RG, 22.10.1920 - III 138/20

Daten
Fall: 
Steigerung des Anschaffungspreises
Fundstellen: 
RGZ 100, 134
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
22.10.1920
Aktenzeichen: 
III 138/20
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Landgericht Stuttgart
  • Oberlandesgericht Stuttgart

1. Zur Anwendung des § 155 BGB.
2. Befreit eine Steigerung des Anschaffungspreises den Verkäufer von seiner Lieferpflicht, wenn die Vertragserfüllung seinen geschäftlichen Ruin zur Folge haben würde ? Kann er sich dabei auch auf seine Verpflichtungen gegenüber anderen Käufern berufen?

Tatbestand

Der Beklagte, der Alleinvertreter der Motorwagenfabrik A. O. in R. für Süddeutschland ist, verkaufte im Februar 1919 im eigenen Namen und für eigene Rechnung dem Kläger einen in der Preisliste der Fabrik mit 11250 M bewerteten Motorwagen, lieferbar zum 1. April 1919 mit 3 Wochen Nachfrist, um 12000 M gegen eine Anzahlung von 4000 M. Der Wagen wurde in der O.'schen Fabrik hergestellt und dem Beklagten im Juli 1919 geliefert, aber nicht zum Listenpreise, sondern mit Rücksicht auf die inzwischen eingetretene Änderung der Betriebs- und Preisverhältnisse um 13 292,25 M. Der

Beklagte weigerte sich unter Berufung auf die veränderten Verhältnisse, den Wagen um 12000 Ms zu liefern und verlangte einen Kaufpreis von 17000 M.

Der auf Lieferung zum Vertragspreise gerichteten Klage gab die erste Instanz statt. Das Berufungsgericht wies die Klage ab. Auf die Revision des Klägers wurde das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Gründe

Das Berufungsgericht gibt für die Abweisung des Lieferungsanspruchs zwei Gründe: Der Kaufvertrag sei wegen versteckter Meinungsverschiedenheit über eine wesentliche Vertragsbestimmung ungültig, und jedenfalls brauche ihn der Beklagte bei den veränderten Verhältnissen nicht zu erfüllen. Beide Gründe sind unhaltbar.

Von einer versteckten Meinungsverschiedenheit im Sinne des § 155 BGB. kann nach dem festgestellten Sachverhalte keine Rede sein. Verträge sind gemäß § 157 nach Treu und Glauben auszulegen, und wenn danach ein Vertrag in einem bestimmten Sinne verstanden werden muß. bleibt für die Anwendung des § 155 in der Regel kein Raum. Das erfordert die Sicherheit des Rechtsverkehrs. Eine mehrfache Deutung des vorliegenden Vertrags kann aber nicht in Frage kommen. Die Verschiedenheit der Meinungen bezieht sich auf eine im gedruckten Vertragsentwurf enthaltene Bestimmung, wonach der Beklagte, wenn er aus irgendwelchen Gründen die Lieferung nicht zu bewerkstelligen vermöge, zur Rückerstattung der Anzahlung verpflichtet, anderen Ansprüchen gleichviel welcher Art aber nicht ausgesetzt sein sollte. Wie das Berufungsgericht feststellt, hat der Kläger, als er den Entwurf unterzeichnete, diese Bestimmung in einer Weise eingeklammert, daß die Klammern leicht übersehen werden konnten, und dann den Entwurf ohne jeden Hinweis auf die Änderung dem Beklagten zugesandt, der ihn, wie ebenfalls festgestellt ist, ohne die Einklammerung zu bemerken, unterschrieb. Das Vorgehen des Klägers verstößt gegen Treu und Glauben. Daraus ist zunächst zu folgern, daß der Kläger sich auf die Einklammerung nicht berufen kann, den Vertrag vielmehr so gegen sich gelten lassen muß, wie wenn die Klammern nicht vorhanden waren. Dem Beklagten aber, der den Vertrag in eben diesem Sinne gewollt hat, fehlt jeder berechtigte Anlaß, die streitige Bestimmung nicht anzuerkennen. Nach Treu und Glauben muß daher der Vertrag mit dieser Bestimmung als für beide Teile gültig erachtet werden. Damit entfällt der erste Grund des Berufungsgerichts.

