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BVerfG, 21.10.1954 - 1 BvL 9/51; 1 BvL 2/53

Daten
Fall: 
Ärztliches Berufsgericht
Fundstellen: 
BVerfGE 4, 74; JZ 1955, 115; NJW 1955, 17
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
21.10.1954
Aktenzeichen: 
1 BvL 9/51; 1 BvL 2/53
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • OVG Niedersachsen - A I 20/51

1. Auf dem Gebiete der Heilberufe ist die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art. 74 Nr. 19 GG beschränkt auf das Zulassungswesen.
2. Die Verfassung und das Verfahren der Berufsgerichtsbarkeit für die Angehörigen der Heilberufe unterliegt der Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes nach Art. 74 Nr. 1 GG nicht.
3. Die Reichsärzteordnung ist innerhalb ihres Geltungsbereichs zu Bundesrecht nur insoweit geworden, als sie Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebungszuständigkeit betrifft.
4. Da nach dem Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes alle höchsten Staatsorgane handlungsunfähig waren, waren die niedrigeren Organe aus deutschem Recht berechtigt und grundsätzlich verpflichtet, unter Überschreitung ihrer normalen Kompetenzen notfalls anstelle der handlungsunfähigen höchsten Organe zu handeln. Sie bedurften dazu keines Eingriffs der Besatzungsmacht (Einweisung in die deutsche Kompetenz oder Delegation von Besatzungsgewalt).
5. Nicht in jeder gerichtlichen Verfahrensart muß der Grundsatz der Öffentlichkeit gelten.
6. Das Prinzip des Rechtsstaates gebietet nicht, daß der Rechtsweg in allen Zweigen einen Instanzenzug habe.

Inhaltsverzeichnis 

Beschluß

des Ersten Senats vom 21. Oktober 1954
- 1 BvL 9/51, 1 BvL 2/53 -
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung des § 36 Abs. 1 Satz 2 des Niedersächsischen Gesetzes über die Standesvertretungen der Ärzte, Apotheker, Tierärzte, Zahnärzte und Dentisten vom 25. November 1950 i.d.F. der Bekanntmachung vom 1. Dezember 1950 (GVBl. S. 77). - Vorlage des Landesverwaltungsgerichts Braunschweig (P.R. 134/51) und Vorlage des Landesverwaltungsgerichts Hannover (A I 20/51).
Entscheidungsformel:

§ 36 Abs. 1 Satz 2 des Niedersächsischen Gesetzes über die Standesvertretungen der Ärzte, Apotheker, Tierärzte, Zahnärzte und Dentisten vom 25. November 1950 in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. Dezember 1950 (GVBl. S. 77) ist hinsichtlich der Entscheidungen des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen mit dem Grundgesetz vereinbar.

Gründe

A.

I.

Das Niedersächsische Gesetz über die Standesvertretungen der Ärzte, Apotheker, Tierärzte, Zahnärzte und Dentisten vom 25. November 1950 in der Fassung vom 1. Dezember 1950 (NStVG) enthält u.a. Vorschriften über die Berufsgerichtsbarkeit. Der Abschnitt "Übergangs- und Schlußbestimmungen" beginnt mit § 36, der folgenden Wortlaut hat:

"1) Das zur Zeit bestehende ärztliche Berufsgericht und das tierärztliche Berufsgericht in Hannover werden mit dem Tage des Inkrafttretens dieses Gesetzes aufgelöst. Alle bis zu diesem Zeitpunkt ergangenen Entscheidungen und Beschlüsse dieser Gerichte sind endgültig.
2) Verfahren, die beim Inkrafttreten dieses Gesetzes vor den in Abs. 1 bezeichneten Berufsgerichten anhängig sind, werden von den nach diesem Gesetz zu bildenden Berufsgerichten übernommen."

In der Begründung des Entwurfs war darauf hingewiesen worden, daß

"gegen das ärztliche Berufsgericht in Niedersachsen Bedenken geltend gemacht werden, die auf die angeblich nicht rechtsgültige Bestellung seiner rechtskundigen Mitglieder im Jahre 1945 durch den früheren Oberpräsidenten gestützt werden"

und daß

"die Rechtsbeständigkeit der bisher ergangenen Entscheidungen und Beschlüsse des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen, dessen rechtmäßige Existenz angezweifelt wird"

gesichert werden solle.

II.

Die Einrichtung des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen geht auf folgende Vorgänge zurück:

Nach der Besetzung Niedersachsens wurde Dr. med. S. im Einvernehmen mit der englischen Militärregierung durch den Oberpräsidenten der Provinz Hannover zum vorläufigen Präsidenten der Ärztekammer Hannover ernannt. Nach einer Bescheinigung der Militärregierung vom 25. Mai 1945 (Akten des Landesverwaltungsgerichts Hannover A I 20/51 Bl. 86) sollte Dr. med. S. die Ärztekammer Niedersachsen im gesamten Verwaltungsbezirk (Provinz Hannover, Braunschweig, Oldenburg, Schaumburg-Lippe und evtl. Bezirk Bremen) organisieren und hierzu die Anordnungen treffen, die geeignet wären, die gesetzlichen Aufgaben der Ärztekammer zu garantieren.

Unter dem 14. Juli 1945 richtete Dr. med. S. folgendes Schreiben an die englische Militärregierung, Abteilung Gesundheit, in Hannover:

"Als derzeitiger Präsident der Ärztekammer Niedersachsen beantrage ich hiermit, daß der Oberpräsident der Provinz Hannover als alleinige Aufsichtsbehörde für die Ärztekammer Niedersachsen bestellt wird und daß ihm alle die Befugnisse übertragen werden, die nach der Reichsärzteordnung vom 13.12.1935 (RGBl. I S. 1433) dem Reichsminister des Innern zustehen.

Begründung: Die Ärztekammer Niedersachsen umfaßt die Provinz Hannover und die Länder Oldenburg und Braunschweig. Sie umfaßte früher außerdem Bremen und Schaumburg-Lippe. Sie umfaßt heute die englisch besetzten Teile der Provinz Hannover, der Länder Oldenburg und Braunschweig.

Die Staatsaufsicht führt nach § 80 RÄO der Reichsminister des Innern. Für die Ärztekammer Niedersachsen, welche damals auch Braunschweig und Oldenburg umfaßte, war die Staatsaufsicht dem Oberpräsidenten der Provinz Hannover übertragen. Eine Beteiligung der Landesregierungen Oldenburg und Braunschweig an der Staatsaufsicht erfolgte nicht. Der heute gestellte Antrag entspricht daher den gesetzlichen Vorschriften und auch den früher bestehenden tatsächlichen Zuständen. Für die Durchführung der Aufgaben der Ärztekammer Niedersachsen ist es erforderlich, daß nur eine Stelle die Staatsaufsicht führt."

