RG, 20.10.1920 - I 144/20
1. Erwirbt der Verfügungsberechtigte gegen den Verwahrer eigene Rechte auf Auslieferung, wenn die Eisenbahn unanbringliches Frachtgut hinterlegt?
2. Kann ein Verschulden des Verfügungsberechtigten darin erblickt werden, daß er sich längere Zeit um das hinterlegte Frachtgut nicht kümmert?
Tatbestand
Der Kläger hatte im Jahre 1914 von bei Firma Gebrüder S. in W. Schuhwaren gekauft und die Ware bezahlt. Die Verkäuferin sandte die Ware auf zwei Frachtbriefe mit der Bahn an den Kläger nach K., wo sie im Januar 1915 eintraf. Da der Kläger nichts von sich hören ließ, beauftragte die Bahn die Beklagte mit der Lagerung der Ware. Die Beklagte setzte sich im Mai 1915 mit der Absenderin in Verbindung und sandte ihr das Gut gegen Zahlung der darauf lastenden Spesen zurück. Erst im September 1915 erkundigte sich der Kläger nach dem Verbleibe des Guts. Wegen der Zurücksendung desselben verlangt er von der Beklagten Schadensersatz. Er stützt sein Verlangen hauptsächlich darauf, daß er im Besitz zweier Duplikatfrachtbriefe über die Sendung sei.
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Auf die Berufung des Klägers hat das Oberlandesgericht der Klage zu drei Vierteln stattgegeben. Die Revision der Beklagten hatte teilweise Erfolg.
Gründe
Das Berufungsgericht hat angenommen, daß, wenn die Eisenbahn das Frachtgut nach § 437 HGB., § 81 EVO. hinterlegt, der Frachtvertrag beendet wird und damit die weitere Verbindlichkeit der Eisenbahn erlischt, daß aber derjenige, der nach Frachtrecht über das Frachtgut verfügungsberechtigt ist, einen Anspruch nunmehr gegen den Verwahrer auf Auslieferung des Guts erwirbt. Diesen Ausführungen, die die Revision zur Nachprüfung verstellt, ist zuzustimmen. Mit Recht nimmt die herrschende Meinung an, daß derartige unmittelbare Ansprüche des Verfügungsberechtigten gegen den Verwahrer entstehen. Durch die Hinterlegung soll bewirkt werden, daß die Eisenbahn von ihrer strengen Haftung nach Frachtrecht befreit wird, Nimmt sie das Gut selbst auf Lager, so haftet sie nunmehr aus dem Verwahrungsvertrage (Eger, EVO. § 81 Anm. 429); lagert sie es bei einem Dritten ein, so ist ihre weitere Haftung beendet (Senckpiehl. Lagergeschäft S. 390). Dementsprechend sind die allgemeinen Abfertigungsvorschriften § 42 Nr. 16 und 19 gefaßt (Eger a, a. O, § 81 S. 430, 443; Eger, Eisenbahnrechtl. Entsch. Bd. 28 S. 137). In ganz gleicher Weise ist auch für das Gebiet des Seerechts die Regelung der Hinterlegung erfolgt; die Haftung des Verfrachters erlischt auch hier; der Empfangsberechtigte erwirbt einen Anspruch gegen den Verwahrer (Pappenheim, Seerecht Bd. 3 S. 416). Der Verwahrer ist also nicht Erfüllungsgehilfe des Frachtführers, unter welcher Annahme Ansprüche des Dritten gegen ihn nicht gegeben wären, sondern er haftet dem Dritten unmittelbar im eigenen Namen. Streitig ist, ob der Frachtführer den Verwahrungsvertrag seinerseits im Namen des Verfügungsberechtigten, also nicht im eigenen Namen, abschließt (vgl. einerseits Senckpiehl S. 389 Anm. 4, anderseits Pappenheim Bd. 3 S. 415 bei Anm. 1). Dieser Streit bedarf im vorliegenden Falle keiner Entscheidung, da auch mit dem Abschluß im eigenen Namen des Frachtführers vereinbar ist, daß unmittelbar Rechte zugunsten des Dritten zur Entstehung gelangen. Die Passivlegitimation der Beklagten ist also gegeben.
