BVerfG, 24.07.1957 - 1 BvL 23/52

Daten
Fall: 
Hamburgisches Hundesteuergesetz
Fundstellen: 
BVerfGE 7, 89; DÖV 1957, 862; DVBl 1957, 642; NJW 1957, 1395
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
24.07.1957
Aktenzeichen: 
1 BvL 23/52
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • OVG Hamburg, 28.02.1952 - Bf II 434/51
Inhaltsverzeichnis 

Beschluß

des Ersten Senats vom 24. Juli 1957
- 1 BvL 23/52 -
in dem Verfahren wegen verfassungsrechtlicher Prüfung der §§ 27 und 28 Abs. 2 des hamburgischen Hundesteuergesetzes vom 9. November 1950 (GVBl. I S. 203) - auf Antrag des Hamburgischen Oberverwaltungsgerichts vom 28. Februar 1952 (OVG Bf. II 434/51) -.
Entscheidungsformel:

§§ 27 und 28 Abs. 2 des hamburgischen Hundesteuergesetzes vom 9. November 1950 (GVBl. I S. 203) sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

Gründe

A.

Nach §1 des hamburgischen Hundesteuergesetzes vom 4. März 1927 (GVBl. S. 131) in der Fassung des Gesetzes vom 25. September 1947 (GVBl. S. 61) sind im hamburgischen Staatsgebiet gehaltene Hunde vom Halter zu versteuern. Bei Entrichtung der Steuer wird für das jeweilige Rechnungsjahr ein Steuerzeichen verabfolgt, das von dem Hunde am Halsband zu tragen ist (§ 10).

Seit 1946 verlangte die Hansestadt Hamburg von den Hundehaltern für die Aushändigung dieses Steuerzeichens eine besondere Gebühr von je 3 DM für jeden Zug- und Wachhund und von je 5 DM für jeden anderen Hund. In einem Urteil, das der jetzige Kläger des Ausgangsverfahrens, der Halter eines Wachhundes war, erstritt, erkannte das Hamburgische Oberverwaltungsgericht am 31. Januar 1950 (OVG Bf. I 520/49), daß die Hansestadt Hamburg ihm die Hundesteuerzeichen für die Jahre 1948 und 1949 gebührenfrei auszuhändigen habe, da die Gebühr ohne Rechtsgrundlage erhoben worden sei.
Durch das Hundesteuergesetz vom 9. November 1950 (GVBl. I S. 203) wurden die Steuersätze erhöht. Es enthielt folgende Vorschriften:

"§ 27 Übergangsbestimmungen
(1) Im Hundesteuergesetz vom 4. März 1927 in der Fassung des Gesetzes vom 25. September 1947 werden für die Rechnungsjahre 1948 und 1949, ohne Rücksicht auf die Dauer der Hundehaltung, die Steuersätze nach § 2 Absatz 1 und § 2 Absatz 2 um 5 Deutsche Mark und der Steuersatz nach § 3 um 3 Deutsche Mark erhöht.
(2) Auf diese Steuererhöhung sind die für die Aushändigung des Hundesteuerzeichens entrichteten Verwaltungsgebühren anzurechnen. Dabei sind in Reichsmark fällig gewordene und gezahlte Gebühren im Verhältnis von einer Reichsmark zu einer Deutschen Mark auf die Steuerschuld anzurechnen.

§ 28 Inkrafttreten
(1) Dieses Gesetz tritt mit Ausnahme der Bestimmungen des § 27 mit Wirkung vom 1. April 1950 in Kraft.
(2) Die Bestimmungen des § 27 treten mit dem 1. April 1948 in Kraft. ..."

Auf Grund dieses Hundesteuergesetzes vom 9. November 1950 wurde für den Kläger des Ausgangsstreites im Rechnungsjahr 1950/51 eine Hundesteuer von 20 DM festgesetzt. Da bereits gezahlte 4 DM angerechnet wurden, blieb ein Restbetrag von 16 DM. Der Kläger erhob Klage im Verwaltungsstreitverfahren mit dem Antrage, den Hundesteuerbescheid insoweit aufzuheben, als die verlangte Restzahlung für die Zeit vom 1. April 1950 bis 31. März 1951 den Betrag von 10 DM übersteige. Zur Begründung trug er vor, er verrechne die von ihm in den Jahren 1948 und 1949 zu Unrecht gezahlten Gebühren von insgesamt 6 DM gegen die neue Steuerschuld für 1950/51, so daß er nur noch 10 DM zu zahlen habe. Die in den § 27, 28 enthaltene Übergangsregelung des Hundesteuergesetzes vom 9. November 1950 könne auf seinen Fall nicht angewendet werden, da das Urteil des Oberverwaltungsgerichts vom 31. Januar 1950 dem entgegenstehe.

