Beiten Burkhardt // BLOG

Inhalt abgleichen
Beiten Burkhardt - RSS Feed
Letztes Update: vor 40 Minuten 39 Sekunden

Tod des Alleingesellschafters einer MVZ-GmbH

Fr, 10.05.2024 - 14:00
Gesellschaftsrechtliche Folgen des Todes

Der Tod des Alleingesellschafters kann zur Handlungsunfähigkeit einer GmbH führen, wenn der Alleingesellschafter nicht rechtzeitig vorgesorgt hat. Zwar geht der Geschäftsanteil gem. §§ 1922 BGB, 15 Abs. 1 GmbHG im Erbfall automatisch auf den Erben über, doch gilt dieser gem. § 16 Abs. 1 S. 1 GmbHG gegenüber der Gesellschaft erst nach Eintragung in die im Handelsregister hinterlegte Gesellschafterliste als Inhaber des geerbten Geschäftsanteils. Der Erbe kann bis zur Eintragung in die Gesellschafterliste gegenüber der Gesellschaft nicht wirksam handeln, insbesondere keine wirksamen Gesellschafterbeschlüsse fassen.

Dieser Umstand ist besonders problematisch, wenn der einzige Gesellschafter zugleich einziger Geschäftsführer der Gesellschaft war, da auch sein Amt als Geschäftsführer mit dem Tod erloschen ist. Da die Einreichung der neuen Gesellschafterliste durch den Geschäftsführer erfolgen muss, ist zunächst die Bestellung eines neuen Geschäftsführers erforderlich. Der Erbe kann den erforderlichen Gesellschafterbeschluss jedoch erst dann wirksam fassen, wenn er in die Gesellschafterliste eingetragen wurde. Durch die gegenseitige Blockade der gesellschaftsrechtlichen Erfordernisse wird die Gesellschaft führungslos und somit handlungsunfähig.

Sofern der Alleingesellschafter für diesen Fall keine Vorsorge getroffen hat, muss in aller Regel ein Notgeschäftsführer durch das Registergericht bestellt werden, der sodann die neue Gesellschafterliste zum Handelsregister einreichen kann. Dieser Vorgang ist jedoch – insbesondere mit Blick auf den Nachweis der Erbenstellung – oftmals zeitaufwändig.

Vertiefendes zu dieser Thematik und den infrage kommenden Lösungsmöglichkeiten finden Sie in folgendem Beitrag: Link.

Vertragsarztrechtliche Folgen des Todes

Neben den gesellschaftsrechtlichen Herausforderungen kann der Tod des Alleingesellschafters und -geschäftsführers auch in vertragsarztrechtlicher Hinsicht weitreichende Folgen mit sich bringen. Gem. § 95 Abs. 6 S. 1 SGB V ist einem MVZ die Zulassung grundsätzlich ohne Übergangsfrist zu entziehen, wenn die Zulassungsvoraussetzungen nicht oder nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn das MVZ nicht mehr über einen ärztlichen Leiter verfügt. Trotz des eindeutigen Wortlauts ("ist … zu entziehen") geht das Bundessozialgericht davon aus, dass vor dem Entzug eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen ist. Sofern das MVZ zum Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung wieder fachübergreifend besetzt oder dies in angemessener Frist zu erwarten ist, wäre es mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht zu vereinbaren, die Zulassung zu entziehen (BSG Urt. v. 19.07.2023, B 6 KA 5/22 R, Rn. 41).

Die Zulassung ist auch in Gefahr, wenn die MVZ-GmbH nicht mehr über eine selbstschuldnerische Bürgschaftserklärung verfügt. Dieser Umstand dürfte in der Praxis jedoch selten zum Entzug der Zulassung führen, da der Erbe, der in die Bürgschaftsverpflichtungen des Erblassers einrückt, auch für die Verbindlichkeiten aus der Bürgschaft haftet. Nach § 95 Abs. 6 S. 3 SGB V ist dem MVZ die Zulassung auch dann zu entziehen, wenn die Gründungsvoraussetzungen länger als sechs Monate nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere dann relevant, wenn der Erbe des Alleingesellschafters selbst kein zugelassener Arzt ist. Da die Gründung eines MVZ nur durch den in § 95 Abs. 1a S. 1 SGB V aufgeführten Gründerkreis erfolgen kann, muss der Erbe seine Beteiligung an der MVZ-GmbH innerhalb der sechsmonatigen Übergangsfrist an einen Gründungsberechtigten abtreten.

Denkbare Lösungsmöglichkeiten

Der MVZ-GmbH stehen mehrere Wege zur Verfügung, um sowohl die gesellschaftsrechtlichen als auch die vertragsarztrechtlichen Probleme zu vermeiden. Zum einen besteht die Möglichkeit einen weiteren Geschäftsführer der Gesellschaft zu bestellen. Hierbei ist zu beachten, dass in einigen Bundesländern die Geschäftsführung aufgrund berufsrechtlicher Regelungen mehrheitlich durch Ärzte besetzt sein muss (z.B. § 23a Abs. 1 S. 4 BO Hessen). Gegen diese Lösungsmöglichkeit spricht allerdings, dass es zumeist eine bewusste Entscheidung des Alleingesellschafters ist, die Geschäfte der Gesellschaft allein zu führen.

Als zweite Möglichkeit kommt die Bestellung eines Prokuristen oder Handlungsbevollmächtigten in Betracht. Sofern dieser gleichzeitig ärztlicher Leiter des MVZs ist, kann er die Geschäfte mit der Kassenärztlichen Vereinigung fortführen. Allerdings können weder der Prokurist noch der Handlungsbevollmächtigte einen neuen Geschäftsführer bestellen, sodass jedenfalls für die Einreichung der neuen Gesellschafterliste zum Handelsregister ein Notgeschäftsführer erforderlich ist.

Die dritte Lösungsmöglichkeit ist die Erteilung einer transmortalen Vollmacht durch den Alleingesellschafter. Mit einer solchen Vollmacht kann der Bevollmächtigte die Gesellschafterrechte des Gesellschafters auch nach dessen Tod ausüben. Da der verstorbene Gesellschafter noch in die Gesellschafterliste eingetragen ist, kommt es zu keinem Konflikt mit § 16 Abs. 1 GmbHG. Der Bevollmächtigte kann durch Gesellschafterbeschluss einen neuen Geschäftsführer bestellen, der dann sowohl die MVZ-GmbH nach außen vertreten als auch – nach entsprechender Legitimation durch den Erben – die neue Gesellschafterliste beim Handelsregister einreichen kann. So bleibt die MVZ-GmbH auch nach dem Tod des Alleingesellschafters und -geschäftsführers handlungsfähig.

Fazit und Handlungsempfehlung

Da die Erteilung einer transmortalen Vollmacht der einzig verlässliche und praktikable Weg zur Vermeidung der gesellschaftsrechtlichen Problematiken ist, sollte jeder Alleingesellschafter einer MVZ-GmbH eine derartige Vollmacht erteilen.

Des Weiteren ist unbedingt darauf zu achten, dass die Gründungsvoraussetzungen innerhalb der sechsmonatigen Frist schnellstmöglich wiederhergestellt werden. Darüber hinaus kann es erforderlich sein, das Zulassungsentziehungsverfahren durch die Einlegung von Rechtsbehelfen möglichst lange hinauszuzögern, um in der Übergangszeit einen neuen ärztlichen Leiter ernennen zu können. Da dieses Vorgehen jedoch Risiken birgt, sollte das Fortbestehen einer ärztlichen Leitung bereits zu Lebzeiten des Alleingesellschafters durch die Erteilung einer Handlungsvollmacht oder Prokura abgesichert werden.

Dr. Silke Dulle
Andreas Scheffold
Stepan Strubinger

Dieser Blogbeitrag erscheint ebenso im Haufe Wirtschaftsrechtsnewsletter.

