Human Rights Watch: LGBT-Rechte

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Letztes Update: vor 3 Jahre 39 Wochen

Libanon: Systematische Gewalt gegen Transfrauen beenden

Mi, 27.05.2020 - 04:20
September 3, 2019 Video Lebanon: End Systemic Discrimination Against Transgender Women

Transgender women in Lebanon face systemic violence and discrimination. Transgender women face discrimination in accessing basic services, including employment, healthcare, and housing, as well as violence from security forces and ordinary citizens. 

 

(Beirut) – Transfrauen sind im Libanon systematisch Gewalt und Diskriminierung ausgesetzt, so Human Rights Watch, Helem und MOSAIC in einem heute veröffentlichten Bericht und Video. Transfrauen werden vielfach diskriminiert, etwa beim Zugang zum Arbeitsmarkt, zur Gesundheitsversorgung und zu Wohnraum. Zudem erleben sie Gewalt durch Sicherheitskräfte und Mitbürger.

Für den 119-seitigen Bericht „‘Don’t Punish Me for Who I Am’: Systemic Discrimination Against Transgender Women in Lebanon“ befragte Human Rights Watch in Zusammenarbeit mit Helem und MOSAIC 50 Transfrauen im Libanon, davon 24 libanesische Transfrauen, 25 transgeschlechtliche Geflüchtete und Asylsuchende aus anderen arabischen Ländern und eine staatenlose Transfrau. Zudem sprachen die Organisationen mit Menschenrechtsaktivisten, Vertretern internationaler Organisationen, Anwälten, Wissenschaftlern und Gesundheitsexperten, die mit Transmenschen im Libanon arbeiten.

„Dieser wegweisende Bericht belegt die allgegenwärtige Gewalt gegen und Diskriminierung von Transfrauen im Libanon“, sagt Lama Fakih, Leiterin der Abteilung Mittlerer Osten und Nordafrika bei Human Rights Watch. „Transfrauen sind mit einer ignoranten und feindseligen Gesellschaft konfrontiert. Noch dazu erleben sie Gewalt und Misshandlung durch Sicherheitskräfte und Regierungsstellen, die sie und ihre Rechte schützen sollten.“

Der gesellschaftliche Ausschluss von Transmenschen wird dadurch verstärkt, dass es an Ressourcen für Angebote mangelt, die auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten sind. Außerdem ist es für sie sehr schwierig, Ausweisdokumente zu erhalten, die ihre Geschlechtsidentität und ihren Geschlechtsausdruck anerkennen. Transgeschlechtliche Geflüchtete, die ohnehin schon marginalisiert sind, erleben häufig noch massivere Diskriminierung.

Die Diskriminierung von Transfrauen beginnt zu Hause. Die Befragten berichten von häuslicher Gewalt, auch von körperlichen und sexualisierten Übergriffen, und davon, über lange Zeiträume und ohne Nahrung und Wasser in einen Raum eingesperrt worden zu sein. Viele Transfrauen wurden aus ihrem Zuhause vertrieben, die geflüchteten Frauen sogar aus ihrem Heimatland. Währenddessen haben viele das Gefühl, dass sie ihre Rechte nicht einfordern können. Es gibt im Libanon keine Zufluchtshäuser für Transfrauen in Not, so dass sie alleine auf dem informellen, teuren und oft diskriminierenden libanesischen Wohnungsmarkt eine Bleibe suchen müssen. Transfrauen werden häufig von ihren Vermietern, Mitbewohnern und Nachtbarn diskriminiert und von der Polizei auf Grund ihrer Geschlechtsidentität vertrieben.

Auch in der Öffentlichkeit fühlen sich viele Transfrauen nicht sicher. Sicherheitskräfte belästigen sie wegen ihres äußeren Erscheinungsbilds an Kontrollpunkten, verhaften sie oder werden gewalttätig, in einigen Fällen folterten sie die Frauen. Zwar ist es im libanesischen Recht nicht strafbar, trans zu sein, aber Artikel 534 des Strafgesetzbuches kriminalisiert „jede sexuelle Beziehung wider der Natur“ und wird regelmäßig gegen Transfrauen angewandt. Transmenschen werden auch häufig wegen Verstößen gegen die „öffentliche Moral“ oder wegen „Anstacheln zur Liederlichkeit“ verhaftet. Transfrauen, die auf Grund dieser Gesetzes verhaftet werden, werden in Männerzellen inhaftiert und zu Geständnissen gezwungen.

Darüber hinaus genießen Personen, die Transfrauen belästigen oder körperlich angreifen, Straflosigkeit. Viele Transfrauen müssen ihre Identität verstecken, um zu überleben. Eine Frau sagte, dass es sich „anfühlt als würde kochendes Wasser über mich gegossen“, wenn sie tagsüber durch Beirut geht.

Fast alle Befragten sagten, dass sie wegen ihres Erscheinungsbildes in Bewerbungsverfahren abgelehnt werden. Für transgeschlechtliche Flüchtlinge und Asylsuchende verschärft sich diese Diskriminierung noch, da sie keinen regulären Aufenthaltsstatus haben und daher nur eingeschränkt im Libanon arbeiten können.

Viele Transfrauen werden im Gesundheitswesen diskriminiert, etwa indem ihnen eine Behandlung auf Grund ihrer Geschlechtsidentität verweigert wird. Eine Frau berichtete: „Ich wurde sehr krank und musste ins Krankenhaus. Als ich dort ankam, erbrach ich Blut, aber sie weigerten sich, mich aufzunehmen, weil ich trans bin… Ich hätte vor der Krankenhaustür sterben können.“

Eine der größten Hürden beim Zugang zu grundlegenden Diensten ist, dass es für Transfrauen sehr schwierig ist, Ausweisdokumente mit dem richtigen Geschlechtseintrag zu bekommen. Im Libanon können Transmenschen ihren Namen und ihren Geschlechtseintrag in amtlichen Dokumenten nur mittels eines Gerichtsentscheids ändern lassen. Voraussetzung dafür ist in der Regel die Diagnose einer „Geschlechtsidentitätsstörung“ und eine geschlechtsangleichende Operation, die sehr teuer ist und die viele Frauen nicht durchführen lassen wollen. Zudem hält es viele Transfrauen davon ab, eine Entscheidung zu erwirken, dass die Gebühren sehr hoch sind, sie keine rechtliche Unterstützung bekommen und die Verfahren übermäßig lange dauern.

Im Januar 2016 entschied ein Berufungsgericht, dass ein Transmann seinen Namen und seinen Geschlechtseintrag ändern darf. Damit wurde ein früheres Urteil unter Berufung auf das Recht auf Privatsphäre in Artikel 17 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte aufgehoben. Das Gericht befand, dass eine geschlechtsangleichende Operation nicht die Voraussetzung für die Anerkennung der Geschlechtsidentität ist. Allerdings war dies kein rechtlich bindender Präzedenzfall.

Die libanesische Regierung soll unverzüglich die systematische Diskriminierung von und Gewalt gegen Transfrauen beenden. Die Sicherheitskräfte sollen Transfrauen nicht mehr auf Grund ihrer Geschlechtsidentität verhaften, sondern sie stattdessen vor Gewalt schützen, auch indem sie Gewalttäter zur Verantwortung ziehen. Die libanesische Regierung soll den Schutz vor Diskriminierung auf Grund der Geschlechtsidentität gesetzlich fixieren. Außerdem soll sie einen einfachen Verwaltungsprozess etablieren, der es Transmenschen ermöglicht, ihren Namen und Geschlechtseintrag auf Basis einer Selbsterklärung zu ändern, wie es in Ländern von Argentinien über Malta bis Pakistan gängige Praxis ist.

Geberländer und internationale Organisationen sollen Trans-Initiativen finanzieren, damit diese dringend erforderliche Dienste wie Gesundheitsversorgung und Rechtsberatung etablieren und dabei helfen können, dass Transfrauen selbst ein Einkommen erhalten. Auch Notunterkünfte für Transfrauen sollen überall im Land finanziert werden.

„Transfrauen müssen sich im Libanon verstecken, um zu überleben. Die Regierung kann nicht länger behaupten, nichts von der Gewalt und der Diskriminierung zu wissen, die sie erleben“, so Fakih. „Indem sie ihre Geschichten teilen, fordern Transfrauen die Regierung auf, sie wahrzunehmen. Zudem sollen sie gleichen Zugang zu einer Lebensgrundlage, Diensten und Schutz erhalten.“

Ausgewählte Zitate

Randa, eine 25-jährige Transfrau aus Syrien, berichtete, dass sie fünf Monate und fünf Tage lang im Gefängnis war, die meiste Zeit unterirdisch in Roumieh – „keine Sonne, keine Luft“ – nachdem Beamte der Inneren Sicherheit sie wegen „Sodomie“ verhaftet hatten:

Sie verhörten mich von Mitternacht bis 5 Uhr morgens. Sie schlugen mich ohne Pause und wollten mich dazu bringen, ihnen die Namen von anderen LGBT-Personen zu nennen. Sie gaben mir zehn Tage lang kaum Essen und Wasser. Ich durfte keinen Anwalt anrufen, es wurde mir auch keiner zugewiesen. Sie rasierten meine Haare ab. Sie fesselten mich an einen Stuhl, meine Hände banden sie hinter meinen Rücken. Jedes Mal, wenn ein Beamter mir eine Frage stellte und ich sagte, „ich weiß es nicht“, schlug er mir ins Gesicht. Ein anderer Beamter drückte seine Zigarette auf meinem Arm aus. Ich wurde in Haft krank, konnte kaum aufstehen und fragte nach einem Arzt. Sie sagten „lasst ihn verrotten und verrecken“. Nicht nur die Polizisten, auch andere Häftlinge belästigten mich. Sie beschimpften mich und beleidigten mich die ganze Zeit – sie bezeichneten mich als „die Schwuchtel“.

Transfrauen erleben Diskriminierung auf den Arbeitsmarkt, weil ihr Geschlechtsausdruck nicht zu dem Namen und dem Geschlechtseintrag in ihrem Ausweis passt. Die Hürden, die einer Änderung des Geschlechtseintrags in amtlichen Dokumenten im Weg stehen, verschärfen die wirtschaftliche Marginalisierung von Transfrauen. Elsa, 50, sagte:

Mein Problem ist mein Ausweis. Sie würden mich einstellen, weil ich wie eine Cisfrau [eine Frau, die sich als Frau identifiziert und der bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurden] aussehe. Niemand würde sich wundern, aber in meinem Ausweis steht „männlich“. Ich bewarb mich überall in Beirut auf Stellen im Einzelhandel und bekam oft gesagt, „okay, bringen Sie morgen ihre Papiere mit, dann können Sie anfangen“. Sobald sie meinen Ausweis sehen, machen sie einen Rückzieher. Wenn ich ihnen meine Situation erklären könnte, wäre das einfacher, aber niemand hier weiß oder akzeptiert, was es bedeutet, trans zu sein. Ich habe es viermal in Bourj Hammoud und zweimal in Dekweneh versucht. Für eine Frau in meinem Alter sind die Blamage und die Demütigung einfach zu viel.

Während Transfrauen kaum Zugang zu regulärer Beschäftigung haben, sind sie im informellen Sektor nicht vor unzulässiger Entlassung geschützt. Lola, eine 42-jährige, libanesische Transfrau berichtete:

Bei meiner letzten Stelle am Flughafen hatte ich sehr langes Haar, das ich aber auf dem Kopf zusammensteckte und eine Kappe darüber trug. Dennoch bestand mein Arbeitgeber darauf, dass ich sie komplett abschneide, und das konnte ich nicht, also feuerte er mich. Der Grund, den er mir nannte, war, dass das Sicherheitspersonal am Flughafen ein Problem damit hat, dass ich lange Haare habe. Und das nach drei Monaten, in denen ich jeden Tag um 5 Uhr morgens aufgestanden bin, um 6 Uhr bei der Arbeit war, bis 19 Uhr arbeitete und 400 € im Monat bekam. Das habe ich akzeptiert, um Arbeit zu haben und nicht auf der Straße leben zu müssen. Und dann entlässt er mich.

Im Libanon ist es für Transmenschen schwer, Ausweisdokumente zu bekommen, die ihrer Identität entsprechen. Diana, eine 27-jährige libanesische Transfrau sagte:

Ich warf meinen alten Ausweis in den Müll und beantragte einen neuen. Ich sagte, ich hätte ihn verloren. Ich musste wirklich ein Dutzendmal in meine Heimatstadt zum Mukhtar gehen, um sie dazu zu bringen, ein Foto von mir, wie ich heute aussehe, in den Ausweis zu machen. Ich wurde so massiv belästigt, sie sagten Dinge zu mir wie “warum siehst du so aus? Bist du kein Mann? Du bist ekelhaft“. Der Mukhtar sagte, er würde nicht einmal damit anfangen, mir einen Ausweis auszustellen, wenn ich mir nicht die Haare abschneide. Ich musste ihn bestechen. Nach monatelangem Herumrennen haben sie endlich ein aktuelles Foto von mir akzeptiert, aber mein Name ist immer noch der gleiche.

Lina, eine 28-jährige Transfrau aus dem Irak, sagte:

Namens- und Geschlechtseintragsänderungen sollten ganz normale Verfahren sein, für die man weder Anwalt noch Ärzte braucht. Ich muss niemanden „beweisen“, dass ich eine Frau bin, das ist einfach ein inneres Gefühl.

Kategorien: Menschenrechte

Myanmar: Frauen und Mädchen als „Bräute“ nach China verschleppt

Mi, 27.05.2020 - 04:20
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Junge Frau, die im Alter von 17 Jahren durch einen Freund ihrer Mutter Opfer von Menschenhandel wurde. Ihr wurde ein gut bezahlter Job mit Kindern versprochen, doch wurde sie dann als „Braut“ an eine Familie in China verkauft. Nach einigen Monaten konnte sie fliehen und kehrte nach Myanmar zurück.

© 2018 Human Rights Watch

(Rangun) – Die Regierungen in Myanmar und China haben bei der Bekämpfung des Menschenhandels von Frauen und Mädchen aus der Volksgruppe der Kachin versagt, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Frauen und Mädchen werden als „Bräute“ nach China verkauft.

Der 112-seitige Bericht „‘Give Us a Baby and We’ll Let You Go’: Trafficking of Kachin ‘Brides’ from Myanmar to China“ dokumentiert, wie die unmittelbar Betroffenen aus den myanmarischen Bundesstaaten Kachin und Shan als Sexsklavinnen nach China verkauft werden. Überlebende des Menschenhandels berichteten, ihnen nahe stehende Menschen, auch Familienmitglieder, hätten einen Arbeitsplatz in China versprochen und sie gegen Geldzahlungen von ungerechnet 3.000 bis 13.000 US-Dollar an chinesische Familien verkauft. In China werden die Betroffenen dann typischerweise in einem Zimmer eingesperrt und vergewaltigt, bis sie schwanger werden. März 21, 2019 Report “Give Us a Baby and We’ll Let You Go”

Trafficking of Kachin “Brides” from Myanmar to China

„Die Behörden in Myanmar und China schauen weg, während skrupellose Menschenhändler Mädchen und Frauen der Kachin in die Gefangenschaft verkaufen und entsetzlichem Missbrauch preisgeben“, so Heather Barr, geschäftsführende Co-Direktorin der Frauenrechtsabteilung von Human Rights Watch und Autorin des Berichts. „Das Fehlen einer Existenzgrundlage und grundlegender Rechte macht diese Frauen zu einer leichten Beute für Menschenhändler, die von den Strafvollzugsbehörden auf beiden Seiten der Grenze wenig zu befürchten haben.“

Der Bericht stützt sich in erster Linie auf die Befragung von 37 Opfern des Menschenhandels sowie Angehöriger dreier Opfer. Befragt wurden zudem myanmarische Regierungs- und Polizeibeamte, Mitglieder örtlicher Organisationen und weitere Personen.