Die Antwort der Militärregierung vom 20. Juli 1945 lautete:

" I have no objections to the powers referred to in your letter of 14 July being transferred to the Oberpresident

signed D. W. Beamish
Lt.Colonel
SO I Public Health
HQ Military Government Hannover Region"

Am 9. Oktober 1945 wandte sich Dr. med. S. mit folgendem Schreiben an den Oberpräsidenten:

"Betr.: Ärztliches Berufsgericht.

Gemäß Reichsärzteordnung vom 13. 12. 1935 (RGBl. I Seite 1433) § 58 wird für jeden Ärztekammerbezirk ein Berufsgericht gebildet.

Das ärztliche Bezirksgericht entscheidet in der Besetzung mit einem zum Richteramt befähigten Vorsitzenden und zwei Ärzten als Beisitzer. Gemäß § 60 RÄO wurden die rechtskundigen Mitglieder der ärztlichen Berufsgerichte vom Reichsminister der Justiz im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern nach Anhörung der Reichsärztekammer bestimmt.

Ich schlage vor, daß der Herr Oberpräsident das rechtskundige Mitglied bestimmt und den Herrn Landgerichtspräsidenten Hannover bittet, ihm geeignete Vorschläge für einen Vorsitzenden des ärztlichen Berufsgerichts (möglichst Strafrichter) und einen Stellvertreter zu machen.

Ich schlage ferner vor, daß die beiden ärztlichen Mitglieder und deren Stellvertreter vom Vorstand der Ärztekammer Niedersachsen, welcher von der Ärztekammer Niedersachsen in seiner Sitzung am 2. 9. 45 gewählt worden ist, bestellt und durch den Herrn Oberpräsidenten der Provinz Hannover bestätigt werden.

Ich halte es für notwendig, daß das ärztliche Berufsgericht gebildet wird, damit es auf Grund der bisherigen gesetzlichen Bestimmungen und der Berufsordnung unter Ausschaltung aller nationalsozialistischen Gesichtspunkte tätig werden kann."

Dementsprechend wurde verfahren: Auf Vorschlag des Landgerichtspräsidenten in Hannover bestellte der Oberpräsident am 31. Januar 1946 den Landgerichtsdirektor Dr. H. zum Vorsitzenden des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen in Hannover und den Amtsgerichtsrat Dr. W. zum Stellvertretenden Vorsitzenden. Beide wurden am 12. Februar 1946 vom Oberpräsidenten unter Bezugnahme auf § 2 der 2. Verordnung zur Durchführung und Ergänzung der Reichsärzteordnung vom 8. Mai 1937 auf die unparteiische und gewissenhafte Erfüllung der Obliegenheiten ihres Amtes durch Handschlag an Eides Statt verpflichtet. Die ärztlichen Mitglieder wurden ebenfalls in der vom Präsidenten der Ärztekammer Niedersachsen vorgeschlagenen Weise ernannt und bestätigt. Das Gericht nahm seine Tätigkeit im Februar 1946 auf.

Eine dem ärztlichen Berufsgericht Niedersachsen übergeordnete Rechtsmittelinstanz wurde nicht eingerichtet.

III.

1. Gerichtsvorlage im Falle des Arztes Dr. med. G.

Durch Urteil des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen vom 25. Januar 1950 wurde der Arzt Dr. med. G. auf Grund von Tatsachen, derentwegen er bereits strafgerichtlich verurteilt worden war, eines Berufsvergehens für schuldig befunden und für unwürdig erklärt, den ärztlichen Beruf auszuüben. Hiergegen legte er unter Bezugnahme auf § 76 Abs. 1 der Reichsärzteordnung (RÄO) beim ärztlichen Berufsgericht Berufung ein. Er vertrat den Standpunkt, daß die ergangene Entscheidung berufungsfähig sei, auch wenn eine Berufungsinstanz fehle.

Der Präsident des Niedersächsischen Verwaltungsbezirks Braunschweig verfügte am 14. März 1951 gemäß § 5 Ziff. 3 und 4 RÄO die Rücknahme der Bestallung Dr. G.s als Arzt. Hiergegen erhob dieser Klage vor dem Landesverwaltungsgericht Braunschweig.

Das Landesverwaltungsgericht hat das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt, um die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob durch § 36 NStVG das Grundgesetz verletzt wird. Das vorlegende Gericht geht davon aus, daß der Kläger form- und fristgerecht gegen das Urteil des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen Berufung eingelegt habe, das berufsgerichtliche Verfahren also noch schwebe, so daß die Bestallung gemäß § 5 Abs. 4 RÄO noch nicht habe zurückgenommen werden können. § 36 NStVG sei unwirksam, weil er ein nach § 76 RÄO zulässiges Rechtsmittel abschneide. § 76 RÄO betreffe eine Frage der Zulassung zum ärztlichen Beruf, die nach Art. 74 Nr. 19 GG zum Gebiet der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes gehöre; § 76 RÄO gelte deshalb als Bundesrecht fort (Art. 125 GG) und könne von einem Landesgesetzgeber nicht geändert werden. Außerdem sei § 36 NStVG wegen Verstoßes gegen den Gleichheitssatz des Art. 3 GG unwirksam, weil die Berufungsmöglichkeit an den neu errichteten Gerichtshof für Heilberufe nur für solche Fälle geschaffen werde, in denen eine Entscheidung des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen noch nicht ergangen sei; diese unterschiedliche Behandlung gebe dem Zufall Raum und sei deshalb willkürlich.

2. Gerichtsvorlage im Falle des Arztes Prof. Dr. med. K.

Durch Urteil des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen vom 7. September 1950 wurde der Arzt Prof. Dr. med. K. wegen Verletzung seiner Berufspflichten zu einem Verweis und zu einer Geldbuße von 1000.- DM verurteilt. Die Ärztekammer Niedersachsen verlangte von ihm Zahlung dieser Geldbuße sowie der Verfahrenskosten. Prof. Dr. med. K. erhob vor dem Landesverwaltungsgericht Hannover Klage gegen die Ärztekammer mit dem Antrage, festzustellen, daß der "Bescheid" des ärztlichen Berufsgerichts vom 7. September 1950 nichtig sei, und dem Hilfsantrage, diesen "Bescheid" aufzuheben.

