RG, 21.10.1920 - IV 163/20
Kann das aus § 1636 Satz 1 BGB. hergeleitete Recht des für schuldig erklärten Ehegatten zum persönlichen Verkehr mit dem Kinde, sofern es sich nicht um die Gestaltung des Verkehrs im einzelnen handelt, durch Klage im ordentlichen Rechtswege geltend gemacht werden?
Tatbestand
Die Ehe der Parteien wurde im Jahre 1916 aus alleinigem Verschulden des Beklagten geschieden. Die Klägerin verheimlichte dem Beklagten geflissentlich den Aufenthalt des Kindes der Parteien, um ihm einen Verkehr mit dem Kinde unmöglich zu machen. In dem von der Klägerin angestrengten Rechtsstreit auf Herausgabe ihres eingebrachten Vermögens hat der Beklagte Widerklage erhoben mit dem Antrage, die Klägerin zu verurteilen, ihm die Adresse seines Kindes anzugeben und ihm den Verkehr mit demselben zu gestatten. Die Klägerin hat der Widerklage die Einrede der Unzulässigkeit des Rechtswegs entgegengesetzt.
Das Landgericht hat durch Teilurteil die Widerklage wegen Unzulässigkeit des Rechtswegs abgewiesen. Auf die Berufung des Beklagten hat das Oberlandesgericht das erstinstanzliche Urteil aufgehoben und die Sache zur weiteren Verhandlung in die erste Instanz zurückverwiesen. Die Revision der Klägerin wurde zurückgewiesen.
Gründe
Da die Ehe der Parteien aus alleinigem Verschulden des Beklagten geschieden ist, steht die Sorge für die Person der aus der Ehe hervorgegangenen Tochter nach § 1635 Abs. 1 BGB. der Klägerin zu. Der Beklagte hat jedoch nach § 1636 Satz 1 die Befugnis, mit dem Kinde persönlich zu verkehren, und diesen Verkehr kann nach § 1636 Satz 2 das Vormundschaftsgericht näher regeln. Die Klägerin hat seither jeden persönlichen Verkehr des Beklagten mit seiner Tochter geflissentlich verhindert, indem sie ihren und des Kindes Aufenthaltsort vor dem Beklagten geheim hält und ihrem Prozeßbevollmächtigten verboten hat, ihre Adresse bekannt zu geben. Gegen diese Beeinträchtigung des Rechtes des Beklagten zum persönlichen Verkehr richtet sich die
Widerklage, mit der der Beklagte die Verurteilung der Klägerin begehrt, ihm die Adresse seines Kindes anzugeben und ihm den Verkehr mit demselben zu gestatten. Eine nähere Festsetzung darüber, wie der Verkehr im einzelnen sich gestalten soll, wird vom Beklagten zurzeit nicht verlangt und kann auch, solange der Aufenthalt des Kindes nicht bekannt ist, nicht wohl erfolgen, weil erst nach Bekanntwerden des Aufenthaltsortes des Kindes zu übersehen ist, in welcher Weise sich ein persönlicher Verkehr mit dem Beklagten zweckmäßig gestalten läßt. Mit der Widerklage soll hiernach lediglich das sich aus § 1636 Satz 1 ergebende Recht des Beklagten zum persönlichen Verkehr mit seinem Kinde der Klägerin gegenüber zur Anerkennung gebracht werden, und zwar ist der Antrag des Beklagten nicht im Sinne einer bloßen richterlichen Feststellung seines sich ohne weiteres aus § 1636 Satz 1 ergebenden Rechtes aufzufassen, sondern dahin zu verstehen, daß die Klägerin zu einem Tun, der Angabe der Adresse des Kindes, und zu einem Unterlassen, nämlich der künftigen Unterlassung ihrer den Verkehr des Beklagten mit dem Kinde verhindernden Maßnahmen, verurteilt werden soll. Es ist daher zu prüfen, ob für diesen Anspruch der Rechtsweg zulässig ist. ...
Die Entscheidung hängt, entgegen der Ansicht des Oberlandesgerichts, von der Frage ab, ob der Streit über das aus § 1636 hergeleitete Recht zum persönlichen Verkehr auch insoweit, als es sich nicht um die Regelung des Verkehrs im einzelnen handelt, vom Gesetz vor den Vormundschaftsrichter verwiesen oder der Entscheidung im ordentlichen Rechtsweg überlassen ist.