Eine Frau aus der Volksgruppe der Kachin, die mit 16 Jahren von ihrer Schwägerin verkauft wurde, berichtete:

„Die Familie brachte mich in ein Zimmer. Dort fesselten sie mich wieder… Sie hielten die Tür verschlossen – ein oder zwei Monate lang. Zur Essenszeit brachten sie mir Mahlzeiten. Ich weinte… Jedes Mal wenn der chinesische Mann mir Essen brachte, vergewaltigte er mich.“

Überlebende berichteten, die chinesischen Familien schienen oft mehr daran interessiert, ein Baby zu bekommen als eine „Braut“. Nachdem sie ein Kind auf die Welt gebracht hatten, gelang einigen verschleppten Frauen und Mädchen die Flucht vor ihren Peinigern, meist jedoch um den Preis, ihr Kind zurückzulassen und die Hoffnung aufzugeben, es jemals wieder zu sehen. Nach der Rückkehr leiden die Überlebenden in Myanmar unter Traumatisierung und Stigmatisierung, während sie versuchen, sich ein neues Leben aufzubauen. Hilfsangebote für die Opfer des Menschenhandels sind rar und die wenigen Organisationen, welche die verzweifelt benötigte Unterstützung anbieten, sind mit den Bedürfnissen der Opfer überfordert.

Viele der von Human Rights Watch befragten Überlebenden des Menschenhandels stammten aus der Gruppe der über 100.000 Binnenvertriebenen, die vor den Kämpfen in den Bundesstaaten Kachin und Shan geflohen sind und in den Flüchtlingslagern ein verzweifeltes Dasein fristen. Die Regierung Myanmars blockiert fast alle humanitäre Hilfe für die Lager, die zum Teil unter der Kontrolle der oppositionellen Organisation für die Unabhängigkeit Kachins stehen. Da die Männer an den Kämpfen teilnehmen, sind Frauen dort oft die einzigen Ernährer. Dies lässt Frauen und Mädchen zu einer leichten Beute für Menschenhändler werden, die sie an chinesische Familien verkaufen, welche aufgrund des ungleichen Geschlechterverhältnisses infolge der Ein-Kind-Politik keine Bräute für ihre Söhne finden.

Der Frauenanteil in der chinesischen Bevölkerung ist seit 1987 stetig gefallen. In der Altersgruppe von 15 bis 29 klafft die Geschlechterlücke immer weiter auseinander. Forscher sprechen von schätzungsweise 30 bis 40 Millionen „verschollenen Frauen“, die heute auf der Welt sein sollten, jedoch wegen der Präferenz für männliche Nachkommen nie geboren wurden. Die Bevorzugung männlicher Nachkommen war eine Folge der von 1979 bis 2015 verfolgten Ein-Kind-Politik und der bis heute geltenden Einschränkungen der reproduktiven Rechte von Frauen in China.

Manche Familien reagieren auf den Mangel an heiratsfähigen Frauen, indem sie verschleppte Frauen oder Mädchen kaufen. Es ist schwierig, die Gesamtzahl der als Bräute nach China verkauften Frauen und Mädchen abzuschätzen. Die myanmarische Regierung meldete 226 Fälle im Jahr 2017. Nach Einschätzung von Experten ist die tatsächliche Zahl weitaus höher.

Die Recherchen von Human Rights Watch ergaben, dass die Strafvollzugsbehörden in China und Myanmar, auch jene der Organisation für die Unabhängigkeit Kachins, meist nichts unternehmen, um verschleppte Frauen und Mädchen zurückzuholen. Familien, die sich an die Polizei wandten, wurden wiederholt abgewiesen. Häufig sagte man ihnen, sie müssten bezahlen, bevor die Polizei etwas unternehme. Frauen und Mädchen, die fliehen konnten und zur chinesischen Polizei gingen, wurden mitunter nicht wie Opfer einer Straftat behandelt, sondern wegen Verstoßes gegen das Einwanderungsgesetz inhaftiert.

„Die Regierungen Chinas und Myanmars und die Organisation für die Unabhängigkeit Kachins müssen mehr tun, um den Menschenhandel zu stoppen, die Opfer zurückzuholen und zu unterstützen und den Menschenhändlern den Prozess zu machen“, so Barr. „Geberländer und internationale Organisationen sollten lokale Initiativen unterstützen, die die schwere Arbeit leisten, vor der die Regierung sich scheut: Verschleppte Frauen und Mädchen retten und ihnen beim Aufbau eines neuen Lebens helfen.“

Ein Interview mit Heather Barr über den Menschenhandel von Myanmar nach China finden Sie unter:
https://www.hrw.org/news/2019/03/21/interview-why-brides-myanmar-are-trafficked-china

Kategorien: Menschenrechte

Türkei: Ankara soll Verbot von LGBTI-Veranstaltungen aufheben

Mi, 27.05.2020 - 04:20

Februar 13, 2019 Video Video: LGBTI Events Banned in Turkey's Capital Ankara

The ban in Turkey's capital Ankara on public events focused on lesbian, gay, bisexual, transgender, and intersex (LGBTI) issues discriminates against LGBTI people and violates their fundamental rights, and should therefore be immediately lifted.

(Berlin) – Das Verbot öffentlicher Veranstaltungen zu lesbischen, schwulen, bisexuellen, Transgender- und Intersex-(LGBTI-)Themen in der türkischen Hauptstadt Ankara diskriminiert LGBTI-Personen und verletzt ihre grundlegenden Rechte. Es soll unverzüglich aufgehoben werden, so Human Rights Watch heute.

Das Verbot wurde ursprünglich während des Ausnahmezustands im November 2017 auf unbestimmte Zeit erlassen. Allerdings hat der Gouverneur von Ankara es auch nach Ende des Notstands im Juli 2018 nicht aufgehoben. Stattdessen informierte das Büro des Gouverneurs die Polizei und andere Behörden am 3. Oktober darüber, dass es in Kraft bleibe, und machte keine Angaben darüber, wann das Verbot aufgehoben wird. Zudem wurde es auf alle Arten von LGBTI-Veranstaltungen ausgeweitet, nicht mehr nur auf solche, die von LGBTI-Bündnissen organisiert werden.

Sämtliche öffentliche Diskussionen über Themen mit LGBTI-Bezug sind in der Provinz Ankara verboten. Aufklappen

Hunderte Menschen beim Campus Pride March am 1. Mai an der Middle East Technical University, die gegen das Verbot von öffentlichen LGBTI-Veranstaltungen durch den Gouverneur in Ankara demonstrieren.

© 2018 Yıldız Tar, Kaos GL

„Der Gouverneur von Ankara soll das Verbot öffentlicher Veranstaltungen der LGBTI-Community und ihrer Unterstützer sofort beenden“, so Hugh Williamson, Leiter der Abteilung Europa und Zentralasien bei Human Rights Watch. „Die Behörden in Ankara sind dazu verpflichtet, die Rechte von LGBTI-Gruppen zu schützen. Derartig willkürliche Verbote zu verhängen ist ein schockierender Versuch, LGBTI-Personen noch stärker zu stigmatisieren und zu marginalisieren, als sie es ohnehin schon sind:“

Am 18. November 2017 verbot der Gouverneur von Ankara die Aktivitäten zahlreicher zivilgesellschaftlicher Gruppen, die unter dem expliziten Motto LGBTT (lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle Menschen oder Transvestiten) und LGBTI (lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle oder intersexuelle Menschen) stehen. Dazu zählen „Filme und andere Vorführungen, Theaterstücke, Diskussionsrunden, Gespräche, Ausstellungen etc., die bestimmte gesellschaftliche Sensibilitäten und Empfindlichkeiten berühren“. Es ist das einzige derartige Verbot in der Türkei.

Die angeblichen Gründe für das Verbot sind „gesellschaftliche Sensibilitäten“, das Risiko, dass LGBTI-Veranstaltungen „Hass und Feindseligkeit“ auslösen könnten, sowie eine „klare und unmittelbare Bedrohung der öffentlichen Sicherheit“. Daher sei ein Verbot erforderlich, um „Verbrechen zu verhindern“, „die öffentliche Gesundheit und Moral zu schützen“ und die „Rechte und Freiheiten Dritter zu wahren“. Solche Behauptungen sind haltlos. Sie reflektieren Vorurteile und Voreingenommenheit gegenüber LGBTI-Personen und können nicht als legitime Zwecke oder Begründungen für ein Verbot herangezogen werden, das völkerrechtlichen Bestimmungen stand hält.

Am 21. Januar 2019 schrieb Human Rights Watch an den Gouverneur von Ankara, mit der Bitte um eine Stellungnahme zu dem andauernden Verbot. Bei Veröffentlichung der Pressemitteilung gab es dazu jedoch noch keine Antwort.

Die türkische Regierung hat während des Ausnahmezustands unterschiedliche öffentliche Versammlungen verboten. Doch ein absolutes und augenscheinlich zeitlich unbegrenztes Verbot ist einzigartig.

LGBTI-Organisationen berichteten von einer LGBTI-feindlichen Kampagne auf Twitter im Vorfeld des Verbotes, die sich gegen eine Filmvorführung in Ankara richtete. Diese hatten die deutsche Botschaft und die Pink Life LGBTT Solidarity Association (Pink Life) organisiert, eine Gruppe, die sich für die Rechte von Trans-Menschen einsetzt. Eine Woche später kritisierte Präsident Recep Tayyip Erdoğan die Republikanische Volkspartei, die größte Oppositionspartei im türkischen Parlament, weil diese beschlossenen hatte, auch LGBTI-Kandidaten in einer lokalen Gemeinde aufzustellen. Er bezeichnete dies als unmoralisch, erschreckend und eine Kriegserklärung an die nationalen Werte.

Das Büro des Gouverneurs von Ankara gibt an, die Entscheidung für das Verbot sei gefallen, nachdem durch soziale und Print-Medien bekannt geworden sei, dass LGBTI-Gruppen zahlreiche Veranstaltungen planten, darunter Filmvorführungen und Diskussionsveranstaltungen. Das Büro verweist auf das Gesetz über die Provinzverwaltung, das Gesetz über Versammlungen und öffentliche Demonstrationen und das Notstandsrecht als Rechtsgrundlagen des Verbotes.

Artikel 11/c des Gesetzes über die Provinzverwaltung sieht vor, dass der Gouverneur „Frieden und Sicherheit“ in der Provinz erhalten muss. Artikel 17 des Gesetzes über Versammlungen und öffentliche Demonstrationen erlaubt es dem Gouverneur, öffentliche Versammlungen einen Monat lang auszusetzen, um die nationale Sicherheit, die öffentliche Ordnung, die öffentliche Gesundheit und die öffentliche Moral zu wahren oder um die Rechte und Freiheiten Dritter zu schützen. Unter dem Gesetz ist der Gouverneur ermächtig, Versammlungen vollständig zu verbieten, sofern die „unmittelbare Gefahr“ besteht, dass ein Verbrechen verübt wird. Unter Artikel 11/f des Notstandsrechts können Rundfunksendungen aller Art verboten werden, um die allgemeine Sicherheit, Recht und Ordnung und öffentliche Ordnung zu schützen sowie um Gewalt zu verhindern.

Das Büro des Gouverneurs hat nicht erläutert, warum Veranstaltungen zu LGBTI-Themen eine unmittelbare Gefahr darstellen, die das Verbot rechtfertigen könnte.

Aktivisten erfuhren von der Verlängerung des Verbots im Oktober 2018 erst, als die Studentenorganisation Middle East Technical University (METU) LGBTI+ Solidarity ihre erste Veranstaltung im neuen Semester auf den 9. Oktober legte. Die Universitätsverwaltung informierte die Gruppe darüber, dass sie die Veranstaltung wegen des andauernden Verbotes nicht durchführen könne.

Sprecher von LGBTI-Organisationen berichten, dass das Verbot die Marginalisierung und Stigmatisierung von LGBTI-Menschen verschärft und diese Angriffen aussetzt. Das Verbot stellt LGBTI-Menschen als Verbrecher und als Gefahr für gesellschaftliche Werte dar, wodurch sie isoliert werden. Die Sprecher kritisieren weiter, dass ihnen das Verbot Räume nimmt, in denen sie jüngere Menschen erreichen können. Zudem könnten sie nun nicht mehr ihr Wissen über öffentliche Institutionen teilen und in Zusammenarbeit mit lokalen Behörden auf Veränderungen hinarbeiten.

Das Verbot in der Provinz Ankara verletzt die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Türkei, das Recht auf gleiche Behandlung vor dem Gesetz zu achten und zu schützen, sowie die Meinungs- und Versammlungsfreiheit, die auch in der türkischen Verfassung geschützt sind. Als Mitgliedstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention ist die Türkei dazu verpflichtet, die erforderlichen Maßnahmen dafür zu ergreifen, dass friedliche Versammlungen durchgeführt werden können. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat ausnahmslos in Dutzenden Fällen geurteilt, dass Verbote von LGBTI-Demonstrationen die Menschenrechtskonvention verletzen, egal ob diese mit moralischen, gesundheitlichen oder sicherheitspolitischen Begründungen erlassen werden. Mit Bezug auf Gesetze, die wie das Verbot in Ankara öffentliche Diskussionen über LGBTI-Themen verhindern sollen, sagte das Gericht, dass „die Behörden vor allem mit solchen Gesetzen Stigmata und Vorurteile verschärfe und zu Homophobie ermutige. Das ist nicht zu vereinbaren mit den Werten Gleichheit, Pluralität und Toleranz, auf denen eine demokratische Gesellschaft beruht.“

Als Mitglied des Europarates soll sich die Türkei an dessen Standards zur Bekämpfung von Diskriminierung auf Grund der sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität halten. Rechts- und Verwaltungsvorschriften sollen nicht mit Verweis auf die öffentliche Gesundheit, Moral oder Ordnung missbraucht werden, um ungerechtfertigte Einschränkungen der Meinungs- und Versammlungsfreiheit durchzusetzen. In einem Schreiben an die türkische Regierung im September 2018 äußerten fünf UN-Menschenrechtsexperten „ihre ernsthafte Sorge über das jüngste, zeitlich unbeschränkte Verbot von öffentlichen LGBTI-Treffen oder Veranstaltungen in Ankara.“ In ihrer Antwort betonten die türkischen Behörden, dass sie in Übereinstimmung handelten mit nationalem Gesetz und internationalen Abkommen, an welche die Türkei gebunden sei.

„Gewaltlose Veranstaltungen auf Grund von haltlosen Behauptungen zu verbieten und Bürger in den Augen der ganzen Gesellschaft zu kriminalisieren, dies ist nicht das Vorgehen eines Staates, das die Menschenrechte achtet. Das führt zu nichts außer dazu, LGBTI-Organisationen, die völlig legal im ganzen Land arbeiten, weiter einzuschüchtern“, so Williamson. „Jede Person hat das Recht, sich friedlich mit anderen zusammenzuschließen und zu versammeln, unabhängig von ihrer Geschlechtsidentität oder sexuellen Orientierung.“

Kategorien: Menschenrechte

Russland: Gesetz über „homosexuelle Propaganda“ gefährdet Minderjährige

Mi, 27.05.2020 - 04:20
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Der russische Blogger, Zhenya Svetski, mit einem Regenbogen-Schal in Moskau, Dezember 2018. 

© 2018 Dmitry Belyakov für Human Rights Watch

(New York) – Russlands Gesetz über „homosexuelle Propaganda“ hat negative Auswirkungen auf jugendliche Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT), so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Das Gesetz aus dem Jahr 2013 verstärkte die ohnehin seit langem bestehende Feindseligkeit gegenüber LGBT in Russland. Es blockierte zudem den Zugang zu Aufklärungs- und Hilfsangeboten. Dies hatte schädliche Auswirkungen auf Minderjährige.