Boykott des Aufsichtsrats durch dauerhaftes Fernbleiben? – BGH erteilt gerichtlicher Ergänzung eine Absage

Fr, 10.05.2024 - 14:00

Die Blockade des Aufsichtsrats durch wiederholtes Fernbleiben eines Aufsichtsratsmitglieds führt nach Ansicht des Bundesgerichtshofs (BGH) nicht zu einem Anspruch auf gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrats, selbst wenn der Aufsichtsrat dadurch dauerhaft beschlussunfähig ist. Mit seinem Beschluss vom 9. Januar 2024 (Az. II ZB 20/22) bestätigt der BGH die Entscheidung eines Registergerichts. Stattdessen, so der BGH, ist auch in einem dreiköpfigen Aufsichtsrat ein Beschluss über die Antragstellung auf gerichtliche Abberufung eines boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds nach § 103 Abs. 3 AktG ohne Teilnahme des dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds an der Abstimmung mit den Stimmen der beiden anderen Aufsichtsratsmitglieder wirksam möglich. Ob dies in der Praxis ausreichend ist, die Blockade durch passive Aufsichtsratsmitglieder zu unterbinden, erscheint sehr fraglich.

Hintergrund

Bleibt ein Mitglied eines dreiköpfigen Aufsichtsrats einer Sitzung fern, ist der Aufsichtsrat nicht beschlussfähig. Dies kann den Aufsichtsrat funktionsunfähig machen. Die Aktionäre können ein solches Aufsichtsratsmitglied zwar – auch ohne Vorliegen eines wichtigen Grundes – jederzeit abberufen, es bedarf jedoch der gesetzlich oder satzungsmäßig hierfür vorgesehenen, meist qualifizierten Mehrheiten. Der Aufsichtsrat selbst kann bei Vorliegen eines wichtigen Grundes in der Person eines Aufsichtsratsmitglieds – das dauerhafte Fernbleiben dürfte einen solchen wichtigen Grund darstellen – einen Antrag auf gerichtliche Abberufung stellen, sofern er beschlussfähig ist und wiederum die entsprechenden Mehrheiten gegeben sind. Die gerichtliche Ergänzung des Aufsichtsrats ist hingegen nur möglich, wenn der Aufsichtsrat über eine gewisse Zeit unterbesetzt ist, da ihm nicht die erforderliche Anzahl an Mitgliedern angehört.

Mit seiner Entscheidung beendet der BGH eine Diskussion in der Literatur, ob und inwieweit ein Aufsichtsratsmitglied, das die Arbeit des Gremiums durch Fernbleiben boykottiert, einem ausgeschiedenen Aufsichtsratsmitglied gleichgesetzt und der Aufsichtsrat gerichtlich ergänzt werden kann. So begrüßenswert diese Klarheit erscheinen mag, so sehr kann sie die Praxis vor unübersehbare Schwierigkeiten stellen und die Gesellschaft dauerhaft handlungsunfähig machen.

Sachverhalt

Eine Aktiengesellschaft mit einem dreiköpfigen Aufsichtsrat hatte zwei Aktionäre, zwei Gesellschaften, die hälftig beteiligt waren. Ein Aufsichtsratsmitglied war die Mutter der Gesellschafter einer der Aktionäre und somit nahestehende Person. Diese Gesellschafter und das Aufsichtsratsmitglied bildeten eine Erbengemeinschaft. Als die Aktiengesellschaft Ansprüche gegenüber dieser Erbengemeinschaft geltend machen wollte, wozu der Vorstand der Zustimmung des Aufsichtsrats bedurfte, blieb das Aufsichtsratsmitglied den Aufsichtsratssitzungen fern. Damit war der Aufsichtsrat beschlussunfähig und die Gesellschaft handlungsunfähig.

Beschlussfähigkeit

Gemäß § 108 Abs. 2 Satz 2 AktG ist der Aufsichtsrat vorbehaltlich einer anderweitigen gesetzlichen oder satzungsmäßigen Bestimmung nur beschlussfähig, wenn mindestens die Hälfte der Mitglieder, aus denen er nach Gesetz oder Satzung zu bestehen hat, an der Beschlussfassung teilnimmt. Auf den ersten Blick würden demnach zwei Mitglieder für die Beschlussfassung ausreichen. Wie nachfolgender Satz 3 der genannten Bestimmung jedoch zwingend festlegt, haben immer mindestens drei Mitglieder an der Beschlussfassung des Aufsichtsrats teilzunehmen. Umgekehrt gesprochen: Ein einzelnes Mitglied kann jede Beschlussfassung des Aufsichtsrats blockieren, indem es an der Beschlussfassung nicht teilnimmt, insbesondere den Sitzungen fernbleibt.

Selbst in größeren Gremien können dauerhaft abwesende Aufsichtsratsmitglieder die Beschlussfassung boykottieren, wenn Satzung oder Geschäftsordnung über die gesetzlichen Anforderungen hinausgehende oder sehr spezielle Teilnahme- und Mehrheitserfordernisse vorsehen.

Schwächen der Abhilfemöglichkeiten in der Praxis

1. Die Abberufung durch die Hauptversammlung

Ein Aufsichtsratsmitglied, das seinen Aufgaben nicht nachkommt, insbesondere an Sitzungen und Beschlussfassungen nicht teilnimmt, kann durch die Hauptversammlung jederzeit abberufen werden, § 103 Abs. 1 AktG. Auf die Untätigkeit kommt es dabei nicht einmal an, es bedarf also für die Abberufung keines Grundes. Eine – oftmals unüberwindbare – Hürde liegt lediglich darin, dass Mitglieder des Aufsichtsrats zwar mit einfacher Mehrheit gewählt, jedoch von Gesetzes wegen nur mit Dreiviertel der Stimmen abberufen werden können, sofern nicht die Satzung eine andere Mehrheit und weitere Erfordernisse bestimmt, was äußerst selten der Fall ist; es soll ein beliebiges "Hinein-Hinaus" vermieden werden. Verfügt ein Aktionär oder ein Aktionärslager also über die einfache Mehrheit, kann der Aufsichtsrat zwar allein nach deren Vorstellung besetzt werden, eine Abberufung ist hingegen nur mit entsprechender Unterstützung weiterer Aktionäre möglich. Selten wird der Aufsichtsrat, insbesondere von kleinen Aktiengesellschaften jedoch allein nach dem Willen des über die einfache Mehrheit verfügenden Mehrheitsaktionärs besetzt. Die Aktionäre versuchen vielmehr die Verhältnisse der Kapitalbeteiligungen oder Familienstämme und dergleichen abzubilden.

In der Konstellation mit zwei paritätisch beteiligten Aktionären wird neben zwei Repräsentanten dieser Anteilseigner oftmals ein neutrales Aufsichtsratsmitglied gewählt; alternativ teilen sich die Aktionärslager in entsprechenden Verabredungen die Besetzung des Aufsichtsrats einerseits und die des Vorstands andererseits auf. Der Boykott des Aufsichtsrats durch Fernbleiben von seinen Sitzungen stört diese Machtbalance empfindlich und kann in Streitfällen wegen der von Gesetzes wegen erforderlichen Dreiviertel-Mehrheit gerade nicht (mehr) durch die Abberufung dieses Mitglieds mittels Hauptversammlungsbeschluss gelöst werden.

2. Der Antrag des Aufsichtsrats auf gerichtliche Abberufung

Darüber hinaus bietet das Gesetz nur eine Abhilfemaßnahme an. Liegt in der Person des Aufsichtsratsmitglieds ein wichtiger Grund vor, kann dieses vom Gericht abberufen werden, § 103 Abs. 3 AktG. Die gerichtliche Abberufung setzt jedoch einen Antrag des Aufsichtsrats selbst voraus. Damit steht bereits die rechtliche Frage im Raum, wie der Aufsichtsrat diese Antragstellung beschließen soll, wenn er aufgrund des Fernbleibens eines Mitglieds gar nicht beschlussfähig ist. Ungeachtet dessen stellt sich weiter die praktische Frage, wie in den vorgenannten Konstellationen eine Mehrheit innerhalb des Aufsichtsrats zustande kommen soll, wenn ein entsprechender Teil der Aufsichtsratsmitglieder im Lager des boykottierenden Mitglieds steht. Damit ist auch dieses Schwert in den meisten Fällen wohl viel zu stumpf und scheidet als Abhilfemöglichkeit aus.