Das Landesverwaltungsgericht hat das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt, um die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber einzuholen, ob durch das Gesetz über die Standesvertretungen der Ärzte, Apotheker, Tierärzte, Zahnärzte und Dentisten das Grundgesetz deshalb verletzt werde, weil die Gesetzgebung auf diesem Gebiet dem Bunde vorbehalten sei. Das Landesverwaltungsgericht führt aus, es könne dahingestellt bleiben, ob es sich bei dem in § 58 RÄO vorgesehenen Berufsgericht der Deutschen Ärzteschaft um ein "anderes bestehendes Gericht" im Sinne von § 22 Abs. 3 MRVO 165 oder um ein "besonderes Verwaltungsgericht" im Sinne von § 27 Buchst. c MRVO 165 handle; denn das ärztliche Berufsgericht Niedersachsen könne überhaupt nicht als ein Berufsgericht im Sinne der §§ 58 ff. RÄO angesehen werden. Hiergegen spreche schon die abweichende Bezeichnung. Außerdem seien weder der Vorsitzende und seine Stellvertreter noch die ärztlichen Mitglieder entsprechend der Vorschrift des § 60 RÄO bestellt worden. Die Entscheidung des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen gegen den Arzt Prof. Dr. med. K. sei als ein Verwaltungsakt im Sinne von § 25 Abs. 1 MRVO 165 eine den Kläger beschwerende Rechtsbeeinträchtigung, die nach § 23 Abs. 1 MRVO 165 angefochten werden könne. § 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG , der eine nachträgliche Sanktionierung der Entscheidungen des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen erstrebe, sei unwirksam; denn dieses Landesgesetz sei mit dem Bundesrecht nicht vereinbar. Die Bestrafung von Berufsvergehen gehöre zum Zulassungsrecht und unterliege damit der konkurrierenden Gesetzgebung des Bundes nach Art. 74 Nr. 19 GG. Die Reichsärzteordnung gelte nach Art. 125 GG als Bundesrecht weiter, so daß der Landesgesetzgeber nach Inkrafttreten des Grundgesetzes gemäß Art. 31 und 72 Abs. 1 GG nicht mehr befugt gewesen sei, eine abweichende Regelung zu treffen.

IV.

Gemäß §§ 82, 77 BVerfGG ist dem Bundestag, dem Bundesrat, der Bundesregierung, der Landesregierung und dem Landtag von Niedersachsen sowie den an den verwaltungsgerichtlichen Verfahren Beteiligten Gelegenheit gegeben worden, sich zu äußern. Auch die an der Rechtsfrage interessierte Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat die Möglichkeit einer Stellungnahme erhalten. Die Niedersächsische Landesregierung ist dem Verfahren beigetreten; sie hat auf mündliche Verhandlung verzichtet.

Die Bundesregierung vertritt durch den Bundesminister des Innern die Auffassung, daß die Entscheidungen der Berufsgerichte keine Akte der Rechtsprechung seien, und hat sich deshalb nur zur Frage der Vereinbarkeit von § 36 NStVG mit Art. 19 Abs. 4 GG geäußert, die sie verneint. Die Regierung des Landes Nordrhein-Westfalen hat nur zur Frage der Gesetzgebungskompetenz der Länder Stellung genommen und hat sie bejaht. Die Regierung und der Landtag von Niedersachsen vertreten die Auffassung, daß weder das Gesetz als ganzes noch § 36 aaO für sich allein mit dem Grundgesetz unvereinbar sei. Derselben Ansicht sind die Ärztekammer Niedersachsen und der Vertreter des öffentlichen Interesses beim Landesverwaltungsgericht Hannover.

B.

Die Vorlagen der beiden Landesverwaltungsgerichte sind zulässig.

I.

Das Vorlagebegehren der beiden Gerichte bezieht sich ausschließlich auf die Gültigkeit des § 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG , und zwar auch nur, soweit es sich um Entscheidungen des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen handelt.

Der Tenor des Aussetzungsbeschlusses des Landesverwaltungsgerichts Braunschweig stellt zwar den ganzen Paragraphen zur Prüfung, während im Tenor des Beschlusses des Landesverwaltungsgerichts Hannover sogar das Gesetz schlechthin genannt ist. Aus den Gründen beider Beschlüsse ergibt sich aber, daß beide Gerichte nur § 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG - und zwar in dem oben bezeichneten Umfang - auf seine Verfassungsmäßigkeit überprüft haben wollen; denn allein hierauf kommt es ihnen für ihre Entscheidung an. Wenn der Tenor der beiden Aussetzungsbeschlüsse darüber hinausgeht, so beruht dies offenbar darauf, daß beide Gerichte den § 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG in erster Linie deshalb für verfassungswidrig halten, weil der Landesgesetzgeber seine Kompetenz überschritten habe, indem er überhaupt ein die ärztliche Berufsgerichtsbarkeit betreffendes Gesetz erließ.

II.

Die Prüfung der Vereinbarkeit des § 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG - in dem angegebenen Umfang - mit dem Grundgesetz ist nicht überflüssig und deshalb unzulässig, weil jene Bestimmung etwa schon wegen Verstoßes gegen Besatzungsrecht, nämlich gegen § 27 Buchst. c MRVO 165 nichtig wäre. Daß es sich bei den Entscheidungen des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen um erstinstanzliche gerichtliche Entscheidungen handelt, gegen die nach den bis zum Erlaß des Standesvertretungsgesetzes bestehenden deutschen Vorschriften kein Rechtsmittel gegeben war, wird unten darzulegen sein (vgl. unter C II). Ob das ärztliche Berufsgericht ein "besonderes Verwaltungsgericht" war, gegen dessen Entscheidungen nach § 27 Buchst. c MRVO 165 die Berufung gegeben wäre, hat gegebenenfalls das zuständige Oberverwaltungsgericht zu entscheiden, wie das in einem anderen Falle geschehen ist (OVG Lüneburg, Bescheid vom 11. Februar 1953 - A 239/51 -). Auch wenn dieses zu dem Ergebnis käme, daß § 27 Buchst. c MRVO 165 die Berufung gewährt, wäre § 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG nicht wegen Widerspruchs zu dieser besatzungsrechtlichen Vorschrift nichtig. Er würde neben dem Besatzungsrecht Bedeutung behalten, weil er jedenfalls bestimmt, daß die in dem Standesvertretungsgesetz neugeschaffene zweite Instanz nicht über Rechtsmittel gegen Entscheidungen des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen befinden darf.

Soweit es sich um die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des § 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG hinsichtlich der Entscheidungen des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen handelt, sind hiernach die Voraussetzungen des Art. 100 Abs. 1 GG für beide Vorlagen gegeben.

C.

§ 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG ist hinsichtlich der Entscheidungen des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen mit dem Grundgesetz vereinbar.

I.

Dem Lande Niedersachsen war die Zuständigkeit zum Erlaß der Bestimmung des § 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG durch das Grundgesetz nicht genommen (Art. 125 GG i.V.m. Art. 72 Abs. 1 GG), weil eine konkurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes weder durch Art. 74 Nr. 19 GG (Zulassung zu den Heilberufen), noch durch Art. 74 Nr. 1 GG (Gerichtsverfassung und gerichtliches Verfahren) begründet worden ist.