Der 92-seitige Bericht „No Support: Russia’s ‘Gay Propaganda’ Law Imperils LGBT Youth“ dokumentiert die zutiefst schädlichen Auswirkungen von Russlands Gesetz über „homosexuelle Propaganda“ auf Minderjährige. Human Rights Watch befragte jugendliche LGBT und psychologische Fachkräfte an verschiedenen Orten in ganz Russland, sowohl in ländlichen als auch in urbanen Gebieten.Die Jugendlichen sprachen über alltäglichen Erfahrungen in der Schule, Zuhause und in der Öffentlichkeit und inwiefern sie Zugang zu verlässlichen und zutreffenden Informationen über sich selbst sowie zu Beratungs- und Hilfsangeboten hatten.

„Russlands Gesetz über ‚homosexuelle Propaganda‘ schadet Jugendlichen, indem es ihnen lebenswichtige Informationen vorenthält“, so Michael Garcia Bochenek, Senior Counsel in der Kinderrechtsabteilung von Human Rights Watch. „In der russischen Gesellschaft treffen LGBT bereits auf starker Feindseligkeiten. Das Gesetz verhindert jedoch zusätzlich, dass Jugendliche, die Fragen zu ihrer sexuellen Orientierung und Genderidentität haben, durch psychologische Beratungsangebote unterstützt werden.“

Das Gesetz hat formal zum Ziel „Kinder vor Informationen zu schützen, welche die Ablehnung traditioneller Familienwerte fördern“ und verbietet „Propaganda für nicht-traditionelle sexuelle Beziehungen unter Minderjährigen“. Dies wird allgemein als Verbot der Aufklärung von Minderjährigen über die Lebensrealität von LGBT aufgefasst. Das Verbot erstreckt sich unter anderem auf die Verbreitung solcher Informationen über Presse, Fernsehen, Radio und Internet.

Das Gesetz schadet Kindern unmittelbar, indem es ihnen den Zugang zu grundlegenden Informationen verwehrt und der Stigmatisierung von minderjährigen LGBT und ihren Familien Vorschub leistet.

Die Bestimmung aus dem Jahr 2013 hat zu einer Zunahme der Stigmatisierung, Belästigung und Gewalt gegen LGBT-Personen in Russland beigetragen. Es wurde eingesetzt, um Aufklärungsangebote und die Vermittlung psychologischer Angebote für Minderjährige zu unterbinden. Zudem wurden Hilfsorganisationen und psychologische Fachkräfte mithilfe des Gesetzes dazu bewegt, nicht mehr mit Minderjährigen zu arbeiten. Das Gesetz hat der Ablehnung von LGBT-Personen Vorschub geleistet und eine abschreckende Wirkung auf psychologische Gesundheitsfachkräfte entfaltet, die mit jugendlichen LGBT arbeiten. Einige Psychologen berichten über Selbstzensur bei Themen der sexuellen Orientierung und Genderidentität.

Russlands Gesetz gegen „homosexuelle Propaganda“ ist ein klassisches Beispiel für politisch-motivierte Homophobie. Mit der Bestimmung geht die Regierung gegen schutzlose Minderheiten im Hinblick auf sexuelle Orientierung und Gender vor, um sich politische Vorteile zu verschaffen. Mit der Unterzeichnung des Bundesgesetzes im Juni 2013 appellierte Präsident Wladimir Putin an die weit verbreitete Abneigung gegenüber Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender. Durch die Novelle stützte der russische Staat die unzutreffende und diskriminierende Ansicht, LGBT bedrohten Tradition und Familie. Auf der internationalen Bühne trug das Gesetz dazu bei, Russland als Verfechter sogenannter „traditioneller Werte“ zu positionieren.

„Niemand möchte auf der Straße verprügelt werden. Doch mit dieser Angst müssten LGBT-Personen in Russland heute leben“, so Nikita R., ein 18-jähriger Trandsgendermann, gegenüber Human Rights Watch. „Wir wissen, dass die meisten Menschen den Massenmedien glauben. Dort werden wir als Monster dargesetellt. Deshalb sind wir permanent in Gefahr.“

Das Gesetz wurde wiederholt eingesetzt, um Deti-404 („Kinder-404“) abzuschalten, eine Online-Gruppe, die psychologische Unterstützung, Beratung und eine geschützte Community für minderjährige LGBT anbietet. Zu den Nutzern der Gruppe gehören auch Minderjährige, die aufgrund ihrer tatsächlichen oder empfundenen sexuellen Orientierung oder Genderidentität Gewalt und Aggression erfahren haben. Das Gesetz hatte heimtückische Auswirkungen auf die psychologische Praxis und das klinische Umfeld. Psychologische Fachkräfte erklärten gegenüber Human Rights Watch, das Gesetz beeinträchtige ihre Fähigkeit, ehrliche, wissenschaftlich korrekte und offene Beratungen anzubieten. Einige von ihnen sahen sich deshalb veranlasst, eine Selbstzensur vorzunehmen oder vor Beginn ihrer Sitzungen eindeutige Verzichtserklärungen abzugeben.

Während der Verhandlungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte über das Gesetz legte Dr. Ilan Meyer, ein international anerkannter Experte für Sozialpsychologie und Gesundheitswesen, spezialisiert auf Minderheiten, dem Gericht eine Sachverständigenaussage vor, wonach die Bestimmung Jugendliche nicht schützt, sondern ihnen vielmehr schadet.

„Sollte Russland tatsächlich die Gesundheit und das Wohlergehen seiner Bürger verbessern wollen, wären Maßnahmen notwendig, die das genaue Gegenteil des Propagandagesetzes sind“, so Meyer.

„Darüber hinaus können Gesetze wie das russische Propagandagesetz schwerwiegende negative Auswirkungen auf die Gesundheit und das Wohlergehen [von LGBT] zur Folge haben, da das Gesetz Stigma und Vorurteile verankert, was zu Diskriminierung und Gewalt führt.“

Das Gericht urteilte im Jahr 2017, Russlands Gesetz verletze die Rechte auf freie Meinungsäußerung und auf Freiheit von Diskriminierung, welche durch die Europäische Menschenrechtskonvention geschützt sind. Zudem sei die Bestimmung schädlich für Kinder.

Im Gespräch mit Human Rights Watch erklärte eine Psychologin die mit jugendlichen LGBT arbeitet, fast jeder Klient, den sie je gehabt habe, werde „behandelt wie ein Sündenbock, Clown oder Aussätziger“. Angesichts dieser intensiven gesellschaftlichen Feindseligkeit gegenüber LGBT-Personen, sind psychologische Hilfsangebote für Jugendliche äußerst wichtig.

Das Gesetz über „homosexuelle Propaganda“ schränkt psychologische Fachkräfte in ihrer Fähigkeit zu helfen ein. Ein anderer Psychologe erklärte, er fühle sich selbst in Situationen, in denen die Thematisierung der sexuellen Orientierung eines minderjährigen Klienten klinisch relevant sei, durch das Gesetz eingeschränkt: „Teenager warten oft darauf, dass ich ihnen einen direkte und präzise Frage über ihre sexuelle Orientierung oder Genderidentität stelle. Doch das Gesetz verbietet mir, dies zu tun.“ Eine Berufskollegin gab an, sie verstecke während ihrer Therapiesitzungen alle Bücher zu LGBT-Themen in ihrem Büro, um dem Vorwurf zuvorzukommen, sie verbreite „homosexuelle Propaganda“.

„Das Gesetz über ‚homosexuelle Propaganda‘ droht Generationen russischer Jugendlicher nachhaltig zu schaden, indem es Diskriminierung fördert und den Zugang zu Hilfsangeboten einschränkt“, so Bochenek. „Dieses Gesetz schützt niemanden, doch es schneidet Jugendliche von den Angeboten ab, die sie für ein erfolgreiches Leben bzw. zum nackten Überleben brauchen.“
 

Kategorien: Menschenrechte

Indonesien: Hartes Vorgehen gegen LGBT verschärft Gesundheitskrise

Mi, 27.05.2020 - 04:20
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Polizisten bewachen den Eingang zum Club T1 am 9. Oktober 2017 in Jakarta nach einer Razzia, bei der zehn Personen wegen angeblicher Verletzung des Anti-Pornographie-Gesetzes verhaftet worden waren.

© 2017 Beawiharta/Reuters

Die indonesischen Behörden befeuern die HIV-Epidemie, weil sie sich an der Diskriminierung lesbischer, schwuler, bisexueller und Trans-Personen (LGBT) beteiligen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die Regierung lässt zu, dass die Polizei und militante Islamisten willkürliche und rechtswidrige Razzien bei privaten LGBT-Versammlungen durchführen. Viele Maßnahmen der Gesundheitsfürsorge erreichen deshalb verletzliche Gruppe nicht.

Der 70-seitige Bericht „‘Scared in Public and Now No Privacy’: Human Rights and Public Health Impacts of Indonesia’s Anti-LGBT Moral Panic“ dokumentiert, wie Hass-Rhetorik den Weg ebnet für rechtswidrige Handlungen der indonesischen Behörden gegen mutmaßliche LGBT – teilweise in Zusammenarbeit mit militanten islamistischen Gruppen. Auf Grundlage von ausführlichen Interviews mit Opfern und Zeugen, Angestellten im Gesundheitswesen und Aktivisten aktualisiert der Bericht eine im August 2016 veröffentlichte Analyse. Diese dokumentierte einen deutlichen Anstieg von Angriffen auf und öffentlicher Rede gegen LGBT in Indonesien in diesem Jahr. Der jetzt veröffentlichte Bericht untersucht zentrale Vorfälle zwischen November 2016 und Juni 2018. Er zeigt, wie weitreichend die Folgen der „moralischen Panik“ vor LGBT für das Leben von Angehörigen sexueller und Gender-Minderheiten sowie für das Gesundheitswesen im Land sind.

„Dass die indonesische Regierung nichts gegen die moralische Panik vor LGBT tut, hat schwere Konsequenzen für das Gesundheitswesen“, sagt Kyle Knight, Experte für LGBT-Rechte bei Human Rights Watch und Autor des Berichts. „Die Regierung muss erkennen, dass es ihren Kampf gegen HIV unterminiert, wenn sie sich an Menschenrechtsverletzungen gegen LGBT beteiligt.“

Seit Anfang des Jahres 2016 äußern sich Politiker, Regierungsangehörige und staatliche Stellen vermehrt LGBT-feindlich. Sie fordern alles: von der Kriminalisierung über die „Heilung“ von Homosexualität bis zur Zensur von Informationen mit LGBT-Bezug oder positiven Berichten über Aktivitäten von LGBT.

Die Maßnahmen der Regierung gegen die HIV-Epidemie in Indonesien haben in den vergangenen Jahrzehnten dazu beigetragen, dass die Zahl der Neuinfektionen zurückging. Allerdings führen die weitverbreitete Stigmatisierung und Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen mit höherem Infektionsrisiko sowie von HIV-positiven Menschen dazu, dass einige Angehörige von Risikogruppen sich nicht mehr trauen, Präventions- oder Behandlungsleistungen in Anspruch zu nehmen. Im Ergebnis ist die HIV-Rate unter Männern, die Sex mit Männern haben, seit dem Jahr 2007 um das Fünffache gestiegen, von 5 Prozent auf 25 Prozent. Zwar geht die Mehrzahl von Neuinfektionen mit HIV in Indonesien auf heterosexuelle Übertragung zurück, aber ein Drittel auf Übertragung von Mann zu Mann.

Die LGBT-feindliche, moralische Panik und die rechtswidrigen Polizeirazzien machen es für das Gesundheitswesen sehr schwer, die wichtigste Risikogruppe zu erreichen, und befördern so eine weitere Verbreitung des Virus.

Über das ganze Jahr 2017 hinweg führte die indonesische Polizei Razzien in Saunas, Clubs, Hotelzimmern, Friseursalons und Privatwohnungen durch, wenn der Verdacht bestand, in ihnen hielten sich LGBT auf. Insgesamt nahm die Polizei im Jahr 2017 mindestens 300 Personen allein wegen ihrer angenommenen sexuellen Orientierung oder Geschlechtsidentität in Gewahrsam – eine deutliche Zunahme im Vergleich zu den Vorjahren und die höchste jemals im Land dokumentierte Zahl.

Nigrat L., eine 47-jährige Trans-Frau und Sozialarbeiterin in der Community in Jakarta, sagt: „Gewalt wird es immer geben – sie hat uns immer begleitet. Das ist einfach ein Teil unseres Lebens. Es ist normal. Für uns heißt das, dass wir an manchen Tagen Pech haben, vielleicht auch morgen. Oder es wird morgen besser.“

Vor den Razzien überwachte die Polizei zum Teil Nutzerprofile in sozialen Netzwerken, um Veranstaltungsorte zu identifizieren. Bei einigen Razzien präsentierten Polizisten den Medien nackt ausgezogene Gefangene, demütigten diese öffentlich oder zeigten Kondome als Beweis für illegales Verhalten. Drei Polizeirazzien im Jahr 2017 führten zur Schließung von wichtigen HIV-Beratungsstellen, in denen Sozialarbeiter regelmäßig Männer, die Sex mit Männer haben, berieten, Kondome verteilten und freiwillige HIV-Tests durchführten. Bei mindestens zwei der medial intensiv begleiteten Razzien, einer in Surabaya und einer in West Java, benutzten Polizisten Kondome, um ihre Gefangenen in den Medien bloßzustellen und zu demütigen.

„Es ist erschütternd, dass diese Clubs geschlossen wurden – das waren die einzigen Orte, an denen wir die Community erreichen konnten“, sagt ein Sozialarbeiter in Jakarta. „Clubs waren für uns zentrale Orte, weil wir wussten, dass sich sogar die sehr im Verborgenen lebenden Männer dort mit ihrer Sexualität sicher fühlten. Dort konnten wir HIV-Tests machen und Kondome ausgeben und sie trauten sich, mitzumachen.“ Ein anderer Sozialarbeitet fügt hinzu, dass ihm „immer mehr schwule Männer begegnen, die sich erst dann Hilfe suchen oder überhaupt anfangen, Fragen über HIV zu stellen, wenn sie schon schwer krank sind“.

Im Dezember 2017 wies das indonesische Verfassungsgericht eine Petition zurück, mit der erreicht werden sollte, außerehelichen Sex und insbesondere einvernehmliche gleichgeschlechtliche Handlungen zwischen Erwachsenen zu kriminalisieren. Das Gericht bezeichnete den Vorschlag als „juristisch schlecht fundiert“ und warnte vor einer Überkriminalisierung. Trotzdem zirkulieren seit Anfang Januar 2018 Fassungen eines Entwurfs für das Strafgesetzbuch in diversen parlamentarischen Komitees, die besorgniserregende Vorschriften zur Kriminalisierung einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Handlungen enthalten. Der Regierungsvertreter in der Gruppe, die für Gesetzesentwürfe verantwortlich ist, hat sich seitdem gegen eine direkte Kriminalisierung gleichgeschlechtlicher Handlungen ausgesprochen, aber außerehelicher Sex ist bis heute als Straftatbestand im Entwurf enthalten.

Nach seinem Indonesien-Besuch im Februar sagte der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, dass LGBT in Indonesien zunehmend stigmatisiert, bedroht und eingeschüchtert würden. Die Hass-Rhetorik gegen diese Community verfolge offenbar zynische politische Zwecke. Sie werde das Leid dieser Menschen nur verstärken und die Gesellschaft grundlos spalten, so der Hochkommissar.

„Die beißende Hass-Rhetorik gegen LGBT durch indonesische Amtsträge seit 2016 schafft ein Klima, in dem Gewalt und Diskriminierung sozial akzeptiert und politisch gedeckt sind“, so Knight. „Die Regierung muss ihren Kurs korrigieren und ihrer Verpflichtung auf ‚Einheit in Vielfalt‘ gerecht werden, indem sie rechtswidrige Polizeirazzien verhindert und untersucht. Und sie muss gewährleisten, dass sie nicht Diskriminierung in ihren Gesetzen festschreibt.“

Kategorien: Menschenrechte

Österreich: Gericht erlaubt Ehe für alle

Mi, 27.05.2020 - 04:20
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Das Verfassungsgericht in Wien, Österreich. Am 4. Dezember 2017 urteilte das Gericht, dass das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe gegen die Verfassung verstößt.

