RG, 04.10.1918 - II 498/17

Daten
Fall: 
Überwachungspflicht des Aufsichtsrats
Fundstellen: 
RGZ 93, 338
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
04.10.1918
Aktenzeichen: 
II 498/17
Entscheidungstyp: 
Urteil

Zur Überwachungspflicht des Aufsichtsrats einer Aktiengesellschaft.

Tatbestand

Über das Vermögen der Lederfabrik Aktiengesellschaft vormals E. & S. wurde im Jahre 1909 der Konkurs eröffnet. Auf Grund der Bilanzen für 31. Dezember 1906 und 31. Dezember 1907 hatte die Gesellschaft Dividenden und Tantiemen ausgeschüttet, die nach dem Gesetze nicht hätten gezahlt werden dürfen, da die beiden Geschäftsjahre in Wirklichkeit Verlust gebracht hatten. Es war dies durch erhebliche Überbewertung der Vorräte und sonstigen Aktiven verdeckt worden. Mit der Klage nahm der Konkursverwalter den Beklagten, ein Mitglied des Aufsichtsrats, wie wegen anderer Dinge, so wegen der Gewinnverteilung auf Schadensersatz in Anspruch; bei pflichtmäßiger Aufmerksamkeit habe ihm die Überbewertung nicht entgehen können. Der Beklagte wandte ein, der Aufsichtsrat habe vor der Genehmigung einer jeden Bilanz seinen Vorsitzenden O. und sein Mitglied Z. mit der Prüfung der Bilanzen und Inventuren beauftragt; die Genehmigung sei erst erfolgt, nachdem beide berichtet, daß sie die Prüfung vorgenommen hatten und nichts zu erinnern fänden.

Das Kammergericht erachtete dies zwar für erwiesen, gab aber doch auch in diesem Punkte der Klage statt. Es erwog, der Aufsichtsrat habe sich berichten lassen müssen, in welcher Weise die Prüfung von Inventur und Bilanz stattgefunden habe, namentlich wie die Bewertung der Aktiven nachgeprüft worden sei. Ein solcher Bericht sei aber nicht erfordert worden, vielmehr habe man sich darauf verlassen, daß O. und Z. ihren Auftrag schon erfüllen würden. Hätte der Aufsichtsrat die ihm obliegende Sorgfalt angewendet, so würde er erfahren haben, daß die Genannten die Bewertung der Aktiven in den Inventuren und Bilanzen für 1906 und 1907 überhaupt nicht nachgeprüft hatten; er würde dann durch Veranlassung einer anderweiten Nachprüfung die ungesetzliche Bewertung der Aktiven und damit auch die unrechtmäßige Auszahlung von Gewinnanteilen für diese Jahre leicht haben verhindern können. Bei der Bilanz für 1907 komme hinzu, daß Z. in der Aufsichtsrats- und Vorstandssitzung vom 3. April 1908 ausdrücklich erklärt habe, er und O. hätten lediglich das Vorhandensein der Anzahl der Felle und Leder geprüft, und daß der Aufsichtsrat wegen der Bewertung der Vorräte nur zwei Vorstandsmitglieder gefragt und sich bei deren Erklärungen, die Vorräte seien zu Selbstkostenpreisen aufgenommen, ohne weiteres beruhigt habe.

Die Revision wurde zurückgewiesen. Zu dem erörterten Streitpunkte heißt es in den Gründen:

