RG, 22.10.1920 - VI 139/20

Daten
Fall: 
Preuß. Tumultgesetz
Fundstellen: 
RGZ 100, 243
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
22.10.1920
Aktenzeichen: 
VI 139/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Stichwörter: 
  • Landgericht I Berlin
  • Kammergericht Berlin

1. Wird die Anwendung des preuß. Tumultgesetzes vom 11. März 1850 auf öffentliche Aufläufe dadurch ausgeschlossen, daß die revolutionäre Bewegung siegreich ist ?
2. Sind die Vorschriften der §§ 14, 15 Abs. 1 des Reichsgesetzes über die durch innere Unruhen verursachte Schäden vom 12. Mai 1920 in der Revisionsinstanz auch dann anzuwenden, wenn sie bei Erlaß des angefochtenen Berufungsurteils noch nicht in Geltung waren?

Tatbestand

Am 10. und 11, November 1918 fanden auf dem Alexanderplatz in Berlin Unruhen statt, bei denen das Eigentum der Klägerin nach ihrer Behauptung beschädigt wurde. Sie macht für ihren Schaden die Beklagte unter Berufung auf das preußische Tumultschadengesetz vom 11. März 1850 verantwortlich. Das Landgericht erachtete den Klaganspruch dem Grunde nach für gerechtfertigt und das Kammergericht stimmte im wesentlichen zu. Die Revision der Beklagten wurde mit einer aus den Entscheidungsgründen ersichtlichen Maßgabe zurückgewiesen.

Gründe

In Beziehung auf die Entstehung des von der Klägerin behaupteten Schadens hat sich das Berufungsgericht den Ausführungen des Landgerichts angeschlossen. Letzteres hat festgestellt, daß am 10. und 11. November 1918 auf dem Alexanderplatz in Berlin große Menschenmengen versammelt waren, daß geschossen wurde und der Platz in der Nacht teilweise abgesperrt war, ferner, daß das Warenhaus der Klägerin wegen dieser Vorgänge früher schließen mußte. An verschiedenen Glasscheiben, der Spiegelrückwand eines Schaukastens, an einer Tischdecke, einer kleinen Decke und der Uhr auf dem Dache fanden sich Schußverletzungen, ferner war eine große Scheibe eingeschlagen. Die Beschädigungen sind, wie das Landgericht weiter sagt, von Teilen der auf dem Alexanderplatze versammelten Menge unter Anwendung offener Gewalt verursacht worden.

Dieser Tatbestand ist an sich geeignet, die im § 1 des Tumultschadengesetzes aufgestellten Erfordernisse für einen Schadensersatzanspruch des Verletzten gegen die Gemeinde zu erfüllen. Die Revision wendet ein, es müsse für diese Instanz unterstellt werden, daß die Schäden von einer der kämpfenden Parteien und zwar von den organisierten Anhängern der Volksbeauftragten verursacht sein, die schon damals die rechtmäßige Regierung gebildet hätten. Es handele sich um echte Revolutionserscheinungen und auf solche und die mit ihnen im unmittelbaren Zusammenhange stehenden Schäden finde das Tumultgesetz keine Anwendung, auch fehle den schädigenden Handlungen die Rechtswidrigkeit. Weiter werden die grundsätzlichen Ausführungen des Berufungsgerichts über die Anwendbarkeit des Tumultschadengesetzes bekämpft.

Die Revision konnte nicht als begründet angesehen werden.

Das Berufungsgericht hält es für unerheblich, ob die Schäden auf Handlungen der Kampfparteien oder auf solche von Teilnehmern an Zusammenläufen, die sich ohne politische Beweggründe gebildet hatten, zurückzuführen seien. Für den letzteren Fall hält es das Tumultschadengesetz mit Recht unbedenklich für anwendbar. Im ersteren Falle komme es nicht darauf an, ob das Polizeipräsidium damals noch im Besitze von Anhängern der alten Regierung gewesen sei oder sich schon in der Gewalt der Revolutionäre befunden habe, in beiden Fällen greife das Tumultschadengesetz Platz.

Über die weiteren der für die Entscheidung grundsätzlich in Betracht kommenden Fragen hat sich der Senat bereits ausgesprochen. (Wird näher dargelegt)...