1. § 36 NStVG bezieht sich auf das Verfahrensrecht in der Standes- (Berufs-)gerichtsbarkeit für die Angehörigen der Heilberufe. Auf diesem Gebiet steht dem Bunde eine Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 Nr. 19 GG nicht zu.

a) Diese Vorschrift gewährt dem Bunde die Gesetzgebungskompetenz für "die Zulassung zu ärztlichen und anderen Heilberufen". Diese Formulierung ist wortgetreu auszulegen. Das zeigt ein Vergleich mit Art. 74 Nr. 1 GG; dort ist dem Bunde die Gesetzgebungskompetenz für "die Rechtsanwaltschaft, das Notariat und die Rechtsberatung" gegeben. Dieser auffallende Unterschied im Wortlaut der Bestimmungen ist nicht nur ein Wechsel im Ausdruck, sondern Kennzeichen einer inhaltlich verschiedenen Abgrenzung der Gesetzgebungszuständigkeiten: Bei den Heilberufen ist die Gesetzgebungszuständigkeit des Bundes auf das Zulassungswesen beschränkt. Das ergeben auch die Verhandlungen im Parlamentarischen Rat und in seinen Ausschüssen (vgl. JöR NF Bd. 1 S. 539; Dr. Strauß, Dr. Laforet. 9. Sitzung des ZA vom 7. Oktober 1948 Sten. Prot. S. 48, 50, 51; Dr. Laforet, Dr. Strauß, Dr. Hoch, Dr. Seebohm. 12. Sitzung des ZA Sten. Prot. S. 53, 54, 55; Dr. Laforet. 49. Sitzung HA vom 9. Februar 1949 Stenogr. Ber. S. 651; Dr. Seebohm. 57. Sitzung HA vom 5. Mai 1949 [PR-Drs. Nr. 780] Stenogr. Ber. S. 755).

b) Die Berufsgerichtsbarkeit gehört auch nicht kraft Zusammenhangs zum Zulassungswesen.

aa) Ein solcher Zusammenhang ist nicht schon dadurch gegeben, daß ein einheitliches Gesetz, die Reichsärzteordnung, die im Bundesgebiet - mit Ausnahme Bayerns - fortgalt, neben der Zulassung auch die Ständevertretung und die Berufsgerichtsbarkeit der Ärzte regelte.

Art. 125 Nr. 1 GG macht die Reichsärzteordnung nicht im ganzen zu Bundesrecht. Recht, das beim Zusammentritt des ersten Bundestags innerhalb einer oder mehrerer Besatzungszonen einheitlich galt, ist danach nur insoweit Bundesrecht geworden, als es Gegenstände der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz betraf. Dies kann zu einem Nebeneinander-Fortbestehen von Bundesrecht und Landesrecht innerhalb eines Gesetzes führen. Die Vorschriften der Reichsärzteordnung über die Berufsgerichtsbarkeit gelten also nicht deshalb als Bundesrecht fort, weil in diesem Gesetz auch Teile enthalten sind, die zweifellos Bundesrecht darstellen.

bb) Die Vorschriften der Reichsärzteordnung über die Berufsgerichtsbarkeit gelten auch nicht deshalb als Bundesrecht fort, weil § 5 Abs. 1 Ziff. 4 RÄO die Zurücknahme der Bestallung, die zum Zulassungswesen gehört, zwingend an die Feststellung der Berufsunwürdigkeit im berufsgerichtlichen Verfahren knüpft. Die Grenze zwischen Bundesrecht und Landesrecht mag in fortgeltenden Reichsgesetzen nachträglich oft nur schwer zu finden sein. Das allein kann jedoch nicht dazu führen, für mehrere in einem Reichsgesetz abgehandelte Materien kraft Sachzusammenhangs die Sperrwirkung des Art. 125 GG i.V.m. Art. 72 Abs. 1 GG für die Landesgesetzgebung anzunehmen. Dies wäre nur dann geboten, wenn die Regelung des berufsgerichtlichen Verfahrens in der Reichsärzteordnung sachlich derart mit dem Zulassungswesen verbunden wäre, daß der erste Gesetzgebungskomplex dem zweiten zugerechnet werden müßte. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß § 52 Abs. 1 Ziff. 5 RÄO ("Die Strafen für ein Berufsvergehen sind:... 5. Feststellung, daß der Beschuldigte unwürdig ist, den ärztlichen Beruf auszuüben.") und § 5 Abs. 1 Ziff. 4 RÄO ("Die Bestallung ist zurückzunehmen:...4. wenn der Arzt durch berufsgerichtliches Urteil für unwürdig erklärt ist, den ärztlichen Beruf auszuüben.") in engem Zusammenhang stehen. Die Anknüpfung des § 5 Abs. 1 Ziff. 4 an § 52 Abs. 1 Ziff. 5 RÄO führt jedoch nicht dazu, daß auch § 52 Abs. 1 Ziff. 5 RÄO zur Gesetzesmaterie des Zulassungswesens gehört. Innerhalb des ärztlichen Berufsrechts betrifft § 5 Abs. 1 Ziff. 4 eindeutig das Zulassungswesen und § 52 Abs. 1 Ziff. 5 nur die Strafbefugnis der vom Staat mit Strafgewalt ausgerüsteten Berufsgerichtsbarkeit, und zwar nur eine von fünf möglichen Strafen. Die Verbindung zwischen den beiden Normen ergibt sich allein aus einer einseitigen zwingenden Anknüpfung des § 5 Abs. 1 Ziff. 4 an den § 52 Abs. 1 Ziff. 5 RÄO, nicht aber aus der Eigenart der zu regelnden Materie. Das Berufsgericht entscheidet nicht über die Zulassung oder die Zurücknahme der Bestallung. Es ahndet nur Pflichtwidrigkeiten von Standesangehörigen. Die Unwürdigkeitserklärung des Berufsgerichts ist selbständig und unabhängig gegenüber der Zurücknahme der Zulassung durch die dafür zuständige staatliche Behörde; sie ist nur eine Tatbestandsvoraussetzung für die Zurücknahme. Es handelt sich um nichts anderes als einen Fall der "Feststellungswirkung" kraft Bundesrechts, durch die der Akt, dem die Feststellungswirkung beigelegt wird, nicht selbst zu einem Akt kraft Bundesrechts wird.

2. Auch Art. 74 Nr. 1 GG i.V.m. Art. 125 Nr. 1 und Art. 72 Abs. 1 GG steht der Gültigkeit von § 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG nicht entgegen; denn das Gerichtsverfassungs- und Verfahrensrecht der ärztlichen Berufsgerichtsbarkeit in der Reichsärzteordnung ist auch hiernach nicht Bundesrecht geworden.