Gründe

"Die Revision sieht einen Rechtsirrtum in der Annahme des Berufungsgerichts, daß der Beklagte durch die Prüfung der Inventuren seitens des O. und des Z. deshalb nicht entlastet sei, weil diese zwar die Größe des vorhandenen Lagers, nicht aber dessen Bewertung durch den Vorstand im einzelnen nachgeprüft hätten und dieser Mangel dem Aufsichtsrat erkennbar gewesen sei. Es müsse genügen, wenn der Aufsichtsrat einen Großkaufmann und einen Fachmann im Fellgeschäft aus seiner Mitte mit der ihm obliegenden Prüfung beauftragt habe und die Beauftragten nach vorgenommener Prüfung berichtet hätten, daß keine Bedenken gegeben seien. Hätten die Beauftragten ihre sämtlichen Wahrnehmungen mitteilen müssen, so hätte der Aufsichtsrat ebensogut selbst in seiner Gesamtheit die Prüfung vornehmen können. Daß die Warenvorräte nur gemäß § 261 Nr. 1 HGB. eingestellt werden durften, habe sich von selbst verstanden; daß es geschehen, sei von den Beauftragten bestätigt worden, indem sie die Bestandsangaben billigten. Eine Verpflichtung der übrigen Aufsichtsratsmitglieder, in dieser Richtung Fragen zu stellen oder Nachforschungen zu veranlassen, könne nicht anerkannt werden.

An diesen Darlegungen ist so viel richtig, daß es unzweckmäßig und oftmals undurchführbar wäre, bei jeder Verrichtung des Aufsichtsrats ein Zusammenwirken sämtlicher Mitglieder zu verlangen. Das Gesetz selbst -- § 246 Abs. 1 HGB. -- sieht eine Einsicht der Bücher und Schriften der Gesellschaft usw. durch einzelne vom Aufsichtsrate zu bestimmende Mitglieder vor und weist damit auf eine zweckmäßige Arbeitsteilung hin (vgl. Hagen, Gruchots Beitr. Bd. 42 S. 337). Aber wie weit diese Arbeitsteilung gehen darf, ist eine tatsächliche Frage, für welche die nach § 249 Abs. 1 maßgebende Sorgfalt eines ordentlichen Geschäftsmannes den Maßstab bildet. Keinesfalls ist dem Standpunkte der Revision beizupflichten, daß die Prüfung von Bilanz und Inventur nur den damit beauftragten Aufsichtsratsmitgliedern zufalle und die übrigen nichts weiter zu tun hätten, als den Bericht der Beauftragten entgegenzunehmen. Das liefe darauf hinaus, daß Aufgaben des Aufsichtsrats durch einzelne seiner Mitglieder erledigt würden, was -- wie Stier-Somlo in Goldschmidts Zeitschr. Bd. 53 S. 54 richtig betont -- eine vollständige Umkehr der rechtlichen Stellung des Aufsichtsrats, wie sie das Gesetz auffaßt, bedeuten würde. Die Überwachungspflicht liegt nach § 246 "dem Aufsichtsrat" ob, also dem ganzen Kollegium. Wenn gewisse Prüfungen aus praktischen Gründen einzelnen Mitgliedern übertragen werden, muß das Ergebnis, soweit dies nach den Umständen des Einzelfalls erforderlich erscheint, von den übrigen nachgeprüft werden. In diesem Sinne hat der I. Zivilsenat in seinem Urteile vom 30. Juni 1906 I. 63/06 die Auffassung für rechtsirrig erklärt, daß das bloße Vorhandensein einer Kommission, welche Mängel der Bilanzen nicht entdeckte und dem Aufsichtsrat nicht mitteilte, genüge, um die der Kommission nicht angehörigen Mitglieder von ihrer gesetzlichen Verantwortung für eine falsche Bilanz zu entlasten; und weiter wird dort das Verlangen des damaligen Berufungsgerichts gebilligt, daß ein Mitglied, welches der Kommission nicht angehörte, auch bei der Entgegennahme des Berichts der Kommission seine Pflichten nicht vernachlässige.

Von diesem Rechtsstandpunkt aus macht das Berufungsgericht mit Recht den mit der Prüfung von Bilanzen und Inventuren der Lederfabrik nicht selbst befaßten Mitgliedern des Aufsichtsrats, darunter dem Beklagten, den Vorwurf, daß sie sich nicht hätten berichten lassen, in welcher Weise die Prüfung von Inventur und Bilanz stattgefunden habe, insbesondere in welcher Weise die Bewertung der Aktiven nachgeprüft worden sei." ...