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BVerfGE 39, 302

Daten

Fall: 
AOK
Fundstellen: 
BVerfGE 39, 302
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
09.04.1975
Aktenzeichen: 
2 BvR 879/73
Entscheidungstyp: 
Beschluss

Seitennummerierung nach:

BVerfGE 39, 302

Seiten:


BVerfGE 39, 302 (302):
Beschluß

des Zweiten Senats vom 9. April 1975

-- 2 BvR 879/73 --

in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerden der 1. Allgemeinen Ortskrankenkasse Ehingen/Donau, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Herrn F. .., 2. Allgemeinen Ortskrankenkasse Laupheim, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Herrn R. .., 3. Allgemeinen Ortskrankenkasse Riedlingen, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Herrn B. .., 4. Allgemeinen Ortskrankenkasse Stockach mit Sitz in Meßkirch, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Herrn B. .., 5. Allgemeinen Ortskrankenkasse Rottweil, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Herrn K. .., 6. Allgemeinen Ortskrankenkasse Saulgau, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden und die stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden, die Herren K. .. und Sch. .., 7. Allgemeinen Ortskrankenkasse Crailsheim, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Herrn B. .., 8. Allgemeinen Ortskrankenkasse Gerabronn, vertreten durch den Vorstandsvorsitzenden Herrn W. .. -- Bevollmächtigte: Rechtsanwälte Dr. Gehrke, Dr. Kroll, Abele, Fränkel, v. Gültlingen, Harm, Budde, Eysel und Luippold, Reutlingen, Lederstraße 1 -- gegen a) die Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg über die Anpassung der Bezirke der Allgemeinen Ortskrankenkassen an die Kreisgrenzen vom 13. Nezember 1973 (GBl. S. 425), b) § 226 Abs. 4 Reichsversicherungsordnung in der Fassung des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte vom 10. August 1972 (BGBl. I S. 1433).

ENTSCHEIDUNGSFORMEL:

Die Verfassungsbeschwerden werden verworfen.

Gründe:

A.

Die Beschwerdeführerinnen, acht Allgemeine Ortskrankenkassen in Baden-Württemberg, greifen mit der Verfassungsbeschwerde eine Rechtsverordnung des Landes Baden-Württemberg und deren gesetzliche Grundlage (§ 226 Abs. 4 Reichsversicherungsordnung -- RVO -) an, weil sie durch die Rechtsverordnung aufgelöst und mit benachbarten Allgemeinen Ortskrankenkassen vereinigt worden sind.


BVerfGE 39, 302 (303):
I.

1. Auf dem Gebiet der Krankenversicherung stehen die Allgemeinen Ortskrankenkassen -- künftig AOK -- als Sozialversicherungsträger neben den Innungs- und Betriebskrankenkassen (§ 225 Abs. 1 RVO). Die AOK werden durch Beschluß der Gemeindeverbände für örtliche Bezirke errichtet (§ 231 in Verbindung mit § 226 Abs. 1 RVO). Dabei sollen sich nach § 36 RVO die Bezirke der unteren Verwaltungsbehörden, der Versicherungsämter und der AOK in der Regel decken. Die Versicherungsämter sind in Baden-Württemberg bei den Landratsämtern eingerichtet.

Die Möglichkeit zu einer Vereinigung mehrerer AOK eröffnen die §§ 265 ff. und 280 ff. RVO. Kommt es zu einer freiwilligen Vereinigung, so haben sich die beteiligten Kassen auseinanderzusetzen. Eine Auseinandersetzung ist auch dann notwendig, wenn sich Kassenbezirke durch eine andere Abgrenzung der Verwaltungsbezirke ändern (§ 298 Abs. 1 Nr. 1 RVO). Für das Auseinandersetzungsverfahren in all diesen Fällen gelten über § 285 und § 298 Abs. 2 RVO die Bestimmungen der §§ 286 bis 297 RVO. Erzielen die betroffenen Kassen keine Vereinbarung über die Auseinandersetzung, so hat das Versicherungsamt diese von Amts wegen herbeizuführen (§ 286 Abs. 2 und 3, § 287 RVO). Der Beschluß ist im Klageweg anfechtbar. Mit Abschluß der Auseinandersetzung gehen die Rechte und Pflichten sowie das Personal und die Mitglieder der aufgelösten Kasse auf die aufnehmende Kasse über (§§ 288-290 RVO).

