RG, 04.04.1917 - I 181/16

Daten
Fall: 
Abandonrecht
Fundstellen: 
RGZ 90, 140
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
04.04.1917
Aktenzeichen: 
I 181/16
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Bremen, Kammer für Handelssachen
  • OLG Hamburg

Kann die Aufbringung, auch abgesehen von dem Abandonrechte, den Versicherungsanspruch auslösen? Begriff der Aufbringung im Gegensatze zur An- oder Festhaltung. Wann und wie lange ist der Gegenstand der Versicherung im Sinne des § 861 Abs. 1 Nr. 2 HGB. infolge einer Aufbringung bedroht?

Tatbestand

Die Klägerin hat gemäß der Police vom 28. Juli 1914 bei den Beklagten 100 tons Sesamsaat im Werte von 41.000 M die mit dem deutschen Dampfer Aenne Rickmers von einem chinesischen Hafen nach Bremen zu befördern waren, unter Bezugnahme auf die Bremer Seeversicherungsbedingungen von 1875 gegen die "durch die Klausel "bloß für Seegefahr" ausgeschlossenen Gefahren" und weiter nach Maßgabe der angehängten Kriegsklausel versichert. In der Kriegsklausel heißt es:

"Der Versicherer haftet nicht:
1. ...
2. für Kosten, welche entstehen aus der Anhaltung, der Blockade des Aufenthaltshafens, der Zurückweisung von einem blockierten Hafen, der Entlöschung, Lagerung und Weiterbeförderung der Güter wegen Kriegsgefahr;
3. ... Verderb und Verminderung der Güter infolge durch Kriegsgefahr veranlaßten Aufenthalts sind gleichfalls nicht zu Lasten des Versicherers. Die Vorschriften des § 39 werden aufgehoben.

Wenn der versicherte Gegenstand dadurch bedroht ist, daß er von einer kriegführenden Macht aufgebracht wurde und während einer Frist von zwei Monaten nicht freigegeben ist, ist der Versicherte befugt, die Zahlung der Versicherungssumme zum vollen Betrage gegen Abtretung der in betreff des versicherten Gegenstandes ihm zustehenden Rechte zu verlangen. Die Frist wird von dem Tage an gerechnet, an welchem dem Versicherten die freie Verfügung über den versicherten Gegenstand entzogen ist."

Mit der im Dezember 1915 erhobenen Klage hat die Klägerin behauptet, daß der Dampfer Aenne Rickmers mit den darauf befindlichen 100 tons Sesamsaat im Herbst 1914 von einem britischen Kriegsschiff aufgebracht und nach Alexandrien geschleppt worden sei, ohne daß bisher eine Freigabe der versicherten Ware stattgefunden habe. Sie verlangt daher gemäß der Kriegsklausel unter Vorbehalt weiterer Ansprüche von jeder der Beklagten 10 % ihres Anteils an der Versicherungssumme, zusammen 4.100 M nebst Zinsen.

Die Beklagten beantragen Klageabweisung, indem sie bestreiten, daß eine Aufbringung des Dampfers stattgefunden und daß sich die versicherte Ware zur Zeit der angeblichen Aufbringung noch auf dem Schiffe befunden habe. Nach ihrer Darstellung lag der Dampfer bei Ausbruch des Krieges in Port Said und ist auf Grund einer Absprache zwischen dem ägyptischen Gouvernement und der britischen Marineverwaltung von dort nach Alexandrien gebracht worden. Der englische Oberbefehlshaber habe nämlich dem Schiffer verboten, in den Kanal einzufahren, ihm dagegen freigestellt, bis zu einem bestimmten Termin in der Richtung nach dem Mittelmeere zu fahren und die Ladung zu entlöschen oder sie in andere Schiffe überzuladen. Der Schiffer habe auch einen Teil der Ladung, darunter die hier versicherte Ware entlöscht, sei aber mit dem Schiffe in Port Said verblieben. Der im Dienste des ägyptischen Gouvernements stehende Hafenkapitän habe ihm dann gesagt, daß das Schiff unter englischer Führung in See gehen müsse. Die deutsche Mannschaft sei entlassen, und der englische Schiffsführer von dem Hafenkapitän angewiesen worden, einen bestimmten Kurs zu nehmen, auf dem er gemäß Vereinbarung mit der britischen Marineverwaltung ein englisches Kriegsschiff antreffen und weitere Instruktion erhalten werde. Demgemäß sei verfahren worden; der Dampfer sei von dem hierzu beorderten Kriegsschiff in Empfang genommen und nach Alexandrien begleitet worden.

