RG, 04.10.1884 - I 251/84
Unter welchen Voraussetzungen ist bei Rechtsstreitigkeiten der im §. 120a der Reichsgewerbeordnung gekennzeichneten Art der Rechtsweg definitiv verschlossen und zur Zeit nicht offen?
Aus den Gründen
"Die maßgebenden Normen sind dahin festzustellen: "In bezug auf die in dem §. 120 a R.G.O. in der Fassung des Reichsgesetzes vom 17. Juli 1878 gekennzeichneten Streitigkeiten ist der Rechtsweg nur dann definitiv verschlossen, wenn eine Entscheidung der betreffenden Streitigkeit im Sinne jener Gesetzesstelle als Vorentscheidung gefällt und gegen diese Vorentscheidung die Berufung auf den Rechtsweg binnen zehn Tagen nicht erfolgt ist.
Der Rechtsweg darf in bezug auf Streitigkeiten der gekennzeichneten Art zur Zeit nicht bestritten werden, solange der Antrag auf Erlaß der im §. 120a a. a. O. verordneten Vorentscheidung bei der zu derselben nach jener Gesetzesstelle zuständigen, bestehenden Behörde nicht gestellt worden ist, sowie (im Falle der Antrag gestellt ist) solange bis die betreffende Behörde (bei welcher die Streitigkeit dadurch zur Entscheidung gebracht worden war) entweder erklärt, sie lehne die Entscheidung ab, oder die Streitigkeit entschieden hat und binnen zehn Tagen gegen diese Entscheidung die Berufung auf den Rechtsweg erfolgt ist."
Rechts irrtümlich dagegen sind folgende Sätze, welche bei Streitigkeiten der selbständigen Gewerbtreibenden mit ihren Arbeitern, die auf den Antritt, die Fortsetzung oder Aufhebung des Arbeitsverhältnisses, auf die gegenseitigen Leistungen aus demselben, auf die Erteilung oder den Inhalt der Arbeitsbücher oder Zeugnisse sich beziehen, den für Privatrechtsverhältnisse (zu denen auch das Verhältnis des selbständigen Gewerbtreibenden zu seinen Arbeitern gehört) in jedem Rechtsstaat, und namentlich im Deutschen Reiche und dessen Mitgliedstaaten, regelmäßig verordneten starken und zuverlässigen, in dem Offenstehen des Rechtsweges zur Geltendmachung verletzter Rechte liegenden Rechtsschutz (ohne gesetzliche Grundlage, und wider den Geist der bestehenden Gesetze) zu sehr einengen, und zwar jeder früher genannte Satz in höherem Maße, als der demselben nachfolgende.
a) "Der Rechtsweg findet hinsichtlich der vorbezeichneten Streitigkeiten nur statt im Falle der Existenz einer Vorentscheidung der Streitigkeit durch eine nichtrichterliche Behörde."
b) "Falls keine der nach §. 120a a.a.O. zur Vorentscheidung solcher Streitigkeiten vor dem Beschreiten des Rechtsweges zuständigen Stellen geschaffen ist, oder die bestehende, an sich zuständige Stelle die bei ihr beantragte Vorentscheidung abgelehnt hat, ist bei solchen Streitigkeiten der Rechtsweg erst dann zulässig, wenn der streitende Teil, welcher die Klage erhebt, zuvor alle diejenigen Wege erfolglos beschritten hat, durch welche er die Schöpfung einer zur Vorentscheidung zuständigen Stelle seitens der zu einer solchen Schöpfung vermögenden Gewalten, oder einen verpflichtenden Befehl einer höheren Verwaltungsbehörde, die Vorentscheidung abzufassen, an die an sich zum Erlasse der Vorentscheidung zuständige, aber dieselbe ablehnende Stelle herbeiführen konnte."
c) "Bei Streitigkeiten der gekennzeichneten Art ist die Zulässigkeit des Rechtsweges zwar nicht absolut durch die Existenz einer Vorentscheidung einer der im §. 120a a. a. O. angegebenen, nichtrichterlichen Vorentscheidungsstellen, oder durch den Nachweis der erfolglosen Betätigung der vorstehend unter lit. b hervorgehobenen Schritte des Klägers bedingt. Wenn aber die bestehende, an sich zum Erlasse der Vorentscheidung solcher Streitigkeiten zuständige Stelle die bei ihr beantragte Vorentscheidung ohne Begründung oder aus Gründen abgelehnt hat, welche sich dem Antragsteller als durchaus unzutreffende darstellen mußten, so ist es Vorbedingung für die Zulassung des Rechtsweges, daß der Kläger klarlege, er habe gegen den ablehnenden Bescheid den Weg der Beschwerde bis zur Erschöpfung aller Beschwerdeinstanzen, oder doch so lange erfolglos verfolgt, bis in dem Bescheide einer solchen Instanz mit nicht durchaus unzutreffend erscheinenden Gründen die Ablehnung der Vorentscheidung, als eine gerechtfertigte, motiviert worden sei."