3. Die gerichtliche Ergänzung bei Unterbesetzung

Somit kommt es zu der hier entschiedenen Frage, ob und inwieweit der Aufsichtsrat gemäß § 104 Abs. 1 AktG gerichtlich ergänzt werden kann. Den Antrag hierzu kann nämlich unter anderem auch der Vorstand, ein einzelnes Aufsichtsratsmitglied oder ein einzelner Aktionär stellen. Bei einem Dauerboykott wird nach dieser Auffassung angenommen, dass dem Aufsichtsrat zumindest faktisch nicht die zur Beschlussfähigkeit nötige Zahl von Mitgliedern angehört.

Dieser Annahme ist der BGH nun entgegengetreten. Das dauerhafte Fernbleiben ist nicht mit dem Ausscheiden, etwa durch Tod oder Niederlegung, zu vergleichen. Damit bleibt nur die Möglichkeit der Abberufung durch die Hauptversammlung oder – bei Annahme eines wichtigen Grundes und Zustandekommen eines Antrags des Aufsichtsrats – durch das Gericht. Im Wege teleologischer Reduktion weitet der BGH im Zuge seiner Entscheidung die Beschlussfähigkeit des § 108 Abs. 2 Satz 3 AktG über seinen ausdrücklichen Wortlaut hinaus aus, indem er dem Aufsichtsrat zubilligt, über diesen Antrag auf gerichtliche Abberufung aus wichtigem Grund auch ohne Beteiligung des boykottierenden Mitglieds, d.h. durch nur zwei Mitglieder beschließen zu können. Ähnliche pragmatische, wenngleich dogmatisch nicht überzeugende Lösungen hatte der BGH bereits im Falle eines Stimmverbots eines Aufsichtsratsmitglieds geschaffen (vgl. BGH, Urteil vom 2. April 2007, Az. II ZR 325/05).

Bedeutung der Entscheidung für die Praxis

Die Auffassung des BGH ist konsequent und entspricht dem Wortlaut und der Intention des Gesetzes. Gleichwohl hilft sie betroffenen Gesellschaften, die das boykottierte Aufsichtsratsmitglied nicht einfach abwählen und durch ein neues ersetzen können, sondern stattdessen auf gerichtliche Hilfe angewiesen sind, kaum.

Letztlich klafft in diesen Fällen eine Lücke im Gesetz, die der BGH durch seine Entscheidung gerade nicht geschlossen hat - ob bewusst oder unbewusst, wird nicht klar. Letzteres erscheint nicht ausgeschlossen. So verweist der BGH ausdrücklich darauf, dass der Blockade des Aufsichtsrats durch Abberufung des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds zu begegnen sei. Des Weiteren, so der BGH, könnten die verbleibenden Aufsichtsratsmitglieder einen Antrag zu Gericht stellen, das boykottierende Aufsichtsratsmitglied aus wichtigem Grund abzuberufen. Dies kommt in vielen Fällen jedoch nicht in Betracht, da die Stimm- oder Interessenverhältnisse unter den Aktionären oder Aufsichtsratsmitgliedern dies nicht zulassen. Umgekehrt gesprochen: Vorstand und Aufsichtsrat nehmen gerichtliche Hilfe in der Regel erst dann in Anspruch, wenn die Aktionäre oder der Aufsichtsrat als Gremium sich gerade nicht auf die Abberufung des boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds oder einen Antrag zu Gericht auf Abberufung aus wichtigem Grund verständigen können. Der Antrag auf Ergänzung des Aufsichtsrats dürfte im Fall eines dauerhaft boykottierenden Aufsichtsratsmitglieds Ultima Ratio sein. Anders als der BGH meint, dürfte die vom BGH beschriebene Lösung in einer Vielzahl der Fälle gerade nicht in Betracht kommen.

Oftmals sind die Machtverhältnisse wohlaustariert und jede Störung dieser Machtbalance kann substanziellen Streit auslösen und damit Schaden verursachen. Hierunter hat in erster Linie die Gesellschaft, allen voran der Vorstand zu leiden; man denke insbesondere an Geschäfte, für die er nach Gesetz, Satzung oder Geschäftsordnung der Zustimmung des Aufsichtsrats bedarf. Welcher Schaden entstehen kann, wenn ein Aufsichtsrat aufgrund dessen über längere Zeit nicht handlungsfähig ist und wichtige Beschlüsse nicht fassen kann oder aber unliebsame Aufsichtsratsmitglieder dies bis an die Grenze der Strafbarkeit missbrauchen, hat der BGH offensichtlich nicht bedacht.

Konfliktvermeidung

Stattdessen sollte, soweit es möglich ist, bereits in der Satzung oder – sofern aus Gründen der Rechtssicherheit nicht möglich – in einer Aktionärsvereinbarung Vorsorge für den Fall getroffen werden, dass ein Aufsichtsratsmitglied mittels Fernbleibens die Aufsichtsratstätigkeit boykottiert, d.h. bei Vorliegen eines wichtigen Grundes in seiner Person abberufen werden kann, im Zweifel durch bestimmte Aktionäre, insbesondere durch das "gegnerische" Lager. Zumindest jedoch sollte ein Anspruch darauf vereinbart werden, dass die Hauptversammlung es abberuft und durch ein neues ersetzt. Außerdem kommt die Festlegung einer von § 103 Abs. 1 Satz 2 AktG abweichenden Dreiviertel-Stimmenmehrheit in der Satzung in Betracht.

Roland Startz

EU Company Certificate: der europäische Handelsregisterauszug kommt

Mo, 06.05.2024 - 14:00

Im grenzüberschreitenden Verkehr sind zuverlässige Informationen über Gesellschaften von Bedeutung. Wer bisher nach Name, Sitz, Rechtsform oder gesetzlichen Vertretern einer Gesellschaft sucht, muss auf die nationalen Handelsregisterdaten zurückgreifen. Dabei gibt es allerdings große Unterschiede. So stellen etwa Malta, Zypern und Irland keine zuverlässigen Angaben über die Vertretungsbefugnis zur Verfügung. Der europäische Gesetzgeber möchte die divergierenden Standards harmonisieren. Beruhend auf einem Richtlinienvorschlag der Kommission haben sich der Rat der Europäischen Union und das Europäische Parlament im März 2024 auf den Entwurf für eine Richtlinie zur Ausweitung und Optimierung des Einsatzes digitaler Werkzeuge und Verfahren im Gesellschaftsrecht (kurz: GesRRL-E) verständigt. Herzstück der Richtlinie ist die EU-Gesellschaftsbescheinigung (EU Company Certificate) (kurz: EUGB; engl.: EUCC), die künftig als "Ausweis" für Kapital- und Personengesellschaften im grenzüberschreitenden Verkehr dienen soll. Die EUGB ist vergleichbar mit dem aktuellen Abdruck aus dem deutschen Handelsregister.

Inhalt der EUGB

Die EUGB dient als Nachweis für die Existenz von Kapitalgesellschaften (in Deutschland: AG, KGaG, GmbH) und Personenhandelsgesellschaften (in Deutschland: OHG, KG). Darüber hinaus enthält die EUGB insbesondere folgende Informationen (Art. 16b Abs. 2 GesRRL-E):

  • Name der Gesellschaft
  • Rechtsform
  • Sitz der Gesellschaft
  • Kontaktanschrift der Gesellschaft, z.B. Postanschrift oder E-Mailadresse
  • Tag der Eintragung der Gesellschaft
  • Betrag des gezeichneten Kapitals (nur bei Kapitalgesellschaften)
  • Angaben zu den vertretungsberechtigten Personen und deren Vertretungsmacht
  • Zweck und Dauer der Gesellschaft
  • Status der Gesellschaft (Insolvenz, Liquidation, wirtschaftlich aktiv/inaktiv)

Angaben über die Gesellschafter sind bei Kapitalgesellschaften nicht vorgesehen. Bei Personenhandelsgesellschaften werden hingegen Angaben zu den vertretungsberechtigten Gesellschaftern enthalten sein. Bei Kommanditgesellschaften wird die EUGB Auskunft zu den Komplementären und Kommanditisten geben. Zudem werden die Einlagen der Kommanditisten ersichtlich sein.