Das Landgericht verurteilte die Beklagten nach der Klage. Ihre Berufung wurde zurückgewiesen. Der Revision wurde stattgegeben aus folgenden Gründen:

Gründe

"Vorweg ist zu bemerken, daß der gegenwärtige Fall auch abgesehen von der Verschiedenheit der Versicherungsbedingungen wesentlich anders liegt, als der durch Urteil dieses Senats vom 25. Oktober 1918 entschiedene (RGZ. Bd. 89 S. 34). Denn in letzterem Falle herrschte Einverständnis darüber, daß der Dampfer Aenne Rickmers aufgebracht war zum Zwecke der prisengerichtlichen Aburteilung; streitig war nur, ob damit die policenmäßige Bedingung der Nehmung erfüllt sei, was bejaht wurde. Ferner war unstreitig, daß sich die versicherte deutsche Ware zur Zeit der Aufbringung an Bord befunden hat. Im gegenwärtigen Falle ist bestritten, daß eine Aufbringung stattgefunden hat, und geltend gemacht, daß es sich nur um Anhaltung (detention) handle. Sodann wird behauptet, daß die versicherte Ware schon vor der angeblichen Aufbringung oder Anhaltung des Dampfers durch ein englisches Kriegsschiff von dem deutschen Schiffer in Port Said gelöscht worden ist.

Im allgemeinen sind maßgebend die Bremer Bedingungen von 1875; die Versicherung deckt mit gewissen Beschränkungen die durch die Klausel "bloß für Seegefahr" ausgeschlossenen Gefahren. Sieht man zunächst von den Beschränkungen ab, so würden gedeckt sein (vgl. §21 der Brem.SVB.): Beraubung, Beschädigung oder Vernichtung des versicherten Gegenstandes durch Kriegsschiffe oder Kaper; Kosten, welche entstehen aus der Anhaltung und Reklamierung, aus der Blockade des Aufenthaltshafens oder der Zurückweisung von einem blockierten Hafen oder aus dem freiwilligen Aufenthalte wegen Kriegsgefahr; sonstige unmittelbare Folgen einer feindseligen Behauptung; Schaden, welcher aus der Kondemnation des Schiffes für die freigegebenen Güter durch deren Verkauf oder Beförderung zum Bestimmungsplatz entstehen mag. Stillschweigend und gemäß dem Grundsätze des § 1 der Brem.SVB. ist auch die Kondemnation selbst eingeschlossen. Nach den Beschränkungen sind hiervon aber wieder ausgeschlossen: die Kosten, welche entstehen aus freiwilligem Aufenthalte wegen Kriegsgefahr sowie aus der Anhaltung, der Blockade des Aufenthaltshafens, der Zurückweisung von einem blockierten Hafen, der Entlöschung, Lagerung und Weiterbeförderung der Güter wegen Kriegsgefahr. Auch sollen Verderb und Verminderung der Güter infolge eines durch Kriegsgefahr veranlaßten Aufenthalts nicht zu Lasten des Versicherers sein.

Da nun weder Kondemnation behauptet wird, noch auch geltend gemacht wird, daß durch die Aufbringung oder Anhaltung der versicherten Ware unmittelbar ein Schade zugefügt ist, so würde die Versicherung versagen, wenn man zunächst von der Erweiterung absieht, welche sie in den letzten Sätzen der Police durch das dort dem Versicherten zugestandene Abandonrecht erhalten hat. Denn das Abandonrecht im Falle der Kriegsgefahr ist den Bremer Bedingungen nach § 65 an sich fremd. Daher löst nach diesem Versicherungssystem die Aufbringung als solche den Versicherungsanspruch nicht aus, sondern kann Ansprüche nur erzeugen, wenn sie zur Kondemnation, d. h. zum Totalverluste führt, oder in anderer Weise unmittelbaren Verlust oder Beschädigung mit sich bringt. Die gegenwärtige Klage kann daher nur gestützt werden und ist auch nur gestützt worden auf jene letzten Sätze der Police, d. h. auf Abandonrecht unter der Behauptung: daß der versicherte Gegenstand dadurch bedroht ist, daß er von einer kriegführenden Macht aufgebracht wurde und während einer Frist von zwei Monaten, vom Tage der Verfügungsentziehung an gerechnet, nicht freigegeben ist.

Das Berufungsgericht nimmt an, daß die Aufbringung gegeben ist; im Ergebnis ist ihm darin wegen des Schiffes und, falls die Ware an Bord gewesen ist, auch für diese beizutreten, wenngleich die Begründung nicht einwandfrei ist.