©2016 Reuters

 

(Amsterdam, 6. Dezember 2017) – Die Entscheidung des österreichischen Verfassungsgerichtshofes am 4. Dezember 2017, dass ein Ausschluss homosexueller Paare von der Ehe das Diskriminierungsverbot verletzt, ist ein bedeutender Sieg für das Recht auf Ehe für alle, so Human Rights Watch heute. Erstmalig stellte ein europäisches Verfassungsgericht fest, dass das Eheverbot für homosexuelle Paare verfassungswidrig ist. Die österreichische Regierung und das Parlament sollen nun rasch ein Gesetz über die Ehe für alle verabschieden.

Konkret urteilte das Gericht, dass das Ehegesetz, das die Ehe auf eine Verbindung zwischen einer Frau und einem Mann begrenzt, das in der österreichischen Verfassung verbriefte Diskriminierungsverbot verletzt. Das Gericht betonte ausdrücklich, dass ein Eheverbot für gleichgeschlechtliche Paare impliziere, dass lesbische, schwule oder bisexuelle Menschen heterosexuellen Personen nicht gleichgestellt seien, und urteilte, dass dies diskriminierend sei.

„Die Richter kamen zu dem Ergebnis, dass es das Grundprinzip der Gleichbehandlung verletzt, wenn gleichgeschlechtliche Paare nicht heiraten dürfen, und dass der Staat kein Recht dazu hat, Menschen auf Grund ihrer persönlichen Eigenschaften zu diskriminieren“, so Boris Dittrich, Advocacy-Direktor der Abteilung für die Rechte lesbischer, schwuler, bisexueller und Trans-Personen (LGBT) bei Human Rights Watch. „Schwule, lesbische und bisexuelle Österreicher warten seit langem auf die Ehe für alle. Jetzt muss das Parlament liefern und ein entsprechendes Gesetz vorlegen.“

Das Gericht setzte der Regierung und dem Parlament eine Frist bis zum 1. Januar 2019, um ein Gesetz zu beschließen, das die Ehe für gleichgeschlechtlichen Paare öffnet. Wenn die Regierung bis dahin nicht handelt, wird das existierende Ehe-Gesetz verfassungswidrig.

Die Entscheidung angestoßen hatten zwei Frauen, die in einer eingetragenen Partnerschaft lebten und heiraten wollten. Das Magistrat der Stadt Wien hatte ihnen die Zulassung zur Ehe verweigert, genau wie das Wiener Verwaltungsgericht.

Im Jahr 2010 verabschiedete Österreich ein Gesetz über eingetragene Lebenspartnerschaften, das diese ausschließlich für gleichgeschlechtliche Paare vorsieht. Das Gesetz sollte die Diskriminierung gleichgeschlechtlicher Paare reduzieren, während eine Eheschließung weiterhin nur verschiedengeschlechtlichen Paaren offen stand.

In seinem Urteil vom 4. Dezember argumentierte der Verfassungsgerichtshof, dass die Unterschiede zwischen einer Ehe und einer eingetragenen Partnerschaft inzwischen minimal sind. Beispielsweise haben gleichgeschlechtliche Paare seit dem Jahr 2016 das Recht, Kinder zu adoptieren, und alle Paare haben gleichen Zugang zu medizinisch unterstützter Fortpflanzung.

Weiter urteilte das Gericht, dass es verschiedengeschlechtliche Paare diskriminiert, wenn nur gleichgeschlechtliche Paare eine Lebenspartnerschaft eintragen lassen können. Falls die Regierung und das Parlament bis dahin nicht aktiv werden, wird daher die eingetragene Lebenspartnerschaft am 1. Januar 2019 für verschiedengeschlechtliche Paare geöffnet.

Die Ehe für alle gibt es bereits in 24 Ländern. Es ist davon auszugehen, dass Australien diesem Trend rasch folgen wird, nachdem der Senat im November für ein entsprechendes Gesetz stimmte. Das Repräsentantenhaus diskutiert diese Woche über den Entwurf. Auch in anderen Ländern, darunter Chile und Taiwan, sind entsprechende Gesetze in Arbeit.

Viele westeuropäische Länder haben die Ehe für alle eingeführt. Weltweite Vorreiter waren die Niederlande, deren Gesetz über die Ehe für alle im Jahr 2001 in Kraft trat. Dieses Jahr wurden auch Deutschland und Malta zu Ländern, in denen alle Paare, die heiraten wollen, gleich behandelt werden.

Zudem urteilten die Verfassungsgerichte von Südafrika, Kolumbien und Taiwan, dass Eheverbote für gleichgeschlechtliche Paare verfassungswidrig sind.

„Das österreichische Verfassungsgericht hat klar und deutlich entschieden, dass ‚unterschiedlich‘ nicht ‚gleich‘ ist, wenn es um den Rechtsstatus von Beziehungen geht“, so Dittrich. „Das kann gleichgeschlechtliche Paare in anderen Ländern darin bestärken, ihr Recht auf eine Ehe für alle vor Gericht einzufordern.“

Kategorien: Menschenrechte

USA: Schädliche Operationen an intersexuellen Kindern

Mi, 27.05.2020 - 04:20

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Ein intersexuelles Kind, das zweieinhalb Jahre alt ist, mit seinen Eltern im Garten. Die Eltern haben entschieden, dass sie jegliche unnötige Operationen aufschieben, bis ihr Kind darüber selbst entscheiden kann.

© 2017 Human Rights Watch

(Chicago, 25. Juli 2017) – In den USA nehmen Ärzte weiterhin medizinisch nicht notwendige Operationen vor, die intersexuelle Kinder dauerhaft schädigen können, so Human Rights Watch und interACT in einem heute veröffentlichten Bericht. Obwohl hierüber seit Jahrzehnten kontrovers diskutiert wird, führen Ärzte immer noch Operationen an den Keimdrüsen, also den Eierstöcken oder Hoden, durch, ebenso wie an den inneren und äußeren Geschlechtsorganen. Diese Eingriffe werden durchgeführt, wenn die Kinder noch zu jung sind, um selbst darüber zu entscheiden. Dabei könnten die Eingriffe auch zu einem späteren Zeitpunkt erfolgen, ohne dass hieraus ein Risiko entstünde.  
 
Der 160-seitige Bericht „‘I Want to Be Like Nature Made Me’: Medically Unnecessary Surgeries on Intersex Children in the US” untersucht die körperlichen und psychologischen Schäden, die medizinisch nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern hinterlassen, die mit Chromosomen, Keimdrüsen, Geschlechtsorganen oder Genitalien geboren werden, die sich von denjenigen unterscheiden, die gesellschaftlich als typisch für Jungen oder Mädchen betrachtet werden. Zudem wird über die Kontroverse bezüglich dieser Art von Operationen innerhalb der medizinischen Fachwelt berichtet, ebenso wie über den Druck, der auf die Eltern ausgeübt wird, solche Operationen vornehmen zu lassen.  
 
Intersexuelle Menschen, die früher „Hermaphroditen” genannt wurden (ein Begriff, der heute als abwertend und überholt gilt), gibt es zwar viele, sie werden jedoch häufig missverstanden. Basierend auf einer in den 60er Jahren verbreiteten medizinischen Theorie, nehmen Ärzte chirurgische Eingriffe an intersexuellen Kindern – häufig schon im Säuglingsalter – vor. Erklärtes Ziel dabei ist, es den Kindern einfacher zu machen, „normal“ aufzuwachsen. Die Folgen sind häufig katastrophal und die angeblichen Vorteile sind größtenteils nicht nachgewiesen. Zudem gibt es nur selten dringende medizinische Faktoren, die einen sofortigen, irreversiblen Eingriff erfordern würden. 
 
„Nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern haben sowohl körperlich als auch psychologisch verheerende Folgen”, so Kimberly Zieselman, selbst eine intersexuelle Frau und Direktorin von interACT. „Obwohl Patientenvertreter die medizinische Fachwelt seit Jahrzehnten über die schlimmen Folgen solcher Eingriffe informieren, präsentieren viele Ärzte betroffenen Eltern eine solche Operation weiterhin als gute Option.“

Insgesamt entsprechen 1,7 Prozent aller Babys nicht dem, was man typischerweise als Junge oder Mädchen bezeichnen würde. Die Chromosomen, Keimdrüsen und die inneren und äußeren Geschlechtsorgane dieser Kinder weichen von den gesellschaftlichen Erwartungen ab. Manche Merkmale – wie etwa atypische äußere Genitalien – sind unmittelbar nach der Geburt ersichtlich. Andere, z.B. Keimdrüsen oder Chromosomen, die vom zugesprochenen Geschlecht abweichen, zeigen sich u.U. erst später, in einigen Fällen in der Pubertät. Ein Kind kann auch ohne Operation als Junge oder Mädchen aufwachsen. Operationen an den Genitalien oder Keimdrüsen von Kindern, die noch zu jung sind, um ihre geschlechtliche Identität zu kennen oder zu kommunizieren, bergen wiederum das Risiko, das Kind durch einen chirurgischen Eingriff dem falschen Geschlecht zwangsweise zuzuordnen.  
 
Die operative Entfernung der Keimdrüsen kann einer Sterilisation ohne die Einwilligung der Betroffenen gleichkommen und eine lebenslange Hormonersatztherapie nach sich ziehen. Eingriffe, um die Größe oder das Erscheinungsbild der Genitalien der betroffenen Kinder zu verändern, bergen ebenfalls Risiken. Hierzu gehören: Inkontinenz, Narbenbildung, Gefühlsverlust und psychologische Traumata. Die Eingriffe können nicht rückgängig gemacht werden, durchtrennte Nerven wachsen nicht wieder zusammen und Narbengewebe kann die Möglichkeiten für eine weitere Operation einschränken. 
 
Medizinische Fachprotokolle entstehen immer häufiger durch interdisziplinäre Teams, die an Fällen von „Differences of Sex Development“ arbeiten. Ein Großteil des medizinischen Fachpersonals erkennt mittlerweile an, dass die Eltern es vorziehen könnten, den Körper ihres Kindes unversehrt zu lassen. Ein Arzt, der in einem solchen Team arbeitet, sagte Human Rights Watch gegenüber: „Wir hören den erwachsenen Patienten zu, die uns sagen, dass sie das Gefühl haben, misshandelt und verstümmelt worden zu sein. Das nimmt einen natürlich extrem mit.“  
 
Dennoch gibt es auf diesem Gebiet weiterhin nur uneinheitliche, unzureichende und bruchstückhafte medizinische Versorgungsstandards. Zudem ist es unter Ärzten umstritten, wie sie die Rechte ihrer intersexuellen Patienten am besten respektieren und schützen können. Zwar sind bestimmte chirurgische Eingriffe eindeutig notwendig, dennoch führen Chirurgen in den USA auch riskante und medizinisch nicht notwendige, kosmetische Operationen an intersexuellen Kindern durch. Diese Eingriffe erfolgen häufig noch bevor die betroffenen Kinder sprechen können.  

 „Die medizinische Fachwelt hat in den letzten Jahrzehnten zwar Fortschritte beim Umgang mit Intersexualität gemacht, medizinisch nicht notwendige und irreversible Operationen an Kindern und Säuglingen sind jedoch weiterhin üblich”, so Kyle Knight, Mitarbeiter von Human Rights und Autor des Berichts. „Der Druck, sich anzupassen und ein „normales“ Leben zu führen, ist zwar vorhanden, es gibt jedoch keine Belege dafür, dass ein chirurgischer Eingriff dies tatsächlich erleichtert. Auf der anderen Seite ist aber durchaus belegt, dass ein solcher Eingriff das Risiko für lebenslange und irreparable Schäden birgt.“   
 
Menschenrechtsorgane der Vereinten Nationen haben in den vergangenen Jahren zunehmend Länder auf der ganzen Welt dafür kritisiert, weil sie medizinisch nicht notwendige Operationen an intersexuellen Kindern nicht verbieten. In einem Bericht von 2013 stellte der Sonderberichterstatter der Vereinten Nationen über Folter fest, dass „Kinder, die mit atypischen Geschlechtsmerkmalen geboren wurden, häufig Opfer werden von irreversiblen Geschlechterzuordnungen, unfreiwilligen Sterilisierungen und unfreiwilligen Genitaloperationen… die Folgen hiervon können eine dauerhafte, irreversible Unfruchtbarkeit und schweres seelisches Leid sein.“  
 
Im Juli 2017 schrieben drei ehemalige Chirurgen aus den USA, sie seien der Meinung, „dass es nur unzureichende Belege dafür gibt, dass es psychosozialen Stress bedeutet, mit atypischen Genitalien aufzuwachsen”, und  dass „es zwar nur wenig Hinweise darauf gibt, dass kosmetische Genitaloperationen bei Säuglingen notwendig sind, um psychologische Schäden zu reduzieren, es auf der anderen Seite jedoch durchaus belegt ist, dass der Eingriff selbst schwere, irreparable Schäden und emotionalen Stress verursachen kann.“    
 
Der Bericht basiert auf umfangreichen Interviews, geführt von Kyle Knight von Human Rights Watch und Dr. Suegee Tamar-Mattis, Ärztin und wissenschaftliche Beraterin für Human Rights Watch. Insgesamt wurden 30 intersexuelle Erwachsene, 2 intersexuelle Kinder, 17 Eltern von intersexuellen Kindern und 21 medizinische Fachkräfte interviewt, darunter Gynäkologen, Endokrinologen, Urologen, Psychologen und anderes medizinisches Personal, welches mit intersexuellen Menschen arbeitet. Der Bericht enthält zudem ein umfangreiches Literaturverzeichnis und die verfügbaren Daten zu chirurgischen Eingriffen. 
 
Mehrere Ärzte gaben Human Rights Watch gegenüber an, dass ihnen zwar immer unbehaglicher zumute dabei sei, Eltern zu solchen Eingriffen zu raten, diese aber weiterhin in ihren Kliniken vorgenommen würden. Eltern gaben ihrerseits an, sich von den Ärzten unter Druck gesetzt zu fühlen, sich für eine solche Operation zu entscheiden. 
 
„Die Kinderärzte befinden sich in einer Machtposition. Und wenn die Angst der Eltern das Problem ist, dann muss genau dieses Problem gelöst werden. Es geht also nicht darum, ob operiert wird – das ergibt keinen Sinn, das löst gar nichts“, so ein Endokrinologe und Medizinprofessor gegenüber Human Rights Watch. „Wenn wir versuchen, Menschen in kulturell normative, hetero-normative Situationen zu drängen, dann besteht ein großes Risiko, dass wir schwerwiegende Fehler machen und Menschen irreparablen Schaden zufügen“, so ein Gynäkologe eines Teams, das an „Differences in sex development“ arbeitet.  
 
Die Eltern eines 8-Jährigen Kindes, das mit atypischen Geschlechtsmerkmalen geboren wurde, sagten: „Die Ärzte sagten uns, es sei wichtig, sofort zu operieren, da es traumatisch für unser Kind wäre, aufzuwachsen und anders als andere auszusehen. Was verursacht denn das größere Trauma? Diese Art von Operation oder ein wenig anders zu sein als andere?“  

 Diese und andere Eltern gaben Human Rights Watch gegenüber an, dass ihnen Treffen mit anderen Eltern und anderen intersexuellen Erwachsenen in Selbsthilfegruppen am meisten dabei geholfen hätten, ihre eigenen intersexuellen Kinder großzuziehen.  
 
Die Erfahrungen von Menschen, die sich Operationen unterzogen haben, und die Prinzipien der medizinischen Ethik legen zusammengenommen nahe, dass bestimmte chirurgische Eingriffe an Säuglingen und Kleinkindern nicht durchgeführt werden sollten, solange es keine Belege dafür gibt, dass der medizinische Nutzen solcher Eingriffe größer ist als die möglichen Folgeschäden, so interACT und Human Rights Watch. Zurzeit liegen derartige Belege einfach nicht vor, obwohl solche Operationen seit Jahrzehnten durchgeführt werden.  
 
