Zudem wird berichtet, dass gesetzlich vorgeschriebene Stimmzettel in Blindenschrift zu den Kommunal- und Präsidentschaftswahlen in den Jahren 2010 und 2011 in einigen Wahllokalen nicht erhältlich waren. Einige Menschen mit Behinderung, die um Unterstützung beim Wählen gebeten haben, haben keine Hilfe bekommen.

Noch größere Schwierigkeiten zu wählen haben Menschen mit psychosozialen und intellektuellen Beeinträchtigungen. Die Regierung hat keine Wahlunterlagen erstellt, die ihre Beteiligung ermöglichen. Auch haben Beamte, zivilgesellschaftliche Organisationen und Bürger, die Wahlen durchführen oder beobachten, kaum Anhaltspunkte, wie sie gewährleisten können, dass diese Wähler die Wahllokale erreichen und ihre Stimme abgeben können.

„Die Regierung muss gewährleisten, dass das Wahlpersonal in der Lage ist, Menschen mit Behinderung zu unterstützen“, so Barriga. „Andernfalls bleiben Tausende Peruaner vom politischen Prozess ausgeschlossen.“

Um seinen völkerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen, soll der Kongress unverzüglich neue Gesetze beschließen, die mit der Behindertenrechtskonvention in Einklang sind. Darüber hinaus soll die Regierung wirksame Maßnahmen ergreifen, damit alle Menschen mit Behinderung gleiche Rechtsfähigkeit genießen. Insbesondere müssen das Zivilgesetzbuch angepasst und die Bürgerrechte von Personen unter Vormundschaft wiederhergestellt werden.

Außerdem sollen Ministerien und Behörden systematisch mit Menschen mit Behinderung und Organisationen, die sie repräsentieren, zusammenarbeiten, um neue Ansätze für unterstützte Entscheidungsfindung und die Umsetzung von Reformen zu entwickeln.

Im vergangenen Jahrzehnt hat Peru systematisch mehr als 23.000 Menschen mit intellektuellen oder psychosozialen Beeinträchtigungen aus dem Wählerverzeichnis ausgeschlossen. Diese Personen wurden ignoriert, weil sie entweder keinen für die Wahl erforderlichen Personalausweis erhalten oder Ausweise haben, die sie als „geistig behindert“ klassifizieren. Dadurch haben sie kein Recht zu wählen oder andere juristische, finanzielle oder sogar persönliche Entscheidungen zu treffen.

Nach jahrelangem Druck durch Behindertenrechtsorganisationen und die Intervention des Büros des Ombudsmanns hat das Nationale Register für Identifikation und Staatsbürgerschaft (RENIEC) im Oktober 2011 eine Resolution eingebracht, um diese Politik zu ändern. Die Regierungsbehörde, die für Wahlen zuständig ist, hat zugesichert, dass sie mit den relevanten Institutionen zusammenarbeiten wird, um die Probleme zu lösen.

Die internationale Zivilgesellschaft, Geberländer und Gremien der Vereinten Nationen, die in den Bereichen gute Regierungsführung, Einbezug der Zivilgesellschaft und Demokratieförderung in Peru aktiv sind, sollen Menschen mit Behinderungen in ihre Analysen einbeziehen und zu einem Schwerpunkt ihrer Arbeit machen.

„Die Regierung hat ihre Absicht erklärt, Menschen mit Behinderung alle Rechte zuzuerkennen“, sagt Barriga. „Jetzt muss sie durchgreifen, damit Peruaner mit Behinderung genau wie alle anderen ihre Bürgerrechte ausüben können.“

Kategorien: Menschenrechte