Aufbringung, Nehmung und Beschlagnahme in diesem Sinne sind im wesentlichen gleichbedeutend, nur werden die beiden ersten Ausdrücke vorzugsweise in bezug auf Schiffe, der letzte in bezug auf Güter angewandt. Richtig sagt das Berufungsgericht: "Ihrem Wesen nach ist die Aufbringung gewaltsame Besitzergreifung zugunsten des Nehmerstaats." Dies setzt aber die Beschlagnahme als Prise voraus, d. h. mit der Absicht, den Eigentümer seines Eigentums zugunsten des Nehmerstaats zu berauben ( Arnould, Marine Insurance S. 829). Scharf davon zu unterscheiden ist die Anhaltung im weiteren Sinne, bei der die Absicht obwaltet, das Schiff dem Eigentümer zu belassen oder zurückzugeben oder ihn doch wenigstens dafür zu entschädigen. Die Anhaltung kann eine bloß vorübergehende sein, z. B. zum Zwecke der Durchsuchung, sie kann sich auch auf längere Zeit, z. B. die Dauer des Krieges, erstrecken. Im letzteren Sinne spricht das 6. Haager Abkommen von Beschlagnahme unter der Verpflichtung der Rückgabe nach dem Kriege. Dies ist aber keine Beschlagnahme, die der Aufbringung gleichsteht.

Geht man hiervon aus, so reichen die eigenen Feststellungen des Oberlandesgerichts nicht aus, um eine Aufbringung auch nur des Schiffes für gegeben zu erachten. Die Maßnahmen in Port Said können allerdings in der Absicht erfolgt sein, das Schiff einem britischen Kreuzer in die Hände zu spielen und eine Aufbringung auf See herbeizuführen; ebenso kann die Empfangnahme durch den britischen Kreuzer und die Überführung nach Alexandrien als Aufbringung gemeint gewesen sein. Notwendig ist beides aber an sich nicht. Nimmt man hinzu, daß anscheinend nach dem Spruche des Prisengerichts (s. Nr. 9) das in Port Said "festgehaltene" (detained) Schiff für weiter festgehalten erklärt wurde mit Rückgabe bei Kriegsschluß - "vessel detainded with restoration at the close of the war" -., so würde man eher auf gegenteilige Absicht schließen dürfen. Indessen muß nach der eigenen, insoweit vom Berufungsgerichte nicht berücksichtigten Darstellung der Beklagten angenommen werden, daß die Handlung des Kreuzers doch eine Aufbringung darstellte. Die Beklagten erklären nämlich, es sei in diesem Falle ebenso verfahren worden, wie im Falle des Dampfers Gutenfels, und hier habe das Prisengericht die seitens der Krone beantragte Kondemnierung dieses Schiffes abgelehnt, indem es die Behauptung, es läge eine "capture on the high see" vor, für eine Sophisterei erklärte. Hieraus ergibt sich klar, daß die britische Regierung bei dem Verfahren der Überführung des Dampfers nach Alexandrien von der Absicht geleitet war, die Einziehung zugunsten des britischen Staates zu betreiben und somit eine Aufbringung zu vollziehen. Auf diese Stellungnahme der Regierung kommt es aber allem bei dieser Frage an und nicht darauf, ob die Aufbringung vom Priesengerichte für gerechtfertigt erachtet ist. Soweit sich zu dieser Zeit die versicherte Ware an Bord des Dampfers befand, ist auch diese ohne weiteres als feindliches Eigentum auf feindlichem Schiffe als mitaufgebracht oder beschlagnahmt zu erachten. Damit ist aber der Rechtsstreit nach Lage des Falles, selbst unter der erwähnten Voraussetzung, daß sich die Ware noch an Bord befand, noch nicht zugunsten der Klägerin entschieden. Denn es kommt neben der Aufbringung noch eine weitere policenmäßige Bedingung der Zulässigkeit des vertragsmäßigen Abandons in Betracht. Die Kriegsklausel sagt nämlich:

"Wenn der versicherte Gegenstand dadurch bedroht ist, daß er von einer kriegführenden Macht aufgebracht wurde und während einer Frist von zwei Monaten nicht freigegeben ist, ist der Versicherte befugt usw."

Diese Fassung läßt deutlich erkennen, daß das Bedrohtsein zur Zeit der Aufbringung nicht genügt, sondern daß es fortbestehen muß, wenn nach Ablauf der zwei Monate der Abandon erklärt wird. Ist es bei letzterer Erklärung wieder beseitigt, so ist die Erklärung wirkungslos.