... Das Berufungsgericht führt ferner aus, die alte Staatsgewalt sei zur Zeit der hier erheblichen Vorgänge noch nicht durch den Rat der Volksbeauftragten ersetzt gewesen, die Mehrheit der Volksgenossen habe ihn noch nicht als gefestigte Regierung anerkannt. Infolgedessen sei die Verteidigung der Regierung gesetzmäßig und der Angriff der Revolutionäre rechtswidrig, gewesen, Dagegen stellt die Revision die Rechtswidrigkeit der schädigenden Handlungen überhaupt in Abrede. Dieser Auffassung kann nicht zugestimmt werden. Verletzungen von Personen und Beschädigungen des Eigentums sind als solche rechtswidrig, sofern sie nicht durch besondere Umstände gerechtfertigt werden; ein solcher Umstand aber kann in dem politischen Zwecke des Auflaufs nicht gefunden werden. Ob die politische Bewegung erfolgreich ist oder nicht, erachtet das Berufungsgericht als unerheblich, weil die Rechtswidrigkeit der Gewalthandlungen nach dem Zeitpunkt ihrer Ausführung zu beurteilen sei und die Ausschaltung der erfolgreichen revolutionären Bewegungen den Zweck des Gesetzes, von gewaltsamen Bewegungen gegen die öffentliche Ordnung abzuhalten, vereiteln würde. Dem ist jedenfalls im Ergebnis zuzustimmen. Aus dem Gesetze lassen sich keine Anhaltspunkte dafür entnehmen, daß die Rechtswidrigkeit der Beschädigungen oder überhaupt die Haftung der Gemeinden von dem Ausgange der tumultarischen Bewegungen abhängig sein sollte. In Frankreich ist allerdings nach Moericke, Die deutschen Tumultgesetze, S. 6, in einem Gesetze vom 30. September 1830 verfügt worden, daß der durch einen gerechten Tumult verursachte Schaden aus der Staatskasse nicht zu vergüten sei. Aber dieser Standpunkt ist dem preußischen Gesetze fremd. ...

Obgleich hiernach die erwähnten Angriffe der Revision nicht als berechtigt anerkannt werden können, war das Rechtsmittel nicht lediglich zurückzuweisen, weil jetzt das Reichsgesetz über die durch innere Unruhen verursachten Schäden vom 12. Mai 1920 eingreift. Es handelt sich in der Klage um einen Vermögensschaden, der nach dem 1. November 1918, aber vor dem Inkrafttreten des Reichsgesetzes entstanden ist und, wie aus dem Sachverhalt ohne weiteres erhellt, im Zusammenhange mit inneren Unruhen steht. Für solche durch offene Gewalt oder ihre Abwehr verursachte Schäden bestimmt § 15 a. a. O., daß zwar die bisherigen Gesetze maßgebend bleiben, aber der Ersatz mittelbaren Schadens und entgangenen Gewinns sowie der Ersatz für Gegenstände, die dem Luxusbedürfnis des Betroffenen dienen, nicht beansprucht werden kann. Nur rechtskräftig festgestellte Ansprüche sollen unberührt bleiben. Das Reichsgesetz war bei Erlaß des Berufungsurteils noch nicht in Geltung und konnte daher von dem Berufungsgericht auch nicht beachtet werden. Nun wird freilich auf Grund der Vorschriften in §§ 549, 550 ZPO. die Meinung vertreten, daß die Prüfung des Berufungsurteils durch das Revisionsgericht nur auf Grundlage der zur Zeit seiner Verkündung in Geltung gewesenen Gesetze erfolgen dürfe, und hieraus ist geschlossen worden, daß Art. 201 EG. zu BGB. bei der Prüfung eines vor dem 1. Januar 1900 verkündeten Berufungsurteils außer Betracht zu bleiben habe(vgl. die Urt. des III. und VI. Zivilsenats RGZ. Bd. 45 S. 98 und 421; s. auch Bd. 63 S.141). Für den vorliegenden Fall kann indes dahingestellt bleiben, ob der oben wiedergegebenen Auslegung der §§ 549, 550 ZPO. lediglich zuzustimmen ist. Auch wenn das Gericht, wie es in RGZ. Bd. 46 S. 422 ausgedrückt wird, bei einer ihm obliegenden Entscheidung immer zunächst die ihm durch das Prozeßrecht gesetzten Grenzen festzustellen hat und das materielle Recht war innerhalb derselben zur Geltung bringen kann, ist das Reichsgesetz in der Revisionsinstanz anzuwenden. Sein Wortlaut ergibt deutlich, daß seine die rückwirkende Kraft betreffenden Bestimmungen nicht durch Berufung auf die Vorschriften der ZPO. beschränkt werden dürfen. Wenn in § 14 bestimmt wird, daß wegen der Schäden an Leib und Leben von dem Inkrafttreten des Gesetzes an Ansprüche auf Grund landesgesetzlicher Vorschriften über den Ersatz von Aufruhrschäden gegen Länder oder Gemeinden nicht mehr geltend gemacht oder weiter verfolgt werden dürfen, so kann es keinem Zweifel unterliegen, daß diese Vorschrift in den Prozeßbetrieb eingreift und auch von dem Reichsgerichte zu beachten ist. Nicht anders steht es mit der Bestimmung des § 15, insoweit sie sagt, daß der Ersatz der angeführten Schäden nicht "beansprucht" werden könne. Dem neuen Rechte war daher durch eine entsprechende Einschränkung des Berufungsurteils zur Anerkennung zu verhelfen, und dies ist durch die in den entscheidenden Teil aufgenommene Maßgabe, die sich nicht nur auf das über den bezifferten Anspruch ergangene Grundurteil, sondern namentlich auch auf die Feststellungsklage bezieht, geschehen.