Das Landesverwaltungsgericht hat die Klage abgewiesen, das Oberverwaltungsgericht hat auf Berufung des Klägers das Verfahren gemäß Art. 100 Abs. 1 GG ausgesetzt. Es hält die §§ 27 und 28 Abs. 2 des Hundesteuergesetzes vom 9. November 1950 wegen der dort angeordneten "echten" Rückwirkung, d. h. der Anknüpfung der gesetzlichen Regelung an einen in der Vergangenheit liegenden Tatbestand, für grundgesetzwidrig. Es handele sich um eine für den Staatsbürger ungünstige Regelung, die nicht vorauszusehen gewesen sei und ein Verhalten des Staatsbürgers betreffe, das in seinem freien Belieben gestanden habe. Die Bedeutung seiner früheren Willensbildung (des Entschlusses, einen Hund zu halten) werde daher durch die Rückwirkungsbestimmung zum Nachteil des Staatsbürgers verändert, wodurch zugleich seine Handlungsfreiheit für die Zukunft beeinträchtigt werde, da Mißtrauen gegen die Verläßlichkeit der bestehenden Gesetze seine Entschlüsse lähmen müsse. Darin liege eine Verletzung des Rechtes auf freie Entfaltung der Persönlichkeit im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG.

Weiter werde der Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG durch § 27 Abs. 2 des Gesetzes verletzt. Diese Vorschrift führe dazu, daß nunmehr derjenige die Steuer in Deutscher Mark zahlen müsse, der sich gegen die ungerechtfertigte Gebührenerhebung zur Wehr gesetzt habe, während alle anderen durch Zahlung von Reichsmark ihre Steuerverpflichtung hätten erfüllen können. In dieser Regelung liege auch ein Verstoß gegen den Grundgedanken des Art. 103 Abs. 2 GG, denn es entstehe für den Staatsbürger der Eindruck, daß derjenige durch wirtschaftliche Nachteile gestraft werden solle, der sich gegen die ungerechtfertigte Einziehung von Verwaltungsgebühren durch Gebrauch der zulässigen Rechtsmittel gewehrt habe.

Gemäß § 82 Abs. 1 und 3 in Verbindung mit § 77 BVerfGG haben der Bundestag, der Bundesrat, die Bundesregierung, Senat und Bürgerschaft der Freien und Hansestadt Hamburg sowie die Parteien des Ausgangsverfahrens Gelegenheit zur Äußerung erhalten. Davon hat die Hansestadt Hamburg - Finanzbehörde, Steuerverwaltung - Gebrauch gemacht. Sie hält die fraglichen Bestimmungen für grundgesetzmäßig.

B.

I.

Die Entscheidung konnte ohne mündliche Verhandlung ergehen, da kein zum Beitritt Berechtigter dem Verfahren beigetreten ist (BVerfGE 2, 213 [217 f.]).

II.

Der Antrag des Oberverwaltungsgerichts Hamburg ist zulässig, aber nicht begründet. §§ 27 und 28 Abs. 2 des hamburgischen Hundesteuergesetzes vom 9. November 1950 sind mit dem Grundgesetz vereinbar.

Bei der Besonderheit des Falles sieht das Bundesverfassungsgericht keine Veranlassung, das vielschichtige Problem der Rückwirkung von Gesetzen in aller Breite aufzurollen.

Art. 2 Abs. 1 GG, aus dem das Oberverwaltungsgericht die Verfassungswidrigkeit der hier zu prüfenden Rückwirkungsbestimmung herleitet, gewährleistet die Handlungsfreiheit unter Beschränkung durch die verfassungsmäßige Ordnung. Die Bedenken, die im vorliegenden Fall gegen die Rückwirkung geltend gemacht werden können, beruhen auf dem Verfassungsgrundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Wenn diese verletzt wäre, wäre das Gesetz nicht Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung und Art. 2 Abs. 1 GG könnte verletzt sein.

Das Rechtsstaatsprinzip verbietet - wie auch das Oberverwaltungsgericht nicht verkennt - nicht jede Rückwirkung, auch dann nicht, wenn nachträglich an einen in der Vergangenheit liegenden abgeschlossenen Tatbestand angeknüpft wird (vgl. BVerfGE 1, 264 [280]; 2, 237 [264 ff.]; 3, 58 [150]). Zur Rechtsstaatlichkeit gehört nicht nur die Voraussehbarkeit, sondern auch die Rechtssicherheit und die materielle Richtigkeit oder Gerechtigkeit. Schon diese verschiedenen Seiten des Rechtsstaatsprinzips selbst können in der Gesetzgebung nicht immer gleichmäßig berücksichtigt werden. Darüber hinaus enthält das Rechtsstaatsprinzip keine in allen Einzelheiten eindeutig bestimmten Gebote oder Verbote von Verfassungsrang, sondern ist ein Verfassungsgrundsatz, der der Konkretisierung je nach den sachlichen Gegebenheiten bedarf, wobei allerdings fundamentale Elemente des Rechtsstaats und die Rechtsstaatlichkeit im ganzen gewahrt bleiben müssen (vgl. BayerVerfG HE II 8, 38). Ob gesetzliche Regelungen rechtsstaatlich unbedenklich sind, kann nur die Prüfung des Einzelfalls ergeben.

