RG, 22.11.1880 - I 618/79
Rechtsfall, in welchem eine an sich ungebührliche Verzögerung der Reise des Schiffes durch Stillliegenlassen desselben seitens der Rheder auf Grund besonderer Policeklauseln und des Verhaltens der Versicherer für nicht präjudizierlich erachtet wurde.
Aus den Gründen
"Nach dem sich an Art. 818 H.G.B, anschließenden §. 61 der Allgemeinen Seeversicherungsbedingungen von 1867, welche der hier fraglichen Police zum Grunde liegen, haftet der Versicherer nicht für die später sich ereignenden Unfälle, wenn von dem Versicherten oder im Auftrage oder mit Genehmigung desselben der Antritt oder die Vollendung der Reise ungebührlich verzögert wird, oder wenn der Versicherte in anderer Weise, als im vorstehenden Paragraphen angegeben worden (nämlich durch Veränderung der Reise nach einem anderen als dem vereinbarten Bestimmungshafen oder durch wesentliche Abweichung von dem der versicherten Reise entsprechenden Wege), eine Vergrößerung oder Veränderung der Gefahr veranlaßt, namentlich eine in dieser Beziehung erteilte besondere Zusage nicht erfüllt.
Die Faktorei der Kläger in Apia (auf den Samoainseln) hat nun das an sie adressierte klägerische Schiff "Susanne Godeffroy", welches dort bereits am 13. Juli 1876 eingetroffen war, unbestrittener Maßen auch nach der am 7. Oktober 1876 erfolgten Vollendung einer Reparatur der auf der Ausreise erlittenen Beschädigungen noch 6 2/3 Monate still liegen lassen und die dann am 27. April 1877 begonnene Beladung so langsam vorgenommen, daß das Schiff erst am 11. Juli 1877 die Rückreise antreten konnte, wobei es jedoch noch nicht einmal vollständig beladen war, sondern behufs Komplettierung seiner Ladung zunächst nach der, ebenfalls zu den Samoainseln gehörigen, Insel Vavau versegeln mußte. In diesem mehr als sechsmonatlichen Aufenthalte, welchen das Schiff bis zum Beginne der Beladung erlitten hat, ist aber mit den Vorinstanzen entschieden eine "ungebührliche" Verzögerung der Reise im Sinne des §. 61 der Bedingungen zu erblicken und zwar eine den Klägern als den Versicherten selbst zur Last fallende, da ihre Faktorei in Apia als ihre Beauftragte und Vertreterin erscheint, die Klägerin auch überall nicht behauptet hat, daß das Liegenlassen des Schiffes gegen ihre Instruktion geschehen und auch nicht von ihr genehmigt sei. Klägerin behauptet zwar, daß dieser Aufenthalt keinen Einfluß auf die Gefahr gehabt habe, da nach der Verklarung das Schiff Apia in dichtem Zustande verlassen und den Leck, sowie seine sonstigen Beschädigungen erst infolge von Seeunfällen erhalten habe. Das ist aber unerheblich, da der §. 61 der Bedingungen eine Ausnahme nur dann eintreten läßt, wenn erhellt, daß die Vergrößerung oder Veränderung der Gefahr einen Einfluß auf den späteren Unfall nicht hat üben können. Die Beklagte würde daher hiernach als Versicherer von Schiff und Fracht für den hier fraglichen, auf der von Apia aus angetretenen Reise dem Schiffer zugestoßenen Unfall an sich nicht haften, sofern Klägerin nicht noch - wie ihr vom Handelsgerichte freigelassen war - Umstände anführen und beweisen könnte, welche den späten Beginn der Beladung als entschuldbar erscheinen lassen.
Allein es ist dem Obergerichte darin beizutreten, daß der lange Aufenthalt des Schiffes in Apia auf Grund der in die Police aufgenommenen besonderen Bestimmungen den Klägern, auch abgesehen von einem solchen Nachweise, nicht präjudiziert.