2. § 226 Abs. 4 RVO, angefügt durch § 83 Nr. 4c des Gesetzes über die Krankenversicherung der Landwirte vom 10. August 1972 (BGBl. I S. 1433) -- KVLG --, bestimmt:

Die Landesregierung kann durch Rechtsverordnung die Bezirke der Ortskrankenkassen den Grenzen der Gebietskörperschaften anpassen. Die Landesregierung kann die Ermächtigung auf die für die Sozialversicherung zuständige oberste Landesbehörde übertragen.

3. Die Verwaltungsreform in Baden-Württemberg begann mit der Neueinteilung der Kreise. Die Kreisreform trat am 1. Januar


BVerfGE 39, 302 (304):
1973 in Kraft und hatte u.a. zur Folge, daß sich die neuen Kreisgrenzen nicht mehr mit den bisherigen 36 Versicherungsamtsbezirken deckten, in denen noch am 30. Juni 1973 88 AOK eingerichtet waren. Die "Schlußkonzeption der Verwaltungsreform" (LTDrucks. VI/2900), die von der Landesregierung erarbeitet worden war, sah daher auch eine Neuregelung des örtlichen Zuständigkeitsbereichs der AOK vor. Dabei sollte die Zahl der Versicherungsamtsbezirke erhalten bleiben, hingegen die Zahl der AOK erheblich vermindert werden. Dazu heißt es in der "Schlußkonzeption":

"Nach Auffassung der Landesregierung sollte nach der Verwaltungsreform in jedem Versicherungsamtsbezirk grundsätzlich nur noch eine Ortskrankenkasse bestehen. Dieses Ziel entspricht am meisten den Grundvorstellungen der Reichsversicherungsordnung und der Verwaltungsreform. Die angestrebte Lösung ermöglicht einen Risikoausgleich auf breiterer Basis und eine Angleichung der Beitragssätze. Von dieser Lösung sollte nur in besonders begründeten Fällen abgewichen werden. Hierbei wäre aber eine Mitgliederzahl der einzelnen Ortskrankenkassen von mindestens 25.000 und der Fortbestand von nicht mehr als zwei Ortskrankenkassen im Versicherungsamtsbezirk anzustreben".

Zu einer freiwilligen Vereinigung erklärten sich nur insgesamt 20 AOK bereit. Daraufhin erließ die Landesregierung Baden-Württemberg, gestützt auf § 226 Abs. 4 RVO, am 13. November 1973 die Verordnung über die Anpassung der Bezirke der AOK an die Kreisgrenzen.

§ 2 dieser Verordnung lautet auszugsweise:

§ 2

(1) Zur Anpassung der Kassenbezirke an die Grenzen der nach dem Kreisreformgesetz bestehenden Landkreise werden mit Wirkung vom 1. Januar 1974 vereinigt

1. im Alb-Donau-Kreis die AOK Ehingen und die AOK Ulm, 2. im Landkreis Biberach die AOK Biberach, die AOK Laupheim und die AOK Riedlingen, 3.-9...


BVerfGE 39, 302 (305):
10. im Landkreis Rottweil die AOK Rottweil und die AOK Schramberg, 11. im Landkreis Schwäbisch Hall die AOK Crailsheim, die AOK Gaildorf, die AOK Gerabronn und die AOK Schwäbisch Hall, 12. im Landkreis Sigmaringen die AOK Saulgau, die AOK Sigmaringen und die AOK Stockach, Sitz Meßkirch.

(2) Aufnehmende Kasse im Sinne des § 288 Abs. 1 der Reichsversicherungsordnung ist

1. im Alb-Donau-Kreis die AOK Ulm, 2. im Landkreis Biberach die AOK Biberach, 3.-9. ... 10. im Landkreis Rottweil die AOK Schramberg, 11. im Landkreis Schwäbisch Hall die AOK Schwäbisch Hall, 12. im Landkreis Sigmaringen die AOK Sigmaringen.

§ 3

Für die Auseinandersetzung zwischen den Krankenkassen, die an Anpassungsmaßnahmen nach den §§ 1 und 2 beteiligt sind, gelten § 286 Abs. 2 und 3, die §§ 287 bis 294, 296 Abs. 1 und 3 und § 298 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 und 3 der Reichsversicherungsordnung.

