RG, 17.03.1884 - I 19/84

Daten
Fall: 
Zuchthausstrafe nach protestantischem Eherecht
Fundstellen: 
RGZ 13, 196
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
17.03.1884
Aktenzeichen: 
I 19/84
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • LG Neustrelitz
  • OLG Rostock

1. Ist eine wegen Verbrechen erkannte zweijährige Zuchthausstrafe nach protestantischem Eherechte unter allen Umständen unzureichend, die Scheidung zu rechtfertigen?
2. Kann der im strafgerichtlichen Verfahren verurteilte Ehegatte die auf Grund der wider ihn erkannten Strafe erhobene Ehescheidungsklage durch den Nachweis entkräften, daß er unschuldig verurteilt worden sei?

Tatbestand

Das Berufungsgericht hatte nach Zurückverweisung der Bd. 9 Nr. 47 S. 189 dargestellten Sache auf erneute Verhandlung in der wider den beklagten Ehemann erkannten zweijährigen Zuchthausstrafe einen ausreichenden Scheidungsgrund nicht gesehen und die Berufung der Klägerin abermals als unbegründet zurückgewiesen. Auf die Revision der Klägerin ist das Berufungsurteil aufgehoben, die von den Parteien geschlossene Ehe dem Bande nach geschieden und der Beklagte für den schuldigen Teil erklärt aus nachfolgenden Gründen:

Gründe

"In dem Revisionsurteile vom 2. Juni 1883 ist darauf hingewiesen, daß zwar geschichtlich die Zulassung der Ehescheidung wegen langwieriger Freiheitsstrafen aus der Scheidung wegen böslicher Verlassung hervorgegangen ist, daß aber nach der weiteren Entwickelung dieses Ehescheidungsgrundes in der Doktrin und Praxis des gemeinen protestantischen Eherechtes die Dauer der Freiheitsstrafe nicht sowohl wegen ihres Einflusses auf das eheliche Zusammenleben als vielmehr als Maßstab für die Schwere des begangenen Verbrechens in Betracht kommt. Das Urteil hat ferner in bezug auf die als Ehescheidungsgrund geltend gemachte Verurteilung des Beklagten zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe wegen versuchten Verbrechens wider §. 176 Nr. 2 St. G. B. 's ausgesprochen, daß nicht anzunehmen sei, ein mit einer Zuchthausstrafe von nur zweijähriger Dauer geahndetes Verbrechen sei unter allen Umständen ungenügend, die Scheidung zu rechtfertigen. Es hat aber von einer definitiven Entscheidung der vorliegenden Sache abgesehen, weil die Beschaffenheit der bestraften That und der Inhalt des Strafurteiles nicht festgestellt worden war.

Aus den in der erneuten Verhandlung des Berufungsrichters vorgelegten Untersuchungsakten ergiebt sich nun, daß nach dem Wahlspruche der Geschworenen der Beklagte schuldig befunden ist, am Nachmittage des 19. August 1880 in der Küche des Kuhhirten S. Kathens zu M. versucht zu haben, die blödsinnige Marie S., also eine geisteskranke Person, zum außerehelichen Beischlafe zu mißbrauchen, und daß die Fragen, ob der Angeklagte die Ausführung der Handlung aufgegeben, ohne daß er an dieser Ausführung durch Umstände verhindert worden ist, welche von seinem Willen unabhängig waren, und ob mildernde Umstände vorhanden sind, verneint worden sind. Das Urteil lautet auf Verurteilung des Angeklagten wegen versuchten Verbrechens wider §. 176 Nr. 2 St. G. B.'s zu zweijähriger Zuchthausstrafe und Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von zwei Jahren. In den Urteilsgründen ist als strafschärfend in Betracht gezogen, daß der Angeklagte sein männliches Glied mit den Geschlechtsteilen der laesa in Verbindung zu bringen versucht hat, und daß der ihm zur Last fallende Versuch der Vollendung sehr nahe steht. Die Ehrenrechte sind auf zwei Jahre aberkannt wegen der von dem Angeklagten durch den Versuch der Ausführung eines derartigen Verbrechens bewiesenen ehrlosen Gesinnung.