Indem der §. 120a R.G.O. in der Fassung des Reichsgesetzes vom 17. Juli 1878 ausspricht, daß die fraglichen Streitigkeiten im Rechtswege (d. h. durch Verfolgung der bestrittenen subjektiven Rechte auf dem Wege des Civilprozesses vor den ordentlichen Gerichten) verfolgt werden können, wird in dieser Gesetzesstelle konkludent die (auch an sich prinzipiell unzweifelhafte) Natur jener Streitigkeiten als bürgerlicher Rechtsstreitigkeiten anerkannt, d. h. als Streitigkeiten, deren Gegenstand ein Privatrecht betrifft, wenngleich dieses Privatrecht die Existenz bestimmter Verhältnisse des sozialen Lebens und des öffentlichen Rechtes voraussetzen mag. Daß in bezug auf bürgerliche Rechtsstreitigkeiten in diesem Sinne die Zulässigkeit des Rechtsweges dem Wesen des Kultur- und Rechtsstaates entspricht, dieselbe auch nach gemeinem deutschen Rechte und den jetzigen deutschen Reichsgesetzen die Regel gebildet hat und bildet, ist bereits eingehend klargelegt in der Entsch. des R.G.'s i. Civils. vom 2. Februar 1884 Rep. I. 482/83. Bd. 11 Nr. 17 S. 85. D. R.
Die in dem §. 120a a. a. O. verordnete Bedingung des Rechtsweges bei den dort in das Auge gefaßten Streitigkeiten durch die Realisierung bestimmter Voraussetzungen charakterisiert sich hiernach als eine nicht über ihre klargesteckten Grenzen auszudehnende Ausnahmevorschrift. Bei Fixierung jener Voraussetzungen will der Gesetzgeber den streikenden Teilen den Schutz der ordentlichen Gerichte nicht entziehen, sondern nur (in Berücksichtigung des großen Aufwandes an Zeit, Bemühung und Kosten, welchen die Durchführung von Civilprozessen erfahrungsmäßig im Durchschnitte mit sich bringt, und dessen Ersparung, soweit solches ohne wesentliche Schädigung der Rechtssicherheit erzielt werden kann, das Gedeihen des Standes der Arbeiter und Gewerbtreibenden, mittelbar auch das öffentliche Wohl fördert) eine Einrichtung herstellen, durch welche die Behebung jener Streitigkeiten zwischen selbständigen Gewerbtreibenden und ihren Arbeitern, auf einfachere, schnellere, weniger kostspielige Weise erfolgen kann, als solches durchschnittlich im Wege des Civilprozesses zu ermöglichen ist; während den streitenden Teilen, wenn sie sich durch die auf diesem einfacheren Wege erzielte Entscheidung der Streitigkeit nicht zufrieden gestellt fühlen, der Rechtsschutz, welchen das Angehen der ordentlichen Gerichte sichert, so sehr erhalten werden soll, als solches mit einer durchschnittlich gedeihlichen Wirkung jener Einrichtung im Sinne des Gesetzes vereinbar ist. Dementsprechend wird verordnet, daß der streitende Teil, welcher die Initiative zur Geltendmachung der nach seiner Auffassung bei einer Streitigkeit der im §. 120a a. a. O. gekennzeichneten Art zu Unrecht bestrittenen Rechte durch Sollizitation der Entscheidung der Behörden ergreifen will, gehalten sei, die Streitigkeit bei der (nichtrichterlichen, indessen voraussichtlich mit den einschlagenden Lebensverhältnissen vertrauten) in dem §. 120a a. a. O. nach bestimmten Kriterien bezeichneten Stelle zur Entscheidung zu bringen, d. h. bei der betreffenden Stelle die Entscheidung zu beantragen. Die streitenden Teile sollen die von dem Gesetze in allseitigem Interesse gewollte Möglichkeit einfacher, schneller, nicht kostbarer Entscheidung nicht ganz beiseite schieben dürfen.