Diese Verordnung wurde im Gesetzblatt Baden-Württemberg vom 30. November 1973 verkündet und trat einen Tag nach ihrer Verkündigung in Kraft.

II.

1. Die beschwerdeführenden Kassen, die sämtlich weniger als 25.000 Mitglieder haben, erhoben am 11. Dezember 1973 Verfassungsbeschwerde gegen diese Verordnung und gegen § 226 Abs. 4 RVO.

Am 13. Dezember 1973 strengten sie außerdem ein Normenkontrollverfahren bei dem Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg an. Der 9. Senat des Verwaltungsgerichtshofs (IX 1229/73) wies ihre Anträge am 17. Dezember 1973 ab, weil "für die öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten, die sich aus der Anwendung der angegriffenen Vorschrift zwischen den betroffen Kassen


BVerfGE 39, 302 (306):
einerseits und der Aufsichtsbehörde sowie den Versicherungsämtern andererseits ergeben" könnten, "der Rechtsweg zu den Gerichten der Sozialgerichtsbarkeit gegeben sei (§§ 51, 54 SGG)".

2. Am 19. Dezember 1973 erhoben die Beschwerdeführerinnen zu 7 und 8, die AOK Gerabronn und Crailsheim, eine auf § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG gestützte Feststellungsklage vor dem Sozialgericht Heilbronn gegen das Land Baden-Württemberg. § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG lautet:

(1) Mit der Klage kann begehrt werden 1. die Feststellung des Bestehens oder Nichtbestehens eines Rechtsverhältnisses, 2. ... .

Sie beantragten die Feststellung, daß sie durch die Verordnung nicht rechtswirksam aufgelöst und nicht mit der AOK Schwäbisch Hall als aufnehmender Kasse am 1. Januar 1974 vereinigt worden sind.

Die übrigen Beschwerdeführerinnen erhoben am 20. Dezember 1973 Klagen bei den örtlich zuständigen Sozialgerichten. Mit dem Hauptantrag begehrten sie die Feststellung der Nichtigkeit dieser Verordnung (§ 55 Abs. 1 Nr. 4 SGG), soweit sie von dieser betroffen waren. Hilfsweise beantragten sie die Aufhebung ihrer Vereinigung mit den jeweils aufnehmenden Kassen. In einem zweiten Hilfsantrag erstrebten sie die schon von den Beschwerdeführerinnen zu 7 und 8 geltend gemachte Feststellung.

Sämtliche Verfahren wurden bisher nicht entschieden.

3. Weiter schlossen die Organe der von der Verordnung betroffenen Beschwerdeführerinnen zu 1-6 Auseinandersetzungsvereinbarungen, deren Wirksamkeit die Vertreterversammlungen (§ 345 Abs. 1 Nr. 7 RVO) jedoch vom Ausgang des Verfassungsbeschwerdeverfahrens abhängig machten.

Gegen die Beschwerdeführerinnen zu 7 und 8 erging im Februar 1974 eine Auseinandersetzungsanordnung des Versicherungsamtes Schwäbisch Hall.


BVerfGE 39, 302 (307):
III.

Die Beschwerdeführerinnen, die sich mit der Verfassungsbeschwerde sowohl gegen die Verordnung wie auch gegen § 226 Abs. 4 RVO wenden, rügen die Verletzung "ihrer Grundrechte aus Art. 19 Abs. 4, 3 Abs. 1, 9 Abs. 1 und 2 Abs. 1 GG".

Sie tragen vor:

1. Auch als juristischen Personen des öffentlichen Rechts käme ihnen der Anspruch auf Rechtsschutz im Sinne des Art. 19 Abs. 4 GG zu. Zum einen sei diese Bestimmung als das prozessuale Grundrecht neben den Art. 101 Abs. 1 Satz 2 und Art. 103 Abs. 1 GG ausgestaltet, deren Anwendbarkeit auf juristische Personen des öffentlichen Rechts das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich bejaht habe. Zum anderen müßte ihnen dieses prozessuale Grundrecht auch deshalb zur Seite stehen, weil sie -- im Gegensatz zu den bisher vom Bundesverfassungsgericht entschiedenen Fällen -- hier nicht als Träger öffentlicher Aufgaben aufträten, sondern um ihre Existenz überhaupt kämpften. Ihre Lage unterscheide sich von der Prozeßsituation, die das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung im 21. Band (BVerfGE 21, 362 ff.) habe beurteilen müssen, vorwiegend dadurch, daß dort die beschwerdeführende Landesversicherungsanstalt zunächst den ordentlichen Rechtsweg habe beschreiten können, bevor sie die Verfassungsbeschwerde erhoben habe. Sie, die Beschwerdeführerinnen, hingegen begehrten in erster Linie nicht die Feststellung, daß sie in einem Grundrecht aus Art. 1-17 GG verletzt seien, sondern daß ihnen jeglicher Rechtsschutz gegen ihre Auflösung versagt sei.