Ausstellung auf Antrag

Die Ausstellung der EUGB erfolgt – auf Antrag - durch die nationalen Register elektronisch und in Papierform. Daneben soll eine elektronische Fassung der EUGB auch über das System der Registervernetzung (Business Registers Interconnection System – BRIS) erhältlich sein. Über das BRIS sind seit 2017 die Unternehmensregister aller EU-Mitgliedstaaten miteinander vernetzt. Informationen aus dem BRIS sind über das Europäische Unternehmensregister öffentlich abrufbar.
Jede Gesellschaft soll ihre EUGB beantragen können. Unklar ist nach dem Richtlinienentwurf, ob auch Dritte (auf Antrag) Zugang zur EUGB erhalten sollen und ob ein berechtigtes Interesse erforderlich sein wird. Der Richtlinienentwurf verhält sich dazu nicht explizit. Unter Verweis auf den weiten Wortlaut des Richtlinienentwurfs ist derzeit richtigerweise von einer Zugangsmöglichkeit für Dritte ohne berechtigtes Interesse auszugehen (siehe Art. 16b Abs. 4 GesRRL-E). Dies sollte der europäische Gesetzgeber noch klarstellen.

Anerkennung und Publizität

Der Richtlinienentwurf sieht die zwingende Ausstellung und Anerkennung der EUGB in allen Mitgliedstaaten vor (Art. 16b Abs. 1 GesRRL-E). Grundsätzlich dürfen nationale Stellen (z.B. eine Behörde oder ein Gericht) die in der EUGB enthaltenen Informationen nicht überprüfen. Lediglich bei begründeten Zweifeln über den Ursprung oder die Echtheit der EUGB können die nationalen Stellen die Anerkennung verweigern. Vor der Verweigerung müssen nationalen Stellen jedoch ein begründetes Informationsersuchen an die ausstellende Behörde richten. Kann die Authentizität nicht bestätigt werden, können die nationalen Stellen die Anerkennung verweigern (Art. 16e GesRRL-E). Dasselbe gilt bei Anhaltspunkten für Missbrauch oder Betrug. In diesen Fällen ist das ausstellende Register zu kontaktieren (Art. 16ea GesRRL-E).

Ob Dritte auf die Richtigkeit der in einer EUGB enthaltenen Angaben vertrauen dürfen, ist nicht ausdrücklich geregelt, dürfte aber aufgrund der Erwägungsgründe des Richtlinienentwurfs anzunehmen sein (siehe etwa Ewg. 24a S. 1-3 GesRRL-E).

Wie aktuell sind die Informationen aus der EUGB?

Die in einer EUGB enthaltenen Angaben sind nur dann verlässlich, wenn sie regelmäßig aktualisiert werden. Daher müssen Gesellschaften alle Änderungen der relevanten Informationen innerhalb von höchstens 15 Arbeitstagen dem nationalen Register, also in Deutschland dem elektronischen Handelsregister, mitteilen (Art. 15 Abs. 1, 2a) GesRRL-E). Kommen Gesellschaften ihrer Aktualisierungspflicht nicht oder nicht fristgerecht nach, sollen die Mitgliedstaaten wirksame und verhältnismäßige Sanktionen sicherstellen (Art. 28 Satz 1 b) GesRRL-E). Wie solche Sanktionen konkret aussehen, lässt der Richtlinienentwurf allerdings offen.

Sprache

Die Kommission wird ein Muster für die EUGB in allen Amtssprachen veröffentlichen, sodass Einheitlichkeit gewährleistet ist. Nicht geregelt ist, ob nationale Behörden die EUGB auch in allen Amtssprachen der EU ausstellen müssen. Derartige Einzelheiten werden erst den nationalen Umsetzungsregelungen oder ggf. einer europäischen Durchführungs-Verordnung zu entnehmen sein.

Kosten

Jede Gesellschaft soll ihre EUGB grundsätzlich kostenfrei elektronisch erhalten können. Ausnahmsweise dürfen die Verwaltungskosten verlangt werden, wenn die Ausstellung der EUGB bei Registern einen schwerwiegenden finanziellen Schaden verursachen würde. Mindestens einmal jährlich soll die Gesellschaft ihren Auszug in jedem Fall kostenfrei erhalten können (Art. 16b Abs. 5 GesRRL-E).

Anmerkungen für die Praxis

Die neue EUGB kann dazu beitragen, den grenzüberschreitenden Rechtsverkehr in der EU zu vereinfachen und birgt Einsparungspotential für Bürokratiekosten. Zudem erhöhen die geplanten Mindestkontrollstandards bei der Erfassung von Gesellschaftsinformationen das Vertrauen in die Richtigkeit der veröffentlichen Daten.

In der Praxis bleibt das Risiko einer ungenügenden Kontrolle der Aktualität der Gesellschafts-daten. Das gilt insbesondere für Mitgliedsstaaten, deren Registerinformationen weiter von den Vorgaben der neuen EUGB entfernt sind. Hier sollte nach der Umsetzung der Richtlinie in nationales Recht beobachtet werden, wie streng die Mitgliedsstaaten Verstöße gegen die Aktualisierungspflichten ahnden. Wünschenswert wäre eine ausdrückliche Regelung, wonach sich jeder Geschäftspartner auf die Richtigkeit der Angaben in der EUGB verlassen kann.

Dr. Barbara Mayer
Damien Heinrich

Dieser Blogbeitrag erscheint ebenso im Haufe Wirtschaftsrechtsnewsletter.

Информационное письмо: Регистрация товарного знака с элементом "№1" может повлечь ответственность правообладателя

Fr, 03.05.2024 - 14:00

Даже неохраняемые элементы товарного знака могут повлечь ответственность правообладателя в связи с нарушением антимонопольного законодательства – разъяснил Президиум Суда по интеллектуальным правам ("Суд").

Обстоятельства дела

Правообладатель зарегистрировал ряд российских товарных знаков, в качестве неохраняемых элементов которых выступали практически все слова, цифры и символы, в том числе слово "дихлофос" и обозначение "№1".

По мнению Федеральной антимонопольной службы ("ФАС России") указанные обозначения позволяли сделать вывод о превосходстве товара одного производителя над другим.

Доводы правообладателя о том, что в его линейке продукции использовались также обозначения "дихлофос №2" и "дихлофос №3" были расценены ФАС России в качестве намерения создать видимость добросовестности приобретения и использования товарных знаков.

Выводы Президиума Суда по интеллектуальным правам

Во-первых, по мнению Суда, правообладатель приобрел исключительные права на спорные товарные знаки с целью "получения формальной возможности использовать" в оформлении своей продукции обозначение " № 1", которое представляет собой форму некорректного сравнения.

Во-вторых, обозначение " № 1" не только привлекает внимание потребителей, но и создает у них впечатление о превосходстве товара правообладателя над аналогичными.

В-третьих, такими действиями могут быть причинены убытки конкурентам из-за перераспределения спроса на товары.

Суд сделал вывод, что непосредственно действия по (1) приобретению и (2) использованию товарного знака с включением в него слов "лучший", "первый", "номер один", " № 1" могут быть квалифицированы в качестве акта недобросовестной конкуренции.

Причем Суд подчеркнул, что в данном случае нарушен именно запрет на недобросовестную конкуренцию, связанную с использованием исключительного права на средства индивидуализации. В этом заключается особенность данного дела, так как обычно дела по незаконному использованию обозначений "лучший", "номер один" и проч. квалифицируются как нарушение другого запрета – запрета на недобросовестную конкуренцию путем некорректного сравнения.

Выводы и рекомендации

Данное дело еще раз показывает, что недобросовестной конкуренцией может быть признан любой акт конкуренции, противоречащий честным обычаям в промышленных и торговых делах.

При регистрации и приобретении исключительных прав на товарные знаки следует проверять не только соответствие выбранного обозначения требованиям гражданского законодательства и регламентам регистрирующего органа, но и проводить юридическую проверку на предмет соответствия обозначения требованиям антимонопольного законодательства.

Игнорирование данных шагов может привести как к привлечению правообладателя к ответственности за нарушение антимонопольных запретов, так и к аннулированию его товарного знака.

Мы всегда готовы оказать комплексное юридическое сопровождение по вопросам антимонопольного законодательства и законодательства об интеллектуальной собственности.

1 Постановление Президиума Суда по интеллектуальным правам от 11.04.2024 № С01-99/2024 по делу № СИП-439/2023.
2 Российские товарные знаки № 756235, 789741, 819398.
3 Ст. 14.4 Федерального закона от 26.07.2006 № 135-ФЗ "О защите конкуренции".
4 Ст. 14.3 там же.
5 Ст. 10.bis Парижской конвенции по охране промышленной собственности от 20.03.1883.