Hierfür spricht bereits die oben erörterte Auslegung von Art. 74 Nr. 19 GG, soweit dabei Art. 74 Nr. 1 GG zum Vergleich herangezogen worden ist. Die allgemeine Formulierung "die Gerichtsverfassung und das gerichtliche Verfahren" sollte nicht auch die ärztliche Standesgerichtsbarkeit umfassen. Es geht nicht an, dem Bunde durch eine weite Auslegung des Art. 74 Nr. 1 GG eine Kompetenz zuzuweisen, die ihm nach der klaren Formulierung der Nr. 19 des gleichen Artikels vorenthalten ist. Insoweit stellt Art. 74 GG eine Einheit dar.

II.

§ 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG verstößt auch nicht gegen den Gleichheitssatz. Er bewirkt keine unterschiedliche Behandlung derjenigen berufsgerichtlichen Verfahren, in denen das ärztliche Berufsgericht ein Urteil erlassen hatte, gegenüber anderen Verfahren, in denen eine solche Entscheidung noch nicht ergangen war; denn durch § 36 aaO hat der Landesgesetzgeber insoweit kein neues Recht gesetzt, sondern nur bestätigt, was nach dem vorher gültigen deutschen Verfahrens- und Gerichtsverfassungsrecht ohnehin Rechtens war: Die vom ärztlichen Berufsgericht Niedersachsen bis zum Inkrafttreten des Standesvertretungsgesetzes erlassenen Entscheidungen waren nach deutschem Recht als Entscheidungen eines staatlichen Gerichts endgültig.

1. Das ärztliche Berufsgericht Niedersachsen ist in rechtlich einwandfreier Weise eingesetzt worden.

a) Das ärztliche Berufsgericht Niedersachsen war ein Bezirksgericht i. S. des § 58 RÄO.

Daß die Reichsärzteordnung nach dem Zusammenbruch in Niedersachsen grundsätzlich fortgalt, bedarf keiner Erörterung. Mit der Reichsärzteordnung blieb auch die darin begründete Berufsgerichtsbarkeit als Institution erhalten. Es wurden nur die Berufsgerichte geschlossen, nicht die Berufsgerichtsbarkeit abgeschafft. Die Berufsgerichte durften bei entsprechender schriftlicher Genehmigung durch die Militärregierung wiedereröffnet werden (Art. I und IV des Gesetzes Nr. 2 der Militärregierung).

In dieser Weise ist mit dem "ärztlichen Berufsgericht Niedersachsen" ein Bezirksgericht i. S. von § 58 RÄO für den Ärztekammerbezirk Hannover wiedereröffnet worden. Das "ärztliche Berufsgericht Niedersachsen" nur wegen der abweichenden Bezeichnung nicht als Gericht i. S. vom § 58 RÄO ansehen zu wollen, ist abwegig. Dies umso mehr, als die Standesgerichte der Ärzteschaft in § 58 RÄO selbst als "Berufsgerichte" bezeichnet sind und die Wiedereröffnung der Ärztekammer wie auch des ärztlichen Berufsgerichts von Anfang an unter ausdrücklicher oder stillschweigender Bezugnahme auf die Reichsärzteordnung betrieben worden ist. Daß in dem gewählten Namen der Zusatz "Bezirks"-Gericht und damit eine Kennzeichnung als Instanz fehlt, kann kein Kriterium für den Bestand und den Charakter des Gerichts sein. Entscheidend ist vielmehr, ob die Voraussetzungen für die Wiedereröffnung des Bezirksgerichts erfüllt waren, die sich aus dem Besatzugsrecht und dem deutschen Recht ergaben.

b) Es braucht nicht geprüft zu werden, ob eine Verletzung der hier in Betracht kommenden besatzungsrechtlichen Vorschriften die Wirkung gehabt hätte, daß das ärztliche Berufsgericht Niedersachsen als Nicht-Gericht angesehen werden müßte. Denn es ergibt sich, daß die besatzungsrechtlichen Bestimmungen eingehalten worden sind:

Die in Art. IV des Gesetzes Nr. 2 der Militärregierung vorausgesetzte schriftliche Genehmigung der Militärregierung liegt in deren Schreiben vom 20. Juli 1945. Die Wiedereröffnung des Bezirksgerichts ist darin zwar nicht ausdrücklich erwähnt. Aus der Fassung des Schreibens in Verbindung mit dem vorangegangenen Auftrag der Militärregierung an den Präsidenten der Ärztekammer ist jedoch zu schließen, daß nach dem Willen der Militärregierung alle in der Reichsärzteordnung für einen Kammerbezirk vorgesehenen Einrichtungen im Bereich der Ärztekammer Niedersachsen wieder tätig werden durften. Das gilt auch für das Berufsgericht. Daß die Besatzungsmacht selbst jenen Schreiben eine solche Bedeutung beigelegt hat, ergibt sich aus ihrem späteren Verhalten gegenüber dem Gericht: Sie hat dessen Einrichtung ermöglicht und seine Spruchtätigkeit selbst gefördert, wie die Verweisung eines Falles an das Berufsgericht durch ein Gericht der Militärregierung deutlich macht.

Die zum Richteramt befähigten Vorsitzenden des Bezirksgerichts erfüllten in ihrer Person die in Art. V des Gesetzes Nr. 2 der Militärregierung aufgestellten Voraussetzungen. Sie waren bereits Richter an einem ordentlichen Gericht. Sie hatten als solche den in Art. V Ziff. 8 aaO vorgeschriebenen Eid leisten müssen; die Ausübung ihrer richterlichen Tätigkeit war schon insoweit von der Genehmigung der Militärregierung abhängig gewesen. Einer erneuten Eidesleistung und Genehmigung bedurfte es deshalb zur Ausübung des Richteramts im ärztlichen Berufsgericht nicht mehr.