2. Die Vorschrift des § 226 Abs. 4 RVO ermächtige zum Erlaß einer unmittelbar wirkenden Rechtsverordnung, damit zu einem Vollzugsakt in der äußeren Form der Rechtsverordnung, der keiner Durchsetzung durch weitere Einzelakte bedürfe. Gegen die angegriffene Verordnung stünde ihnen kein Rechtsmittel zur Verfügung. Mithin sei ihnen die Möglichkeit abgeschnitten, die Rechtmäßigkeit bzw. Rechtswidrigkeit dieser Maßnahme der Landesregierung von einem Gericht überprüfen zu lassen. Daher


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verstoße auch § 226 Abs. 4 RVO, der die Anpassung der AOK an die Grenzen der Gebietskörperschaften durch eine Rechtsverordnung vorsehe, wegen dieser Formenwahl selbst gegen Art. 19 Abs. 4 GG.

3. Zur weiteren Begründung ihres Begehrens nehmen die Beschwerdeführerinnen Bezug auf ein von Professor Wertenbruch erstattetes Rechtsgutachten. Darin wird im wesentlichen ausgeführt:

a) Die angegriffene Verordnung könne im Wege eines abstrakten Normenkontrollverfahrens nicht überprüft werden, da diese Institution dem sozialgerichtlichen Verfahren fremd sei. Eine entsprechende Anwendung des § 47 VwGO sei nicht zu rechtfertigen.

b) Ebenso könne eine konkrete Feststellungsklage nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG nur eine unzulängliche Rechtsschutzwirkung auslösen. Denn die rechtliche Wirkung einer solchen Verordnung entfalte sich in einem Dreiecksverhältnis, nämlich zwischen dem Verordnunggeber, den aufgenommenen und den aufnehmenden Kassen. Jedoch könne wegen § 141 Abs. 1 SGG eine Feststellungsklage nur Bindungswirkung unter den jeweiligen Verfahrensbeteiligten herbeiführen. Die angegriffene Verordnung führe zu einer automatischen Änderung des Mitgliederbestandes (§ 234 RVO), somit zum Erlöschen der bisherigen Rechtsverhältnisse unter Begründung neuer Rechtsverhältnisse der Krankenkassen zu ihren Mitgliedern. Aus dieser Bindung könnten sie sich selbst dann nicht lösen, wenn sie mit einer Feststellungsklage gegen die Landesregierung Erfolg hätten. Denn eine derartige Klage ziele nicht auf die Feststellung der Rechtswidrigkeit einer Norm.

c) Damit tue sich eine Rechtsschutzlücke auf, die im vorliegenden Fall Art. 19 Abs. 4 GG zu schließen gebiete. Der Erlaß dieser Rechtsverordnung sei im Zusammenhang des Art. 19 Abs. 4 GG ein Akt "öffentlicher Gewalt".

Hierdurch würden sie in eigenen Rechten verletzt, nämlich dem Recht auf Selbstverwaltung sowie dem aus ihrem Status als Körperschaft des öffentlichen Rechts entspringenden Recht, nach


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Maßgabe von Gesetz und Satzung gemäß § 30 RVO die ihnen übertragenen Aufgaben wahrzunehmen und damit keinen rechtswidrigen Eingriff in ihren Aufgabenbereich dulden zu müssen.