Die US-Regierung und medizinische Einrichtungen sollen keine weiteren chirurgischen Eingriffe erlauben, deren Ziel es ist, die Keimdrüsen, Genitalien oder inneren Sexualorgane von Kindern mit atypischen Geschlechtsmerkmalen zu verändern, sofern diese Kinder zu jung sind, um aktiv mitzuentscheiden. Dieses Verbot soll in den Fällen greifen, wenn der Eingriff ein bedeutendes Risiko mit sich bringt und ohne weiteres auch später durchgeführt werden könnte, so Human Rights Watch und interACT.  
 
„Eltern intersexueller Kinder haben häufig Angst und wissen nicht genau, wie sie ihre Kinder vor einer Stigmatisierung schützen sollen”, so Zieselman. „Es ist für sie immer ein große Erleichterung, wenn sie andere Menschen treffen, die die gleichen intersexuellen Merkmale haben wie ihre eigenen Kinder, und sehen, dass diese ein gesundes und glückliches Leben führen.“ 

Kategorien: Menschenrechte

Russland: Säuberungen gegen Schwule in Tschetschenien

Mi, 27.05.2020 - 04:20
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Ein Opfer der Angriffe berichtet im April 2017 an einem sicheren Ort in Zentral-Russland darüber, was er erleben musste.

© 2017 Nataliya Vasilyeva für Human Rights Watch

(New York) – Die tschetschenische Polizei hat Dutzende schwule oder bisexuelle Männer zusammengetrieben, geschlagen und erniedrigt, mit dem Ziel, die tschetschenische Gesellschaft von ihnen zu „säubern“, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Die russischen Behörden müssen dafür sorgen, dass ihre Ermittlungen zu diesen widerwärtigen Menschenrechtsverletzungen wirksam vorangetrieben werden und geeignet sind, die tschetschenischen Behörden zur Rechenschaft zu ziehen. Ausländische Regierungen sollen den Opfern sichere Zuflucht bieten, da diese, solange sie in Russland bleiben, in unmittelbarer Gefahr schweben.

„Die Männer, die diesen Säuberungen unterworfen wurden, haben in Tschetschenien ein schreckliches Martyrium erlebt“, so Graeme Reid, Direktor der Abteilung für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender bei Human Rights Watch. „Der Kreml trägt die Pflicht, die Verantwortlichen für die Gewalt zur Rechenschaft zu ziehen und alle Menschen in Russland ungeachtet ihrer sexuellen Orientierung zu schützen.“

Der 42-seitige Bericht „‘They Have Long Arms and They Can Find Me’: Anti-Gay Purge by Local Authorities in Russia’s Chechen Republic,“ beruht auf persönlichen Befragungen von Opfern der Kampagne gegen schwule Männer, welche die tschetschenischen Strafvollzugs- und Sicherheitsbehörden im Frühjahr 2017 durchgeführt haben.

Mai 2, 2017 Video Stop Anti-Gay Attacks in Chechnya

Police in Chechnya, a region in southern Russia, are rounding up men believed to be gay, holding them in secret detention, and beating and humiliating them.

Von der letzten Februarwoche und mindestens bis in die erste Aprilwoche hinein trieb die Polizei mutmaßlich schwule Männer zusammen, hielt sie tagelang, teilweise sogar über Wochen an geheimen Orten fest. Dort wurden sie gefoltert, erniedrigt und ausgehungert, um Informationen über andere mutmaßlich schwule Männer zu erpressen. Die meisten Männer wurden an ihre Familien übergeben, wodurch ihre sexuelle Orientierung offenbart und ihre Angehörigen indirekt zu „Ehrenmorden“ animiert wurden. All jene, die aus Tschetschenien geflohen sind und sich andernorts in Russland aufhalten, befinden sich weiterhin in Gefahr, da die Drohungen gegen sie andauern.

Die russischen Behörden stritten die Berichte über die Gewaltakte zunächst ab. Als der internationale Druck wuchs, leiteten mehrere Behörden Untersuchungen ein und Präsident Wladimir Putin versprach, mit dem Generalstaatsanwalt und dem Innenminister über die Vorwürfe zu sprechen. Die tschetschenische Führung erklärte, sie sei bereit, mit den Ermittlungen auf föderaler Ebene zu kooperieren. Sie stritt jedoch vehement ab, dass es in Tschetschenien Homosexuelle gebe, und sie beschimpfte und bedrohte wiederholt Journalisten und Menschenrechtler, die diese Frage angesprochen hatten.

Die bekannte unabhängige Tageszeitung Novaya Gazeta berichtete als erste über die schwulenfeindlichen Säuberungen. Das Russische LGBT-Netz, eine unabhängige Organisation zur Unterstützung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender, leistete Nothilfe für die Opfer.

Angeblich starben mehrere Männer infolge der Misshandlung. Bis Ende Mai wurden zwar keine neuen Entführungen gemeldet, einige der betroffenen Männer befinden sich jedoch weiter in Haft.

Die tschetschenische Polizei inhaftierte die Männer an mehreren geheimen Orten, an denen sie auch andere Personen inoffiziell festhält, darunter mutmaßliche Kollaborateure der Aufständischen und mutmaßliche Drogenkonsumenten. Die Polizisten verprügelten die Inhaftierten in grausamer Weise und traktierten sie wiederholt mit Elektroschocks. Die Entführer animierten bzw. zwangen andere Häftlinge, die vermeintlich schwulen Männer zu schlagen und zu erniedrigen.

Die tschetschenischen Behörden, einschließlich zweier hochrangiger Funktionäre, statteten den inoffiziellen Hafteinrichtungen Besuche ab, beschimpften die mutmaßlich schwulen Häftlinge und sahen zu, wie die Wärter sie misshandelten.

Während des vergangenen Jahrzehnts hat der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow unter stillschweigender Zustimmung des Kremls eine brutales, repressives Regime errichtet. Die Strafvollzugs- und Sicherheitsbehörden, die faktisch unter Kadyrows Kontrolle stehen, griffen Menschen zu Hause, am Arbeitsplatz oder auf offener Straße auf und entführten sie. Sie ließen Menschen verschwinden, folterten, vollstreckten außergerichtliche Hinrichtungen und verhängten kollektive Strafmaßnahmen. Über Jahre hinweg nahmen sie vor allem mutmaßliche bewaffnete Aufständische und ihre Kollaborateure ins Visier, doch mit der Zeit nutzten Polizei und Sicherheitskräfte diese Methoden auch gegen Kritiker auf lokaler Ebene, unabhängige Journalisten, salafistische Muslime, Drogenkonsumenten und andere von der tschetschenischen Führung für „unerwünscht“ erklärte Personen.

„Wir haben nie beobachtet, dass tschetschenische Beamte schwule Männer aufgegriffen und gefoltert haben“, so Rachel Denber, stellv. Direktorin der Europa- und Zentralasien-Abteilung von Human Rights Watch. „Doch die Sicherheitskräfte auf lokaler Ebene nutzen seit Jahren solche brutalen und rechtswidrigen Praktiken, um Tschetschenien von ‚unerwünschten Personen‘ zu säubern.“

Viele der Männer flohen nach ihrer Freilassung aus Tschetschenien. Solange sie in Russland bleiben, droht ihnen jedoch die doppelte Gefahr einer Verfolgung und Misshandlung durch tschetschenische Sicherheitskräfte und einer Verfolgung durch ihre eigenen Angehörigen.

Die tschetschenische Gesellschaft ist mehrheitlich muslimisch und äußerst konservativ. Homosexualität wird gemeinhin als tiefe Schande für die Familienehre betrachtet – eine Einstellung die von hochrangigen tschetschenischen Funktionären noch bestärkt wurde, als sie öffentlich Ehrenmorde an schwulen und bisexuellen Männern begrüßten.

„Magomed“, eines der Opfer der Säuberungen, erklärte gegenüber Human Rights Watch: „Sie haben einen sehr langen Arm und sie können mich und andere überall in Russland finden, wenn sie nur genug Zeit haben.“

Während die russischen Behörden angekündigt haben, die mutmaßlichen Säuberungen gegen Schwule zu untersuchen, wiesen sie immer wieder auf den Mangel an Beschwerden durch Opfer hin, um anzudeuten, die Vorwürfe seien lediglich Gerüchte. Human Rights Watch weist jedoch darauf hin, dass die tschetschenischen Behörden dafür bekannt sind, skrupellos gegen Ortsansässige vorzugehen, die es wagen, Menschenrechtsverletzungen anzuprangern.

In den vergangenen Jahren hat Human Rights Watch zahlreiche Fälle dokumentiert, in denen tschetschenische Lokalbeamte sich an den Angehörigen von Personen rächten, die aus der Region geflohen waren und versucht hatten, das an ihnen verübte Unrecht mithilfe der Justiz zu ahnden.

„Die Männer, die die Säuberungen gegen Schwule in Tschetschenien überstanden haben, stehen nun einer doppelten Bedrohung gegenüber: Sie haben guten Grund, Vergeltung von den Behörden zu fürchten, aber auch Gewalt von Seiten ihrer Familien“, so Reid. „Die russischen Behörden müssen der enormen Schutzbedürftigkeit der Opfer Rechnung tragen und deren begründeten Ängste aufgreifen, weshalb sie sich mit ihren Beschwerden nicht an die Öffentlichkeit wagen.“

Die Untersuchungen der russischen Behörden sollen sorgfältig durchgeführt werden und geeignet sein, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. Die Behörden sollen größtmögliche Anstrengungen unternehmen, um Opfer, Zeugen und deren nächste Angehörige zu schützen. Human Rights Watch appelliert auch an ausländische Regierungen, den Druck auf Moskau aufrecht zu erhalten, etwa durch regelmäßige Nachfragen zum Fortschritt der Ermittlungen. Zudem soll Opfern der Säuberungen, die im Ausland Schutz suchen, eine sichere Zuflucht geboten werden.

Kategorien: Menschenrechte

Nicholas Opiyo, Uganda

Mi, 27.05.2020 - 04:20
Human Rights Watch's Alison Des Forges Award celebrates the valor of individuals who put their lives on the line to protect the dignity and rights of others. Human Rights Watch collaborates with these courageous activists to create a world in which people live free of violence, discrimination, and oppression.   Aufklappen

Nicholas Opiyo

© 2015 Rebecca Vassie Nicholas Opiyo, führender Menschenrechtsanwalt und Gründer der Menschenrechtsorganisation Chapter Four Uganda, setzt sich seit 2005 unermüdlich und meistens kostenlos für den Schutz der Bürgerrechte in Uganda, insbesondere für die schwächsten und am stärksten marginalisierten Bevölkerungsgruppen ein.   Er wuchs in Gulu im Norden Ugandas auf, inmitten des tödlichen Konflikts zwischen der Regierung und der Lord’s Resistance Army (LRA), und musste weite Strecken zurücklegen, um einer Entführung durch die LRA zu entgehen. Der Konflikt ist für das ausgesprochen brutale Vorgehen von Regierungstruppen und Rebellen bekannt. Tausende Zivilisten sind damals entführt und als Soldaten, Arbeiter oder Sexsklavinnen missbraucht worden, auch Opiyos Schwester, der es nach mehreren Jahren Gefangenschaft gelang, zu fliehen. Nach seinem Jurastudium in Uganda nutzte Opiyo die Erfahrungen aus seiner Kindheit für seine Leidenschaft: die Verteidigung der Menschenrechte für alle Menschen.   Nicholas’ zielgerichteter Einsatz für Gerechtigkeit und gegen Diskriminierung, seine Leidenschaft und seine positive Einstellung sind ansteckend. Wer mit ihm arbeitet und von seinem Wissen und seinem Engagement profitieren kann, tut gut daran, ihm zuzuhören. Maria Burnett

Senior Researcher, Afrika-Abteilung

Opiyo hat sich mit einem breiten Spektrum kritischer Menschenrechtsfragen in Uganda auseinandergesetzt und war wesentlich an der Konzeption des Gesetzes beteiligt, das Folter in Uganda zur Straftat erklärt. Zu seiner vielschichtigen Klientel als Anwalt zählen Aktivisten der Anti-Korruptions- und der Demokratiebewegung, sowie Social-Media-Aktivisten, die der Beleidigung des Präsidenten beschuldigt worden sind. Er hat mehrere wichtige Verfassungsklagen eingereicht und gewonnen, etwa gegen das berüchtigte Anti-Homosexuellen-Gesetz von 2013, das im August 2014 für null und nichtig erklärt wurde. Opiyo wurde beschimpft und erhielt sogar Morddrohungen, weil er sich für die Rechte von LGBT-Personen in Uganda einsetzt.   Im Jahr 2013 gründete er Chapter Four Uganda, um weiterhin Prozesse mit hoher Öffentlichkeitswirkung übernehmen zu können und neuen Gesetzen den Kampf anzusagen, die unter anderem die Versammlungs- und Meinungsfreiheit einschränken. Derzeit ist er an der Anfechtung des Anti-Pornografiegesetzes und des Gesetzes über die öffentliche Ordnung beteiligt, die die Grundrechte einschränken, und vertritt mehrere Menschenrechtsaktivisten, die in Uganda strafrechtlich verfolgt werden.  

Human Rights Watch würdigt Nicholas Opiyo, weil er sich standhaft für die Wahrung der Menschenrechte für alle Menschen in Uganda, einschließlich LGBT-Personen, einsetzt, diskriminierende Gesetze anficht und für die allgemeinen Grundsätze der Menschenrechte eintritt.

 

Kategorien: Menschenrechte

Höchste Zeit für die Ehe

Mi, 27.05.2020 - 04:20

Am vergangenen Wochenende fand in Berlin die Christopher-Street-Day-Parade statt. Hunderttausende demonstrierten mit einem großen Umzug, Musik und bunt geschmückten Wagen für die Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender (LGBT).

Wie bereits in den Jahren zuvor nahmen auch Vertreter der Politik teil, um ihre Solidarität mit der LGBT-Community zu zeigen. Sie sollten ihre Solidarität aber auch dadurch zum Ausdruck bringen, dass sie ihre Aufgabe im Bundestag erfüllen und Gesetze verabschieden, die die Gleichstellung von Schwulen und Lesben voranbringen.

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Vor der Siegessäule während der jährlichen Gay Pride, der Christopher Street Day Parade, in Berlin, Deutschland. 23. Juli 2016.

© 2016 Reuters

Deutschland ist eines der wenigen Länder in Westeuropa, in denen gleichgeschlechtliche Ehen nicht legal sind. Es stellt damit einen Ausnahmefall unter den Nachbarn wie Belgien, Dänemark, Frankreich, Luxemburg, den Niederlanden und Schweden dar. Die ersten Eheschließungen von schwulen und lesbischen Paaren fanden 2001 in den Niederlanden statt, vor mehr als 15 Jahren. Zahlreiche Länder innerhalb und außerhalb Europas sind diesem Beispiel gefolgt.

Vor einigen Jahren fragte eine junge Frau, etwa 20 Jahre alt, auf einer Party in Amsterdam, ob es wirklich wahr sei, dass früher schwule und lesbische Paare in den Niederlanden nicht heiraten durften. Als sie hörte, dass das wirklich so war, rief sie: „Aber das ist doch Diskriminierung!“ Eine ganze Generation junger Menschen ist in den Niederlanden nun mit der gleichgeschlechtlichen Ehe aufgewachsen. Für sie ist dies kein Thema mehr; es ist Alltag. Und jährliche Regierungsumfragen zeigen, dass mehr als 80 Prozent der Bevölkerung in dem Land die gleichgeschlechtliche Ehe unterstützen. Selbst Abgeordnete der christlich-demokratischen Partei, die ursprünglich gegen die Gesetzgebung stimmten, haben ihre Meinung geändert.