Der Berufungsrichter hat bei der erneuten Erwägung der Frage, ob die vorliegende Verurteilung den Scheidungsantrag der Klägerin rechtfertige, anerkannt, daß die Praxis in den mecklenburgischen Landen die analogen Erweiterungen der in der mecklenburgischen Konsistorialordnung von 1570 anerkannten Scheidungsgründe des Ehebruches und der böslichen Verladung zugelassen hat, daß auch die frühere mecklenburgische Rechtsprechung der Doktrin, Rechtsprechung und selbst der Legislation anderer deutscher Staaten gefolgt ist, jedoch zugleich hervorgehoben, daß seit etwa drei Jahrzehnten die mecklenburgische Rechtsprechung konstant zum wesentlichen Festhalten der Scheidungsgründe der Konsistorialordnung zurückgekehrt ist. Aber auch vom Standpunkte des Revisionsurteiles aus gelangt der Berufungsrichter zur Zurückweisung des geltend gemachten Ehescheidungsgrundes, und zwar auf Grund der von ihm aus den Voruntersuchungsakten und dem von dem Beklagten vor der Hauptverhandlung abgelegten teilweisen Geständnisse getroffenen Feststellung, daß der Beklagte erst während seines ersten Angriffes auf die laesa, deren anormalen Geisteszustand erkannt und nun sofort von ihr abgelassen habe.

