RG, 24.09.1918 - VII 149/18

Daten
Fall: 
Ausschlussfrist des preußischen Enteignungsgesetzes
Fundstellen: 
RGZ 93, 312
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
24.09.1918
Aktenzeichen: 
VII 149/18
Entscheidungstyp: 
Urteil

Zur Ausschlußfrist des § 30 Abs. 1 des preuß. Enteignungsgesetzes vom 11. Juni 1874.

Tatbestand

Für die Stadtgemeinde Coblenz war zur Straßenverbreiterung ein Teil eines an der Mainzer Straße gelegenen Grundstücks der Beklagten im Wege der Enteignung in Anspruch genommen. Die Entschädigung der Beklagten wurde durch Beschluß des Bezirksausschusses vom 1. Oktober 1914 festgestellt. Die Stadtgemeinde beschritt dagegen den Rechtsweg mit dem Antrage, die Entschädigung um 4100 M herabzusetzen. Zwecks Wahrung der sechsmonatigen Frist des § 30 preuß. EntG. wurde die Klage noch innerhalb der Frist bei dem Amtsgericht in Coblenz eingereicht. Die Zustellung der Klage an die Beklagten erfolgte nach Ablauf der Frist. Weiterhin wurde die Sache auf Antrag der Klägerin ohne Widerspruch der Beklagten durch Beschluß des Amtsgerichts an das Landgericht zu Coblenz verwiesen. Das Landgericht wies die Klage wegen Ablaufs der Ausschlußfrist ab. Die Berufung der Klägerin wurde zurückgewiesen. Ihre Revision hatte Erfolg.

Gründe

"Die Ansicht der Vorinstanzen, daß die im § 30 Abs. 1 preuß. EntG. für die Beschreitung des Rechtswegs gegen den Entschädigungsfeststellungsbeschluß der Verwaltungsbehörde vorgeschriebene Ausschlußfrist von der Klägerin versäumt worden sei, ist nicht zu billigen. Die im Urteile des Landgerichts, dem das Berufungsgericht überall beistimmt, herangezogenen Entscheidungen des gegenwärtig erkennenden Senats bezogen sich nicht auf dem hier vorliegenden Sachverhalte gleiche oder wesentlich entsprechende Hergänge. In dem Rechtsfalle, den das Urteil vom 7. März 1916 Jur. Wochenschr. 1916 S. 753 betraf, war die Klage bei dem örtlich und sachlich zuständigen Landgericht erhoben, jedoch nicht innerhalb der Klagefrist sondern zu spät, und das Urteil vom 24. November 1916 das. 1917 S. 231 behandelte einen Fall, in welchem die Klage aus § 30 innerhalb der sechsmonatigen Frist bei einem sachlich zuständigen aber örtlich unzuständigen Gericht erhoben und der Rechtsstreit nach Ablauf der Klagefrist an das ortszuständige Gericht verwiesen war. Weder den soeben erwähnten noch auch anderen Urteilen aus der reichsgerichtlichen Rechtsprechung, deren Tatbestände als einigermaßen ähnlich in Frage kommen können -- erwähnt seien die Entscheidungen vom 13. Dezember 1907 III. 179/07, vom 6. Juni 1916 RGZ. Bd. 88 S. 294, besonders vom 4. November 1880 RGZ. Bd. 3 S. 303 und vom 11. Januar 1918 Bd. 92 S. 40 --, sind ausschlaggebende Gründe für den von den Vorinstanzen eingenommenen Standpunkt zu entnehmen. Anderseits läßt sich jener Standpunkt mit den bisherigen Ergebnissen der Rechtsprechung auch nicht ohne weiteres widerlegen. Vielmehr ist vorliegend die Frage, ob die Klagefrist gewahrt ist, aufs neue und selbständig zu untersuchen.