Nicht jedoch in Deutschland. Hier können gleichgeschlechtliche Paare zwar eine eingetragene Lebenspartnerschaft begründen. Sie schließt viele der Rechte ein, die mit einer Ehe zwischen heterosexuellen Paaren einhergehen, aber es ist nicht dasselbe und man kann hier nicht von Gleichbehandlung sprechen. Die CDU von Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihre bayerische Schwesterpartei, die CSU, lehnen die gleichgeschlechtliche Ehe ab, obwohl sich einige CDU/CSU-Abgeordnete öffentlich für die Öffnung der Ehe für Personen gleichen Geschlechts ausgesprochen haben.

Alle anderen im Bundestag vertretenen Parteien unterstützen die gleichgeschlechtliche Ehe. Die Unionsparteien CDU und CSU haben jedoch seit ihrem Regierungsantritt im Jahr 2005 jeden Antrag ihrer jeweiligen Koalitionspartner zur Einführung des Rechts auf Eheschließung für gleichgeschlechtliche Paare blockiert.

Die CDU/CSU-Fraktion ist gegen die Aufhebung des Fraktionszwangs bei der Abstimmung über die Öffnung der Ehe für Personen gleichen Geschlechts. Es sieht also ganz danach aus, als sei es einer Minderheit im Bundestag auf diese Weise bisher gelungen, der Mehrheit einen Maulkorb anzulegen.

Auch bei der Adoption hinkt Deutschland anderen westeuropäischen Ländern hinterher. Gleichgeschlechtlichen Paaren ist es nicht erlaubt, gemeinschaftlich ein Kind zu adoptieren. Es gibt jetzt allerdings ein komplexes Regelwerk zur Adoption durch Personen, die in einer eingetragenen Lebenspartnerschaft leben. Seit 2005 ist die Stiefkindadoption durch eingetragene Lebenspartner in Deutschland erlaubt, wenn eine Person bereits ein leibliches Kind hat. 2013 entschied das Bundesverfassungsgericht dann in einem Urteil, dass, wenn ein Lebenspartner in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung ein Kind adoptiert hat, der andere Lebenspartner ebenfalls das Recht hat, Adoptivmutter oder -vater dieses Kindes zu werden.

Dieses Urteil zur sogenannten Sukzessivadoption wurde 2014 gesetzlich verankert. Dennoch besteht für gleichgeschlechtliche Paare nach wie vor keine Möglichkeit, gleichzeitig ein Kind zu adoptieren, wenn keine biologische Verwandtschaft vorliegt.

Seitens der Politik gab es bisher keine Erklärung, inwiefern diese Einschränkungen bei Adoptionen oder Sukzessivadoptionen dem Wohl des Kindes dienen sollen. De facto kamen mehr als 70 von Experten überprüfte wissenschaftliche Studien aus aller Welt zu dem Ergebnis, dass sich Kinder von schwulen oder lesbischen Eltern genauso gut entwickeln wie andere Kinder und dass es im Interesse von LGBT-Kindern liegt, in einem Umfeld aufzuwachsen, das von Nichtdiskriminierung und Gleichberechtigung geprägt ist.

In Westeuropa können gleichgeschlechtliche Paare in Ländern wie Belgien, Dänemark, Frankreich, Island, Luxemburg, Norwegen, den Niederlanden, Portugal, Schweden, Spanien und dem Vereinigten Königreich gemeinschaftlich Kinder adoptieren. Selbst das Nachbarland Österreich, das die Öffnung der Ehe für Personen gleichen Geschlechts noch bewilligen muss, hat die rechtliche Möglichkeit für gleichgeschlechtliche Paare geschaffen, gemeinschaftlich Kinder zu adoptieren.

Wenn wir also in jedem Jahr wieder den Christopher Street Day feiern, sollten wir nicht vergessen, dass Deutschland seine Hausaufgaben noch machen muss. 

 

Boris Dittrich ist Advocacy-Direktor der LGBT-Abteilung von Human Rights Watch in Berlin.

Alfonso Pantisano ist Pressesprecher von Enough is Enough, einem Aktionsnetzwerk und einer Newsgroup für die LGBT-Community mit Sitz in Berlin.

Kategorien: Menschenrechte

China/Kasachstan: Spiele 2022 wichtiger Test für Olympia-Reform

Mi, 27.05.2020 - 04:20
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Die chinesische und kasachische Delegation bei einem Gruppenfoto nach dem Briefing für das IOK durch die Bewerberstädte Peking und Almaty für die Olympischen Winterspiele 2022. Olympisches Museum in Lausanne, Schweiz, 9. Juni 2015.

(New York) – Das Internationale Olympische Komitee (IOK) soll sicherstellen, dass der Gastgeber der Olympischen Winterspiele 2022 Menschenrechtsverpflichtungen bei der Vorbereitung und Austragung der Spiele vollständig respektiert, so Human Rights Watch. Die beiden Bewerber China und Kasachstan schneiden derzeit in ihrer Menschenrechtsbilanz extrem schlecht ab. Das IOK wird über den Austragungsort am 31. Juli 2015 während des 128. IOK-Kongresses in Kuala Lumpur, Malaysia, entscheiden.

„Ob China oder Kasachstan die Olympischen Winterspiele 2022 austragen dürfen, das IOK muss auf jeden Fall sein Versprechen unter Beweis stellen, den Schutz der Menschenrechte zu verbessern“, so Minky Worden, Direktorin für Globale Initiativen von Human Rights Watch. „Das Internationale Olympische Komitte soll darauf bestehen, dass das Gastgeberland die Olympische Charta und grundsätzliche Menschenrechtsstandards rigoros einhält – oder riskiert, die Spiele nicht austragen zu dürfen.“

China und Kasachstan gehen offen gegen regierungskritische Medien und Aktivisten vor. Zudem werden grundlegende Menschenrechte, wie die Meinungs-, Versammlungs- oder Koalitionsfreiheit, nicht ausreichend geschützt. Diskriminierung und die Verletzung von Arbeiterrechten sowie die Unfähigkeit der Regierung, dagegen vorzugehen, stellen ernste  Probleme dar. Keines der beiden Länder verfügt über ein funktionierendes, unabhängiges Justizsystem, das der Bevölkerung Schutz vor Menschenrechtsverletzung bietet.

Human Rights dokumentiert seit 2005 schwere Menschenrechtsverletzung durch Gastgeberländer der Olympischen Spiele und anderer großer Sportveranstaltung sowohl bei der Vorbereitung als auch bei der Austragung der Spiele, beispielsweise in China, Russland, Aserbaidschan, Iran und Katar. Während der Sommerspiele 2008 in China waren die Behörden für die Zwangsumsiedlung Tausender Menschen verantwortlich, um die olympischen Stätten bauen zu können. Die Betroffenen konnten keine Rechtsmittel einlegen und erhielten keine angemessene Entschädigung. Außerdem verletzte die chinesische Regierung die Pressefreiheit und das Recht auf friedlichen Protest. Die Spiele 2008 in Peking haben auch zur Verletzung von Arbeiterrechten und dazu geführt, dass immer öfter Sicherheitskräfte im Inneren eingesetzt wurden, die für Menschenrechtsverletzungen verantwortlich waren und dafür nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.

Das IOK verabschiedete im Dezember 2014 Reformen, die als Agenda 2020 bekannt sind. Sie enthalten Verpflichtungen für die Gastgeber. So müssen diese gegen Diskriminierung auf Grund der sexuellen Orientierung vorgehen und Arbeiterrechte sowie andere Menschenrechte garantieren. Die Olympische Charta fordert alle Gastgeberländer auf, die Pressefreiheit zu achten, und hebt die Menschenwürde als einen wesentlichen Bestandteil der Olympischen Bewegung hervor. Dennoch hat das IOK keinen Mechanismus zur Überprüfung der Menschenrechte, um einzuschätzen, inwieweit ein Gastland diese Bedingungen erfüllt.  

„Die Winterspiele 2022 stellen das IOK jetzt auf den Prüfstand, ob es tatsächlich hinter seinen Prinzipien steht“, so Worden. „Welche Entscheidung auch getroffen wird: Auf jeden Fall wird ein Land die Spiele ausrichten, das für schwere Menschenrechtsverletzungen verantwortlich ist. Deshalb soll das IOK in seinen Verträgen für die Gastgeber den Schutz der Menschenrechte festschreiben und die Einhaltung ebenso rigoros überprüfen, wie den Bau der Stadien, die Telekommunikationstechnik und andere Voraussetzungen.

Das IOK hat bereits Anfang 2015 beide Länder besucht, um die Bedingungen im Rahmen des Bewerbungprozesses zu überprüfen. Dennoch wies der offizielle Bericht nicht genug auf die ernsthaften Menschenrechtsbedenken hin. Der Bericht zu China besagt, dass bei der Überprüfung die Medienfreiheit und der freie Internetzugang gegenüber den chinesischen Behörden angesprochen wurden und dass die Überprüfungskommission die schriftliche Versicherung erhalten habe, dass es „keine Restriktionen“ gebe. Daraus zog die Kommission die Schlussfolgerung, dass es kein Risiko für die Medien gebe.

China ist einer der größten Internet-Zensoren. Erst kürzlich schloss die Regierung sogar private Netzwerke, die von vielen Journalisten genutzt wurden. Es gibt keine Hinweise darauf, dass die Untersuchungskommission Personen oder Gruppen in China befragt hat, die eine unabhängige oder kritische Sicht auf die Regierung hätten geben können. Eine dieser Organisationen, die NGO Yirenping, die sich gegen Diskriminierung einsetzt, ist ständiger Einschüchterung ausgesetzt. Die Behörden haben wärend der Evaluierungszeit für die Olympia-Bewerbung deren Vertreter verhaftet. Die Mitglieder der IOK-Kommission trafen sich weder mit der Gruppe noch haben sie öffentlich ihre Sorge darüber geäußert, wie die Regierung gegen die NGO vorgeht, die kritisch die Einhaltung der Antidiskriminierungsverpflichtung überprüft.

„Wir haben schon einmal Olympische Spiele gesehen, die zu noch mehr Menschenrechtsverletzungen in China geführt haben, und das Umfeld im Jahr 2015 ist wesentlich schlechter als 2008“, so Worden.

Bei Kasachstan geht der Bericht der Untersuchungskommission nicht ausreichend auf potentielle Gefahren für die Rechte der Arbeiter, Medienfreiheit und Versammlungsfreiheit ein.  In dem Bericht heißt es, die Regierung habe Zusicherungen gegeben, dass das Recht zu demonstrieren und die Medienfreiheit, um ohne Enschränkung des Internets über die Spiele und ihre Vorbereitung zu berichten, gewährleistet würden. Zudem sollen die Arbeiterrechte geachtet werden und keine Zwangsumsiedlung stattfinden. Jedoch wird nicht klar, was diese Zusicherungen eigentlich bedeuten, abgesehen von umfangreichen Belegen, dass die Regierung diese Rechte nicht ausreichend schützt. Viele unabhängige Medien wurden in den letzten Jahren von der Regierung geschlossen. Die Behörden griffen in friedliche Streiks ein, verhafteten Arbeitsaktivisten und lösten regelmäßig friedliche Proteste auf.

Das Parlament verabschiedete nur kurz nach dem Besuch der Kommission Mitte Februar ein diskriminierendes Gesetz gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) und leiteten das Gesetz zur Unterschrift an den Präsidenten Nursultan Nazarbaev weiter, entgegen der olympischen Antidiskriminierungs-Regelung. Später entschied der kasachische Verfassungrat, dass das Gesetz zu unpräzise und deshalb verfassungswidrig sei. Ein Abgeordneter schlug vor, eine neue Version im Laufe des Jahres vorzulegen.  

„Kasachstan soll wissen, dass es keinerlei Toleranz für diskriminierende LGBT-Gesetze gibt. Die gilt auch für Menschenrechtsverletzungen gegen Arbeiter und Eingriffe in die Medienfreiheit oder friedliche Proteste“, so Worden.

Das Internationale Olympische Komitee soll sicherstellen, dass der Vertrag für das Gastgeberland 2022 Bedingungen enthält, durch die das Land die Menschenrechte achten und schützen muss. Dies soll sowohl für dieVorbereitungen als auch für die Austragung der Spiele gelten. Zudem sollen Verstöße sanktioniert werden. Das IOK soll auch eigene Expertise im Bereich Menschenrechte entwickeln sowie einen unabhängigen Überprüfungsmechanismus aufbauen, durch den regelmäßig die Einhaltung der Menschenrechtsbedingungen aus dem Gastgebervertrag kontrolliert wird.  

„Es gibt genug Belege dafür, dass es oft zu mehr Menschenrechtsverletzungen bei der Olympia-Vorbereitung und der Ausrichtung der Spiele kommt, wenn sie an ein Land vergeben werden, das bereits eine schlechten Menschenrechtsbilanz hat. Dies wirft einen Schatten auf die gesamte Veranstaltung“, so Worden weiter. „Das IOK hat nun mit den Spielen 2022 die klare Chance, sich bei den Menschenrechten besonders hervorzutun und den Gastgeber auch in die Pflicht zu nehmen.“
 

Kategorien: Menschenrechte

Russland: Straffreiheit bei Gewalt gegen LGBT

Mi, 27.05.2020 - 04:20

(Moskau) – Die russischen Behörden kommen ihrer Pflicht nicht nach, homophobe Gewalttaten zu verhindern oder strafrechtlich zu verfolgen, so Human Rights Watch in einem heute veröffentlichten Bericht. Immer mehr lesbische, schwule, bisexuelle und transgender Personen (kurz LGBT) in Russland wurden seit der Verabschiedung des Anti-LGBT-Propagandagesetzes im Juni 2013 landesweit Opfer von Gewalt und Belästigung. Dieses Gesetz ist quasi ein Freibrief für die Diskriminierung von LBGT und macht diese zu Menschen zweiter Klasse.

Der 85-seitige Bericht „License to Harm: Violence and Harassment against LGBT People and Activists in Russia” basiert auf mehreren Dutzend ausführlichen Interviews mit LGBT und LGBT-Aktivisten in 16 Städten in ganz Russland, die Opfer von Angriffen oder massiver Belästigung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder Genderidentität wurden. Die betroffenen LGBT gaben an, geschlagen, entführt, erniedrigt und als „Pädophile“ oder „Perverse“ beschimpft worden zu sein. Bei den Tätern handelte es sich in manchen Fällen um homophobe Bürgerwehrgruppen, in anderen waren es Fremde in der U-Bahn, auf der Straße, in Nachtclubs, in Cafés und in einem Fall auch in einem Bewerbungsgespräch.

„Die Gewalt, die LGBT in Russland erfahren, ist zweifellos durch Homophobie motiviert. Die Behörden ignorieren jedoch bewusst, dass es sich hierbei um sogenannte Hasskriminalität handelt. Die Opfer werden nicht geschützt”, sagt Tanya Cooper, Russland-Expertin von Human Rights Watch. „Die russischen Behörden sollen in Fällen von homophober Gewalt ordnungsgemäß und gründlich ermitteln und nicht zur Diskriminierung von LGBT beitragen oder dulden.“

Human Rights Watch dokumentierte die Stigmatisierung, die Belästigungen und die Gewalt, denen LGBT in Russland tagtäglich ausgesetzt sind. Die meisten Betroffenen, mit denen Human Rights Watch sprach, gaben an, dass sich die Situation seit 2013 massiv verschlechtert habe. In einigen Fällen handelte es sich bei den Angreifern um Anti-LGBT-Bürgerwehrgruppen, die Ende 2012 zu Dutzenden in russischen Städten auftauchten. Diese Gruppen radikaler Nationalisten locken regelmäßig schwule Männer und Teenager zu fingierten Verabredungen, halten sie dann gegen ihren Willen fest, erniedrigen sie und stellen sie bloß, indem sie die Vorgänge aufzeichnen. Hunderte solcher Videos, die derartige Menschenrechtsverletzungen zeigen, wurden bereits online gestellt.

„Ich spürte Blut in meinem Mund, aber erst später habe ich erfahren, dass die Angreifer mir an zwei Stellen den Kiefer gebrochen hatten.”, so ein Opfer einer Bürgerwehrgruppe.