Die Bezugnahme des Berufungsrichters auf eine seit etwa 30 Jahren in Mecklenburg bestehende strengere Gerichtspraxis ist für die Beurteilung der gegenwärtigen Rechtssache ohne Bedeutung. Daß früher eine mildere Praxis im Einklänge mit der Entwicklung des gemeinen protestantischen Kirchenrechtes bestanden hat, ist vom Berufungsrichter selbst anerkannt, und daß aus einer bloßen Änderung der Praxis der Gerichtshöfe während eines Zeitraumes von drei Jahrzehnten eine neue partikuläre Rechtsbildung nicht hervorgegangen ist, bedarf keiner Ausführung. Die mecklenburgischen Lande gehören zum Gebiete des gemeinen protestantischen Eherechtes, es ist daher letzteres in seiner Fortentwickelung, soweit nicht Partikularrecht entgegensteht, auch in Mecklenburg zur Anwendung zu bringen. Daß die Bestimmung der Konsistorialordnung die Berücksichtigung der späteren Entwicklung des gemeinen Kirchenrechtes nicht ausschließt, unterliegt um so weniger einem Bedenken, als der Berufungsrichter selbst bezeugt, daß die von der Wissenschaft und Praxis entwickelten analogen Erweiterungen der schriftmäßigen Ehescheidungsgründe auch in Mecklenburg zugelassen worden sind. Vom Standpunkte des heutigen gemeinen protestantischen Kirchenrechtes aus muß nun aber daran festgehalten werden, daß unter Umständen auch schon die Verurteilung des einen Ehegatten zu einer zweijährigen Zuchthausstrafe ein ausreichender Ehescheidungsgrund für den anderen Ehegatten ist. Die gemeinrechtliche Doktrin und Praxis hat im Laufe der Zeit immer bestimmter auf die Beschaffenheit der bestraften That das Hauptgewicht gelegt und ist bei besonders schwerer, die Voraussetzungen des ehelichen Zusammenlebens zerstörender That auch schon bei einer Zuchthausstrafe von weniger als zweijähriger Dauer zur Scheidung gelangt. Die zur Frage stehende That enthält nun aber eine äußerst schwere Unsittlichkeit, welche im Falle der Vollendung mit Zuchthausstrafe bis zu zehn Jahren zu bestrafen gewesen wäre. In den Urteilsgründen ist ausgesprochen, daß die That der Vollendung nahegekommen ist, und es sind dem Beklagten wegen der von ihm bewiesenen ehrlosen Gesinnung die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von zwei Jahren aberkannt worden. Von dieser, jede sittliche Anschauung auf das tiefste verletzenden That muß angenommen werden, daß sie die Möglichkeit der durch die Ehe geforderten innigsten Lebensgemeinschaft zerstört, zumal sich aus dem Inhalte des Strafurteiles kein Moment entnehmen läßt, welches die That aus irgend einem Grunde in einem milderen Lichte erscheinen lassen könnte. Wenn der Berufungsrichter wesentlich auf Grund der Voruntersuchungsakten und ohne andere Kenntnis von dem Ergebnisse der Hauptverhandlung, als aus dem betreffenden Protokolle zu entnehmen ist, eine von dem schwurgerichtlichen Urteile durchaus abweichende thatsächliche Feststellung getroffen hat, nach welcher der Beklagte freiwillig von seinem Unternehmen nach Erkennung des Geisteszustandes der laesa zurückgetreten ist, so ist zwar richtig, daß für den Civilrichter das strafgerichtliche Urteil keine bindende Kraft hat. Der Richter irrt aber, wenn er durch eine solche Feststellung den zur Frage stehenden Ehescheidungsgrund beseitigen zu können glaubt, und er verkennt zugleich die ihm durch das Revisionsurteil gestellte Aufgabe. Denn nicht die That als solche ist der Ehescheidungsgrund, sondern die bestrafte That, und sowenig nach einem freisprechendem Urteile der andere Ehegatte die Thai, wegen welcher die Freisprechung erfolgt ist, im Ehescheidungsprozesse als Scheidungsgrund geltend machen kann, sowenig kann der verurteilte Ehegatte die Scheidungsklage durch die Behauptung und den Nachweis entkräften, daß er unschuldig verurteilt worden sei. Durch das Strafurteil ist das Verbrechen erwiesen, und die aus der Verurteilung für das Verhältnis der Ehegatten zu einander sich ergebenden Folgen können nimmermehr durch eine im Ehescheidungsprozesse getroffene entgegengesetzte Feststellung, vielmehr nur durch ein nach Wiederaufnahme des strafgerichtlichen Verfahrens ergehendes entgegengesetztes Urteil beseitigt werden. Auch hat der Beklagte nach dem Thatbestande des angefochtenen Urteiles, wenn er auch auf die Glaubwürdigkeit seines zu den Untersuchungsakten abgelegten teilweisen Geständnisses hingewiesen hat, doch keineswegs bestimmt seine Unschuld behauptet, vielmehr allein geltend gemacht, daß die erwiesene That auch in Berücksichtigung der näheren Umstände und Folgen die Ehescheidung nicht rechtfertige. Wenn ferner das Revisionsurteil vom 2. Juni 1883 eine Entscheidung für unthunlich erklärt hat, "solange nicht die Beschaffenheit der bestraften That und der Inhalt des Strafurteiles festgestellt sei", so hat hierdurch zum Ausdrucke gebracht werden wollen, daß allein die bestrafte That, wie sie Gegenstand der strafrichterlichen Beurteilung und Entscheidung gewesen ist, für die Frage, ob ein ausreichender Ehescheidungsgrund vorliegt, maßgebend sein kann. Der Berufungsrichter hatte mithin nur noch den Inhalt des Strafurteiles festzustellen und zu erwägen, ob aus dem vom Strafrichter festgestellten Hergange der That aus irgend einem Grunde für den Beklagten eine Auffassung zu gewinnen sei, welche das Verbrechen gegenüber dem zur Frage stehenden Ehescheidungsgrunde in einem minder schweren Lichte erscheinen lassen könnte.

Demgemäß war das angefochtene Urteil aufzuheben und auf Grund des zweiten Ehescheidungsgrundes die Ehe der Parteien dem Bande nach zu scheiden, zugleich Beklagten, unter Verurteilung in die Kosten des Rechtsstreites, für den allein schuldigen Teil zu erklären."