С уважением,

Александр Безбородов
Илья Титов

Update AI Act – die zehn wichtigsten Fragen für Anwender von KI-Systemen

Do, 02.05.2024 - 14:00

Nachdem im Dezember 2023 medial wirksam die politische Einigung bezüglich des AI Acts verkündet worden war, wurde am 13. März 2024 die nunmehr vorläufig finale Fassung verabschiedet. Der AI Act wurde vom Europaparlament mit einer überwältigenden Mehrheit von 523 zu 46 Stimmen angenommen. Nun stehen nur noch die Überprüfung durch Rechts- und Sprachsachverständige aus sowie die förmliche Annahme der Verordnung durch den Rat. Hiermit wird vor dem Ende der aktuellen Wahlperiode (respektive bis Juli 2024) gerechnet.

Unbestreitbar müssen Hersteller von KI-Systemen die Regelungen des AI Acts befolgen und beobachten die europäische Regulierung daher sicherlich mit großer Aufmerksamkeit. Allerdings sei selbiges auch Unternehmen, die KI "nur" im Einsatz haben, geraten. Nachfolgend haben wir die zehn praxisrelevanten Fragen zusammengestellt, die sich Unternehmen stellen sollten, die KI im Einsatz haben bzw. zum Einsatz bringen möchten.

1.Welche Unternehmen müssen die Regelungen des AI Act beachten?

Der Großteil der Regelungen des AI Acts befasst sich mit den verbotenen sowie mit Hochrisiko-KI-Systemen und den hieraus resultierenden Verpflichtungen für Anbieter, daneben auch für Einführer und Händler entsprechender KI-Systeme. Dies bedeutet allerdings nicht, dass man sich als Nutzer eines KI-Systems nunmehr im Sessel zurücklehnen könnte. Im Gegenteil: auch Nutzer (im AI Act als "Betreiber" bezeichnet) von KI-Systemen werden vom AI Act erfasst und müssen umfangreiche Verpflichtungen erfüllen.

Es unterfallen nicht nur Unternehmen mit Sitz in der EU dem AI Act, vielmehr werden auch außerhalb der EU ansässige Anbieter und Nutzer erfasst, sofern der von den KI-Systemen erzeugte Output in der EU Verwendung findet;

2. Ausgenommene Anwendungsbereiche

Zunächst nimmt der AI Act den Einsatz von KI durch natürliche Personen für rein persönliche, nicht berufliche Zwecke vom Anwendungsbereich aus. Ebenfalls vom Anwendungsbereich ausgenommen sind KI-Systeme, die ausschließlich im Bereich der wissenschaftlichen Forschung und Entwicklung entwickelt und eingesetzt werden.

Bedeutung erlangen könnte zukünftig die Regelung, dass der AI Act nicht für bestimmte KI mit freien und quelloffenen Lizenzen (Open Source) gilt. Eine weitere bedeutende Ausnahme sieht der AI Act für den Einsatz von KI-Systemen im Bereich des Militärs, der Verteidigung und der nationalen Sicherheit vor. Darüber hinaus haben die Mitgliedstaaten in bestimmten Bereichen die Möglichkeit, weitere Ausnahmen zu regeln. So können sie beispielsweise im Rahmen der Verwendung von KI-Systemen durch Arbeitgeber weitere Rechts- und Verwaltungsvorschriften zum weitergehenden Schutz von Arbeitnehmern vorsehen.

3. Verbotene KI-Systeme

KI-Systeme, von denen ein inakzeptables Risiko ausgeht, werden gemäß Art. 5 AI Act gänzlich untersagt. Dazu gehören KI-Systeme der nachfolgenden acht Bereiche:

  • Techniken unterschwelliger Beeinflussung außerhalb des menschlichen Bewusstseins, um das Verhalten einer Person erheblich zu beeinflussen bzw. ihr Schaden zuzufügen
  • das gezielte Ausnutzen des Schutzbedürfnisses bestimmter Personengruppen aufgrund ihres Alters oder einer Behinderung
  • Social Scoring
  • Verwendung sogenannter Profiling-Systeme, mit denen das Risiko natürlicher Personen, eine Straftat zu begehen, bewertet oder vorhergesagt werden kann
  • Ungezielte Erfassung (Scraping) von Gesichtsbildern aus dem Internet oder aus Video-überwachungsanlagen zur Erstellung von Gesichtserkennungsdatenbanken
  • Einsatz von Emotionserkennungssystemen am Arbeitsplatz und in Bildungseinrichtungen
  • Die Verwendung von Systemen zur biometrischen Kategorisierung
  • Die Verwendung biometrischer Echtzeit-Fernidentifizierungssysteme im öffentlich zugänglichen Räumen zu Strafverfolgungszwecken (wobei diese in enge Grenzen für zulässig erklärt wird)
4. Welche Systeme sind Hochrisiko-KI-Systeme?

Kernstück des AI Acts sind die Regelungen zu den sogenannten Hochrisiko-KI-Systemen. Grundsätzlich gelten KI-Systeme dann als Hochrisiko-KI-Systeme, wenn von ihnen erhebliche Gefahren für die Grundrechte ausgehen.

Ein Hochrisiko-KI-System liegt vor, wenn ein KI-System als Sicherheitsbauteil für ein Produkt verwendet wird, das unter die in Anhang I aufgelisteten Harmonisierungsrechtsvorschriften der EU fällt oder selbst ein solches Produkt ist. Dazu zählen beispielsweise Maschinen, Spielzeug und Medizinprodukte.

Als Hochrisiko-KI-System wird ferner ein KI-System klassifiziert, welches in einen der folgenden Bereiche des Anhang III fällt:

  • Biometrische Fernidentfizierungssysteme sowie KI-Systeme zur biometrischen Kategorisierung sowie zur Emotionserkennung
  • Kritische Infrastruktur: Erfasst sind KI-Systeme, die bestimmungsgemäß als Sicherheitsbauteile in der Verwaltung und dem Betrieb kritischer digitaler Infrastruktur, dem Straßenverkehr oder der Wasser-, Gas-, Wärme- und Stromversorgung verwendet werden.
  • Allgemeine und berufliche Bildung: Erfasst sind KI-Systeme, wenn diese für Entscheidungen über den Zugang natürlicher Personen zu Einrichtungen der allgemeinen oder beruflichen Bildung verwendet werden.
  • Beschäftigung, Personalmanagement und Zugang zur Selbständigkeit: Erfasst sind KI-Systeme, die für die Analyse und Filterung sowie der Bewertung von Bewerber eingesetzt werden.
  • Bestimmte grundlegende private und öffentliche Dienste und Leistungen: Hierunter fallen etwa KI-Systeme, die zur Prüfung der Kreditwürdigkeit und Bonität natürlicher Personen verwendet werden.
  • Strafverfolgung
  • Migration, Asyl und Grenzkontrolle
  • Rechtspflege und demokratische Prozesse

Allerdings sieht der AI Act eine wichtige Ausnahme vor: KI-Systeme aus den zuvor genannten Kategorien des Annex III können unter bestimmten Voraussetzungen von der Klassifizierung als Hochrisiko-KI-System ausgenommen werden. Voraussetzung ist, dass kein erhebliches Risiko einer Schädigung der Gesundheit, Sicherheit oder Grundrechte von natürlichen Personen vorliegt. Beispielhaft genannt seien hier solche KI-Systeme, die dazu dienen, eine vom Menschen zuvor durchgeführte Tätigkeit zu verbessern. Gleiches gilt, wenn das KI-System lediglich dazu bestimmt ist, eine eng begrenzte verfahrenstechnische Aufgabe zu erfüllen. Die Beurteilung, ob eine solche Ausnahme vorliegt, ist im Rahmen einer Risikoevaluierung vom Unternehmen selbst vorzunehmen und entsprechend zu dokumentieren.