Ein Abgabengesetz überschreitet durch seine Rückwirkung die rechtsstaatlichen Grenzen jedenfalls dann nicht, wenn die finanzielle Belastung voraussehbar, durch sachliche Erwägungen gerechtfertigt und im einzelnen unbedeutend ist.

Im vorliegenden Falle wurde die Gebühr für die Aushändigung der Hundesteuermarke seit 1946 auf Grund des § 1 der hamburgischen Verwaltungsgebührenordnung vom 31. Mai 1940 erhoben. Daß diese Gebührenordnung keine Rechtsgrundlage für die Erhebung bot, ist erst durch das Urteil des Oberverwaltungsgerichts vom 31. Januar 1950 klargestellt worden, und zwar mit der Begründung, daß der Hundehalter die Aushändigung des Steuerzeichens weder im Sinne der Verwaltungsgebührenordnung "veranlasse" noch dadurch einen "unmittelbaren Vorteil" erlange, daß also hier in Wahrheit keine Gebühr, sondern eine erhöhte Steuer erhoben werde, für die wiederum die Rechtsgrundlage fehle; dies werde bestätigt durch das Hundesteuergesetz, das eine Gebühr nur bei Ersatz einer verlorenen Steuermarke vorsehe. Die eingehenden Erwägungen dieser Entscheidung zeigen: die Erhebung der Gebühr war nicht so offensichtlich unberechtigt, daß der Bürger in den Jahren 1948 und 1949 - dem Rückwirkungszeitraum - sich darauf hätte verlassen können, er sei zur Zahlung des Gebührenbetrages nicht verpflichtet.

Die Rückwirkung ist auch in der Sache begründet. Es handelt sich darum, daß die vergangenen Lebensverhältnisse selbst einer gesetzlichen Regelung bedurften, nachdem das Urteil des Oberverwaltungsgerichts ergangen war. Da der Staat mit der Gebühreneinnahme gerechnet hatte, war die Schaffung einer Rechtsgrundlage anderer Art für diese Einnahme nunmehr sachgerecht. Dies um so mehr, als gegen die schlichte Zurückzahlung entrichteter Gebühren entscheidend die Vielzahl kleiner Beträge sprach, die - zum Teil umgewertet - kaum das Porto, geschweige den Verwaltungsaufwand verlohnt hätten, wahrend die in Frage stehenden Summen für den einzelnen Betroffenen weder absolut noch im Hinblick auf die mit einer Hundehaltung im übrigen verbundenen Kosten relativ ins Gewicht fielen. Gerade solche Erwägungen haben den Gesetzgeber zur Anordnung der Rückwirkung veranlaßt (vgl. z. B. Protokoll der 19. Sitzung der Bürgerschaft vom 27. September 1950 S. 784/785).

Auch soweit die Unzulässigkeit der Gebührenerhebung rechtskräftig festgestellt war, verletzt die Rückwirkung der Steuererhöhung den Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit nicht. Das Prinzip der Rechtssicherheit, soweit es in der Rechtskraft ausgeprägt ist, wendet sich primär gegen die erneute Aufrollung der entschiedenen Sache vor den Gerichten. Es kann einer späteren gesetzgeberischen Regelung des Lebenssachverhalts, über den entschieden worden ist, nicht schlechthin entgegengesetzt werden: Gerade die rechtsstaatliche Prüfung der Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen und der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die das Grundgesetz in so weitgehendem Umfange verwirklicht, führt notwendig dazu, daß der Gesetzgeber Verhältnisse, die er oder die Verwaltung gesetzlich geregelt glaubte, auf Grund gerichtlicher Entscheidung nicht oder anders geregelt findet, als er annahm; gerade die Rechtsstaatlichkeit kann so den Gesetzgeber zu rückwirkenden Regelungen veranlassen.

Dem werden äußerste Schranken entgegenstehen, wenn es sich etwa darum handle, daß Willkür, z. B. in der Verwaltung, gesetzlich sanktioniert werden soll. Davon kann aber im vorliegenden Falle keine Rede sein. Es handelt sich vielmehr darum, daß ein Sachverhalt, in dem durch Rechtsirrtum Unordnung entstanden war, in Ordnung gebracht werden mußte.
Das Prinzip des Rechtsstaats ist hiernach nicht verletzt worden.

Auch sind weder Art. 3 Abs. 1 GG noch Art. 103 Abs. 2 GG dadurch verletzt, daß für diejenigen, welche die Gebühr vor der Währungsumstellung bezahlt haben, die rückwirkend begründete Steuerschuld insoweit als durch Reichsmarkzahlung getilgt gilt. In Anbetracht der Währungsumstellung besteht ein sachlicher Unterschied zwischen Zahlungen vor und nach der Währungsreform; beide wirtschaftlichen Sachverhalte sind im Sinne von Art. 3 Abs. 1 GG nicht miteinander vergleichbar. Keinesfalls geht es an, Art. 103 Abs. 2 GG, der sich ausdrücklich nur auf Strafgesetze bezieht, analog auf eine für den einzelnen Steuerzahler verhältnismäßig belanglose steuerrechtliche Bestimmung wie § 27 Abs. 2 des Hundesteuergesetzes anzuwenden.