Freilich würde diese Annahme nicht ganz unbedenklich sein, wenn man bei der Auslegung der Police lediglich auf deren Wortfassung angewiesen wäre. Denn was
a)
die s. g. Eskalenklausel anlangt, nach welcher es der "Susanne Godeffroy" freistehen sollte "Apia und einen oder mehrere Plätze und/oder Rheden der Südseeinseln, gleichviel in welcher Reihenfolge und eventuell nach bereits verlassenen Plätzen zurückkehrend, anzulaufen, mit der Freiheit, überall auf den Inseln zu löschen und zu tauschen und/oder andere Güter zuzuladen sowie eventuell in Ballast von einem nach dem anderen Platze zu versegeln", so erscheint es an sich als sehr mißlich, hierin auch die Vereinbarung zu finden, daß die Kläger berechtigt seien, das Schiff längere Zeit in Apia unbeschäftigt stillliegen zu lassen, da von der Gestattung eines solchen längeren Aufenthaltes mit keinem Worte die Rede ist und die (von der Beklagten, welche gerade das Gegenteil behauptet, übrigens bestrittene) Behauptung der Kläger, daß der Aufenthalt des Schiffes in Apia weniger gefahrvoll als ein Umherfahren desselben zwischen den verschiedenen Südseeinseln gewesen sein würde, schon deshalb unerheblich ist, weil die Kläger durch das einstweilige Liegenlassen des Schiffes noch keineswegs darauf verzichteten, dasselbe nachträglich auch noch zu Zwischenfahrten in der Südsee zu benutzen, wie denn dasselbe unstreitig in Apia auch nur teilweise beladen und durch seine Expedition nach Vavan behufs Komplettierung der Ladung die hier fragliche Klausel auch in anderer Weise ausgenutzt wurde, sodaß der noch hinzukommende längere Aufenthalt in Apia thatsächlich das von der Beklagten übernommene Risiko jedenfalls noch verlängerte und vermehrte und nicht etwa ein bloßes minus der in dieser Klausel den Klägern gestatteten Befugnisse war. Auch weist das Obergericht mit Recht darauf hin, daß die Kläger selbst durch ihr Verhalten, nämlich durch ihre den übrigen Versicherern zugestandene Prämienverbesserung von 5 % für die laut der Police vorgesehene Abweichung von der ursprünglichen Versicherung, den Aufenthalt des Schiffes in Apia nicht unter die hier fragliche Klausel subsumiert zu haben scheinen. Denn nach dem Wortlaute dieser Klausel würden sie zu deren Ausnutzung schon gegen die bedungene feste Prämie befugt gewesen sein, während allerdings die unten zu besprechende s. g. Abweichungsklausel nur gegen demnächst festzusetzende Zuschlagsprämien benutzt werden durfte ...
b)
Auch die weitere Klausel der Police, nach welcher "etwaig Abweichungen von obigen Reisen oder gänzliche Veränderung derselben nicht präjudizieren sollen, diese Versicherung vielmehr vorkommenden Falles in Kraft bleiben soll, gegen Prämienregulierung nach Billigkeit, sobald definitive Nachrichten eingehen", läßt das Bedenken zu, daß zwischen der Verzögerung der Reise durch einen freiwilligen Aufenthalt des Schiffes am Lande einerseits und Abweichungen von der Reise oder Veränderung derselben andererseits im technischen Sinne ein Unterschied besteht und erstere technisch nicht etwa eine Unterabteilung der letzteren ist. Denn wie Art. 817 H.G.B, nur von der gänzlichen Veränderung der Reise - nämlich von der Richtung derselben nach einem anderen Bestimmungshafen - spricht, Art. 818 dagegen die ungebührliche Verzögerung der Reise, die Abweichung von dem entsprechenden Wege u.s.w. oder die Vergrößerung oder Veränderung der Gefahr in anderer Weise behandelt, so unterscheiden auch die §§. 60 und 61 der allgemeinen Bedingungen, wobei sie aber von jenen Gesetzesbestimmungen im einzelnen und namentlich auch insofern differieren, als §. 60 die Abweichung von dem entsprechenden Wege u.s.w. der Aufgabe der versicherten Reise durch die Wahl eines anderen Bestimmungsortes (nachdem die Gefahr zu laufen begonnen) gleichstellt, während §. 61 mit der ungebührlichen Verzögerung der Reise jede in anderer als der im §. 