5. Welche Regelungen gelten für Betreiber von Hochrisiko-KI-Systemen?

Unternehmen, die als Betreiber Hochrisiko-KI-Systeme einsetzen, müssen einen umfassenden Pflichtenkatalog erfüllen. Hierzu gehören beispielsweise die folgenden:

  • Sie treffen geeignete technische und organisatorische Maßnahmen, um sicherzustellen, dass das Hochrisiko-KI-Systeme in Übereinstimmung mit den Gebrauchsanweisungen verwendet werden.
  • Sie übertragen natürlichen Personen die menschliche Aufsicht.
  • Sie stellen sicher, dass Eingabedaten im Hinblick auf den Zweck des KI-Systems relevant und ausreichend repräsentativ sind.
  • Sie überwachen den Betrieb der Hochrisiko-KI-Systems anhand der Gebrauchsanweisung und informieren gegebenenfalls die Anbieter bzw. bei schwerwiegenden Vorfällen auch den Einführer, Händler und die entsprechenden Behörden.
  • Sie bewahren automatisch erzeugte Protokolle mindestens sechs Monate auf.
  • Sofern sie gleichzeitig Arbeitgeber sind, informieren sie die betroffenen Arbeitnehmer und die Arbeitnehmervertreter über den Einsatz eines Hochrisiko-KI-Systems am Arbeitsplatz.
  • Sie unterliegen einer Verpflichtung zur Zusammenarbeit mit den Behörden.

Die ursprünglich für alle Betreiber geforderte Grundrechte-Folgenabschätzung für Hochrisiko-KI-Systeme ist im aktuellen Verordnungstext nur noch für staatliche Einrichtungen sowie für private Unternehmen, die staatliche Aufgaben wahrnehmen, vorgesehen, ferner für solche Hochrisiko-KI-Systeme, in denen öffentliche Dienstleistungserbringungen, Kreditwürdigkeitsprüfungen oder risikobasierte Preisgestaltungen von Lebens- und Krankenversicherungen betroffen sind.

Betreiber können unter bestimmten Voraussetzungen auch selbst zum Anbieter eines Hochrisiko-KI-Systems werden und dann den strengeren Anbieterpflichten - beispielsweise die Einrichtung eines Risikomanagementsystems, die Durchführung eines Konformitätsbe-wertungsverfahrens sowie die Eintragung in eine EU-Datenbank - unterliegen. Ein solcher Wechsel der Verantwortlichkeit kommt dann zum Tragen, wenn ein Hochrisiko-KI-System unter eigenem Namen oder eigener Marke in den Verkehr gebracht oder in Betrieb genommen oder aber eine wesentliche Änderung an einem Hockrisiko-KI-System vorgenommen wird.

6. Welche Pflichten treffen Betreiber von KI-Systemen, die keine Hochrisiko-KI-Systeme darstellen?

Während für Betreiber von Hockrisiko-KI-Systemen der zuvor skizierte umfassende Pflichtenkatalog gilt, sind Betreiber von KI-Systemen, von denen nur ein geringes Risiko ausgeht, grundsätzlich nur gewissen Transparenzpflichten ausgesetzt. So muss offengelegt werden, wenn Inhalte wie Bilder, Videos oder Audioinhalte von einer KI erstellt oder verändert werden. Dieselbe Pflicht greift, wenn eine KI einen Text erstellt oder verändert, der zum Zweck der öffentlichen Information verbreitet wird.

7. Was gilt für KMU?

Erklärtes Ziel des AI Acts ist es, einen innovationsfreundlichen Rechtsrahmen zu schaffen. Dementsprechend hat der Gesetzgeber regulatorische Erleichterungen für Kleinst-, kleine und mittlere Unternehmen (KMU) – einschließlich Start-Ups - mit Sitz in der EU festgeschrieben. So können KMU beispielsweise in den Genuss ideeller und finanzieller Unterstützung kommen. Schließlich sollen KMU unter bestimmten Bedingungen einen priorisierten und kostenlosen Zugang zu sogenannten regulatorischen Sandboxes erhalten. Schließlich können die Geldbußen gedeckelt werden.

8. Ab wann gilt der AI Act?

Genaue Daten können aktuell noch nicht genannt werden, da für das Inkrafttreten des AI Acts noch die Veröffentlichung des finalen Gesetzestextes im Amtsblatt der EU erforderlich ist. Das Verbot von KI-Systemen greift bereits sechs Monate nach Inkrafttreten der Verordnung. Der Großteil der Vorschriften des AI Acts gilt 24 Monate nach Inkrafttreten. Demgegenüber gelten die für Hochrisiko-KI-Systeme festgeschriebenen Pflichten erst nach 36 Monaten.

9. Wie sind Verstöße gegen den AI Act sanktioniert?

Die Nichteinhaltung der Vorgaben des AI Acts kann zu exorbitant hohen Geldstrafen führen. Diese variieren je nach Verstoß und Unternehmensgröße. Während bei Verstößen gegen verbotene KI-Systeme bis zu EUR 35 Millionen oder 7 % des weltweiten Jahresumsatzes drohen, können sonstige Verstöße gegen Verpflichtungen des AI Acts mit bis zu EUR 15 Millionen bzw. 3% des weltweiten Umsatzes sanktioniert werden. Für die Erteilung falscher Informationen kommen Bußgelder in Höhe von EUR 7,5 Millionen oder 1 % des Umsatzes in Betracht.

Mit der Durchsetzung werden diverse nationale und EU-weite Behörden beschäftigt, so dass ein komplexes Gefüge aus Zuständigkeiten und Abstimmungsverfahren entsteht. Welche Behörde in Deutschland für die Einhaltung der Vorgaben des AI Acts Sorge tragen wird, steht aktuell noch nicht fest. Im Gespräch sind die Bundesnetzagentur und das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnologie.

10. ToDos für Unternehmen

Zunächst sollte im Unternehmen eine Ermittlung und Einordnung erfolgen, in welche Risikoklasse die verwendeten KI-Systeme einzuordnen sind. Aus dieser Kategorisierung leiten sich dann die Erfordernisse für deren ordnungsgemäße Nutzung ab. Insbesondere für zukünftige Projekte gilt es, die entsprechend mit KI im Unternehmen betrauten Abteilungen frühzeitig einzubinden, so dass eine hinreichende Prüfung und Compliance mit den Vorschriften sichergestellt werden kann. Dies ist insbesondere mit Blick auf die hohen Bußgelder dringend zu empfehlen.

Dr. Peggy Müller

Einen weiteren Blogbeitrag zum Thema finden Sie unter diesem Link.

Gesamtvergabe statt Losaufteilung – Anforderungen an die Begründung

Di, 30.04.2024 - 14:00

Die Vergabekammer des Bundes hat sich in einer kürzlich ergangenen Entscheidung (Beschluss vom 29. Februar 2024, VK 2-17/24) mit der in der Praxis immer wiederkehrenden Frage auseinandergesetzt, unter welchen Voraussetzungen vom Grundsatz der losweisen Vergabe abgewichen werden darf. Die Entscheidung betrifft einen Zwiespalt, in dem sich öffentliche Auftraggeber regelmäßig wiederfinden: Einerseits haben sie die Verpflichtung zur Erfüllung der Vorgabe des Vergaberechts, grundsätzlich eine Losaufteilung vorzunehmen, andererseits fordert die Fachseite häufig eine Gesamtvergabe und behauptet häufig, dies sei unvermeidbar.

Der Sachverhalt

Mit dem zu vergebenden Auftrag wollte die Auftraggeberin durch eine Vielzahl von Bauarbeiten einen Autobahnabschnitt erneuern, bei dem es sich um einen stark frequentierten Teil handelt, welcher im Bundesverkehrswegeplan 2030 mit der Dringlichkeitsstufe "Vordringlicher Bedarf – Engpassbeseitigung" ausgewiesen wurde.

Sie schrieb diese unionsweit aus und wählte dabei eine Gesamtvergabe. Auf eine Aufteilung in Fachlose (Verkehrssicherung, Markierungsarbeiten, passive Schutzeinrichtungen) verzichtete die Auftraggeberin, um Synergieeffekte zu erzielen und die Bauzeit so gering wie möglich zu halten. Die Gründe hierfür dokumentierte die Auftraggeberin in einem Vermerk. Als wesentliche Gründe wurden dort aufgeführt:

  • Verkürzung der Bauzeit bei Anwendung des Verfügbarkeitskostenmodells;
  • Partizipation der Fachlos-Auftragnehmer an einer möglichen Beschleunigungsvergütung des Generalunternehmers;
  • höhere Wirtschaftlichkeit in der Beschaffung;
  • deutliche Verringerung von Sicherheitsrisiken;
  • Vermeidung von Kompatibilitätsproblemen;
  • zu erwartender erheblicher volkswirtschaftlicher Nutzen einer Bauzeitverkürzung.