Bei Erlaß des Gesetzes Nr. 2 war offenbar nur an Berufsrichter gedacht. Darauf deutet Ziffer 1 der Einleitung zur Allgemeinen Anweisung an Richter Nr. 2 (ohne Datum), wonach die Wiedereinführung von Schöffen- und Schwurgerichten zunächst zurückgestellt wurde. Jedenfalls aber sollte Art. V dieses Gesetzes nach dem Willen der Besatzungsmacht auf die ärztlichen Beisitzer der Berufsgerichte keine Anwendung finden. Das folgt daraus, daß seitens der Besatzungsmacht in dieser Hinsicht nichts veranlaßt worden ist. Es kann deshalb dahingestellt bleiben, ob das Fehlen einer besatzungsrechtlich etwa vorgeschriebenen Vereidigung der Beisitzer rechtlichen Einfluß auf den Charakter des ärztlichen Berufsgerichts und seiner Entscheidungen gehabt hätte.

c) Auch das deutsche Recht ist gewahrt:
Die Besetzung des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen ist allerdings nicht durch die in § 60 RÄO angegebenen staatlichen Organe erfolgt. Hierin liegt jedoch kein Mangel, der diesem Gericht die Eigenschaft eines Berufsgerichts i. S. von § 58 RÄO nehmen könnte. Die Tätigkeit des Oberpräsidenten bei der Besetzung des ärztlichen Berufsgerichts wird durch die in Deutschland nach dem Zusammenbruch gegebene Rechtslage gedeckt; dies gilt sowohl für die sachliche Zuständigkeit (Handeln anstelle des Reichsministers der Justiz im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern), als auch für die räumliche Zuständigkeit (Besetzung eines Gerichts, dessen Sprengel über den Amtsbereich des Oberpräsidenten, die Provinz Hannover, hinausging).

aa) Der Oberpräsident durfte bei der Besetzung des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen die Funktionen wahrnehmen, die nach § 60 RÄO vom Reichsminister der Justiz im Einvernehmen mit dem Reichsminister des Innern auszuüben waren.

Die Zuständigkeitsregeln in Verfassungen und Gesetzen sind grundsätzlich auf normale Situationen abgestellt; sie reichen beim tatsächlichen Zusammenbruch eines Staates und des ihn tragenden Systems, der mit der Handlungsunfähigkeit aller höchsten Organe verbunden ist, nicht aus. In einer solchen Lage haben die etwa noch vorhandenen Organe nicht nur die Berechtigung, sondern grundsätzlich auch die Verpflichtung zu Handlungen, die über ihre normalen Kompetenzen hinausgehen. Sie haben alles, was in ihrer tatsächlichen Macht steht, zu tun, um die Handlungsunfähigkeit der höchsten Organe zu beheben; soweit das nicht möglich ist, haben sie selbst an Stelle jener Organe zu handeln. Im Falle einer Besetzung bedürfen sie einer Delegation von Besatzungsgewalt hierfür nicht.

Diese Grundsätze gelten auch für diejenigen Träger deutscher Ämter, die nach dem Zusammenbruch der nationalsozialistischen Herrschaft neu bestellt worden sind. Zunächst hatte zwar die "Erklärung in Anbetracht der Niederlage Deutschlands" vom 5. Juni 1945 (Amtsblatt des Kontrollrats, Ergänzungsheft 1 S. 7) vorgesehen, daß die Besatzungsmächte die gesamte Staatsgewalt in Deutschland selbst ausüben würden. Dies ist jedoch, wie schon in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Dezember 1953 (BVerfGE 3, 58 [89] - 1 BvR 147/52 -) gesagt ist, in der vorgesehenen Weise nicht durchgeführt worden. Vielmehr wurden alsbald wieder Deutsche in Ämter eingesetzt, die als deutsche Ämter zu betrachten waren und regelmäßig auch als solche bezeichnet wurden. Wenn auch im allgemeinen die Besatzungsmächte die Ernennungen aussprachen und gelegentlich sogar die Ämter neu schufen, so war doch die Amtsausübung nicht unmittelbare oder mittelbare Besatzungstätigkeit. Die Autorität, aus der heraus die Inhaber dieser deutschen Ämter handelten, war vielmehr deutsche Autorität, und sie selbst waren nicht Beauftragte der Besatzungsmächte. Diese deutschen Organe waren also keineswegs nur insoweit handlungsberechtigt, als ihnen die Besatzungsmächte jeweils ausdrücklich Kompetenzen zuwiesen, sondern umgekehrt: Sie waren zum Handeln berechtigt und grundsätzlich verpflichtet, soweit die Besatzungsmächte es nicht verboten oder verhinderten. So wurde die Einsetzung Deutscher in deutsche Ämter auch von der deutschen Bevölkerung allenthalben betrachtet (vgl. z. B. das im Amtsblatt für Niedersachsen 1946 S. 55 abgedruckte Dokument vom 6. November 1945); eine bessere demokratische Legitimation konnte es damals nicht geben. Die spätere Entwicklung kann diese Auffassung nur bestätigen; denn regelmäßig ist unter Mitwirkung dieser vorläufigen deutschen Organe der weitere Aufbau des demokratischen deutschen Verfassungsstaates vollzogen worden. Eine Begrenzung ihrer Kompetenzen nach deutschem Recht konnte sich nur ergeben aus den Aufgaben, die in der damaligen außergewöhnlichen Situation zu lösen waren, und aus dem Vorhandensein anderer deutscher Organe, die etwa solche Aufgaben übernahmen. Es ist selbstverständlich, daß unter den Verhältnissen jener Zeit weitgehend von dem pflichtgemäßen Ermessen der Organträger abhing, in welchem Umfang sie für handlungsunfähige Organe des Reiches einsprangen und welche Maßnahmen sie im einzelnen ergriffen. Prinzipiell ergab sich aus der deutschen Ämter-Hierarchie, soweit sie schon vorhanden war, von selbst, daß die Inhaber der jeweiligen höchsten deutschen Ämter in erster Linie berufen waren, die fehlenden obersten Organe des Reiches zu ersetzen. In dieser Lage befand sich der Oberpräsident in der fraglichen Zeit, gleichgültig, ob sein Amt damals als ein staatliches oder etwa als das leitende Amt eines Kommunalverbandes höherer Art betrachtet wurde.

Im übrigen waren in der sachlichen Zuständigkeit Unsicherheiten nicht zu vermeiden. Ihrer rechtlichen Beurteilung können nicht nachträglich die inzwischen wieder strikt maßgebend gewordenen Regeln des Verwaltungsrechts über die Folgen formell-rechtlich unzuständigen Handelns zugrunde gelegt werden. So kann insbesondere nicht gefordert werden, daß auch nach dem Zusammenbruch unter den hier zu berücksichtigenden Verhältnissen stets zwei Verwaltungsbehörden hätten zusammenwirken müssen, so weit auf normale Zeitverhältnisse zugeschnittene Zuständigkeitsnormen das Zusammenwirken zweier oberster Verwaltungsbehörden des Reiches vorsahen. Es kam vielmehr darauf an, ob nicht ein einziges Organ jener Zeit nach seinen sonstigen Aufgaben und seiner allgemeinen Stellung für die gesetzlich bestimmten beiden obersten Organe des Reiches handeln konnte.