4. a) Die Beschwerdeführerinnen meinen, sie seien auch berechtigt, die Rüge des Art. 3 Abs. 1 GG zu erheben, weil es in diesem Verfahren um ihren Bestand als Einrichtung der sozialen Selbstverwaltung gehe.

b) Folge man dem nicht, so könnten sie sich gleichwohl auf den in Art. 3 Abs. 1 GG angelegten Gleichheitsgrundsatz berufen, der auch für die Rechtsbeziehungen innerhalb des hoheitlichen Staatsaufbaus zu beachten sei. Ihr Anspruch auf eine willkürfreie Entscheidung des Verordnunggebers könne deshalb nicht daran scheitern, daß ihnen möglicherweise die formelle Rüge eines Verstoßes gegen das Grundrecht aus Art. 3 Abs. 1 GG versagt sei.

c) Ihre durch die angegriffene Verordnung bewirkte Auflösung sei willkürlich. Die Landesregierung habe aufgrund sachfremder Erwägungen den Fortbestand der einzelnen Ortskrankenkassen in Baden-Württemberg von einer Mindestgröße von 25.000 Mitgliedern abhängig gemacht. Diese in der "Schlußkonzeption zur Verwaltungsreform" enthaltene Mindestgröße stehe im Widerspruch zu einer noch im Jahre 1969 von der Landesregierung in Auftrag gegebenen Untersuchung. Das Arbeitsministerium des Landes Baden-Württemberg gelangte in diesem Gutachten zur Feststellung, daß grundsätzlich die Ortskrankenkassen im Verhältnis zum Verwaltungsaufwand am leistungsfähigsten seien, die zwischen 10.000 und 20.000 Mitglieder hätten.

5. Art. 9 Abs. 1 GG sei als Grundsatz freier sozialer Gruppenbildung ausgestaltet. Dieser gelte nicht nur für die Mitglieder, sondern in gleichem Maße für die Vereinigung. Der durch Art. 9 Abs. 1 GG gewährleistete Anspruch dürfe deshalb nicht von der Rechtsform der jeweiligen Vereinigung abhängig gemacht werden. Entscheidend sei vielmehr, ob es sich bei den Ortskrankenkassen um einen Zwangsverband oder einen freiwilligen Zusammenschluß von Arbeitnehmern handele. Die Einrichtung der Beschwerdeführerinnen als Ortskrankenkassen sei auf freiwilliger


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Grundlage erfolgt, was sich aus § 231 RVO ergebe. Allein dieser Umstand sei erheblich; hingegen nicht die Tatsache, daß aufgrund des § 34 RVO ein bestimmter Personenkreis zwangsläufig einer AOK zugehöre.

Sowohl § 226 Abs. 4 RVO wie die angegriffene Verordnung verletzten deshalb ihr Recht auf freie Einrichtung, und -- wenn auch eingeschränkt -- innere Ausgestaltung als Körperschaft des öffentlichen Rechts, das ihnen, wenn nicht Art. 9 Abs. 1, so jedenfalls Art. 2 Abs. 1 GG gewährleiste.

IV.

Von den Verfassungsorganen des Bundes und des Landes Baden-Württemberg, denen gemäß §§ 77, 94 Abs. 4 BVerfGG Gelegenheit zur Äußerung gegeben worden ist, haben die Baden-Württembergische Landesregierung durch den Minister für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung Baden-Württemberg sowie für die Bundesregierung der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung Stellung genommen.

1. Der Landesminister für Arbeit, Gesundheit und Sozialordnung Baden-Württemberg hält die Verfassungsbeschwerden für unzulässig.

Zwar sei die Einbeziehung der juristischen Personen des öffentlichen Rechts in den Schutzbereich des Grundgesetzes gerechtfertigt, wenn -- wie das Bundesverfassungsgericht betont habe -- Bildung und Betätigung der juristischen Personen Ausdruck der freien Entfaltung der natürlichen Personen seien, die hinter den juristischen Personen stünden. Die Errichtung und die Funktion der Beschwerdeführerinnen baue aber nicht auf der grundrechtlich geschützten Entfaltung der Kassenmitglieder auf. Vielmehr bediene sich der Staat zur Erfüllung bestimmter Aufgaben der AOK. Die organisatorische Rechtsbeziehung zwischen öffentlichen Verwaltungsträgern bestimme sich nicht nach den Grundrechten, sondern ausschließlich nach öffentlichem Organisationsrecht. Demnach seien die Beschwerdeführerinnen auch nicht auf der Grundlage und in dem Rahmen des durch § 226 Abs. 4 RVO


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geschaffenen Unterordnungsverhältnisses grundrechtsfähig geworden.

2. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung sieht die Verfassungsbeschwerden ebenfalls als unzulässig an.

Die Beschwerdeführerinnen hätten den Rechtsweg nicht erschöpft. Sie hätten die Möglichkeit, ihre Auflösung -- und zwar den Genehmigungsakt nach § 286 Abs. 3 RVO bzw. den Auseinandersetzungsakt des Versicherungsamtes nach § 287 RVO -- auf ihre Rechtmäßigkeit in einem gerichtlichen Verfahren überprüfen zu lassen. Dabei sei unerheblich, ob die Beschwerdeführerinnen mit der Erhebung von Feststellungsklagen die richtige Klageart gewählt hätten.

Darüber hinaus seien sie auch nicht beschwerdeberechtigt. Sie seien nicht Inhaber von gegen den Staat gerichteten Grundrechten. Soweit sie nur als verlängerter Arm des Hoheitsträgers Staat aufträten, stünden sie zu der Landesregierung in einem Innenverhältnis, in welchem die Grundrechte keinen Platz hätten. Sie nähmen keine eigenen Angelegenheiten wahr, sondern erfüllten mit staatlich gewährleisteten Mitteln (Mitgliedschafts- und Beitragszwang) ausschließlich Hoheitsaufgaben. Der vorliegende Fall offenbare hiernach nur einen Kompetenzkonflikt im weiteren Sinne. Dabei gehe es allein um eine sinnvolle und zweckmäßige Aufteilung staatlicher Gewalt. Bei der Entscheidung solcher Konflikte sei kein Raum für die Grundrechte, weil es an einem dem Staat-Bürger-Verhältnis entsprechenden Spannungsverhältnis fehle.

B.

Die Verfassungsbeschwerden sind unzulässig.

I.

Der Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerden steht nicht entgegen, daß den Beschwerdeführerinnen gegen ihre durch die Verordnung bewirkte Auflösung und Vereinigung mit benachbarten AOK der Rechtsweg zu den Sozialgerichten eröffnet sein könnte.


BVerfGE 39, 302 (312):
Es bedarf auch keiner Entscheidung, ob sie mit den auf § 55 Abs. 1 Nr. 1 SGG gestützten Feststellungsklagen, die sie nach Einlegung der Verfassungsbeschwerden erhoben haben, die richtige Verfahrensart wählten. Gerade in dieser Hinsicht ist die Rechtslage zweifelhaft. Die angerufenen Sozialgerichte haben bisher Streitigkeiten dieser Art nicht entschieden. Auch das Bundessozialgericht hat sich in seiner Stellungnahme nicht deutlich erklärt.

Unter solchen Umständen kann den Beschwerdeführerinnen nicht zugemutet werden, den -- möglicherweise bestehenden -- Rechtsweg zu den Sozialgerichten zu erschöpfen, bevor sie Verfassungsbeschwerde erheben (BVerfGE 17, 252 [257]; 27, 88 [97]).

II.

1. Verfassungsbeschwerde kann nur erheben, wer Träger der angeblich verletzten Grundrechte oder grundrechtsgleichen Rechte sein und daher die Verletzung dieser Rechte durch die öffentliche Gewalt geltend machen kann (BVerfGE 3, 383 [391f.]; 6, 273 [277]; 12, 6 [8]; 21, 362 [367]).

Die Beschwerdeführerinnen sind durch die angegriffene Verordnung selbst, gegenwärtig und unmittelbar betroffen. Denn die Verordnung trifft in § 3 die Entscheidung über die Auflösung und Zwangsvereinigung der in der Verordnung aufgeführten AOK.

Die AOK sind gemäß § 225 Abs. 1 RVO Träger der gesetzlichen Krankenversicherung. Sie haben die Rechtsstellung von Körperschaften des öffentlichen Rechts. Ihre Grundrechtsfähigkeit bestimmt sich daher nach Art. 19 Abs. 3 GG. Nach dieser Vorschrift gelten die Grundrechte auch für inländische juristische Personen, "soweit sie ihrem Wesen nach auf diese anwendbar sind".

