RG, 17.03.1919 - VI 362/18
Ist der Fußgänger auf der Straße verpflichtet, sein Augenmerk auch auf Hindernisse und Gefahren zu richten, die seinen eigenen Weg nicht bedrohen?
Tatbestand
Der Kläger ist am Abend des 26. Januar 1917 auf dem Bürgersteige vor dem Schulgebäude der Beklagten, als er einen Brief zu dem dort angebrachten Briefkasten tragen wollte, infolge von Eisglätte gefallen und hat einen Oberschenkelbruch erlitten. Seine Schadensersatzklage ist von beiden Vordergerichten zu 2/3 zugesprochen, zu 1/3 abgewiesen worden. Die Revision des Klägers hatte Erfolg.
Gründe
"Streitig ist nur, ob den Kläger ein Mitverschulden an dem Unfälle trifft. Das Berufungsgericht stellt fest, daß an der Unfallstelle seit längerer Zeit eine große Eisfläche vorhanden und nicht bestreut worden war. Es erwägt, der Kläger habe täglich in der Frühe auf dem Wege zur Kirche die Klosterstraße - in der die Schule liegt - passiert, und es sei, als er mit seinen Schülern zurückging, schon hell gewesen. Er habe daher die Eisfläche bei einiger Aufmerksamkeit wahrnehmen müssen. Zwar sei er auf der eisfreien Seite der Straße gegangen und behaupte, daß ihm durch die Reihen seiner Schüler, die den Fahrdamm eingenommen hätten, der Blick auf die Eisfläche versperrt worden sei. Dies erscheine jedoch nicht wahrscheinlich. Derartige Schülerreihen seien nicht so dicht, daß man nicht hindurchsehen könne, zumal die Straße nicht so breit sei, daß man eine derartig große Eisfläche übersehen könnte. Es müsse daher angenommen werden, daß der Kläger die Eisfläche gekannt habe, oder daß er sie, da er nur 50 m entfernt wohnte, bei einiger Aufmerksamkeit kennen mußte. Bei dieser Sachlage sei er verpflichtet gewesen, wenn er am Abend die Klosterstraße passierte, den andern eisfreien Bürgersteig zu benutzen und, um zum Briefkasten zu gelangen, die Straße an der Stelle zu überschreiten, wo der Übergang gefahrlos war.
Diese Ausführungen werden von der Revision mit Recht beanstandet.
Ein Verschulden würde dem Kläger nur dann zur Last fallen, wenn er die gefährliche Stelle als solche gekannt oder erkannt und sie, obwohl er sie vermeiden konnte, ohne die gebotene Vorsicht betreten hätte, oder wenn ihm seine Unkenntnis zur Fahrlässigkeit gereichte. Darüber, daß die Eisfläche ohne Beleuchtung war, für die die Beklagte nach ihrer Behauptung aus Kohlenmangel nicht sorgen konnte, besteht kein Streit. Das Berufungsgericht stellt nun nicht fest, daß die Eisfläche dem Kläger bekannt war. Es kommt auf Grund der Beweiswürdigung nur zu dem Schluß, daß er sie gekannt habe oder bei einiger Aufmerksamkeit habe kennen müssen. Für die Revisionsinstanz ist von den beiden Möglichkeiten, die das Berufungsgericht offen läßt, die dem Kläger günstigere maßgebend. Wird diese der Beurteilung zugrunde gelegt, so verkennt das Gericht den Begriff der im Verkehr erforderlichen Sorgfalt. Der Kläger hatte keine Pflicht, die Aufmerksamkeit anzuwenden, deren Versäumnis das Berufungsgericht ihm zum Vorwurf macht. Er brauchte sich nicht darum zu kümmern, ob irgendwo in der Nähe seiner Wohnung oder seines Weges zur Kirche sich eine Eisfläche befand, sondern er war wie jeder Fußgänger nur gehalten, um sich vor Schaden zu bewahren, auf seinen Weg zu achten und, soweit dort auffällige Hindernisse oder Fährlichkeiten sich zeigten, sie zu vermeiden. Auf Gefahren, die seinen Weg nicht bedrohten, brauchte er kein Augenmerk zu richten. Hatte sich auf der Straßenseite, die er nicht beging, Eis gebildet, so berührte ihn das weder in seiner Wohnung noch bei dem Gange zur Kirche. Wenn er im Gegensatze zu andern Personen, die dort wohnten oder vorüber gingen, von der Eisfläche nichts gemerkt hat, so mag das einem Mangel an Beweglichkeit des Auges oder Geistes, einer Verträumtheit oder Zerstreutheit zuzuschreiben sein. Die pflichtmäßige Achtsamkeit und Vorsicht hat der Kläger damit nicht versäumt. Die Auffassung des Berufungsgerichts mit ihren Folgerungen würde für den Regelfall die Anforderungen an die Aufmerksamkeit des Fußgängers auf der Straße über Gebühr und Bedürfnis steigern. Ganz besonders gelagerte Verhältnisse, die eine andere Beurteilung rechtfertigen könnten, sind hier nicht festgestellt.
Die Beklagte hatte das Mitverschulden des Klägers zu beweisen. Diesen Beweis hat sie nach dem, was das Berufungsgericht feststellt, nicht erbracht, weiteren Beweis auch nicht angetreten. Die Klage ist daher in vollem Umfange begründet, und es kommt auf die weiteren Bedenken der Revision, die gleichfalls zu Zweifeln Anlaß geben, nicht mehr an: ob der Kläger, wenn er in der Frühe die Eisfläche gesehen hat, die erforderliche Sorgfalt verletzte, weil er abends nicht mehr daran dachte; oder wenn er daran dachte, ob er nicht darauf vertrauen durfte, daß die Beklagte, die gleichen Tages durch die Polizei eine öffentliche Aufforderung zum Bestreuen der Eisglätte erlassen hatte, selbst dieser Auflage nachgekommen sein werde." ...