Im vorliegenden Falle bestehen keine Bedenken dagegen, daß der Oberpräsident als höchstes damals bestehendes deutsches Verwaltungsorgan allein Verwaltungskompetenzen ausgeübt hat, die in § 60 RÄO zwei Ministern des Reiches zugewiesen waren. Das ist unzweifelhaft, soweit die Funktionen des früheren Reichsministers des Innern in Frage stehen, gilt aber auch für die Kompetenzen des früheren Reichsjustizministers. Am 31. Januar 1946, dem - maßgeblichen - Zeitpunkt der Ernennung der Vorsitzenden des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen durch den Oberpräsidenten, aber auch am 12. Februar 1946, dem Zeitpunkt ihrer Verpflichtung, gab es im Bereich der Ärztekammer Niedersachsen kein deutsches Organ, das für den Ärztekammerbezirk die Verwaltungsfunktionen des früheren Reichsministers der Justiz hätte ausüben können. Weder das Zentraljustizamt noch der juristische Zentralausschuß noch der Zonenbeirat bestand bereits. Allerdings übten zu den genannten Zeitpunkten die Oberlandesgerichtspräsidenten - in der Regel mit besonderer Genehmigung der Militärregierung - einzelne Funktionen aus, die zu den Verwaltungsaufgaben des Reichsministers der Justiz gehört hatten. Aber eine solche Genehmigung lag hinsichtlich der Besetzung der Berufsgerichte nicht vor, und jedenfalls haben die Oberlandesgerichtspräsidenten tatsächlich nicht gehandelt.

bb) Grundsätzlich war auch in jener Lage das Handeln der deutschen Organträger beschränkt auf deren Amtsbezirk. Oft mußte aber zunächst der rechtliche oder tatsächliche Sitz einer Körperschaft, Anstalt oder Stiftung öffentlichen Rechts entscheidend dafür sein, welches deutsche Organ eine Maßnahme der Staatsaufsicht oder eine andere Funktion staatlicher Einwirkung wahrzunehmen hatte, auch wenn der Wirkungsbereich und die Folgen über den Amtsbezirk des handelnden Organs hinausgingen. Hieraus können für die damalige Zeit keine grundsätzlichen rechtlichen Bedenken hergeleitet werden, und zwar auch nicht, insoweit staatliche Akte nicht gegenüber einer Körperschaft, sondern nur in Anlehnung an ihren Bereich ergingen und rechtlich ergehen mußten. Denn Koordinierungen zwischen den für den ganzen Wirkungsbereich zuständigen deutschen Organen waren vielfach noch nicht möglich, auch schwankte die Einteilung der Amtsbezirke nicht selten Im vorliegenden Falle kommt noch hinzu, daß der Oberpräsident schon vor dem Zusammenbruch die Staatsaufsicht für den gesamten Kammerbezirk allein ausgeübt hatte, der auch damals schon Braunschweig mitumfaßte.

Demnach ist nicht zu beanstanden, daß der Oberpräsident bei der Besetzung des ärztlichen Berufsgerichts für den ganzen Bereich der Ärztekammer Hannover, also auch mit räumlicher Wirkung für Braunschweig handelte, das nicht zu seinem Amtsbezirk gehörte.

cc) Die hier entwickelten Grundsätze gelten sinngemäß für die Bestellung der ärztlichen Beisitzer durch den Oberpräsidenten unter Mitwirkung der Ärztekammer Niedersachsen.

dd) Die Gültigkeit der Wiedereröffnung und Besetzung des ärztlichen Berufsgerichts durch den Oberpräsidenten wird dadurch, daß damit lediglich eine Instanz in Tätigkeit trat, nicht berührt. Das Fehlen einer zweiten Instanz hat insoweit keine rechtliche Wirkung.

2. Als Berufsgericht im Sinne von § 58 RÄO war das ärztliche Berufsgericht Niedersachsen nicht nur Einrichtung einer Standesorganisation, sondern auch staatliche Instanz. Seine Bildung beruhte auf einem staatlichen Gesetz; der zum Richteramt befähigte Gerichtsvorsitzende wurde von einem staatlichen Organ - oder jedenfalls von einem zuständigerweise für den Staat handelnden Organ - bestellt. Die Berufsgerichtsbarkeit diente der Erfüllung staatlicher Aufgaben.

3. Das ärztliche Berufsgericht Niedersachsen war ein Gericht auch im Sinne des Grundgesetzes. Seine Tätigkeit war Rechtsprechung i. S. von Art. 92 GG und entsprach der eines ordentlichen Gerichts im Strafverfahren oder eines Dienststrafgerichts für Beamte: sie war Gesetzesanwendung auf einen Unrechts- oder Pflichtwidrigkeitstatbestand durch eine unabhängige Instanz. Das ärztliche Berufsgericht Niedersachsen wies als Bezirksgericht i. S. von § 58 RÄO Eigenschaften auf, die den Mindestanforderungen, die an ein Gericht zu stellen sind, jedenfalls entsprachen.

a) Der Vorsitzende des Gerichts war rechtskundig; er besaß die Befähigung zum Richteramt. Die Beisitzer verfügten als Ärzte über besondere Sachkunde. Die Mitglieder des Gerichts wurden auf die Dauer von 5 Jahren bestellt und waren in dieser Zeit unabsetzbar. Zwar ist hierauf bei ihrer Bestellung nicht ausdrücklich hingewiesen worden; aber eben dies bedeutete, daß sie für 5 Jahre fest bestellt worden waren, denn jede Bestellung war eine solche nach Maßgabe des Gesetzes, wie sich hier sogar aus der ausdrücklichen Bezugnahme auf die Reichsärzteordnung ergibt. Die Mitglieder des Gerichts waren nicht weisungsgebunden; es bestand nur eine Aufsicht über den Geschäftsbetrieb des Gerichts. Ob die nach § 59 Satz 1 RÄO ursprünglich gegebene Möglichkeit, daß zum Gerichtsvorsitzenden auch ein Beamter hätte bestellt werden können, der in seiner außergerichtlichen Tätigkeit nicht unabhängig war, auch nach Inkrafttreten des Grundgesetzes fortbesteht, bedarf keiner Entscheidung, da infolge der Bestellung von Berufsrichtern zu Vorsitzenden ein solcher Fall beim ärztlichen Berufsgericht Niedersachsen tatsächlich nicht eingetreten ist.

b) Das Verfahren vor den ärztlichen Berufsgerichten genügte den an ein rechtsstaatliches Prozeßverfahren zu stellenden Anforderungen. Die §§ 65 ff. RÄO enthalten eine eingehende, von den Grundsätzen des ordentlichen Strafprozesses kaum abweichende Regelung über das Ermittlungsverfahren und die Hauptverhandlung. Außerdem ist in § 65 Abs. 1 RÄO auf die Vorschriften der Reichsdienststrafordnung verwiesen, die auf das berufsgerichtliche Verfahren Anwendung finden sollen; in der Reichsdienststrafordnung hinwiederum ist auf die Strafprozeßordnung verwiesen. Daß diese beiden Verfahrensordnungen - jedenfalls soweit sie nach 1945 fortgalten - allen rechtsstaatlichen Anforderungen genügten, bedarf keiner Erörterung.