2. Diese Voraussetzung wird bei juristischen Personen des Privatrechts regelmäßig erfüllt sein (vgl. BVerfGE 21, 362 [368 ff.]). Für juristische Personen des öffentlichen Rechts gelten die Grundrechte jedoch grundsätzlich nicht, soweit sie öffentliche


BVerfGE 39, 302 (313):
Aufgaben wahrnehmen; der Rechtsbehelf der Verfassungsbeschwerde steht ihnen insoweit nicht zu. Etwas anderes gilt nur dann, wenn ausnahmsweise die betreffende juristische Person des öffentlichen Rechts unmittelbar dem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zuzuordnen ist (BVerfGE 31, 314 [322]).

a) Die Ortskrankenkassen gingen aus den Hilfskassen für Arbeiter, die sich auf die genossenschaftliche Selbsthilfe gründeten, hervor. Sie wurden durch das "Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter" vom 15. Juni 1883 (Reichsgesetzblatt S. 73) als Träger der gesetzlichen Krankenversicherung eingerichtet. Wie die anderen Träger der jetzt in vier Zweige gegliederten Sozialversicherung nahmen sie die ihnen nach der Reichsversicherungsordnung zukommenden Aufgaben in Selbstverwaltung und unter staatlicher Aufsicht wahr. Von dem Grundsatz der Selbstverwaltung waren sie indessen nicht derart bestimmt, daß die Staatsaufsicht nur eine Randbedeutung hatte und sie deshalb vom Staate nahezu unabhängig waren. Wenn das heute auch so wäre, könnten die AOK vorwiegend als Organisationsform ihrer Mitglieder gelten. Der soziale Zweck ihrer Einrichtung könnte dann allein Bindeglied zum Staat sein; sie stünden dem Staat gegenüber.

In Wahrheit sind heute die AOK dem Staat eingegliederte Körperschaften des öffentlichen Rechts, die Aufgaben in mittelbarer Staatsverwaltung wahrnehmen. Mit jeder Ausgliederung eines Verwaltungsträgers als juristischer Person ist zwar eine gewisse Verselbständigung verbunden, mit der sich die Beibehaltung einer direkten Staatsleitung im allgemeinen nicht verträgt. Jedoch kann der Grad der Ausgliederung und der Verselbständigung verschieden sein.

Die Hauptaufgabe der Sozialversicherungsträger besteht in dem Vollzug einer detaillierten Sozialgesetzgebung, gleichsam nach Art einer übertragenen Staatsaufgabe. In diesem Bereich läßt sich der Sache nach nur bedingt von Selbstverwaltung sprechen. Als "Selbstverwaltung" kann hier nur die vom Gesetz eingeräumte und im Rahmen des Gesetzes bestehende organisato


BVerfGE 39, 302 (314):
rische Selbständigkeit und die Erledigung dessen verstanden werden, was die Kassen als Maßnahmen vorbeugender, heilender und rehabilitierender Fürsorge für ihre Versicherten -- nach den gesetzlichen Vorschriften zwar weisungsfrei, aber nicht frei von Rechtsaufsicht -- ins Werk setzen.

b) Die Beschwerdeführerinnen sind also zwar als körperschaftliche Glieder dieses Sozialversicherungssystems -- anders als Landesversicherungsanstalten -- mit einer verbandsmäßigen Struktur ausgestattet und verfügen über einen -- wenn auch begrenzten -- Raum eigenverantwortlichen Handelns. Dies besagt aber nicht, daß sie in dem hier angesprochenen Bereich Träger von gegen den Staat gerichteten Grundrechten sein können. Sie sind nur organisatorisch verselbständigte Teile der Staatsgewalt, üben der Sache nach mittelbare Staatsverwaltung aus. Es fehlt ihnen also eine besondere Zuordnung zu dem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich, wie das für Universitäten und Rundfunkanstalten evident ist (BVerfGE 15, 256 [262]; 31, 314 [322]).

