RG, 19.09.1918 - IV 157/18

Daten
Fall: 
Erbverzichtserklärung
Fundstellen: 
RGZ 93, 297
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
19.09.1918
Aktenzeichen: 
IV 157/18
Entscheidungstyp: 
Urteil

Kommt ein Vertrag zustande, wenn ein Pflichtteilsberechtigter den letztwillig berufenen Erben gegenüber auf seinen Pflichtteil am Nachlasse des seiner Meinung nach noch lebenden Erblassers verzichten zu wollen erklärt, während dieser in Wirklichkeit bereits verstorben und dies den Erben bekannt ist?

Tatbestand

Der am 30. November 1916 verstorbene Adolf S. hatte in seinem Testamente seine Stiefkinder, die Kläger, zu Erben berufen und seiner Mutter, der Witwe S., eine Jahresrente ausgesetzt. Am 6. Dezember 1916 erklärte die Witwe S. dem Bevollmächtigten der Erben, Rechtsanwalt P., zu notariellem Protokolle, daß sie die Rente annehme und den von ihrem Sohne eingesetzten Erben gegenüber auf den Pflichtteil verzichte. Der Rechtsanwalt P. nahm diesen Verzicht namens der Erben des Adolf S. in notarieller Urkunde vom 20. Dezember 1916 an. Die Witwe S., die 83 Jahre alt und krank war, hatte jedoch bei Abgabe ihrer Erklärung nicht gewußt, daß ihr Sohn Adolf verstorben war; man hatte ihr dies wegen der damit verbundenen Aufregung verheimlicht. Sie starb, ohne den Sachverhalt erfahren zu haben, am 2. Januar 1917. Zu ihren gesetzlichen Erben gehörte neben drei anderen Abkömmlingen ihr zweiter Sohn, der Beklagte. Er hielt den Verzicht seiner Mutter für rechtsunwirksam und forderte von den Klägern ein Viertel des ihr am Nachlasse ihres Sohnes Adolf gebührenden Pflichtteils. Dagegen verlangten die Kläger mit der erhobenen Klage die Feststellung, daß dem Beklagten der Anspruch nicht zustehe.

Beide Vorinstanzen erkannten nach dem Klagantrag. Auf die Revision wurde die Klage abgewiesen.

Gründe

"Da Frau S. vor ihrem Tode nicht erfahren hat, daß ihr Sohn Adolf gestorben war, so konnte ihre Erklärung vom 20. Dezember 1916, wie das Berufungsgericht mit Recht annimmt, nur die Bedeutung haben, daß sie gegenüber den zukünftigen Erben ihres Sohnes Adolf, den Klägern, auf den ihr nach dessen Tode zustehenden Pflichtteil verzichten wollte. Das war dem Rechtsanwalte P., dem Bevollmächtigten der Kläger, bei Abschluß des Vertrags bekannt. Er selbst hat es, wie er bezeugt, geflissentlich vermieden, sie von dem Tode ihres Sohnes zu unterrichten. Er konnte und wollte also das Vertragsangebot, das die Frau S. ihm machte, nicht in dem ihm bekannten Sinne, den jene damit verband, sondern in einer anderen, nämlich in derjenigen Bedeutung annehmen, wie sie der damaligen Sach- und Rechtslage in Wirklichkeit entsprach. Während Frau S. einen Vertrag im Sinne des § 312 BGB, zu schließen gedachte, wollte er mit ihr einen Erlaßvertrag über den ihr durch den Tod ihres Sohnes bereits erwachsenen Pflichtteilsanspruch eingehen (§ 397, vgl. Jur. Wochenschr. 1917 S. 815 Nr. 9 g. E.).

Es ist daher rechtsirrig, wenn das Berufungsgericht meint, die Erklärung der Mutter des Erblassers habe den Verzicht auf einen bereits zur Entstehung gelangten Pflichtteilsanspruch enthalten. Zuzugeben ist nur, daß ihre Erklärung dem Wortlaute nach diesen Sinn hätte haben können. Auf den Wortlaut allein kommt es aber nicht an; es muß vielmehr der wahre Sinn der Erklärung unter Berücksichtigung aller auf beiden Seiten in Betracht kommenden Umstände durch Auslegung ermittelt werden (§§ 133, 157; vgl. RGZ. Bd. 58 S. 233, 236, Gruchot Bd. 50 S. 897).