Es ist auch nicht bedenklich, daß die Hauptverhandlung nicht öffentlich war (§ 72 Satz 4 RÄO). Der Grundsatz der Öffentlichkeit der Verhandlung (§ 169 GVG) gilt nicht ausnahmslos. Es gibt auch sonst im geltenden Recht Verfahren, bei denen die Öffentlichkeit ausgeschlossen ist. Namentlich gilt das von jeher in Disziplinarverfahren gegen Beamte (vgl. auch § 60 der Bundesdisziplinarordnung). Wie weit der Grundsatz der Öffentlichkeit für eine Verfahrensart schlechthin durchbrochen werden darf, hängt in erster Linie von der Bedeutung des Verfahrens für die Öffentlichkeit und die Verfahrensbeteiligten ab; hierbei kann auch der Rechtsschutz der Beteiligten bei dem Verfahren im übrigen nicht außer acht gelassen werden. Im berufsgerichtlichen Verfahren gegen Ärzte dient der Ausschluß der Öffentlichkeit neben dem Schutz der Patienten vornehmlich dem Schutz des Beschuldigten. Dieser befindet sich grundsätzlich in Freiheit; er kann sich unbehindert verteidigen, insbesondere eines Anwalts bedienen. Die Bedeutung dieses Verfahrens für die Rechtsgemeinschaft ist erheblich geringer als z. B. die des Strafverfahrens. Ebenso verhält es sich mit dem Interesse der Öffentlichkeit am berufsgerichtlichen Verfahren und an seiner Kontrolle. Der Grundsatz der Mündlichkeit ist hingegen im Verfahren vor dem ärztlichen Berufsgericht voll verwirklicht. Der Ausschluß der Öffentlichkeit im Verfahren vor den ärztlichen Berufsgerichten führt deshalb nicht dazu, daß diesen die Eigenschaft eines Gerichts abgesprochen werden müßte.

4. Die Entscheidungen des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen waren schon vor Erlaß des hier auf seine Verfassungsmäßigkeit zu prüfenden Gesetzes nach deutschem Recht endgültig, denn sie unterlagen nicht der Überprüfung durch eine Rechtsmittelinstanz.

a) Der Rechtsweg im Sinne des Grundgesetzes bedeutet den Weg zu den Gerichten als staatlichen Institutionen. Daß der Rechtsweg in allen Zweigen einen Instanzenzug haben müsse, ergibt sich aus dem rechtsstaatlichen Prinzip als solchem nicht. Es gab von jeher unanfechtbare erstinstanzliche Gerichtsentscheidungen, und auch nach dem heute geltenden Gerichtsverfassungsrecht gibt es Gerichte, die in erster und letzter Instanz entscheiden.

b) Allerdings sah die Reichsärzteordnung als zweite Instanz den Ärztegerichtshof vor, eine für das gesamte Reichsgebiet zuständige Berufungsinstanz. Als eine solche hat der Ärztegerichtshof nach dem Zusammenbruch zu funktionieren aufgehört und ist seither nicht wieder in Funktion getreten. Daran, ihn - nach der Regelung der Reichsärzteordnung - oberhalb der Ebene der Provinz wieder in Wirksamkeit zu setzen, war der Oberpräsident durch die Besatzungslage gehindert. Er hätte eine zweite und letzte Instanz nur für den Kammerbezirk, also nur als ein mehr oder weniger provinzielles Gericht zweiter Instanz besetzen können. Das hätte aber die Schaffung eines solchen Gerichts für den Ärztekammerbezirk vorausgesetzt, wofür die erwähnten Freigaben durch die Besatzungsmacht nicht ohne weiteres ausreichten. Auch konnte der Oberpräsident nicht übersehen, in welcher Weise, in welchem Umfange und wie schnell das deutsche Staatsleben wieder aufleben würde. Es ist deshalb nicht zu beanstanden, daß er sich insoweit zurückgehalten hat.

c) Das bloße Fehlen oder Ruhen einer Berufungsinstanz brauchte allerdings für sich allein noch nicht zu bedeuten, daß auch die an sich gegebene Berufungsmöglichkeit entfiel. Hier handelte es sich jedoch um den Wegfall der Berufungsinstanz als Institution. Aus dem erklärten Willen aller Besatzungsmächte, das deutsche Staatsleben von unten wieder aufzubauen, und aus der Unmöglichkeit, Institutionen des Reichs einfach wieder aufleben zu lassen, ergibt sich, daß die Institution des Ärztegerichtshofes nicht nur als ruhend, sondern als ersatzlos fortgefallen betrachtet werden muß. Dies gilt jedenfalls insoweit, als nicht in einem Lande eine zweite Instanz der ärztlichen Berufsgerichtsbarkeit eingerichtet worden ist. Das aber war im Lande Niedersachsen nicht geschehen. Die mit der Berufung und dem Berufungsverfahren zusammenhängenden Normen der Reichsärzteordnung verloren deshalb in diesem Lande schlechthin ihre Wirksamkeit. Die Berufungsmöglichkeit aber besteht nicht abstrakt, sondern nur zu einem Berufungsgericht, das mindestens als Institution rechtlich bestehen muß.

d) Es kann auch nicht angenommen werden, daß der Gesetzgeber des Landes später verpflichtet gewesen wäre, einen Ersatz für die weggefallene zweite Instanz der ärztlichen Berufsgerichtsbarkeit zu schaffen. Jedenfalls wäre immer dem gesetzgeberischen Willen die Entscheidung darüber vorbehalten geblieben, von welchem Zeitpunkt ab gegenüber erstinstanzlichen Entscheidungen der Rechtsmittelzug an ein neu geschaffenes Berufungsgericht geöffnet werden sollte. Es liegt keine Willkür des Gesetzgebers vor, wenn er - wie auch in Bundesgesetzen wiederholt geschehen - Rechtsmittel erst von einem Zeitpunkt an gewährt, der mit der Einrichtung der Rechtsmittelinstanz zusammenhängt.

Nach alledem sind die Entscheidungen des ärztlichen Berufsgerichts Niedersachsen weder als bloße Verwaltungsakte anzusehen noch als aus einem der angeführten Gründe fehlerhafte Gerichtsentscheidungen. Als gerichtliche Entscheidungen waren sie nach deutschem Recht endgültig; auch Art. 19 Abs. 4 GG galt deshalb ihnen gegenüber nicht. § 36 Abs. 1 Satz 2 NStVG stellt dies nur klar und verstößt deshalb nicht gegen Art. 3 GG.