RG, 03.07.1917 - III 459/16

Daten
Fall: 
Verschuldensentlastung bei Überlastung eines Beamten
Fundstellen: 
RGZ 90, 385
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
03.07.1917
Aktenzeichen: 
III 459/16
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG II Berlin
  • KG Berlin

Kann der Beamte unter besonderen Umständen wegen seiner Überlastung von jedem Verschulden daran entlastet sein, daß er auf die Führung seines Amtes nicht die genaueste Aufmerksamkeit verwendet?

Tatbestand

Bei der Gerichtsschreiberei der Abteilung 39 des Amtsgerichts Ch. war vom 15. Juli 1910 bis 3. Mai 1912 T. T. als Kanzleigehilfe beschäftigt. Die Zuteilung des Schreibwerkes an T., die Prüfung und Berichtigung der von T. in den Monatszetteln und auf den Urschriften gemachten Eintragungen und Vermerke und die Feststellung der Tagessummen lag dem Beklagten als dem verteilenden Beamten ob (Kanzleiordn. für die Gerichte vom 27. März 1907 §§ 11, 27); die monatliche Prüfung und Berichtigung der Monatszettel und die Feststellung des dem T. zu gewährenden Schreiblohns hatte der Obersekretär G. zu besorgen (Kanzleiordn. §§ 10, 28). Daraufhin erfolgte von seiten des dienstaufsichtführenden Amtsrichters die Zahlungsanweisung.

T. hatte nun während der bezeichneten Zeit viele Arbeiten teils zu hoch berechnet, teils doppelt und dreifach eingestellt, teils eingestellt, obwohl sie von seiner Ehefrau oder von anderen Beamten oder überhaupt nicht gefertigt waren. Der Beklagte hatte diese Unrichtigkeiten nicht entdeckt, vielmehr auch diese Einträge und Vermerke durch sein Namenszeichen als richtig bestätigt, da er sich mit Stichproben begnügte. Dem revidierenden Obersekretär waren die Unrichtigkeiten ebenfalls entgangen, so daß dem T. ein zu hoher Schreiblohn angewiesen und ausbezahlt wurde. Der dem T. solcherweise zu viel ausbezahlte Schreiblohn beträgt nach dem Berichte des Sekretärs D. vom 2. April 1913 957,65 M. Dafür fordert die Klage Ersatz in Höhe von 910,16 M.

Das Landgericht wies die Klage in Anwendung des § 254 BGB. ab, da dem Beklagten nur ein verhältnismäßig geringes, dem Kläger selbst aber ein wesentlich schwereres Verschulden zur Last falle und das letztere als die überwiegende Ursache des Schadens angesehen werden müsse. Der Berufungsrichter wies die Berufung des Klägers zurück: nicht § 254 BGB., sondern das Preußische Allgemeine Landrecht Teil I Titel 6 § 21 sei anzuwenden. Das Verschulden des Beklagten sei nur ein geringes oder jedenfalls nur ein mäßiges; der Schade sei ein mittelbarer und den Kläger treffe mitwirkendes Verschulden, er hätte durch Anwendung der gewöhnlichen Aufmerksamkeit den ihm erwachsenen Nachteil vermeiden können. Beide Instanzurteile erachten das Verschulden des Beklagten als ein nur geringes darum, weil der Beklagte überlastet gewesen sei und unbestritten wegen dieser seiner Überlastung wiederholt bei dem Obersekretär und bei dem Gerichtsvorstande Vorstellung erhoben hatte, ohne daß eine Abhilfe geschaffen wurde. Die Revision des Klägers wurde zurückgewiesen.

Gründe

"Die Revision greift die vom Berufungsrichter in Übereinstimmung mit dem Landgerichte getroffene Feststellung einer damals dauernd vorhandenen Überlastung des Beklagten an: diese Feststellung stütze sich auf den Bericht des dienstaufsichtführenden Amtsrichters, beruhe auf der vollkommen in der Luft schwebenden Annahme, daß dieser Amtsrichter alle in Betracht kommenden Verhältnisse richtig gewürdigt habe, und übergehe im wesentlichen die vom Kläger erhobenen substantiierten Einwendungen.

Selbstverständlich aber stand, wie der Berufungsrichter bemerkt, der aufsichtführende Amtsrichter, wenn er auch nur Vertreter war, den in Betracht kommenden dienstlichen Verhältnissen am nächsten; er mußte Art und Umfang der dem Beklagten obliegenden Dienstgeschäfte, also die dienstliche Beanspruchung des Beklagten, wie sie tatsächlich war, notwendig genau erkennen. Dieser tatsächlichen Frage gegenüber war der Hinweis des Klägers auf den Geschäftsumfang anderer Gerichtsschreibereien und auf die fortgesetzten Bemühungen der Justizverwaltung, den Personalbestand gerade der Gerichtsschreibereien des Amtsgerichts Ch. richtig und reichlich auszugestalten, unerheblich; es kann nicht auf das ankommen, was von der Justizverwaltung erstrebt und anderweit auch erreicht wurde, sondern allein auf die Sachlage, wie sie sich, insbesondere in Wirkung der im April 1910 erfolgten Zusammenlegung der Abteilungen 38 und 39, in Wirklichkeit für die Diensttätigkeit des Beklagten ergeben hatte. Der Berufungsrichter als Tatrichter durfte die Feststellung dieser allein in Frage stehenden Sachlage aus im Bericht des aufsichtführenden Amtsrichters gründen; übrigens war dieser Bericht sogar die in erster Linie sachgemäße und kraft seines eingehenden und erschöpfenden Inhalts die durchaus geeignete Grundlage der Feststellung. Als Bestätigung durfte der Berufungsrichter auch den Erlaß des Kammergerichtspräsidenten vom 4. November 1913 verwerten ... (Wird ausgeführt.)