Diese Frage ist bisher vom Reichsgericht noch nicht entschieden worden. Die von der Revision angezogenen Urteile des Reichsgerichts (RGZ. Bd. 63 S. 236 und Bd. 69 S. 94) betreffen sie nicht. In dem ersten Urteile handelte es sich um eine Klage auf Durchführung der vom Vormundschaftsgericht getroffenen näheren Regelung des Verkehrs, das zweite Urteil betraf eine Klage der vom Manne getrennt lebenden Frau auf Gestaltung des Verkehrs mit ihrem Kinde in einer näher bestimmten Weise. Das Reichsgericht hat ausgesprochen, daß ein unter den Eltern bestehender Streit über die nähere Regelung des persönlichen Verkehrs mit dem Kinde sowohl bei vorausgegangener Ehescheidung als auch während bestehender Ehe zur ausschließlichen Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts gehört und daß auch die Durchführung der vom Vormundschaftsgericht erlassenen Anordnungen nicht im Klagewege, sondern nur mittels der vom Vormundschaftsgericht selbst anzuordnenden landesgesetzlich vorgesehenen Zwangsmaßregeln zu erfolgen hat. Ob und inwieweit an dieser mit der herrschenden Meinung im Widerspruche stehenden und in der Literatur lebhaft bekämpften Ansicht festzuhalten sein würde, kann dahingestellt bleiben. Denn auch wenn in der Vorschrift des § 1636 Satz 2 BGB. die Begründung der ausschließlichen Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts in dem vom Reichsgericht angenommenen Umfange gefunden wird, folgt daraus nicht, daß auch für die Geltendmachung des Rechtes zum Verkehr mit dem Kinde auf Grund des § 1636 Satz 1, also wenn nur das Recht überhaupt, nicht aber die nähere Regelung des Verkehrs den Streitgegenstand bildet, der Rechtsweg hat ausgeschlossen werden sollen. Tatsächlich läßt das Gesetz nicht erkennen, daß die Absicht bestanden hätte, in derartigen Fällen eine ausschließliche Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts zu begründen. Wenn in § 1636 zunächst in Satz 1 das unentziehbare Recht des für schuldig erklärten Ehegatten zum persönlichen Verkehr mit dem Kinde festgesetzt und dann in Satz 2 bestimmt ist, daß das Vormundschaftsgericht den Verkehr näher regeln könne, so ist damit die Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts eben nur für die Regelung des Verkehrs im einzelnen eingeführt und damit auf solche Fälle beschränkt worden. Wenn also dem verkehrsberechtigten Elternteile das Recht zum Verkehr bestritten oder doch die Ausübung des Rechtes tatsächlich unmöglich gemacht wird, so hat die Durchsetzung des Rechtes gegenüber den von den anderen Elternteile ausgehenden Beeinträchtigungen nicht vor dem Vormundschaftsrichter, sondern im ordentlichen Rechtswege zu geschehen. Allerdings kann unter Umständen auch das Vormundschaftsgericht in die Lage kommen, über das grundsätzliche Recht zum persönlichen Verkehr zu entscheiden. Denn das Vormundschaftsgericht kann den Verkehr auch dann näher regeln, wenn der sorgeberechtigte Elternteil dem anderen jede Befugnis zum Verkehr und damit die Zulässigkeit der Regelung bestreitet. Die nähere Regelung des Verkehrs setzt voraus, daß überhaupt ein Recht zum Verkehr besteht. Ist dieses Recht bestritten, so kann das Vormundschaftsgericht zur Regelung des Verkehrs erst schreiten, wenn es das Recht zum Verkehr geprüft und als bestehend anerkannt hat. Allein in diesen Fällen beruht die Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts für die Entscheidung, ob ein Recht zum Verkehr besteht, lediglich darauf, daß diese Entscheidung die Vorfrage für die vom Vormundschaftsgericht zu treffende Hauptentscheidung bildet, nicht darauf, daß sie grundsätzlich und auch dann zur Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts gehört, wenn sie nicht als Vorfrage, sondern als eigentlicher Streitgegenstand auftritt.