60 angegebenen Weise vom Versicherten veranlaßte Vergrößerung oder Veränderung der Gefahr zusammenfaßt. Schon aus diesen Differenzen zwischen den gesetzlichen Bestimmungen und den allgemeinen Versicherungsbedingungen ergiebt sich aber, daß die Unterscheidung zwischen den Folgen der Veränderung der Reise, Abweichungen von derselben und Verzögerung der Reise etwas mehr oder weniger Willkürliches hat. Sie beruhen sämtlich auf dem gemeinsamen Grundgedanken, daß eine Vergrößerung oder Veränderung der Gefahr für den Versicherer von dem Versicherten nicht herbeigeführt werden darf, und daß letzterer, falls es dennoch geschieht, so angesehen werden soll, als ob er die Gefahr selbst übernommen habe. Wenn nun im vorliegenden Falle vereinbart war, daß sogar eine gänzliche Veränderung der Reise den Klägern nicht präjudizieren, sondern die Versicherung vielmehr in diesem Falle gegen eine der Billigkeit entsprechende nachträgliche Prämienerhöhung in Kraft bleiben solle, die Gefahr daher in diesem höchst bedeutungsvollen Punkte von den Versicherern ohne alle Einschränkung und Umgrenzung übernommen war, so läßt sich schon dieserhalb nicht wohl annehmen, daß im Gegensatze hierzu eine bloße ungerechtfertigte Verzögerung der Reise nach der Intention der Kontrahenten als eine ungebührliche Verzögerung im Sinne des §. 61 der Allgemeinen Bedingungen habe angesehen werden und die Versicherer von der Haftung für weitere Unfälle befreien sollen. Vielmehr liegt es, zumal bei dem ganz besonderen Vertrauen, welches ausweise der Police den Versicherten auch durch die, ihnen an sich die Handhabe zu ungebührlicher Ausbeutung ihres Interesses auf Kosten des Interesses der Versicherer bietende s. g. Eskalenklausel geschenkt wurde, sehr nahe, daß nach dem Willen der Kontrahenten durch die Police auch ein längerer Aufenthalt des Schiffes gegen eine demnächst zu regulierende Zusatzprämie habe gedeckt sein sollen, selbst wenn das Schiff während dieses Aufenthaltes unbeladen war und wenn die Behauptung der Beklagten richtig sein sollte, daß ein solcher Aufenthalt mit Rücksicht auf die Einwirkungen des heißen Klimas die Gefahr in höherem Grade vermehre, als irgend eine Veränderung der Reise; dies würde eben nur zur Folge haben, daß auch die Zusatzprämie um so höher zu bestimmen war. Weshalb die nachträgliche Feststellung eines Maßstabes für die Prämienverbesserung für diesen Fall - wie die Beklagte jetzt geltend macht - schwieriger sei, als im Falle der gänzlichen Veränderung der Reise nach einem (möglicher Weise in der Praxis bis dahin ganz ungewöhnlichen) Bestimmungsorte, ist nicht abzusehen. Auch bedarf es hier, wo nur ein Aufenthalt von 6 bis 7 Monaten in Frage steht, keines Eingehens auf die von der Beklagten angeregte Frage, ob die Konsequenz, wenn man überhaupt einen längeren Aufenthalt des Schiffes als durch die Police gedeckt ansieht, dahin führen würde, daß das Risiko für die Versicherer während jedes beliebigen z. B. viele Jahre fortgesetzten Aufenthaltes fortdauere.
Daß aber in der That auch nach der Auffassung der Beklagten die Police den Zweck hatte, das Interesse der Kläger auch für den vorliegenden Fall unter Versicherung zu stellen und ihnen somit die Anerkennung der Unmöglichkeit einer vorgängigen, alle möglichen Eventualitäten berücksichtigenden Disposition jede ihren Zwecken entsprechende anderweite Verfügung über ihr Schiff zu gestatten, ergiebt sich als ganz unzweifelhaft unter Mitberücksichtigung folgender Momente.
1.
Es läßt schon der Umstand, daß die sämtlichen zahlreichen Assekuranzgesellschaften, welche außer der Beklagten bei der Police beteiligt waren, den Schaden gegen eine Zusatzprämie von 5 % gezahlt haben, kaum eine andere Deutung zu, als daß dies in der Überzeugung von einer ihnen hierzu auf Grund des Versicherungsvertrages obliegenden Verpflichtung geschehen ist, und die Andeutungen der Beklagten, daß dies in Wirklichkeit sich anders verhalten habe, indem vielmehr nur allerlei fremdartige Verhältnisse und Einflüsse dazu geführt hätten, verdient keine Beachtung. Sodann aber spricht
2.
