RG, 08.01.1880 - IV 185/79
Unter welchen Umständen ist über Beiträge zum Kirchenbau, welche durch eine voll der aufsichtführenden Regierung exekutorisch erklärte Umlage unter die Mitglieder der Kirchengemeinde verteilt sind, der Rechtsweg zulässig?
Tatbestand
An der Kirche zu D. wird ein Neubau des Thurmes ausgeführt. Die Kirchengemeindeorgane haben beschlossen, die hierzu erforderlichen Hand- und Spanndienste auf sämtliche Pfarrgemeindemitglieder zu verteilen, und dieser Beschluß ist von der Kgl. Regierung zu Frankfurt a./O. für vollstreckbar erklärt. Die eingepfarrten drei Kläger halten den Beschluß für ungesetzlich, weil nach dem in D. geltenden neumärk'schen Provinzialrechte die Handdienste von den Kossäthen, die Spanndienste von den Bauern zu leisten sind, und die Kläger zu den Kossäthen und Bauern nicht gehören. Sie haben, gegen die Kirchengemeinde zu D. klagend, auf Erstattung der von ihnen bereits eingezogenen Beiträge und auf Anerkennung ihrer Befreiung von den fraglichen Beiträgen Anträge gestellt.
Beklagte behauptet die Unzulässigkeit des Rechtsweges, weil nach §. 31 Nr. 6 der Kirchengemeinde- und Synodalordnung vom 19. September 1873 und Artt. 3 und 9 des Ges. vom 25. Mai 1874 die streitigen Leistungen durch Umlagen nach den Steuern zu verteilen und auf die Vollstreckbarkeitserklärung der Umlage durch die Regierung einzuziehen, entgegenstehende gesetzliche Bestimmungen aufgehoben, und nach §. 15 des Ges. vom 24. Mai 1861 bezüglich der durch eine in gesetzlicher Weise für exekutorisch erklärte Umlage festgesetzten kirchlichen Leistungen der Rechtsweg nur in soweit, wie bei öffentlichen Abgaben, zulässig sei.
In erster Instanz ist auf Unzulässigkeit, in zweiter auf Zulässigkeit des Rechtsweges erkannt. Die von der Beklagten eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde ist aus folgenden Gründen zurückgewiesen:
Gründe
"In Übereinstimmung mit dem Kgl. Obertribunale ist aus dem in dessen Erkenntnis vom 7. November 1877 (Entsch. Bd. 81 S. 75) angeführten Gründen anzunehmen, daß die über die Verteilung der Kirchenbaulast, namentlich bezüglich der Personen der Beitragspflichtigen, bestehenden gesetzlichen Bestimmungen nicht durch den §. 31 Nr. 6 der evangelischen Kirchengemeinde- und Synodalordnung vom 10. Sept. 1873 und Art. 9 des Ges. vom 25. Mai 1874 aufgehoben sind. Die Nichtigkeitsbeschwerde behauptet auch nicht die Unrichtigkeit dieses Satzes, stellt aber die Ansicht ans, daß schon allein das formelle Dasein der von der Kgl. Regierung zu Frankfurt a./O. für vollstreckbar erklärten Umlage, möge auch die in der Umlage festgesetzte Verteilung der Beiträge eine unrichtige sein und wider eine bestehende gesetzliche Bestimmung verstoßen, den Rechtsweg über diese Verteilung gemäß §.15 des Ges. vom 24. Mai 1861 ausschließe, indem die auf Grund des Art. 3 des Ges. vom 23. Mai 1874 für vollstreckbar erklärte Umlage für eine von der aufsichtführenden Regierung in Gemäßheit gesetzlicher Bestimmung exekutorisch erklärte Umlage zu erachten sei. Diese Ansicht ist in mehrfacher Beziehung irrig.
Zunächst drängt sich die allgemeine Bemerkung auf, daß es mehr als auffällig sein würde, wenn für die Ausschließung des Rechtsweges über einen im A.L.R. II. 11. §.709 ausdrücklich auf den Rechtsweg gewiesenen Gegenstand das Ges. vom 24. Mai 1861, welches den einzigen Zweck einer Erweiterung des Rechtsweges verfolgt, und das Ges. vom 25. Mai 1874, welches sich mit der Frage der Zulassung oder Nichtzulassung des Rechtsweges gar nicht beschäftigt, angerufen werden könnten. Eine solche Möglichkeit wird aber auch durch eine nähere Betrachtung der gedachten Gesetze beseitigt.