Beide Instanzen werfen die Frage auf, wie sich der Beklagte während seiner dauernden Überlastung verhalten konnte und sollte, nachdem die von ihm unbestritten deswegen bei den zuständigen Oberbeamten wiederholt erhobenen Vorstellungen erfolglos geblieben waren. Der Berufungsrichter beantwortet diese zutreffend gestellte Frage dahin, der Beklagte habe nur die Wahl gehabt, entweder einen Teil der ihm übertragenen Amtsgeschäfte je unter besonderer Anzeige unerledigt zu lassen oder sich um Erledigung aller Amtsgeschäfte, so gut es ihm möglich war, zu bemühen. Das erstere sei dem Beklagten nicht zuzumuten gewesen, denn dadurch wären schwere Störungen des Dienstbetriebes herbeigeführt worden und dann habe der Beklagte eines Disziplinarverfahrens und seines ungewissen Ausganges gewärtig sein müssen.

Dieser Erwägung muß als einer dem billig abwägenden Rechte entsprechenden durchaus beigetreten werden. Die dauernde, den vorgesetzten Stellen wiederholt vergeblich vorgestellte Überlastung hatte nun schlechthin mit Notwendigkeit zur Folge, daß der Beklagte nicht sämtliche ihm übertragenen Dienstgeschäfte ordnungsmäßig erledigen konnte; solange die Überlastung nicht durch Abnahme des einen oder anderen Teiles der Geschäfte behoben war, verstand es sich also von selbst, daß der Beklagte dem oder jenem Teile der Geschäfte die pflichtmäßige Sorgfalt nicht widmen konnte und nicht gewidmet hatte, weil er dazu eben außerstande war. Diese Folgerung lag für die vorgesetzten Stellen, welche die Abhilfegesuche des Beklagten als begründet erkennen mußten und erkannten, klar zutage.

Mangels jedes abhelfenden Eingreifens der vorgesetzten Stellen hat der Beklagte selbst erwogen und entschieden, bei welchem Teile der Geschäfte eine nicht ordnungsmäßige, sondern nur flüchtige Erledigung die geringste Gefahr für die öffentlichen Interessen biete; er hat alle die Geschäftszweige, welche unmittelbar die Rechte des beteiligten Publikums zum Gegenstande hatten, deren Vernachlässigung demgemäß eine Haftung des Staates Dritten gegenüber zur Folge haben konnte, mit pflichtmäßiger Sorgfalt bearbeitet, sich jedoch bei der Prüfung und Bestätigung der ihm von T. über gefertigtes Schreibwerk vorgelegten Einträge und Vermerke mit Stichproben begnügt. In diesem Verhalten des Beklagten kann ein Verschulden überhaupt nicht gefunden werden. Er war in eine Notlage versetzt und trotz seiner wiederholten Vorstellungen darin belassen worden; er mußte sich mit dieser Notlage abfinden und er hat diesen ernsten, ihm ohne sein Verschulden durch das tatsächliche Ergebnis der damaligen staatlichen Organisation aufgedrängten Gewissenskonflikt zwischen der Pflicht zu ausnahmsloser Sorgfalt und der Unmöglichkeit gleichmäßiger genauer Sorgfalt für alle seine Amtsgeschäfte nach besten Kräften und nach billigen und richtigen Erwägungen zu lösen versucht.

Der Kläger hat geltend gemacht, die vergeblichen Vorstellungen des Beklagten würden ihn nur dann entlasten, wenn er ausdrücklich hervorgehoben hätte, daß er gerade das Kanzleischreibwerk nicht nachprüfen könne, sondern sich auf Stichproben beschränken müsse. Dieser Einwand geht fehl, ganz abgesehen von der Behauptung des Beklagten, daß er allerdings die große Menge des Schreibwerkes hervorgehoben habe. Denn die amtliche Anzeige, beim besten Willen die übertragenen Amtsgeschäfte nicht sämtlich ordnungsmäßig erledigen zu können, umfaßt sämtliche einzelnen Geschäftszweige, also auch die Prüfung des Schreibwerkes, als möglicherweise nur ordnungswidrig, d. h. nicht mit der nötigen Sorgfalt bearbeitbar; welcher Geschäftszweig daraufhin tatsächlich Not leiden mußte und Not litt, sich darum zu kümmern und insoweit geeignete Abhilfe zu schaffen, war eben Sache der vorgesetzten Stellen.