Die Auftraggeberin hat in ihrem Vergabevermerk die geschätzten Bauzeiten bei den Modellen Gesamtvergabe/Verfügbarkeitskosten (Variante 3), Fachlosvergabe/Verfügbarkeitskosten (Variante 2) und Fachlosvergabe (Variante 1) gegenübergestellt. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass die von ihr präferierte Variante 3 mit der Gesamtvergabe die Bauzeit um 21 Tage (gegenüber Variante 2) bzw. 38 Tage (gegenüber Variante 1) verkürzen könnte.

Das Verfügbarkeitskostenmodell zeichnete sich dadurch aus, dass die Auftraggeberin dem zukünftigen Auftragnehmer die Beanspruchung der Fahrbahn zum Zwecke der Erledigung der Bauarbeiten gegen die Entrichtung von Verfügbarkeitskosten zur Verfügung stellt. Die Auftraggeberin gibt lediglich einen zeitlichen Rahmen vor, innerhalb dessen die Bauarbeiten fertiggestellt werden sollen. Die tatsächlich erforderliche Bauzeit ist Gegenstand der Angebote der Bieter und
wird - im Falle der Auftragserteilung - mit konkreten Baufristen vertraglich vereinbart. Kann der Auftragnehmer die Bauarbeiten früher abschließen als im Angebot vorgesehen, erhält er von der Auftraggeberin im Rahmen der Schlussrechnung einen Bonus, der umso höher ausfällt, je kürzer die tatsächliche Bauzeit im Vergleich zur angebotenen Bauzeit war.

Zuschlagskriterium ist ein fiktiver Wertungspreis. Dieser wird ermittelt aus der Wertungssumme des Angebots zuzüglich der anhand der angebotenen Anzahl an Werktagen zu wertenden Verfügbarkeitskosten.

Mit einem Nachprüfungsantrag wandte sich eine Bieterin - nachdem sie erfolglos gerügt hatte – gegen die Gesamtvergabe und beanstandete in erster Linie, dass die Verkehrssicherung nicht als separates Los ausgeschrieben worden war.

Die Entscheidung

Die Vergabekammer des Bundes entschied, dass der Nachprüfungsantrag zwar zulässig, aber unbegründet sei. Die Auftraggeberin war im streitgegenständlichen Vergabeverfahren berechtigt, von einer Losaufteilung abzusehen.

§ 97 Abs. 4 S. 2 GWB normiere den Grundsatz der Losaufteilung. Dieser Grundsatz sei vorliegend zwar einschlägig, denn für die Teilleistung "Verkehrssicherung" bestehe, was auch auf Seiten der Auftraggeberin unbestritten war, ein eigenständiger fachlicher Markt. Daher sei nach § 97 Abs. 4 S.2 GWB grundsätzlich ein Fachlos zu bilden.

Allerdings gelte der Grundsatz nicht ausnahmslos. § 97 Abs. 4 S. 3 GWB erlaube die Gesamtvergabe, wenn wirtschaftliche oder technische Gründe dies erfordern. Das habe die Auftraggeberin vorliegend beanstandungsfrei angenommen.

Hierbei habe die Auftraggeberin insbesondere die Gründe einer erhöhten Unfallgefahr im Baustellenbereich, volkswirtschaftliche Nachteile infolge von Zeitverlust durch Staugeschehen, ökologische Nachteile durch vermehrte staubedingte Emissionen sowie die Notwendigkeit von (vorübergehenden) Sperrungen von Anschlussstellen angeführt. Diese Gründe seien insgesamt geeignet, eine Ausnahme vom Grundsatz der Fachlosvergabe zu rechtfertigen. Die Vergabekammer hob zudem ausdrücklich hervor, dass (nicht berücksichtigungsfähige) verwaltungsinterne Eigeninteressen, wie etwa das Entfallen von Koordinierungsaufwand, der bei einer Gesamtvergabe nicht beim Auftraggeber, sondern beim Generalunternehmer läge, von der Auftraggeberin nicht angeführt wurden.

Die hinter dem besonderen Beschleunigungsinteresse stehenden Ziele seien wirtschaftlicher und technischer Natur im Sinne von § 97 Abs. 3 S. 3 GWB und gingen – soweit die erhöhte Unfallgefahr betroffen sei – sogar darüber hinaus, denn es gehe dabei um die Abwehr von Gefahren für Leib und Leben der Verkehrsteilnehmer.

Zwar stellte die Vergabekammer zunächst fest, dass die von der Auftraggeberin genannten Nachteile regelmäßig mit Baustellen einhergingen, denn Baustellen führten sehr häufig zu Verkehrsstaus und stellten unfallträchtige Bereiche dar. Wolle man diese Gründe pauschal als Argument für eine Gesamtvergabe gelten lassen, so könne sich die Auftraggeberin bei Bauarbeiten an Bundesautobahnen stets auf technische und wirtschaftliche Gründe für eine Gesamtvergabe berufen, wodurch das Fachlosgebot ins Leere liefe.

Im vorliegenden Fall läge jedoch nicht nur ein allgemeines, sondern ein streckenabschnittbedingt spezifisches Beschleunigungsinteresse mit Bezug zum konkreten Vorhaben vor. Die Auftraggeberin berufe sich gerade nicht pauschal auf die angeführten Gründe, sondern stelle schon im Vergabevermerk auf die ganz konkrete Baustelle und deren Besonderheit ab. Aufgrund der extrem zugespitzten Verkehrssituation, welche die Auftraggeberin nachweisen konnte und aufgrund derer auch die Bundesregierung dem Projekt ein überragendes öffentliches Interesse attestierte, sei das hinter dem besonderen Beschleunigungsinteresse stehende Ziel einer schnellstmöglichen Beendigung der Baumaßnahme ein legitimer Grund für eine Gesamtvergabe.

Der Verzicht auf die Fachlosvergabe sei auch geeignet, eine schnellere Abwicklung des Bauvorhabens zu gewährleisten. Die Beschleunigung sei mit dem Verfügbarkeitsmodell angestrebt worden. Die Bauzeit werde in den Wettbewerb gestellt, indem die Bauunternehmer auf Bieterseite die von ihnen für erforderlich gehaltene Bauzeit individuell berechnen. Je kürzer die angebotene Bauzeit, desto geringer sei der (fiktive) Wertungspreis. Die individuell angebotene Bauzeit werde Vertragsinhalt.

Ein solches Vorgehen, bei dem die Bauzeit nicht auftraggeberseitig vorgegeben wird, sei jedoch bei einer losweisen Vergabe der Verkehrssicherung nicht möglich, da nur ein der Bauvergabe zeitlich nachfolgendes Vergabeverfahren in Betracht kommen könne. Denn der Auftraggeber könne für ein Fachlos keine Ausführungsfrist vorgeben, wenn diese im Wettbewerb von den Bauunternehmen erst anzubieten und daher auch erst mit Öffnung der Angebote und letztendlich mit Auftragserteilung an das Bauunternehmen bekannt sei. So habe ein Bauunternehmer in einem ähnlichen Verfahren ein Angebot abgegeben, das die Durchführung der Baumaßnahme nicht am Ende der Bauzeit verkürzte, sondern wonach eine Verkürzung der Gesamtbauzeit über einen zeitlich späteren Baubeginn erreicht werde. Damit wären, den Zuschlag auf dieses Angebot unterstellt, auch die Verkehrssicherungsleistungen zeitlich später zu erbringen. Zu lösen wäre dies nur über eine konsekutive Durchführung von zwei Vergabeverfahren, die aber den Beginn der Baumaßnahmen wiederum erheblich verzögern würde; der Bauauftragnehmer müsste mit Beginn der Bauausführung warten, bis auch das Fachlos vergeben ist. Werde aber für das Fachlos keine Ausführungsfrist vorgegeben, so sei dies wiederum vergaberechtlich angreifbar unter dem Gesichtspunkt der nicht ausreichenden Bestimmtheit der Leistungsbeschreibung, § 121 GWB.