Der Art. 3 Abs. 3 des Ges. vom 25. Mai 1874 betrifft selbstverständlich die durch die Kirchengemeinde- und Synodalordnung angeordneten Umlagen, und diese im §. 31 Nr. 6 erwähnten Umlagen beziehen sich, wie im Erkenntnis des Obertribunals vom 7. Novbr. 1877 mit Recht angenommen ist, auf gewisse neue Abgaben und Leistungen, welche mit den in §.15 des Ges. vom 24. Mai 1861 gemeinten nicht identisch sind; namentlich beziehen sich die Umlagen jenes §. 31 Nr. 6 nicht auf die Leistungen zum Kirchenbau. Sodann setzt der §. 15 des Ges. vom 24. Mai 1861 eine Umlage voraus, welche von der aufsichtführenden Regierung in Gemäßheit gesetzlicher Bestimmung angeordnet oder exekutorisch erklärt ist. Die Worte "in Gemäßheit gesetzlicher Bestimmung" haben sich in dem von der preußischen Regierung dem Landtage vorgelegten Entwürfe des Gesetzes noch nicht befunden, sind erst von der Kommission des Abgeordnetenhauses ohne Widerspruch der Regierungskommissarien eingeschaltet und demnächst in das Gesetz aufgenommen, und zwar ausdrücklich, um die Ausschließung des Rechtsweges auf den Fall zu beschränken, daß die Regierung kraft einer besonderen gesetzlichen Bestimmung zur Anordnung und Verteilung der umgelegten Beiträge und Abgaben ermächtigt ist, und nicht bloß in Ausübung ihres allgemeinen Aufsichtsrechtes handelt (Stenograph. Ber. über die Landtagsverhandlungen 1861 Bd. 4 S. 951). Sobald die Voraussetzung einer besonderen gesetzlichen Bestimmung nicht zutrifft, ist durch die exekutorisch erklärte Umlage der Regierung der Rechtsweg nicht ausgeschlossen, und da die endgültige Entscheidung darüber, ob jene Voraussetzung vorliegt oder nicht, der Verwaltungsbehörde nicht beigelegt ist, sondern die Entscheidung, wie allgemein über die Frage, was Gegenstand des Rechtsweges ist, zur richterlichen Kognition gehört, so hat das Gericht gerade in Befolgung des §. 15 a, a. O. darüber zu entscheiden, ob der Umlage eine besondere gesetzliche Bestimmung zu Grunde liegt, folgeweise im Falle der Verneinung über die streitige Beitragspflicht materiell zu erkennen.
Endlich handelt der §. 15 nicht bloß im ersten, sondern auch im zweiten Satze nur von beständigen Kirchenabgaben und Leistungen. Wie die Regierungsmotive zum Entwurfe des Gesetzes ausführen, und wie auch die Bezugnahme in den Anfangsworten des Paragraphen ergiebt, sollte die Erweiterung des Rechtsweges, soweit etwas Neues darüber bestimmt werde, sich nur auf die in Nr. 1 der Kabinetsordre vom 19. Juni 1836 erwähnten Abgaben erstrecken, und dort sind nur die beständigen Abgaben und Leistungen genannt. Im vorliegenden Falle handelt es sich um eine Last, welche nicht zu den beständigen gehört, und diese ist den Bestimmungen weder der Kabinetsordre vom 19. Juni 1836 noch des §. 15 a. a. O. unterworfen.
Hiernach hat der Appellationsrichter, indem er die Zulässigkeit des Rechtsweges annahm, nicht §. 1 der Einleit. zur A.G.O.; §§. 9, 10,15 des Ges. vom 24. Mai 1861; A.L.R. II. 14. §§. 78, 79; Artikel 3, 9 des Ges. vom 25. Mai 1874 und §. 31 Nr. 6 der Kirchengemeinde- und Synodalordnung vom 10. September 1873 verletzt."