c) Unter dem Blickwinkel des Art. 19 Abs. 3 GG heben sich die Sozialversicherungsträger von den juristischen Personen des öffentlichen Rechts, die dem Staat inkorporiert und nicht dem durch die Grundrechte geschützten Lebensbereich zugeordnet sind, nicht ab: So können die Beschwerdeführerinnen als bisherige Träger der gesetzlichen Krankenversicherung ihren Anspruch auf Fortbestand auch nicht darauf stützen, daß die Sozialversicherung in ihrer auf dem Selbstverwaltungsgrundsatz aufbauenden herkömmlichen Form als Versorgungssystem vom Grundgesetz gewährleistet sei. Eine Verfassungsgarantie des bestehenden Systems der Sozialversicherung oder doch seiner tragenden Organisationsprinzipien ist dem Grundgesetz nicht zu entnehmen. Wohl erwähnt es die Institution "Sozialversicherung" bei der Benennung von Rechtsmaterien, für die eine konkurrierende Gesetzgebungsbefugnis von Bund und Ländern besteht (Art. 74 Ziffer 12 GG), ferner in den Vorschriften über die Finanzverfassung (Art. 120 Abs. 2 Satz 4 GG) und vornehmlich bei der Abgrenzung von Verwaltungszuständigkeiten von Bund


BVerfGE 39, 302 (315):
und Ländern (Art. 87 Abs. 2 GG). Doch auch Art. 87 Abs. 2 GG ist nur als Kompetenznorm und nicht etwa als Indiz für eine verfassungsrechtliche Garantie der Sozialversicherung zu begreifen (BVerfGE 21, 362 [371]).

d) Das Gebot des sozialen Rechtsstaats (Art. 20 Abs. 1 GG) enthält für den Einzelnen keinen Anspruch auf soziale Leistungen im Bereich der Krankenversicherung durch ein so und nicht anders aufgebautes Sozialversicherungssystem. Damit können die Beschwerdeführerinnen ihr Verlangen auf Bestandsschutz auch nicht von einem -- entsprechend ausgestalteten -- sozialen Grundrecht natürlicher Personen -- hier die Krankenkassenmitglieder -- ableiten.

e) Ebensowenig wie der Gliederung der gesetzlichen Unfallversicherung nach Gewerbezweigen Verfassungsrang zukommt (BVerfGE 36, 383 [393]), können sich die Beschwerdeführerinnen als Träger der gesetzlichen Krankenversicherung darauf berufen, daß ihre gegenwärtige organisatorische Ausgestaltung verfassungsrechtlich gesichert sei. Die sich besonders auf diesem Gebiete ständig wandelnden Verhältnisse erfordern es, dem einfachen Gesetzgeber möglichst viel Freiheit zu belassen, diesen Veränderungen im Interesse der sozialen Sicherung mit neuen Lösungen gerade im Bereich der Organisation Rechnung zu tragen.

Es wäre deshalb mit dem Grundgesetz zu vereinbaren, wenn z.B. der Gesetzgeber sämtliche Träger der gesetzlichen Krankenversicherung zusammenfaßte und in einem Bundesamt für Krankenversicherung als bundesunmittelbarer Körperschaft organisierte.

Derart einschneidende Veränderungen des bisherigen Systems der gesetzlichen Krankenversicherung hat die Vorschrift des § 226 Abs. 4 RVO aber nicht einmal ausgelöst. Hier hat sich der Gesetzgeber nur -- veranlaßt durch die Gebietsreform in den verschiedenen Bundesländern -- einen Weg eröffnet, um durch eine begrenzte Neuorganisation der AOK den sich aus der Verwaltungsreform ergebenden Notwendigkeiten mit einer angemessenen und zweckmäßigen Lösung zu begegnen. Hingegen hat der


BVerfGE 39, 302 (316):
Gesetzgeber den Kernbereich der sozialen Sicherung und damit auch der Krankenversicherung überhaupt nicht berührt. Organisatorische Veränderungen, wie sie die Verordnung der Landesregierung Baden-Württemberg mit sich bringt, haben die hiervon betroffenen Krankenkassen hinzunehmen, ohne daß sie sich auf Grundrechte im Wege einer Verfassungsbeschwerde berufen können.

3. Es fehlt jeder Anhaltspunkt dafür, daß den AOK die Grundrechte aus Art. 2 Abs. 1, Art. 9 Abs. 1, Art. 19 Abs. 4 GG und vor allem aus Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. BVerfGE 21, 362 [372 ff.]) zustehen.

Deshalb waren die Verfassungsbeschwerden als unzulässig zu verwerfen.

Diese Entscheidung ist einstimmig ergangen.

(gez.) Seuffert, Dr. Geiger, Hirsch, Dr. Rottmann, Wand

Dr. Rupp ist an der Unterschrift verhindert. Seuffert