Die Entstehungsgeschichte des § 1636 BGB. ergibt nichts, was zu einer anderen Auslegung im Sinne einer erweiterten Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts auch für lediglich unter Satz 1 fallende Streitfälle führen könnte. Joseph (Zentralbl. f. freiw. Gerichtsbarkeit 1907 S. 857) glaubt auf Grund der Motive zu dem Planckschen Vorentwurfe des Familienrechts von 1880 (Bd. 3 S. 1147) die ausschließliche Zuständigkeit des Vormundschaftsgerichts auch bei einem Streite über Satz 1 des § 1636 annehmen zu müssen. An der betreffenden Stelle der Motive ist gesagt, aus dem Erziehungsrechte folge, daß zunächst der Erziehungsberechtigte darüber zu bestimmen habe, ob, wie oft und wo dem anderen Elternteile der Zutritt zum Kinde gestattet werden solle; bei mißbräuchlicher Ausübung aber müsse das Vormundschaftsgericht nach Maßgabe der allgemeinen Grundsätze, da die Kinder nicht ohne Not dem anderen Elternteil entfremdet werden sollten, einzuschreiten befugt sein. Joseph folgert aus dem Worte "ob", daß das Einschreiten des Vormundschaftsgerichts auch eintreten solle, wenn der Sorgeberechtigte das Zutrittsrecht des anderen überhaupt bestreitet. Diese Folgerung kann aber für die Vorschrift, wie sie im § 1636 Gesetz geworden ist, nicht als zutreffend anerkannt werden. Ganz abgesehen davon, daß bei der Verwertung der Motive zu einem längere Zeit vor dem Erlasse des Gesetzes zurückliegenden Vorentwurf für die Auslegung des Gesetzes besondere Vorsicht geboten ist, fehlt es hier an dem Erfordernis, daß das von jenen Motiven Beabsichtigte in dem veröffentlichten Gesetzestext einen auch ohne die Motive verständlichen Ausdruck gefunden hat (vgl. RGZ. Bd. 21 S. 50, Bd. 22 S. 144, Bd. 59 S.405). Das Gesetz überträgt durch Satz 2 des § 1636 nur die Regelung des Verkehrs im einzelnen dem Vormundschaftsgericht, nicht auch die Entscheidung darüber, ob überhaupt ein Verkehr stattfinden soll, entscheidet diese Frage vielmehr ein für allemal selbst durch Satz 1 des § 1636 in bejahendem Sinne. Ein bei der Kommissionsberatung gestellter Antrag, dem Vormundschaftsrichter die Befugnis zu geben, den Verkehr gänzlich auszuschließen, wenn er zum Nachteile des Kindes gereiche, wurde abgelehnt (Prot. Bd. 4 S. 449), und auch die Motive zum BGB. (Bd. 4 S. 628) betonen bereits, daß der sorgeberechtigte Elternteil dem anderen den persönlichen Verkehr mit den gemeinschaftlichen Kindern nicht gänzlich versagen dürfe. Das BGB. steht also in dem hier in Rede stehenden Punkte auf einem von den Motiven zum Vorentwurf abweichenden Standpunkt. Aus der Bemerkung jener Motive, daß bei entstehendem Streite auch die Frage, ob dem schuldigen Elternteile der Zutritt zu dem Kinde überhaupt gestattet werden solle, vom Vormundschaftsgericht zu entscheiden sei, kann, nachdem durch § 1636 Satz 1 diese Frage endgültig in bejahendem Sinne entschieden ist, nicht gefolgert werden, daß auch alle aus der Vorschrift des § 1636 Satz 1 sich ergebenden Ansprüche nur vor dem Vormundschaftsgerichte sollen verfolgt werden dürfen. Es muß daher angenommen werden, daß die Durchsetzung des im § 1636 Satz 1 festgesetzten Rechtes des nicht sorgeberechtigten Elternteils zum persönlichen Verkehr mit dem Kinde grundsätzlich im ordentlichen Rechtswege zu erfolgen hat und daß der Rechtsweg nur insoweit ausgeschlossen ist, als es sich um die nähere Regelung dieses Verkehrs handelt. Diese Auslegung des § 1636 BGB., die mit der im Schrifttum herrschenden Meinung (Planck Anm. 2 zu § 1636; v. Staudinger Anm. 3 zu § 1636; Opet-Blume Anm. 4 zu § 1636; RGRKomm. Anm. 1 zu § 1636) übereinstimmt, führt dazu, die Zulässigkeit des Rechtswegs für die mit der Widerklage verfolgten Ansprüche zu bejahen. Das Ergebnis entspricht auch allein dem Rechtsschutzinteresse des verkehrsberechtigten Elternteils in solchen Fällen, in denen, wie hier, dem verkehrsberechtigten Elternteile von dem anderen durch Geheimhaltung des Aufenthalts des Kindes die Feststellung des zuständigen Vormundschaftsgerichts unmöglich gemacht oder doch wesentlich erschwert wird. Die Entscheidung des Berufungsgerichts erweist sich hiernach im Ergebnis als richtig, auch wenn die von ihm gegebene Begründung zu mißbilligen ist.