Auch der zweite Grund trägt die Entscheidung nicht. Das Berufungsgericht führt aus, daß O. infolge der unvorhergesehenen und unvorhersehbaren Änderung der Verhältnisse in der Kraftwagenindustrie dem Beklagten gegenüber von der Verpflichtung, zu den früher vereinbarten Preisen zu liefern, frei geworden sei, gibt aber zu, daß damit dem Beklagten die Lieferung des bestellten Wagens an den Kläger nicht unmöglich geworden sei, und kommt zur Abweisung der Klage nur, indem es die streitige Vertragsbestimmungen dahin auslegt, daß sie auch dann anzuwenden sei, wenn, wie hier der Fall, der Beklagte infolge der veränderten Verhältnisse, nämlich mit Rücksicht auf die Höhe des von ihm an O. zu entrichtenden Preises, den Wagen nicht mehr zum Vertragspreise von 12 000 M liefern, in diesem Sinne also den Vertrag nicht mehr erfüllen könne. Eine solche Auslegung, ist aber unzulässig. Sie widerspricht dem klaren Wortlaute der Bestimmung, die nur vom Bewerkstelligen der Lieferung, nicht von der Höhe und Angemessenheit des Preises spricht, und damit auch ihrem Sinne, wie ihn der Kläger verstehen mußte und wie er infolge, dessen nach Treu und Glauben gemäß § 157 BGB. auch nur verstanden werden darf. Auch die allgemeine Erwägung, eine so unwirtschaftliche Maßnahme, wie die Lieferung eines Wagens, der im Ankauf über 13000 M koste, für nur 12 000 M, liege nicht im Sinne des Vertrags, ist unhaltbar. Mit dieser Begründung könnte jedem Verkäufer, der sich in seinen Erwartungen bezüglich der Preisentwicklung getäuscht sieht, ein Rücktrittsrecht zugesprochen werden. Das würde jede Sicherheit des Handelsverkehrs untergraben und muß deshalb zurückgewiesen werden. Von dem Grundsatze, daß Verträge zu wahren sind, können Ausnahmen nur dann zugelassen werden, wenn es sich um derart außergewöhnliche Änderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse handelt, daß die Vertragserfüllung dem, was beim Vertragsschlusse vernünftigerweise beabsichtigt war, nicht mehr entspricht und ein Zwang zur Erfüllung der nach §§ 157, 242 BGB. gebotenen Rücksicht auf Treu und Glauben zuwiderlaufen würde. Auch eine größere Steigerung des Anschaffungspreises, als hier in Frage steht, könnte für sich allein den Beklagten nicht von seiner Lieferpflicht befreien (vgl. RGZ. Bd. 88 S. 172, Bd. 92 S. 322). Der Verkäufer muß ebenso die Gefahr einer Preissteigerung tragen wie der Käufer gegebenenfalls die eines Preissturzes. Etwas anderes ist auch nicht aus der Entscheidung des erkennenden Senats vom 21. September 1920 III 143/20 (oben S. 129) zu entnehmen. Der Gesichtspunkt der clausula rebus sic statibus kann, wie dort ausdrücklich gesagt ist, nur unter ganz besonderen Umständen angewendet werden. Im übrigen ist an dem Grundsatze festzuhalten, daß Verträge zu wahren sind. Demgemäß ist auch im vorliegenden Falle davon auszugehen, daß der Beklagte, wenn nicht besondere Umstände seine Befreiung rechtfertigen, trotz der ihn treffenden Erhöhung der Anschaffungspreise vertragsmäßig liefern muß. Eine Befreiung von der Lieferpflicht könnte er nur dann beanspruchen, wenn, wie er behauptet, anzunehmen wäre, daß die Vertragserfüllung, sei es auch nur mittelbar, ganz oder nahezu seinen geschäftlichen Ruin zur Folge haben würde.