Auszugehen ist von den Abs. 1 und 3 des § 30 EntG., welche Vorschriften materiellrechtlicher und prozeßrechtlicher Art enthalten. Materiell eröffnet Abs. 1 den an einer Enteignung Beteiligten die Befugnis, innerhalb einer Ausschlußfrist von sechs Monaten nach Zustellung des Entschädigungsfeststellungsbeschlusses die im Verwaltungsverfahren erfolgte Bemessung der Entschädigung wirksam anzugreifen. Prozeßrechtlich bestimmt der Absatz, daß zu diesem Zwecke der Rechtsweg zu beschreiten ist. womit der Weg der Klage bei dem ordentlichen Richter gemeint ist (vgl. auch das spätere preuß. AG. z. ZPO. § 2). Eine prozessuale Vorschrift gibt ferner der Abs. 3, der das Gericht für zuständig erklärt, in dessen Bezirk das betreffende Grundstück belegen ist. Wie in dem Urteile des erkennenden Senats RGZ. Bd. 92 S. 40 (vgl. auch Bd. 3 S 303) nachgewiesen ist, kommt der letzterwähnten Vorschrift zwingende Bedeutung in dem Sinne zu, daß zur Wahrung der Ausschlußfrist eine Klage innerhalb der Frist bei einem ortsunzuständigen Gericht ungeeignet ist und nicht genügt, daß vielmehr das materielle Angriffsrecht des Klägers nur durch eine Klage innerhalb der gesetzlichen Frist bei dem allein und ausschließlich zuständigen Gerichte der belegenen Sache gewahrt werden kann. In dieser Richtung ergibt sich vorliegend gegen die Rechtzeitigkeit der Klage kein Bedenken. Die Klage wurde hier bei dem örtlich zuständigen Amtsgericht angebracht. Im Zeitpunkt ihrer durch Zustellung bewirkten Erhebung (§ 498 Abs. 2 ZPO.) war zwar die gesetzliche Ausschlußfrist schon abgelaufen. Gemäß der Vorschrift des § 496 Abs. 3 ZPO. aber, die für alle bei Amtsgerichten erhobenen Klagen gilt, war die Wirkung der Klagzustellung insofern, als es sich um die Wahrung der Ausschlußfrist handelte, auf den Zeitpunkt zurückzubeziehen, in welchem die Klage eingereicht wurde, und die Einreichung der Klage bei Gericht hat noch innerhalb der im § 30 EntG. vorgeschriebenen sechs Monate stattgefunden. Allerdings war das angegangene Amtsgericht sachlich nicht zuständig. Aber dies Bedenken genügt nicht, der rechtzeitig angebrachten Klage die Wirkung einer Ausübung der in dem § 30 eingeräumten Befugnis abzusprechen.

Der mit der Klage eingeleitete Rechtsstreit bildet einen besonderen Abschnitt des Enteignungsverfahrens, der regelmäßig darauf gerichtet ist und damit schließt, den angegriffenen, vorläufigen Beschluß des Bezirksausschusses durch ein rechtskräftiges gerichtliches Urteil über die Höhe der Entschädigung zu ersetzen. Nach § 15 Nr. 2 EG. z. ZPO. sind zwar die Landesgesetze über das Verfahren bei Streitigkeiten, welche die Entschädigung wegen der Zwangsenteignung betreffen, unberührt geblieben, hierbei handelt es sich indes im preußischen Staate nur um vereinzelte Gesetzesbestimmungen. In diesem Staate wird das Verfahren des vorbezeichneten Abschnitts nach Einführung der Reichsjustizgesetze hauptsächlich von den Vorschriften des deutschen Prozeßrechts beherrscht. Insbesondere ergibt sich das hier in Betracht kommende Bedenken der sachlichen Unzuständigkeit des angezogenen Amtsgerichts lediglich aus Normen der Zivilprozeßordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes. Als naturgemäßer Rahmen für die Würdigung des Bedenkens dürfen daher die Vorschriften des jeweilig geltenden allgemeinen Prozeßrechts betrachtet werden. Von diesem Gesichtspunkt aus läßt sich aber aus der Anbringung der Klage bei einem sachlich unzuständigen Gerichte nicht folgern, daß die Klägerin die Ausschlußfrist versäumt und ihr materielles Angriffsrecht verwirkt habe. Sie konnte noch nach Erhebung der Klage jedes Bedenken durch Einschränkung ihres Anspruchs auf 600 M aus dem Wege räumen. Es war auch möglich, daß es zu einer ausdrücklichen oder stillschweigenden Vereinbarung der Parteien gemäß §§ 38 flg. ZPO. kam, wodurch die Unzuständigkeit beseitigt wurde. Falls der Einwand der Unzuständigkeit überhaupt erhoben wurde, konnte ihm die Klägerin selbständig dadurch die Spitze abbrechen, daß sie, wie auch tatsächlich geschehen ist, die Verweisung des Rechtsstreits an das zuständige Landgericht beantragte und herbeiführte (§ 505 ZPO.). Freilich treffen die Ausführungen der Entscheidung RGZ. Bd. 92 S. 44, 45, daß die Klage erst mit dem Verweisungsbeschlusse die Kraft gewinnt, zur Entscheidung in der Sache selbst zu führen, und die Heilung des Zuständigkeitsmangels sich nicht mit rückwirkender Kraft vollzieht, an sich auch vorliegend zu. Immerhin wohnte aber schon der Klage die Fähigkeit inne, zu der weiterhin erwirkten Verweisung zu führen. Das Recht der Prozeßordnung, aus dem hier das Bedenken der Unzuständigkeit entsprang, hat zugleich das Mittel gewährt, das Bedenken zu beheben (§ 505). In dem vorbezeichneten Urteile war für eine solche Erwägung kein Raum. Ihr stand dort § 30 Abs. 3 EntG. in seiner vom Senate dargelegten Bedeutung im Wege.