In anderen Fällen berichteten LGBT, dass sie bei alltäglichen Aktivitäten unvermittelt von Fremden angegriffen wurden. Die Opfer berichteten Human Rights Watch, dass sie verfolgt und in vielen Fällen geschlagen wurden. Die Angreifer beschimpften sie dabei als „Schwuchteln“. Auch andere homophobe Beleidigungen wurden ihnen in der Öffentlichkeit entgegengeschleudert.

LGBT-Aktivisten werden auch bei öffentlichen Veranstaltungen für die Gleichstellung Opfer von Belästigung und körperlicher Gewalt. Die große Mehrheit der Aktivisten, mit denen Human Rights Watch sprach, waren seit 2012 mindestens einmal bei einer solchen Veranstaltung angegriffen worden. Diese Angriffe fanden in verschiedenen russischen Städten statt. Obwohl Gegendemonstranten die Aktivisten regelmäßig angreifen und bedrängen, ergreift die Polizei keine effektiven Maßnahmen, um derartige Angriffe zu verhindern und die Aktivisten zu schützen.

Von den 78 Opfern homophober und transphober Gewalt, die Human Rights Watch für den Bericht interviewte, haben 22 den jeweiligen Angriff nicht der Polizei gemeldet. Gründe hierfür waren die Angst vor Belästigung durch die Polizei selbst sowie die Angst, die Polizei würde die Angriffe nicht ernst nehmen. Viele Opfer sind der Meinung, es sei reine Zeitverschwendung, sich bei der Polizei zu melden. Tatsächlich hat die Polizei nur in wenigen Fällen, in denen Anzeige erstattet wurde, Ermittlungen eingeleitet.

„Die russischen Strafverfolgungsbehörden verfügen über alle Mittel und Wege, um in Fällen von homophober Gewalt zu ermitteln. Sie wollen die Taten jedoch einfach nicht untersuchen“, so Cooper. „Das Versagen der Behörden, homophoben Übergriffen und Gewalttaten ein Ende zu setzen, bedeutet ein noch größeres Risiko für LGBT und LGBT-Aktivisten, Opfer von Angriffen zu werden.

Von einigen vereinzelten Ermittlungen abgesehen, haben die Behörden bislang nur wenig getan, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen.

In Russland existieren durchaus Gesetze gegen Hasskriminalität, die Strafverfolgungsbehörden stufen jedoch selbst eindeutig homophobe Angriffe nicht als Hasskriminalität ein. Nicht ein einziger der im Bericht dokumentierten Fälle wurde als Hassverbrechen behandelt und entsprechend untersucht. In den Fällen, in denen die Polizei tatsächlich Ermittlungen einleitete, tat sie dies nur widerwillig und ablehnend. Häufig wurde den Opfern die Schuld für den Angriff gegeben. Nur in drei der 44 Fälle, in denen die Opfer Anzeige erstattet hatten, kam es zu einem Strafverfahren. Wenigstens zwei Angreifer wurden verurteilt, allerdings standen die verhängten Strafen in keinem Verhältnis zu dem Schaden, den die Opfer erlitten hatten.

Anstatt Anti-LGBT-Gewalt und –Rhetorik öffentlich zu verurteilen, schweigt Russlands Führungsspitze. In einigen Fällen haben die politischen Verantwortlichen sogar selbst Hassparolen gegen LGBT verbreitet.

Zudem wurden LBGT oder LGBT-Aktivisten, die als Lehrkräfte an Schulen, Universitäten oder in Gemeindezentren für Kinder arbeiten, zu Opfern von Hetzkampagnen. Ziel dieser Kampagnen ist es, die Betroffenen zu diffamieren und sie allein aufgrund ihrer sexuellen Orientierung als Bedrohung für Kinder darzustellen. Die meisten Betroffenen haben ihre Arbeit verloren. 

Das 2013 in Kraft getretene Gesetz verbietet „Propaganda von nicht konventionellen sexuellen Beziehungen unter Minderjährigen”. Das Gesetz ist nur eine von verschiedenen Maßnahmen, die 2013 vorgeschlagen oder verabschiedet wurden. Ein Verstoß gegen das Gesetz stellt ein Vergehen dar, das mit unterschiedlich hohen Geldstrafen geahndet wird. 

„Das Anti-LGBT-Propagandagesetz bietet für niemanden Schutz. Für homophobe Menschen ist es jedoch ein willkommener Grund, zu glauben, dass die Regierung LGBT nicht als gleichwertig betrachtet”, so Cooper. „Die russische Regierung soll das Gesetz widerrufen und der Diskriminierung von LGBT in Russland ein Ende setzen.“ 

Ausgewählte Zeugenaussagen 

„Ich spürte Blut in meinem Mund, aber erst später habe ich erfahren, dass die Angreifer mir  an zwei Stellen den Kiefer gebrochen hatten. Sie brachten mich zu einem leerstehenden Hof in der Nähe und fragten mich: ,Also, wie regeln wir das jetzt?‘ ,Wir könnten dir die Arme und Beine brechen oder…‘ Ich wusste, dass sie Geld wollten…Bevor sie mich gehen ließen, fragten sie mich: ,Weißt du, was man in Russland schon immer mit Schwulen gemacht hat? Man hat sie aufgespießt.’”
– Zhenya Zh. (Name geändert), Opfer einer Anti-LGBT-Bürgerwehr

„Sie zwangen mich dazu, mich in die Mitte des Kreises zu stellen, den sie um mich herum gebildet hatten. Sie stellten mir Fragen zu meinem Sexleben und zu meinen sexuellen Vorlieben und dann zwangen sie mich, zu schreien, dass ich schwul und pädophil sei. Sie selbst nannten sich ,Athleten gegen Pädophilie’ und sagten mir: ,Wir werden euch alle erwischen und wir werden euch beibringen, wie man ein anständiges Leben führt.‘ Es war etwa 5 Uhr nachmittags, daher waren viele Leute im Einkaufszentrum, die einkauften und aßen. Aber niemand ist stehengeblieben, niemand hat eingegriffen.”
– Slava S. (Name geändert), Opfer einer Anti-LGBT-Bürgerwehr

„Ein Mann kam in der U-Bahn auf mich zu und fragte mich, ob ich keine Angst hätte ,so angezogen auf die Straße zu gehen‘. Dann beleidigte er mich lautstark, er nannte mich eine, Schwuchtel‘ und forderte die Leute auf, mich genau anzuschauen. Dann folgte er mir in den Zug, wo er mich erneut als ,Schwuchtel‘ beschimpfte und mir ins Gesicht schlug.
– Ivan (Johnny) Fedoseyev, ein schwuler Mann, der von einem Fremden in der U-Bahn von Sankt Petersburg angegriffen wurde.

Kategorien: Menschenrechte

Standpunkt: Wladimirs Geschichte – Flüchtling wegen sexueller Orientierung

Mi, 27.05.2020 - 04:20

Im vergangenen Sommer setzte ich mich in einem Zug nach Berlin neben einen jungen Mann, der einen russischen Roman las. Wir fingen an, uns zu unterhalten. Der junge Mann hieß Wladimir, und er erzählte mir von seiner Verzweiflung. Vor kurzem war er aus Russland geflohen, aus Angst um seine Sicherheit. Wladimir ist schwul, und seine Nachbarn hatten ihm damit gedroht, ihn aufgrund seiner sexuellen Orientierung zusammenzuschlagen. Sie sagten, er sei „nicht normal“ und dass die Regierung russische Kinder vor dem negativen Einfluss der Homosexualität schützen müsse.

Seine Nachbarn schienen sich dabei auf das Gesetz zum Verbot von „Propaganda von nicht-traditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“ zu stützen, das Anti-Homosexuellen-Gestetz, das 2013 in Kraft trat. Obwohl sich das Gesetz auf die Verbreitung positiver Einstellungen zu Homosexualität in der Gegenwart von Kindern bezieht, nehmen viele die Botschaft mit, dass homosexuelle Menschen Kindern nachstellen und nicht unter Leute gehören.

Wladimir hatte Angst. Er schloss die Tür seiner Wohnung im sechsten Stock möglichst leise, wenn er sie verließ, und nahm die Treppe, um eine Begegnung mit seinen Nachbarn zu vermeiden. Eines Tages wurde Wladimir in der U-Bahn Station nahe seiner Moskauer Wohnung von einer Gruppe Hooligans angegriffen. Sie schrien, er sei eine „Schwuchtel“, traten ihn und schlugen ihm ins Gesicht, bis seine Nase anfing zu bluten. In der U-Bahn-Station waren viele Menschen, aber keiner kam Wladimir zu Hilfe.

„Bist du zur Polizei gegangen?“, habe ich ihn gefragt. Er zuckte nur mit den Schultern: „Ich habe kein Vertrauen in die. Sie werden mich nicht beschützen, sie hassen Schwule.“

Einige Tage nach dem Übegriff verließ Wladimir Russland und kam nach Berlin. Als er den Antrag auf Asyl aufgrund seiner sexuellen Orientierung stellte, fragten ihn die deutschen Behörden nach einem Nachweis, dass er angegriffen worden war, weil er schwul ist. Aber Wladimir hat keine Dokumente, die er einreichen kann und die belegen können, dass er das Opfer eines homophoben Angriff war. Er sagte mir, er sei besorgt, dass die deutschen Behörden seinen Antrag als nicht glaubhaft abweisen und ihn zurück nach Russland schicken werden.

Ich wurde an diese zufällige Begegnung erinnert, als der Gerichtshof der Europäischen Union in Luxemburg am 2. Dezember eine wegweisende Entscheidung erließ, die sich direkt auf die Erfahrungen von Menschen wie Wladimir auswirkt. Der Gerichtshof war von niederländischen Anwälten um eine Stellungnahme dazu gebeten worden, wo die Grenzen liegen, wenn es darum geht, die sexuelle Orientierung von Asylsuchenden zu überprüfen.

Das Gericht entschied, dass die Aussage des Asylsuchenden der Ausgangspunkt für die Einschätzung sein sollte, ob der Flüchtlingsstatus zuerkannt wird und dass solche Aussagen gegebenenfalls der Bestätigung bedürfen. Jedoch sollte ein Antrag nicht nur deswegen abgelehnt werden, weil ein Antragsteller sich weigert, Fragen über stereotype Auffassungen von Homosexualität zu beantworten. Solche Fragen sollten von vornherein nicht gestellt werden. Außerdem dürfen Behörden auch keine detaillierten Fragen zu den Sexualpraktiken des Asylsuchenden stellen. Sogenannte Tests, um die Sexualität zu beweisen, und das Akzeptieren von „Beweismaterial“ in Form von Filmmitschnitten von homosexuellen Handlugnen sind untersagt. Der Gerichtshof betonte, dass derartige Praktiken die Menschenwürde und das Recht auf Privatsphäre laut EU Gesetz beeinträchtigen. Das Gericht entschied außerdem, dass die Glaubwürdigkeit des Antragsteller nicht beeinträchtigt wird, wenn er seine sexuelle Orientierung erst später während des Verfahrens bekannt gibt.

Alle EU Behörden, die homosexuelle Asylsuchende befragen, sollen sich an diese Standards halten, die der Gerichtshof der Europäischen Union festgesetzt hat. Damit wird es Menschen wie Wladimir hoffentlich möglich sein, einen neuen Start in ein Leben in Würde zu vollziehen.

Kategorien: Menschenrechte

Russland: Gewalt gegen Schwule vor laufender Kamera

Mi, 27.05.2020 - 04:20

Die russischen Behörden sollen gegen die weitverbreiteten und organisierten Menschenrechtsverletzungen gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) und LGBT-Aktivisten vorgehen. Die Tatenlosigkeit der Behörden und die homophoben Äußerungen einiger Beamter nähren die Schikanierung und Gewalt und bestärken die Täter. 

Kategorien: Menschenrechte

Russland: Spiele in Sotschi werfen Schlaglicht auf homophobe Gewalt

Mi, 27.05.2020 - 04:20

(Moskau) – Die russischen Behörden müssen gegen die sich verschlimmernde und weit verbreitete Gewalt gegen Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender (LGBT) sowie gegen LGBT-Aktivisten vorgehen. Das Versagen der Behörden und homophobe Kommentare von Regierungsvertretern liefern LGBT-Personen weiteren Belästigungen aus und ermutigen die Angreifer, so die Ergebnisse der Untersuchungen von Human Rights Watch.

Als Gastland der diesjährigen Olympischen Winterspiele, die am 7. Februar in Sotschi beginnen, soll Russland sich entsprechend des Nichtdiskriminierungsgrundsatzes verhalten, der eine zentrale Vorschrift der Olympischen Charta ist. Als Mitgliedstaat des Europarats und Unterzeichner verschiedener Menschenrechtsabkommen soll Russland seiner Verpflichtung gerecht werden, die Anerkennung und den Schutz von LGBT-Personen zu gewährleisten.

„Die russischen Behörden haben die Macht, die Rechte von LGBT-Menschen zu schützen, aber stattdessen ignorieren sie ihre Verantwortung“, so Tanya Cooper, Russland-Expertin von Human Rights Watch. „Sie senden eine gefährliche Botschaft, indem sie die Augen vor hasserfüllten, homophoben Aussagen und Gewalt verschließen. Während die ganze Welt für die Olympischen Spiele ins Land kommt, behauptet die russische Regierung, dass Angriffe auf homosexuelle Menschen in Ordnung sind.“

Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender werden in Russland tagtäglich stigmatisiert, belästigt und tätlich angegriffen. Organisationen und Betroffene von Gewalt berichten, dass sich die Lage im vergangenen Jahr verschärft hat. Betroffene in Städten wie Moskau, St. Petersburg und Nowosibirsk schildern, dass sie an öffentlichen Plätzen angegriffen, verschleppt, geschlagen, belästigt, bedroht und psychisch misshandelt wurden. Sie sagen, dass sie sich aus Angst vor neuerlichen Belästigungen nicht an die Polizei wandten und überzeugt sind, dass die Polizei die Angreifer ohnehin nicht verfolgen würde. Wenn Betroffene doch Anzeige erstatteten, folgten darauf nur selten Ermittlungen.

Aussagekräftige Daten über homophobe Übergriffe gibt es nicht. Daher ist es unmöglich, exakte Angaben darüber zu machen, in welchem Umfang Gewalt und Belästigungen im Jahr 2013 zugenommen haben. Allerdings sprechen alle Betroffenen und LGBT-Gruppen übereinstimmend davon, dass homophobe Übergriffe seit Ende 2012 eskalieren.

Das russische LGBT-Netzwerk, eine Dachorganisation mit Sitz in St. Petersburg, führte im vergangenen Jahr eine anonyme Umfrage zu Diskriminierungserfahrungen unter Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender in Russland durch. Mehr als 50 Prozent der 2.007 Teilnehmer gaben an, psychische Gewalt erlebt zu haben, 15 Prozent wurden tätlich angegriffen. Nur sechs Prozent der Betroffenen wandten sich an die Polizei.

Über mindestens drei mutmaßlich homophob motivierte Morde wurde im Mai berichtet, einen Monat vor der Verabschiedung des landesweiten Gesetzes gegen „homosexuelle Propaganda“.

Die Verabschiedung des Gesetzes zum Verbot von „Propaganda von nichttraditionellen sexuellen Beziehungen gegenüber Minderjährigen“ ist eines von mehreren LGBT-feindlichen Gesetzen, die im Jahr 2013 auf Landesebene vorgeschlagen oder verabschiedet wurden. Im gleichen Zeitraum eskalierte die homophobe Gewalt. Verstöße gegen die Gesetze sind Ordnungswidrigkeiten, die mit Bußgeldern geahndet werden. Insbesondere Medien und Organisationen werden mit exorbitanten Strafen belegt. Am 30. Januar verurteilte ein Gericht einen Zeitungsredakteur in Chabarowsk im Osten Russlands wegen eines Verstoßes gegen das Propaganda-Gesetz zu einem Bußgeld in Höhe von umgerechnet 1.055 Euro. Der Redakteur wurde dafür belangt, dass er ein Interview mit einem schwulen Lehrer geführt hatte, der seine Stelle auf Grund seiner sexuellen Orientierung verloren hatte. Diesen hatte er mit der Aussage zitiert, „meine Existenz beweist, dass Homosexualität normal ist“. Der Redakteur wird gegen das Urteil Berufung einlegen.