Die in dem einfachen Verfahren getroffene Entscheidung muß auch schnell praktische Wirkung äußern und nicht überhaupt einer bleibenden Rechtswirkung entkleidet sein, weil sonst die ganze Einrichtung voraussichtlich ihren Zweck verfehlen würde.
Deswegen ist die vorläufige Vollstreckbarkeit jener Entscheidung und die definitive Geltung ihrer praktischen Bestimmung, falls nicht in der bestimmten Frist die Berufung auf den Rechtsweg erfolgt, vorgeschrieben.
Das und nichts weiter bestimmt das Gesetz. Jeder Versuch, die Zulassung des Rechtsweges von der Existenz weitergehender Voraussetzungen abhängig zu machen, wurzelt nicht in dem Boden des Gesetzes. Die oben als rechtsirrig bezeichneten Sätze widersprechen den allgemeinen Prinzipien der Bedeutung des offenen Rechtsweges für die sichere Durchführung des Rechtes, sowie dem klar ersichtlichen Grunde und Zwecke des §. 120a a. a. O. Statt eines einfachen, den Interessenten Zeit- und Müheaufwand ersparenden Verfahrens würden jene unrichtigen Sätze unerträgliche Verwickelungen, Zeitverluste und Mühewaltung für die Streitteile erzeugen und ihnen (bei Vermeidung einer Beschränkung des Schutzes ihrer Rechte) die Erfüllung von Pflichten aufbürden, welche sie (nach der Lebenserfahrung) bei ihrem durchschnittlichen Bildungsgrade und ihren Lebensverhältnissen entweder gar nicht oder doch sehr schwer erfüllen können. Bei einiger Konsequenz in der Ausgestaltung jener Sätze würde die Verpflichtung, die Organisation der noch nicht bestehenden, zur Vorentscheidung berufenen Behörden zu sollizitieren (daß ein solches Nichtbestehen vorkommen könne, zeigt das Bd. 2 Nr. 19 S. 63 der Entscheid. in Civils. abgedruckte Urteil), oder über die Vorentscheidung ablehnende Bescheide sich ein Urteil zu bilden und, wenn dieselben gar nicht oder durchaus unzutreffend begründet erscheinen, den Beschwerdeweg zu beschreiten (wobei der betreffende Arbeiter oder Gewerbetreibende zunächst ermitteln müßte, ob für solche Angelegenheiten in dem betreffenden Staate überhaupt ein Beschwerderecht besteht, eine Ermittelung, welche auch für einen gewiegten Rechtskenner gar schwierig sein dürfte), dazu führen, daß dem betreffenden Streitteile der Rechtsweg nicht nur dann zu verschließen ist, wenn er es unterläßt, den Beschwerdeweg zu beschreiten oder erschöpfend zu verfolgen, sondern auch dann, wenn er sich in den etwa bei Verlust des Beschwerderechtes vorgeschriebenen Formen und Fristen vergreift. Diesenfalls würde die Unmöglichkeit entstehen, überhaupt eine Entscheidung der Streitigkeit herbeizuführen. Einen solchen Zustand hat der Gesetzgeber nicht gewollt, sein Wille ist nur darauf gerichtet, daß der betreffende Arbeiter oder Gewerbetreibende bei der bestehenden zuständigen Vorentscheidungsstelle den Antrag auf Vorentscheidung stelle (als welcher billigerweise jedes Angehen einer solchen Stelle durch einen der Streitteile bezüglich einer solchen Streitigkeit anzusehen sein wird), daß er den die Vorentscheidung ablehnenden Bescheid oder die Vorentscheidung selbst abwarte, und gegen letztere Vorentscheidung binnen zehn Tagen die Berufung auf den Rechtsweg erkläre, während er, wenn die an sich zuständige Stelle die Vorentscheidung abgelehnt hat, ohne Berufung auf den Rechtsweg und ohne die Schranke einer Frist Klage erheben darf. Der Gesetzgeber hat nicht wollen können und hat nicht gewollt, daß der Arbeiter oder der selbständige Gewerbetreibende, welcher Arbeit giebt, bei Streitigkeiten der im §. 120a a. a. O. gekennzeichneten Art, als Vorbedingung der Verfolgung seiner Rechte durch Angehen der ordentlichen Gerichte, sich (im Interesse einer gesetzesgemäßen Funktionierung der Vorentscheidungsstellen) mit Dingen befasse, denen er nicht gewachsen ist, namentlich Bescheide amtlicher Stellen kritisiere und bekämpfe."