Diese Auslegung entspricht auch dem § 887 HGB., der auf diesen Fall eines vertraglich modifizierten Abandons um so mehr analog anzuwenden ist, als seine Vorschrift nur eine Billigkeitsregel enthält. Ist z.B. die Bedrohung durch ein freisprechendes Erkenntnis des Prisengerichts völlig hinfällig geworden, ohne daß vorher der Abandon erklärt wurde, so hat es keinen Sinn mehr, den Versicherer zu zwingen, die unbeschädigte und ungefährdete versicherte Sache gegen volle Zahlung zu übernehmen. Als unbeschädigt und ungefährdet muß aber die versicherte Sache dann gelten, wenn diejenige Gefahr, gegen die im Falle der Aufbringung versichert war, aufgehört hat, ohne daß ein Schaden, für den der Versicherer einzustehen hat, durch die Aufbringung entstanden ist. Beides würde im vorliegenden Falle zutreffen, wenn das Prisengerichtsurteil, das den Dampfer (vermutlich mit der Ladung) als lediglich bis zum Ende des Krieges zurückzuhalten erklärte, in Rechtskraft erwachsen ist, ohne daß vorher der Abandon erklärt war. Denn unter der Bedrohung durch Aufbringung kann im vorliegenden Falle nur die Gefahr der Kondemnation verstanden werden, da die Beklagten die Haftung für Kosten der Anhaltung und für Verderb und Verminderung der Güter infolge eines durch Kriegsgefahr veranlaßten Aufenthalts ausdrücklich abgelehnt haben.

Es kommt daher unter der mehrfach erwähnten Voraussetzung, daß sich die Ware noch an Bord befunden hat, darauf an, wann die Klägerin den Abandon erklärt hat und ob das behauptete freisprechende Prisengerichtsurteil vorher rechtskräftig geworden ist. Über den Zeitpunkt der Abandonerklärung steht bisher nichts fest. In der Klage ist nur behauptet, die Beklagten seien vor dem 1. November 1914 vergeblich gemahnt worden. Damals konnte aber nach den in Nr. 9 angegebenen Daten der Abandon noch gar nicht erklärt werden.

Schon aus diesen Gründen unterliegt das Urteil der Aufhebung. Mit Recht beschwert sich aber die Revision auch über die Feststellung des Berufungsgerichts, daß die versicherte Ware aufgebracht worden ist. Das Berufungsgericht selbst rechnet mit der Möglichkeit, daß die Ware sich zur Zeit, als der Dampfer Port Said verließ, nicht mehr an Bord befunden hat. Es meint aber, wenn sie vorher entlöscht sei, so könne dies nur unter englischem Zwange geschehen sein, der sich als Aufbringung kennzeichne. Die Vernehmung des Schiffers B. als Zeugen über die Behauptung, daß er freiwillig die Ware in Port Said entlöscht habe, lehnt das Berufungsgericht ab, weil dies ganz unglaubwürdig sei. Diese Begründung ist offenbar von dem vorher dargelegten Rechtsirrtum über das Wesen der Aufbringung als einer Maßnahme zur Eigentumsentziehung beeinflußt und entbehrt außerdem der Schlüssigkeit. An anderer Stelle nimmt das Berufungsgericht selbst an, daß die britische Regierung vielleicht Bedenken trug, in dem neutralen Port Said feindliche Waren zu beschlagnahmen. Es ist auch gar nicht einzusehen, weshalb die Darstellung der Beklagten in ihrem Schriftsatze ... von vornherein unglaubhaft sein soll. Danach soll dem Schiffer freigestellt worden sein, bis zu einem bestimmten Termine Port Said in der Richtung nach dem Mittelmeere zu verlassen und vorher über die Ladung zu verfügen, insbesondere sie zu entlöschen oder in andere Schiffe überzuladen. Es ist sowohl denkbar, daß die Engländer im Interesse, des Kanal, Verkehrs nicht wünschten, daß das deutsche Schiff dauernd in Port Said liegen blieb, als auch, daß sie es, und zwar leer, in Alexandrien zu haben wünschten, um es selbst für Transporte zu benutzen. Indem der Schiffer den Termin zum Verlassen des Hafens verstreichen ließ, kann er sehr wohl, weil er mit einem Zwange bezüglich des Schiffes zu rechnen hatte, die Ware freiwillig entlöscht haben, um sie zu seiner Verfügung zu behalten; sollte aber auch in dieser Hinsicht gleichfalls Zwang ausgeübt sein, so braucht darin noch keineswegs eine Beschlagnahme zum Zwecke demnächstiger Einziehung zu liegen. Jedenfalls konnte die beantragte Zeugenvernehmung des Schiffers nicht mit dieser Begründung abgelehnt werden."