Einen wichtigen Beweisgrund bietet endlich die Rechtsprechung über Klagerweiterungen dar. Das Reichsgericht hat ständig die Ansicht vertreten, daß der Kläger, der auf Grund des § 30 EntG. rechtzeitig die Entscheidung des Richters angerufen hat, gemäß der Bestimmung des § 268 Nr. 2 (240 Nr. 2 a. F.) ZPO. auch nach Ablauf der Ausschlußfrist von sechs Monaten zur Ausdehnung des Klagantrags, sei es durch Anfügung neu entstandener Ansprüche, sei es durch Steigerung des ursprünglichen Antrags, berechtigt ist (vgl. namentlich RGZ. Bd. 12 S. 299. Jur. Wochenschr. 1908 S. 24 Nr. 32). An der Hand dieser Rechtsprechung hätte ein Bedenken überhaupt nicht entstehen können, wenn die Klägerin von vornherein auf Herabsetzung der Entschädigung nicht um 4100, sondern nur um 600 M geklagt und erst nachträglich ihr Begehren auf 4100 M erweitert hätte. Die Verschiedenheit der beiden Fälle voneinander ist aber so gering, daß es unannehmbar erscheint, die Ausschlußfrist in dem einen als versäumt, in dem anderen als gewahrt anzusehen. Mit dem Hinweis auf die angezogene Rechtsprechung ist auch einem Einwande zu begegnen, auf den die Beklagten noch in dieser Instanz vornehmlich Gewicht gelegt haben. Sie meinen, es hätte ihnen daran gelegen sein müssen, bei Ablauf von sechs Monaten nach Zustellung des Entschädigungsfeststellungsbeschlusses zu wissen, ob eine Anfechtung erfolgt sei, um sich hiernach in ihren Verfügungen über ihr Vermögen zu richten. Dem ist entgegenzuhalten, daß über den tatsächlich sehr wesentlichen Umfang, auf den sich die Angriffe der klagenden Partei erstrecken, nicht selten noch lange über den vorbezeichneten Zeitpunkt hinaus infolge des Klagerweiterungsrechts Unklarheit bestehen wird. Im übrigen ist bei dem Einwande nur der Fall der landgerichtlichen Klage ins Auge gefaßt und namentlich außer acht gelassen, daß in Preußen zur Zeit des Erlasses des Enteignungsgesetzes die Erhebung der Klage nicht durch Zustellung des Klagschriftsatzes an die Gegenpartei erfolgte.

Hiernach mußte das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur anderweiten Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen werden, und zwar an das Berufungsgericht, da es an den Voraussetzungen fehlt, unter denen eine Zurückverweisung an das Landgericht zulässig wäre (vgl. § 565 Abs. 1, 3, §§ 538, 539 ZPO.)."