In dieser Richtung kommt in Betracht, daß der Beklagte Alleinvertreter der Motorwagenfabrik von A. O. für ganz Süddeutschland ist, daher Verträge über die Lieferung von O.-Motorwagen naturgemäß auch mit anderen Personen abgeschlossen hat. Es handelt sich dabei allerdings um Beziehungen, die mit dem Vertragsverhältnis des Beklagten zum Kläger an sich nichts zu tun haben, während bei der Beantwortung der Frage, ob dem Verkäufer die Vertragserfüllung auch unter veränderten Verhältnissen zugemutet werden kann, regelmäßig nur sein Verhältnis zum einzelnen Käufer maßgebend ist. In der Rechtsprechung des Reichsgerichts ist jedoch anerkannt, daß der Verkäufer unter besonderen Umständen auch seine Beziehungen zu anderen Personen dem Käufer entgegenhalten kann. So ist in RGZ. Bd. 84 S. 125 für den Samenhandel ausgesprochen worden, daß der Verkäufer einer nur von ihm gebauten Samengattung, wenn die Ernte entgegen seiner schuldfreien Annahme zur Befriedigung aller Käufer nicht ausreicht, jeden Käufer auf einen verhältnismäßigen Anteil verweisen kann. Die Entscheidung beruht auf dem Gedanken, daß in einem Falle dieser Art das Verlangen einer vollen Befriedigung einzelner Käufer ohne Rücksicht auf die Ansprüche der übrigen gegen Treu und Glauben verstoße. In ähnlicher Weise müssen hier die Verpflichtungen, die der Beklagte anderen Käufern gegenüber um die gleiche Zeit übernommen hat, bei der Beantwortung der Frage berücksichtigt werden, ob dem Beklagten die Lieferung an den Kläger zu den Vertragspreisen noch zugemutet werden konnte, als er den bestellten Wagen von O. zu höherem Preise geliefert erhielt. Der Beklagte hatte geltend gemacht, wenn er dem Kläger liefern müsse, würden auch alle anderen Personen Lieferung beanspruchen, denen er unter den gleichen Verhältnissen O.'sche Motorwagen verkauft habe, und das würde seinen geschäftlichen Ruin zur Folge haben. In der Berufungsbegründung war dazu näher ausgeführt: Der Beklagte habe im Anfange des Jahres 1919 im Vertrauen auf seine Verträge mit O. 20 bis 30 Wagen ähnlicher Art, wie dem Kläger, verkauft, außerdem aber noch eine Reihe von Wagen, die erheblich höhere Preise hatten. O. verlange aber an Stelle der früher vereinbarten Preise die heutigen - zur Zeit der Berufungsbegründung, im Januar 1920 geltenden - Tagespreise, wonach z. B. ein Wagen, wie der dem Kläger zu liefernde 34000 M koste. Müsse der Beklagte alle diese Kaufverträge zu Vertragspreisen erfüllen, so würde das für ihn in den nächsten drei Monaten einen Verlust von 600000 bis 800000 M bedeuten, also sein ganzes Geschäftskapital aufzehren und ihn zur sofortigen Liquidation zwingen, wenn er den Konkurs vermeiden wolle. Das Berufungsgericht berührt diesen Standpunkt des Beklagten, indem es als Beweis für die Billigkeit seiner, wie dargelegt, unzulässigen Vertragsauslegung anführt, daß es den geschäftlichen Ruin des Beklagten herbeiführen müßte, wenn er gezwungen wäre, die verkauften Wagen infolge der nachträglichen Veränderungen der wirtschaftlichen Verhältnisse zu Preisen abzugeben, die weit hinter den Einkaufspreisen zurückbleiben. Ein Eingehen auf die einzelnen Behauptungen des Beklagten und insbesondere eine Feststellung seiner Geschäftsverhältnisse und der in Frage kommenden Kaufabschlüsse hat jedoch nicht stattgefunden. Das muß in der Berufungsinstanz nachgeholt werden. Wenn richtig ist, was der Beklagte behauptet, daß nämlich eine Erfüllung aller in Frage kommenden Verträge zu den vereinbarten Preisen für ihn nicht nur erhebliche Vermögensverluste, sondern die sofortige Liquidation oder den Konkurs und damit den geschäftlichen Ruin zur Folge gehabt haben würde, dann - aber auch nur dann - brauchte er auch dem Kläger nicht zu den Vertragspreisen zu liefern, und die Abweisung der Klage wäre gerechtfertigt. Diese Frage bedarf also noch der Prüfung.