Für den vorliegenden Fall ergibt sich danach, daß eine Willenseinigung zwischen Frau S. und P. überhaupt nicht zustande gekommen ist. Notwendige Voraussetzung eines Vertragsschlusses ist, daß die Parteien über die sog. essentialia negotii einverstanden sind. Das trifft nicht zu, wenn jede von ihnen einen Vertrag ganz anderer Art schließen zu wollen erklärt als die andere. Der Vertrag, den Frau S. dem Rechtsanwalt P. antrug, und derjenige, den dieser anzunehmen erklärte, sind aber rechtlich so wesentlich verschiedener Natur, daß der erstere vom Bürgerlichen Gesetzbuch als nichtig behandelt wird (§312 Abs. 1), während der letztere formlos gültig ist (§ 397).

Zu dem gleichen Ergebnis führt folgende Erwägung. Es ist anerkannten Rechtes, daß beim Vertragsschluß nicht der innere Wille der Parteien entscheidend ist. sondern der erklärte Wille, wie er unter Berücksichtigung aller Umstände nach Treu und Glauben zu verstehen ist (vgl. z. B. Warneyer 1914 Nr. 177, Jur. Wochenschr. 1915 S. 500 Nr. 2). Dementsprechend muß es auch für ausgeschlossen erachtet werden, daß sich ein Vertragsteil auf die Mehrdeutigkeit einer Erklärung des anderen Teiles berufen darf, wenn ihm der Sinn, den der andere Teil damit verband, bekannt ist. Letzteres war hier bei dem Rechtsanwalte P., dessen Kenntnis die Kläger nach § 166 Abs. 1 BGB. gegen sich gelten lassen müssen, der Fall. Anderseits konnte seine Annahmeerklärung von der Frau S., da sie von dem Tode des Adolf S. nichts wußte, nur im Sinne ihres Angebots verstanden werden. Wenn dabei P. den geheimen Vorbehalt machte, das Angebot in dem von ihm gemeinten Sinne annehmen zu wollen, so war das nach § 116 ohne rechtliche Bedeutung (vgl. RGZ. Bd. 66 S. 427). Es wäre danach eine Willenseinigung im Sinne der Frau S., also ein Vertrag über ihren künftigen Pflichtteil mit den künftigen Testamentserben des Adolf S. zustande gekommen, wenn dies nicht im Hinblick auf § 312 Abs. 1 und überdies wegen des bereits eingetretenen Todes des letzteren rechtlich unmöglich gewesen wäre (§306).

Aus den beiden angeführten Gründen ergibt sich zugleich die Unanwendbarkeit des § 153. Er versagt, wenn es sich um Punkte handelt, die für den zu schließenden Vertrag wesentlich sind.

Da der Vertrag nichtig ist, so ist auch für eine Anfechtung kein Raum mehr. Eine Anfechtung wegen Irrtums könnte überdies deshalb nicht in Frage kommen, weil auf Seiten der Frau S. eine Differenz zwischen ihrem Willen und ihrer Erklärung nicht bestand (§ 119 Abs. 1). Wie dargelegt, wollte sie auf den Pflichtteil vom Nachlaß ihres vermeintlich noch lebenden Sohnes verzichten und hat dies dem Rechtsanwalte P. in einer diesem verständlichen Weise erklärt (vgl. RGZ. Bd. 58 S. 235, Bd. 66 S. 122, Bd. 68 S. 6, Warneyer 1908 Nr. 185, 1917 Nr. 200, Jur. Wochenschr. 1913 S. 480 Nr. 1).

Schließlich kann der Vertrag auch nicht auf dem Wege des § 140 gehalten werden. Denn wenn überhaupt kein Vertrag zwischen Frau S. und den Klägern zustande gekommen ist, fehlt auch die Grundlage für eine Umdeutung in einen Erlaßvertrag." ...