Auch Ausländer, die gegen das Gesetz verstoßen, können mit Bußgeldern belegt sowie für bis zu 15 Tagen inhaftiert und ausgewiesen werden.

Das Gesetz verbietet auch, „traditionelle“ und „nichttraditionelle“ Beziehungen als gleichermaßen akzeptabel darzustellen. Deshalb ist nun jede öffentliche, positive Äußerung über Homosexualität illegal, genau wie einem Kind zu sagen, dass nichts falsch daran ist, homosexuell zu sein oder bei homosexuellen Eltern aufzuwachsen.

Parallel zu den gesetzlichen Änderungen starteten insbesondere regierungsnahe und staatlich finanzierte Medien eine massive homophobe Kampagne. Regierungsangehörige, Journalisten und bekannte Persönlichkeiten bezeichneten LGBT-Personen öffentlich als „Perverse“, „Sodomiten“ und „abnormal“ und setzten Homosexualität mit Pädophilie gleich. Der stellvertretende Leiter eines staatlichen Fernseh- und Radiounternehmens, der zugleich einer der bekanntesten Talk Show-Moderatoren Russlands ist, schlug vor, die Herzen von homosexuellen Organspendern zu „verbrennen oder zu vergraben“, statt sie für Transplantationen zu verwenden. Sie seien „ungeeignet, um irgendein Leben zu verlängern“.

„Die LGBT-feindlichen Gesetze und die Hassrede im staatlichen Fernsehen haben ein Klima der Intoleranz gegenüber der russischen LGBT-Bevölkerung geschaffen“, sagt Cooper. „Die Verantwortlichen sollen die homophobe Hysterie bekämpfen, nicht unterstützen. Sonst wird das Schweigen des Kremls als Entschuldigung für die Gewalt verstanden.“

Ende des Jahres 2012 begannen unzählige, radikal nationalistische Bürgerwehren, homosexuelle Menschen in Dutzenden russischen Städten anzugreifen und zu belästigen. Die Gruppen geben vor, Pädophilie zu bekämpfen. Meistens locken sie Männer und Jungen zu Treffen, bezeichnen sie als schwul, beleidigen und verprügeln sie. Sie veröffentlichen Videos davon in sozialen Netzwerken und setzen ihre Opfer damit wissentlich weiteren Misshandlungen aus. Hunderte solcher Videos kursieren im Internet.

Während eines Treffens in Krasnaja Poljana, einem Austragungsort der Olympischen Spiele, am 17. Januar 2014 sagte Präsident Putin, dass homosexuelle Menschen in Sotschi willkommen seien und sich dort „wohlfühlen“ würden. Doch dann forderte er sie auf, „Kinder in Ruhe zu lassen“.

„Regierungsvertreter ermuntern homophobe Menschen zu gewalttätigen Angriffen, wenn sie immer wieder Homosexualität mit Pädophilie gleichsetzen“, so Cooper. „Derart abschreckende und fehlgeleitete Aussagen über LGBT-Personen vom Staatsoberhaupt sind unverantwortlich und äußerst gefährlich.“

Seit langem reagieren die Behörden mit Intoleranz und ein Teil der Öffentlichkeit mit gewalttätigen Gegendemonstrationen auf Veranstaltungen zur Förderung der Rechte von LGBT-Personen. Dabei werden LGBT-Aktivisten zunehmend zum Ziel massiver Angriffe. Human Rights Watch hat tätliche Angriffe auf LGBT-Aktivisten in den Jahren 2012 und 2013 in verschiedenen russischen Städten dokumentiert, darunter Woronesch, St. Petersburg, Moskau und Nowosibirsk.

Auch die Drohungen gegen und die Einschüchterung von russischen LGBT-Organisationen nahmen im vergangenen Jahr zu. Unterschiedliche LGBT-Gruppen und ihre Mitarbeiter wurden attackiert, bedroht und in ihrer Arbeit beeinträchtigt. Ein besonders schockierender Angriff wurde im November in LaSky in St. Petersburg verübt, einem Zentrum zur HIV-Prävention für Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender und Männer, die gleichgeschlechtlichen Sex haben. Zwei Personen drangen während einer Veranstaltung in das LaSky-Büro ein und griffen die Teilnehmer an. Einer Person schossen sie mit einer Druckluftpistole ins Auge, eine andere verprügelten sie mit einem Baseball-Schläger.

„Die russischen Behörden haben lange geleugnet, dass Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender diskriminiert werden, auch vor dem Internationalen Olympischen Komitee. Aber Feindseligkeit und Gewalt nehmen eindeutig zu“, so Cooper. „Nun richtet Russland in einer von Homophobie vergifteten Atmosphäre die Olympischen Spiele aus. Nicht nur deshalb muss die Regierung unverzüglich aktiv werden, um die Rechte von LGBT-Menschen zu stärken und sie zu schützen.“

Belästigung und tätliche Angriffe gegen LGBT-Personen

Lesben, Schwule, Bisexuelle und Transgender oder Personen, die dafür gehalten werden, sind in Russland das Ziel gewalttätiger Übergriffe. Die Angreifer belästigen die Betroffenen an öffentlichen Orten, etwa in der U-Bahn, auf offener Straße oder in Cafés, beschimpfen sie als „schwul“ oder als wie eine „Schwuchtel“ angezogen, und drohen ihnen Gewalt an.

Ivan Fedosejev, ein 21-jähriger, schwuler Mann aus St. Petersburg, berichtet, dass er im Jahr 2013 mindestens viermal auf Grund seiner sexuellen Orientierung belästigt wurde. Mehrmals bedrängten ihn Unbekannte auf offener Straße, wollten wissen, ob er Sex mit Männern habe, und versuchten, ihn tätlich anzugreifen.

Im August war Fedosejev auf dem Weg zu einer Modenschau, er trug modische Kleidung. Ein Mann kam in der U-Bahn auf ihn zu und fragte ihn, ob er keine Angst habe, „so“ vor die Tür zu gehen. Der Mann fragte Fedosejev: „Weißt du nicht, dass wir Gesetze haben, die Schwule verbieten?“. Dann fing er an, Fedosejev als „Schwuchtel“ zu beschimpfen, und schlug ihm ins Gesicht. Fedosejev verließ die Bahn an der nächsten Haltestelle. Er erstatte keine Anzeige, weil er dachte, das würde nichts bringen.

„Das Gesetz hat homophoben Leuten grünes Licht gegeben, uns anzugreifen“, sagt Fedosejev.

Eine Trans-Frau, Risa R. (Name geändert), wurde im Sommer 2013 in St. Petersburg entführt und brutal misshandelt. Vier Angreifer zwangen sie in ein Auto und brachten sie an den Stadtrand, wo sie sie nackt auszogen, verprügelten und ihr zwei Zehennägel mit einer Zange ausrissen.

„Sie nannten mich die ganze Zeit ‚Schwuchtel‘ und sagten immer wieder, dass sie Schwule hassen. Ich sagte ihnen, dass ich nicht schwul bin, sondern eine Trans-Frau, aber sie wollten gar nicht zuhören. Einer von ihnen sagte, ‚du bist nichts als eine Schwuchtel. Wir machen dein Gehirn jetzt wieder normal.‘ Sie drohten mehrmals, mich zu vergewaltigen. Dann holten sie Zangen aus dem Auto und rissen zwei meiner Zehennägel aus. Hinterher sagten sie: ‚Jetzt bist du besser dran. Jetzt bist du schön.‘”

Die Angreifer nahmen ihre Kleider, fuhren weg und ließen Risa nackt und blutend zurück. Sie musste viereinhalb Stunden zu Fuß nach Hause laufen.

„Das einzige, was in dem Moment für mich zählte, war, dass ich zuhause war, dass ich lebte“, sagt sie. „Ich sagte mir, dass ich meine Füße einfach nicht ansehe, ich hatte schon genug Schmerz erlebt in dieser Nacht.“

Risa ging nicht in ein Krankenhaus, weil sie Angst davor hatte, gefragt zu werden, wie sie sich verletzt hatte. Sie erstattete auch keine Anzeige, weil sie „keine Illusionen hatte, dass die Polizei den Angriff untersuchen würde“.

In den folgenden Monaten wurde Risa auf offener Straße und in öffentlichen Verkehrsmitteln noch mehrmals verbal und tätlich angegriffen.

Gewalt gegen und Belästigung von LGBT-Personen durch organisierte Bürgerwehren

Seit Ende 2012 haben Angehöriger einer Gruppe namens „Occupy Pedophilia“ homosexuelle Menschen in vielen russischen Städten belästigt und angegriffen, unter dem Vorwand, Pädophilie zu bekämpfen und Kinder zu schützen. „Occupy Pedophilia“ ist eine locker organisierte Gruppe von Bürgerwehren, die sich selbst als „soziale Bewegung“ bezeichnet.

Maksim Martsinkevich, auch bekannt als „Tesak“ (dt. etwa „Beil“ oder „Axt“), gründete die Gruppe. Er gehörte auch einer Neonazi-Organisation an und ist für Hassrede und Gewalttaten bekannt. Im Jahr 2009 wurde er zu dreieinhalb Jahren Haft wegen Anstachelung zu ethnischer Gewalt verurteilt und Ende des Jahres 2010 vorzeitig aus dem Gefängnis entlassen.

Im Dezember 2013 stellte ein Moskauer Gericht einen Haftbefehl gegen Martsinkevich aus, der sich zu dem Zeitpunkt in Kuba aufhielt. Er wurde wegen Extremismus-Vorwürfen gesucht, die nicht im Zusammenhang mit der Gewalt gegen LGBT-Personen stehen, die seine Gruppe verübt. Im Januar haben die kubanischen Behörden Martsinkevich festgenommen und nach Russland abgeschoben. Die russischen Behörden verhafteten ihn am 27. Januar in einem Moskauer Flughafen.

„Occupy Pedophilia“ ist eine ausdrücklich homophobe Bewegung, die Männer in einen Hinterhalt lockt, die auf der Suche nach gleichgeschlechtlichen Begegnungen sind. Die Mitglieder der Gruppe beschimpfen ihre Opfer mit homophoben Beleidigungen und misshandeln sie körperlich vor laufender Kamera. Die Videos veröffentlicht die Gruppe auf unterschiedlichen Websites, um ihre Opfer zusätzlich zu demütigen.

Die Gruppe hat in unterschiedlichen Städten Angriffe verübt, darunter St. Petersburg, Krasnodar, Kaliningrad, Nowosibirsk, Ufa, Rjazan, Rostow, Tula, Omsk, Razan, Magnitogorsk und Irkutsk. Auf der Website der Gruppe befinden sich Hunderte Videos aus mehr als 30 Städten in Russland.

Andere nationalistische Gruppen ohne direkte Verbindungen zu „Occupy Pedophilia“ bedienen sich ähnlicher Methoden, um LGBT-Personen anzugreifen.

Human Rights Watch hat mehrere Betroffene befragt, die von diesen Bürgerwehren angegriffen wurden. Zhenja (aus Sicherheitsgründen keine Angaben zu Nachnamen und Stadt), 28 Jahre, wurde im Juli von einer Bürgerwehr in einen Hinterhalt gelockt, geschlagen und ausgeraubt. Als er am Ort eines arrangierten „Dates“ ankam, umzingelten ihn mehrere Männer im Alter von Mitte bis Ende 20. Sie beschimpften ihn als Pädophilen und schlugen ihn mehrmals, brachen ihm an zwei Stellen den Kiefer. Die Angreifer zwangen ihn, ihnen etwa 1.000 Euro zu geben.

Zhenja erstattete ein paar Tage später Anzeige, aber die Polizei hat keine nennenswerten Ermittlungen angestellt oder Verdächtige identifiziert. Es dauerte vier Monate, bis Zhenja sich von seinen Verletzungen erholt hatte.

Angriffe und Einschüchterung gegen LGBT-Aktivisten

Russische LGBT-Aktivisten berichteten von gewaltsamen Ausschreitungen und Einschüchterungen durch homophobe Aktivisten im Zusammenhang mit nahezu allen öffentlichen Veranstaltungen für die Menschenrechte und Gleichheit von LGBT-Personen. In der Mehrzahl der Fälle hat die Polizei keine angemessenen Maßnahmen ergriffen, um die Belästigungen und Angriffe zu verhindern oder zu unterbinden. In einigen Fällen wandten Polizisten übermäßige Gewalt gegen LGBT-Aktivisten an und verhafteten sie willkürlich.

Am 20. Januar 2013 versammelte sich eine kleine Gruppe von LGBT-Aktivisten in Woronesch, um gegen den Gesetzesentwurf gegen „homosexuelle Propaganda“ zu protestieren. Als ein Dutzend LGBT-Aktivisten an dem Ort ankamen, waren sie mit einer großen Gruppe Gegendemonstranten und sehr wenigen Polizisten konfrontiert.

Andrej Nasonow, ein LGBT-Aktivist, der bei der Demonstration angegriffen wurde, berichtete: „Als ich zum Hauptplatz kam, sah ich maximal zehn Polizisten, keiner davon war von OMON [Bereitschaftspolizei]. Ich sah eine große Gruppe homophober Demonstranten, etwa 500 Personen, die auf mich zu rannten, sobald ich mein Plakat ausgepackt hatte, auf dem „Stoppt den Hass“ stand. Zwei Männer stießen mich, ich fiel, und sie fingen an, mir gegen den Kopf zu treten. Als sie endlich aufhörten, stand ich auf, lief ein paar Schritte und wurde ohnmächtig.“

Nasonow erstattete Anzeige bei der örtlichen Polizei, aber die zog niemanden für den Angriff zur Verantwortung. Nasonow sagt, dass er sich seitdem an öffentlichen Orten unsicher fühlt und unter Depressionen leidet.

Am 29. Juni versammelte sich eine Gruppe LGBT-Aktivisten auf dem Marsfeld in St. Petersburg, um für LGBT-Rechte und gegen Diskriminierung und Gewalt auf Grund von sexueller Orientierung und Gender-Identität zu demonstrieren. Gegendemonstranten aus informellen, nationalistischen Gruppen griffen die Aktivisten verbal und tätlich an, viele von ihnen wurden in ein Krankenhaus eingeliefert.

Augenzeugenberichten zufolge haben die Polizisten vor Ort keine angemessenen Maßnahmen ergriffen, um die Aktivisten zu schützen. Stattdessen verhafteten sie wahllos und willkürlich 60 LGBT-Aktivisten. Diese sollten zunächst Geldstrafen zahlen, was später zurückgezogen wurde.

Human Rights Watch hat weitere Fälle von Gewalt und Belästigung gegen LGBT-Aktivisten dokumentiert, die sich in Moskau, St. Petersburg, Nowosibirsk, Woronesch, Samara und Kazan ereigneten.

Drohungen und Einschüchterung gegen russische LGBT-Organisationen

Im Jahr 2013 wurde vielen russischen LGBT-Organisationen Gewalt angedroht und ihre Aktivitäten wurden gestört.

Side by Side, ein internationales LGBT-Filmfestival in St. Petersburg, erlebte in diesem Ausmaß bisher unbekannte Belästigungen durch homophobe Aktivisten. Im November wurden mehrere Filmvorführungen durch anonyme Bombendrohungen gestört, verzögert oder verlegt. Eine Person wurde verhaftet, weil sie eine Bombendrohung ausgesprochen hatte, aber es liegen keine Berichte vor über Verhaftungen im Zusammenhang mit anderen Vorfällen.

Mitarbeiter des russischen LGBT-Netzwerks berichteten, dass sie von schwulenfeindlichen Aktivisten in St. Petersburg im November bedroht wurden. Eine homophobe Beleidigung wurde quer über die Bürotür von Coming Out, eine andere St. Petersburger LGBT-Gruppe, geschmiert.

Kategorien: Menschenrechte