RG, 03.07.1884 - III 95/84
1. Ist eine teilweise Erlöschung der servitutes praediorum urbanorum durch usucapio libertatis möglich?
2. Kann insbesondere die Servitut, daß der Nachbar sein Grundstück nicht überbaue, dadurch teilweise erlöschen, daß auf einem Teile des dienenden Grundstückes während des Verjährungszeitraumes ein Bau errichtet ist?
Tatbestand
Der Kläger nimmt für sein Haus die Servitut in Anspruch, daß das an sein Haus anstoßende, einem Nachbar gehörige Gartengrundstück nicht überbaut werde. Er hat die Konfessorienklage angestellt und verlangt mittels derselben Anerkennung seines Rechtes und Wegräumung eines Schuppens, welchen der beklagte Nachbar schon vor mehr als 10 Jahren auf dem fraglichen Grundstücke errichtet hat. Der Richter erster Instanz erkannte an, daß bezüglich des Schuppens eine usucapio libertatis eingetreten sei, er wies also die Klage zurück, soweit sie auf Wegräumung dieses Baues gerichtet war, während er im übrigen der Klage stattgab.
Gegen dieses Urteil hat nur der Beklagte Berufung eingelegt, woraus der Richter zweiter Instanz die Klage auch in demjenigen Teile verwarf, in welchem ihr vom ersten Richter stattgegeben war, indem er davon ausging, daß weil der Kläger eine Einsprache gegen den auf dem Nachbargrundstücke errichteten Bau die Verjährungszeit hindurch unterließ, die ganze Servitut durch usucapio libertatis erloschen sei.
Das Reichsgericht hat dieses Urteil auf die Revision des Klägers als rechtsirrtümlich aufgehoben und das Urteil der ersten Instanz wiederhergestellt aus folgenden Gründen:
Gründe
"Der Berufungsrichter hat die angestellte Konfessorienklage zurückgewiesen, weil er annahm, daß die ganze, in Streit befangene Realservitut durch usucapio libertatis erloschen sei.
Seine Deduktion geht dahin, daß der Kläger als Besitzer des angeblich herrschenden Grundstückes alle Veranlassung gehabt hätte, auf die Entfernung des vom Beklagten errichteten Bauwesens zu dringen oder zum mindesten sein Recht ausdrücklich zu wahren, und daß, weil er eine derartige Einsprache während der Verjährungszeit unterließ, die ganze Dienstbarkeit durch usucapio libertatis erloschen sei.
An dieser Ausführung ist ohne Zweifel richtig, daß der Kläger veranlaßt war, die Entfernung des fraglichen Bauwesens zu verlangen, weil das von ihm behauptete Recht dahin geht, daß das dienende Grundstück überhaupt nicht, also in keinem Teile überbaut werde. Aber daraus, daß der Kläger die Geltendmachung seines Rechtes dem errichteten Schuppen gegenüber versäumt hat, kann nicht ohne weiteres gefolgert werden, daß ihm die ganze Dienstbarkeit verloren gegangen sei. Sonst wäre eine teilweise Erlöschung der Realservituten durch usucapio libertatis gar nicht denkbar, weil in jeder Handlung, die zu dieser Usukapion führen kann, eine Verletzung des betreffenden Servitutenrechtes zu finden ist, die den Berechtigten zur Wahrung seines Rechtes veranlassen muß.
Das Reichsgericht geht aber von der in Theorie und Praxis überwiegend angenommenen Ansicht aus, daß die teilweise Erlöschung einer Realservitut durch usucapio libertatis möglich und durch das Prinzip der sog. Unteilbarkeit der Servituten nicht beseitigt ist. Wie immer man dieses Prinzip definieren mag, keinesfalls kann dadurch nach dem bestimmten Ausspruche der Rechtsquellen verhindert sein, daß der Servitutberechtigte einen Teil der dienenden Sache selbst unbeschränkt freigiebt, diesen also von der darauf haftenden Last befreit.
Vgl. l. 6. Dig. 8, 1: ad certan partem fundi servitus tam remitti quam constitui potest.
Dementsprechend muß es aufgefaßt werden, wenn, wie vorliegend, die Befreiung eines Teiles der dienenden Sache nicht durch dispositiven Akt des Berechtigten, sondern durch usucapio libertatis des Verpflichteten bewirkt worden sein soll. Es trifft auf einen derartigen Fall der für die erwerbende Verjährung aufgestellte, aber analogerweise auch für die usucapio libertatis maßgebende Grundsatz zu: tantum praescriptum quantum possessum, d. h. es wird derjenige Teil des dienenden Objektes frei, in betreff dessen ein der Servitut widerstreitender Zustand innerhalb der Verjährungszeit besessen worden ist.
Der besondere Inhalt der in Rede stehenden Dienstbarkeit und die Art der Besitzesausübung auf seiten des Beklagten sind nicht geeignet, die Anwendbarkeit des eben erwähnten Grundsatzes nach den Verhältnissen des konkreten Falles auszuschließen oder zu modifizieren. In dieser Richtung kommt in Betracht, daß, wie der Augenschein lehrt, an einer Ecke des dienenden Grundstückes auf einem Raume, welcher nur einen geringfügigen Teil des gesamten Grundstückes ausmacht, ein verhältnismäßig niedriges und unbedeutendes Bauwesen, nämlich der in Frage stehende Schuppen, errichtet worden ist und die Verjährungszeit hindurch bestanden hat. Sind die Voraussetzungen einer usucapio libertatis, wie bereits rechtskräftig feststeht, in betreff dieses Schuppens vorhanden, so läßt sich darum das gleiche nicht auch in Beziehung auf den übrigen weitaus größten Teil des Grundstückes behaupten, welcher unbebaut geblieben, jedenfalls nicht während der ganzen Verjährungszeit bebaut gewesen ist. Die Erlöschung des ganzen Dienstbarkeitsrechtes bezw. die Befreiung des gesamten dienenden Grundstückes könnte in Frage kommen, wenn das letztere durchweg überbaut oder in dasselbe hinein ein Bauwesen gestellt worden wäre, neben welchem der unüberbaute Teil des Grundstückes seine Bedeutung und ein Interesse für das herrschende Grundstück verloren hätte. Davon ist aber bei den vorliegenden Verhältnissen das Gegenteil der Fall.
Danach muß es als rechtsirrtümlich bezeichnet werden, daß der vorige Richter, angesichts der konkreten Sachlage, das ganze in Streit befangene Dienstbarkeitsrecht als erloschen betrachtet und die angestellte Klage abgewiesen hat." ...