Die Aktivlegitimation des Klägers folgt daraus, daß dieser der Verfügungsberechtigte war, wie das Berufungsgericht zutreffend dargelegt und die Revision hinsichtlich des Frachtbriefs vom 5. Januar 1915 nicht bestritten hat. Nach Ankunft des Guts ist der Empfänger berechtigt, die Übergabe des Frachtbriefs und die Auslieferung des Guts zu verlangen (§ 435 HGB); eine im Regelfalle an sich mögliche entgegenstehende Anweisung des Absenders (§ 433) war vorliegendenfalls ausgeschlossen. weil der Absender sich nicht im Besitz der ausgestellten Frachtbriefduplikate befand (§ 455), diese vielmehr in Händen des Klägers waren.
Hinsichtlich des Frachtbriefs vom 2. Januar 1915 rügt die Revision, daß aus diesem die Erteilung eines Duplikats nicht hervorgehe und der Kläger also nicht verfügungsberechtigt gewesen, vielmehr die Verfügungsberechtigung der Absenderin in Kraft geblieben sei. Ausweislich dieses Frachtbriefs hat die Absenderin die Erteilung des Duplikats beantragt. Das Duplikat ist auch erteilt worden, wie das Berufungsgericht feststellt. Die Verfügungsberechtigung der Absenderin ist also auch hier ausgeschlossen, da sie nicht im Besitze des Duplikats war. Allerdings ist nun auf diesem Frachtbriefe die Erteilung des Duplikats nicht durch Aufdruck des Stempels in dem dafür bestimmten Raume kenntlich gemacht. Die Revision führt aus, die Beklagte habe danach mit der Erteilung des Duplikats nicht zu rechnen brauchen, und es enthalte also kein Verschulden, wenn sie das Frachtgut der Absenderin zurückgeliefert habe. Das Berufungsgericht hat demgegenüber dargelegt, die Beklagte habe wissen müssen, daß das Duplikat erteilt werden mußte, nachdem ein dahingehender Antrag, wie aus dem Frachtbrief ersichtlich, gestellt war; es sei also Sache der Beklagten gewesen, nähere Erkundigungen hierüber einzuziehen, ehe sie die Ware der Absenderin auslieferte. Dieser Darlegung des Berufungsgerichts ist durchweg beizutreten. Die Anforderungen, die damit an die Sorgfalt eines Lagerhalters gestellt werden, sind nicht überspannt; es lag unter den gegebenen Verhältnissen in der Tat die Annahme nahe, daß der Aufdruck des Stempels durch Versehen unterblieben sei. ...
Endlich hat das Berufungsgericht zugunsten der Beklagten angenommen, daß ein eigenes Verschulden des Klägers bei der Entstehung des Schadens mitgewirkt habe; es hat dieses Mitverschulden auf ein Viertel bemessen. Das Frachtgut ist anfangs Januar 1915 angekommen; es ist der Absenderin am 11. Mai 1915 zurückgesandt worden. Erst im September 1915 hat sich der Kläger nach dem Verbleibe der Ware erkundigt; im Dezember 1915 ist sodann über das Vermögen der Absenderin das Konkursverfahren eröffnet. Die Revision rügt, daß das Mitverschulden des Klägers zu gering bemessen sei. Dieser Rüge muß stattgegeben werden. Das Verschulden der Beklagten erweist sich als kein sehr erhebliches, sondern es stellt sich als ein im Geschäftsbetriebe hin und wieder vorkommendes, wenn auch nicht entschuldbares Versehen dar. Das Verhalten des Klägers ist dagegen im wesentlichen unerklärt geblieben. Der Kläger hat sich von Januar bis September 1915 um seine Ware überhaupt nicht gekümmert, obgleich er doch wußte, daß die Ware an ihn abgesandt war. Ebenso hat er, als er im September 1915 den Sachverhalt erfuhr, keinerlei Schritte zur Abwendung des Schadens gegen die Verkäuferin unternommen, obgleich solche Erfolg versprachen, da die Geschäftsaufsicht sich der Befriedigung zweifelloser Forderungen nicht entzogen haben würde. Dies untätige Verhalten des Klägers hat zu dem Schadenserfolge in gleichem Maße beigetragen wie das Versehen der Beklagten. Es erschien deshalb angemessen, den Schadenbetrag zwischen den Parteien nach Hälften zu teilen.