Die Revision bekämpft die Annahme des Berufungsrichters, den Beklagten treffe nur ein geringes oder ein mäßiges Versehen, indem sie betont, die dem Beklagten zur Last fallende fortgesetzte bewußt systematische Zuwiderhandlung gegen eine klare Dienstvorschrift stehe in krassem Widerspruche mit der genauesten Aufmerksamkeit, die der Beamte nach § 88 ALR. II. 10 auf die pflichtmäßige Führung des Amtes zu verwenden habe; und freilich hat der Beklagte die klaren Vorschriften der Kanzleiordn. § 27 bewußt und dauernd unerfüllt gelassen. Die Erfüllung aber war dem Beklagten eben wegen seiner Überlastung schlechthin unmöglich, und die vorgesetzten Stellen mußten wissen, daß der Beklagte bei dem oder jenem Geschäftszweige die pflichtmäßige genaue Sorgfalt nicht leisten werde.

Die Revision übersieht die notwendige und den vorgesetzten Stellen zutage liegende Wirkung der Überlastung ebenso bei dem Hinweis auf die Einfachheit der Abnahme des Schreibwerkes, wegen deren es genügt habe, auch nur ein wenig aufzupassen. Die Erfüllung der übrigens nach § 27 der Kanzleiordn., vgl. Muster 1 bis in die kleinsten Einzelheiten gehenden Prüfungsverbindlichkeiten des verteilenden Beamten mag freilich eine immerhin einfache sein. Sie erfordert jedoch eine nicht unerhebliche Zeit; diese stand dem Beklagten eben nicht zu Gebote. Es blieben ihm zur Erledigung des Schreibwerkes statt der Zeit von einer Stunde oder mehr täglich immer nur unzulängliche Minuten übrig; darum eben begnügte er sich mit Stichproben. Stichproben aber zeitigen nur Zufallsergebnisse, wie das Landgericht zutreffend bemerkt; das ergibt sich aus dem Begriffe der Stichproben. Falls also der Beklagte sich mit Stichproben begnügen durfte - und das ist in dem Dargelegten bejaht -, ist es ein völlig fehl gehender Einwand, diese und jene ganz offenbaren und groben Unrichtigkeiten des T. hätten vom Beklagten bemerkt werden müssen. Auch derartige Unrichtigkeiten mußten unbemerkt bleiben, wenn nicht gerade sie Gegenstand der Stichprobe waren. Eben darum hat der Beklagte nicht entdeckt, daß viele Arbeiten von der Ehefrau des T. gemacht und daß öfters Arbeitsleistungen in unmöglicher Höhe eingesetzt waren. Das nimmt der Berufungsrichter an, und das ist um so mehr eine prozeßgemäße tatsächliche Feststellung, als der Kläger niemals behauptet hat, der Beklagte habe je einmal eine von ihm wirklich bemerkte Unregelmäßigkeit trotz dessen, also wissentlich und absichtlich, unberichtigt gelassen. Die Stichproben konnten wegen Zeitmangels nur aufs Geratewohl gemacht werden, nicht erst nach Durchsicht der sämtlichen Eintragungen darauf hin, ob etwa diese oder jene verdächtig erschien. Auf den Hinweis des Berufungsrichters, die Verfehlungen des T. könnten auch nicht so ganz offensichtlich gewesen sein, da sie auch dem revidierenden Obersekretär fortgesetzt entgingen, kommt es demnach nicht weiter an.

Kann dem Beklagten nach dem Ausgeführten ein Verschulden überhaupt nicht zur Last gelegt werden, so werden gegenstandslos die Fragen, ob den Kläger selbst aus der Person seiner verfassungsmäßigen Vertreter oder seiner Erfüllungsgehilfen heraus ein Verschulden trifft, ob der Kläger sich dieses Verschulden als ein Mitverschulden nach § 254 BGB. oder nach § 21 ALR. I. 8 anrechnen lassen muß, oder ob dem Kläger alle beteiligten Beamten - seine Vertreter oder Erfüllungsgehilfen einerseits und der Beklagte anderseits - nebeneinander je für den Schaden haften.

Für die billige und richtige Beurteilung der Handlungsweise des Beklagten kann es nichts verschlagen, ob die beteiligten höheren Staatsorgane mit oder ohne Verschulden den Beklagten in die Notlage versetzten und trotz Vorstellungen darin beließen. Der Beklagte war durch die damalige staatliche Organisation gezwungen, trotz seiner Notlage die sämtlichen ihm aufgebürdeten und aufgebürdet bleibenden Amtsgeschäfte zu erledigen, und da er dies getan hat, soweit es eben ging, d. h. soweit es ihm nach billigem Ermessen zuzumuten war, muß der Vorwurf einer Amtspflichtverletzung als unbegründet abgelehnt werden. Der Beklagte ist nach der besonderen Gestaltung der Dinge durch seine Überlastung völlig von jeder Schuld entlastet."