auch die nicht nur von den übrigen Mitversicherern, sondern auch von dem damaligen beklagtischen Bevollmächtigten R. vorbehaltlos erfolgte Entgegennahme der Anzeige vom 23. August 1877 entschieden dafür, daß auch beklagtischerseits entweder in dem Aufenthalte des Schiffes in Apia keine ungebührliche Verzögerung der Reise erblickt oder dieser Aufenthalt als unter die Abweichungsklausel fallend angesehen ist. Denn unbestrittener Maßen war dem R. durch die Andienung vom 26. Oktober 1876 bekannt, daß das Schiff bereits im Juli 1876 auf seiner Ausreise Apia mit verschiedenen Schäden, welche dort repariert wurden, erreicht hatte, und wenn er nun durch jene spätere Anzeige erfuhr, daß das Schiff erst am 11. Juli 1877 weiter versegelt sei, so war ihm dadurch bekannt, daß der Aufenthalt fast ein Jahr gedauert hatte und mithin ein ganz ungewöhnlich langer und auffallender gewesen war. Freilich waren ihm damals die näheren Umstände in betreff der Dauer der Reparatur des Schiffes und der Zeit des Beginnes seiner Beladung für die Rückreise noch nicht bekannt. Allein das ist unerheblich, da er schon deshalb, weil er von den Klägern wegen der von dem Schiffe auf der Ausreise erlittenen Schäden nicht in Anspruch genommen war, darauf schließen konnte, daß dieselben die vertragsmäßige Franchise nicht überstiegen, mithin nur unbedeutend gewesen seien und deshalb auch ihre Reparatur nur kurze Zeit habe beanspruchen können, und da andererseits eine "ungebührliche Verzögerung" der Reise im Sinne des §. 61 der Policebedingungen auch dann vorgelegen haben würde, wenn zwar mit der Beladung des Schiffes rechtzeitig begonnen, dieselbe aber so langsam betrieben wäre, daß trotzdem das Schiff bis zum 11. Juli 1877 aufgehalten wurde. Die Wahrscheinlichkeit eines mehrere Monate dauernden Aufenthaltes des Schiffes in unbeladenem Zustande lag hiernach jedenfalls schon vor. R. unterließ es aber nicht nur, sich nach den näheren Umständen zu erkundigen, sondern er acceptierte auch zugleich vorbehaltlos die Anzeige, daß den Versicherten, weil das Schiff die Rückreise nicht nach, San Francisco, sondern nach Europa angetreten habe, in Gemäßheit der darauf bezüglichen Klausel der Police noch 1/2 Procent Prämienverbesserung zu belasten sei, womit er an sich das Fortbestehen der Versicherung auch für die Rückreise stillschweigend anerkannte, und in diesem Verhalten würde, da die Kläger andernfalls damals noch in der Lage gewesen wären, das Risiko eventuell bei sonstigen Versicherungsgesellschaften zu decken, ein Verstoß gegen Treu und Glauben gefunden werden müssen, wenn N. beabsichtigt hätte, sich den Einwand der Präjudizierung der Police durch den langen Aufenthalt des Schiffes in 'Apia stillschweigend vorzubehalten ...
3.
Endlich aber ist dafür, daß im Sinne der Kontrahenten nach den besonderen Bedingungen der Police das Risiko von den Versicherern auch für den Fall eines an sich ungebührlich langen Aufenthaltes in einem Hafen der Südseeinseln gedeckt bleiben sollte, noch von erheblicher Bedeutung das Verhalten der Versicherer und insbesondere auch des damaligen beklagtischen Bevollmächtigten R. bei einem anderen Versicherungsvertrage ...
Die Beklagte ist nämlich mit der Summe von 10000 M. bei der laut Police vom 12. Juli 1876 geschehenen Versicherung des Kasko des den Klägern gehörigen Schiffes "Elisabeth", taxiert zu 200000 M., beteiligt gewesen und enthielt jene Police ganz dieselben Klauseln, wie die hier in Rede stehende. Sie lautete nämlich auf eine Reise von Marseille, Valparaiso anlaufend, nach Apia und zurück nach Europa, wofür die Prämie zu 3 % bedungen war, während die darin enthaltene sogenannte Eskalenklausel und Abweichungsklausel mit denjenigen der hier fraglichen Police durchaus übereinstimmten, insbesondere auch dort von der Gestattung eines längeren Aufenthaltes in einem der Zwischenhäfen keine Rede war. Nichtsdestoweniger ist aber, nachdem die "Elisabeth" glücklich nach Hamburg zurückgekehrt war, laut Nachtrag der Police vom 22. Januar 1878 konstatiert, daß sich das Schiff seiner Zeit 9 Monate in Papete aufgehalten habe, und daß für diese außergewöhnliche Verzögerung den Versicherten zufolge " umstehender" Vereinbarungen (nämlich jener Klauseln) eine Prämienzulage von 3 % zu belasten sei, was sämtliche Versicherer (auch R.) acceptierten. Da die Sache aber in beiden Fällen - abgesehen davon, daß in dem einen das Risiko für die Versicherer glücklich abgelaufen war, in dem anderen aber zu einem Verluste geführt hatte - ganz gleich lag, so kann in dieser Entgegennahme einer Zuschlagsprämie, und zwar nur einen einzigen Tag vor der Zustellung der gegenwärtigen Klage, nur das Anerkenntnis der Beklagten gefunden werden, daß die obige Auslegung der Policenklauseln richtig, und daß mithin das Risiko der Beklagten trotz des längeren Aufenthaltes des Schiffes fortgelaufen sei, indem sonst die Beklagte mit sich selbst in Widerspruch getreten sein würde durch Annahme einer Prämie ohne ein entsprechendes Risiko." ...