Das Verfügbarkeitskostenmodell setze zudem voraus, dass der Bauunternehmer die Möglichkeit zu flexiblem Handeln und zu flexibler Absprache mit den anderen Gewerken habe, da die verschiedenen Gewerke auf der Baustelle ineinandergreifen. Diese Möglichkeit sei im Sinne einer Wahrscheinlichkeit eher gegeben, wenn das Bauunternehmen selbst Vertragspartner der Fachgewerke ist und die verschiedenen Unternehmen vor Ort auf der Baustelle flexiblere Absprachen treffen können, als wenn die Auftraggeberin als Vertragspartnerin der Fachgewerke zwischengeschaltet ist.

Der Verzicht auf Fachlose sei auch als "erforderlich" im Sinne von § 97 Abs. 3 S. 3 GWB zu bezeichnen. Die Erforderlichkeit sei nicht erst dann gegeben, wenn ein Losverzicht vollkommen alternativlos wäre, denn eine Alternativlosigkeit dürfte bei der Frage nach der Losaufteilung in der Praxis kaum vorkommen. Die Erforderlichkeit im Sinne der Norm, aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen von einer Losaufteilung abzusehen, sei vielmehr zu verstehen als eine konkrete Ausprägung des allgemeinen Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes.

Der Vergabekammer sei sich dabei durchaus bewusst, dass ein Verzicht auf die Losvergabe bei Fachlosen besonders schwer wiege, da die interessierten Fachunternehmen weitgehend ausgeschlossen seien und vornehmlich als Nachunternehmer am Auftrag partizipieren könnten. Zwar würde der konkrete Auftrag der Verkehrssicherung schlussendlich bei den Fachunternehmen ankommen, da die Bauunternehmen regelmäßig nicht auf die Erbringung dieser Leistungen eingerichtet seien, diese seien aber keine öffentlichen Auftragnehmer und damit in ihrer Entscheidung frei, welchen Nachunternehmer sie für die Verkehrssicherung einbinden wollen.

Die Vergabekammer hat bei ihrer Entscheidung zudem das vorliegende Vergabeverfahren sowohl im Kontext mit den übrigen Vergabeverfahren der Auftraggeberin – also in einer Gesamtschau – als auch isoliert betrachtet und diesbezüglich eine verhältnismäßige Anwendung des Ausnahmetatbestandes (über alle Vergabeverfahren der Auftraggeberin hinweg) angenommen. 90 Prozent aller Bauprojekte der Auftraggeberin seien konventionell, also losweise ausgeschrieben und beauftragt worden. Der besondere Beschleunigungsansatz werde nach der Auftraggeberin nur bei Abschnitten mit besonderer Belastung gewählt, an denen eine schnelle Abwicklung besonders wichtig sei. Etwas anderes ergebe sich auch nicht bei isolierter Betrachtungsweise. Das Projekt unterliege zulässigerweise einer besonderen Priorisierung mit der Folge eines besonderen und spezifischen Beschleunigungsbedürfnisses.

Praxistipp

Der Beschluss der Vergabekammer des Bundes stellt klar, dass die Ausnahme vom Gebot der losweisen Vergabe nach § 97 Abs. 4 S. 3 GWB einen eng auszulegenden Ausnahmetatbestand darstellt und zeigt anschaulich, welch hoher Begründungsaufwand betrieben werden muss, um einen Verzicht auf eine losweise Vergabe zu rechtfertigen. Die Aspekte, die bei jeder (losweisen) Vergabe auftreten und den Vergabestellen üblicherweise von der Fachseite als unüberwindbare Hindernisse und zwingende Gründe für eine Gesamtvergabe präsentiert werden, genügen in aller Regel nicht. Insbesondere die üblichen "Lästigkeiten" einer losweisen Beauftragung wie Koordinationsaufwände beim Auftraggeber, unterschiedliche Haftungssubjekte im Fall der Schlechtleistung, aber auch üblicherweise in Kauf zu nehmende zeitliche Verzögerungen, können ein Absehen vom Gebot der losweisen Vergabe nicht rechtfertigen. Vielmehr ist ein über den Normalfall hinausgehender besonderer Grund für die Gesamtvergabe nötig. Hierfür sind – insbesondere von den fachlichen Abteilungen - stichhaltige Gründe zu nennen. Diese sind – am besten wie hier geschehen in einem Vermerk, der zur Vergabeakte genommen wird – zu dokumentieren. Ein weiterer Grund für eine Gesamtvergabe wäre im Übrigen dann gegeben, wenn es (europaweit!) keinen entsprechenden Markt für die für ein Fachlos in Betracht kommenden Teilleistungen gibt. Dies kann im Einzelfall durch eine entsprechende Markterkundung vor Einleitung des Vergabeverfahrens ermittelt werden, die ebenfalls sorgfältig zu dokumentieren wäre.

Auffällig ist die zumindest ergänzend von der Vergabekammer des Bundes über die verschiedenen von der Auftraggeberin durchgeführten Verfahren hinweg angestellte Gesamtbetrachtung im Sinne der Frage, ob die Auftraggeberin insgesamt maßvoll mit dem Ausnahmetatbestand umgeht. Damit blickt sie in äußerst ungewöhnlicher Weise (vermutlich aufgrund entsprechenden Vortrags der Auftraggeberin) über den Tellerrand des zu beurteilenden Vergabeverfahrens hinaus auf die gesamte Vergabepraxis der Auftraggeberin. Welche Bedeutung dieser Aspekt für die Zulässigkeit der Gesamtvergabe im konkreten Fall aus vergaberechtlicher Sicht haben soll, lässt die Vergabekammer des Bundes aber offen. Tatsächlich ist nicht erkennbar, welche Relevanz das Vorgehen in anderen Verfahren, wenngleich derselben Auftraggeberin, für die Prüfung im konkret zu entscheidenden Fall haben sollte, da nur hinreichende Gründe im Einzelfall die Gesamtvergabe rechtfertigen können.

Katrin Lüdtke
Korbinian Goll

Solarpaket I – Starker Rückenwind für die dezentrale Gebäudeversorgung!

Fr, 26.04.2024 - 14:00

Nach zähen Verhandlungen hat die Bundesregierung nun das lang erwartete Solarpaket I verabschiedet. Dieses Gesetz, das im Entwurf bereits im August 2023 vorlag und viele Hoffnungen auf eine Deregulierung im Bereich des Photovoltaikausbaus erweckte, war zuletzt zum Sorgenkind der einschlägigen Verbände geworden, die z. T. daran zweifelten, ob es überhaupt noch erlassen würde. Diese Befürchtungen haben sich nicht bestätigt, obgleich das jetzt verabschiedete Solarpaket I punktuell vom ursprünglichen Entwurf abweicht.

Im Fokus des Gesetzes stehen (auch) Verbesserungen beim Mieterstrom, die Einführung der "gemeinschaftlichen Gebäudeversorgung" als neues Modell für die Stromlieferung von Photovoltaikanlagen ("PV-Anlagen") im Gebäude sowie die "unentgeltliche Abnahme" als neue Vermarktungsform. Durch diese Änderungen ist der gesetzliche Grundstein zur flächendeckenden autonomen Stromversorgung durch Photovoltaik auf Mehrfamilienhausdächern und in Gewerbegebäuden gelegt. Daraus ergeben sich neue Chancen für dezentrale Liefermodelle für Energieversorgungsunternehmen, aber auch die originären Teilnehmer des Immobiliensektors. Vermieter können selbst oder durch die Vermietung der Dachfläche weiteres Wirtschaftspotential ihrer Immobilie erschließen.

Im Einzelnen:

Mieterstrom wird einfacher

Während die Mieterstromförderung (§ 21 Abs. 3 EEG und 42a EnWG) nach derzeitiger Rechtslage nur für Solaranlagen auf Wohngebäuden zulässig ist, soll dies zukünftig auch auf gewerblichen Gebäuden und Nebenanlagen (wie Garagen) möglich sein. Der Ort, an dem Mieterstrom verbraucht wird, ist nicht mehr auf Wohngebäude beschränkt.

Außerdem wurde durch das Solarpaket die maximale Laufzeit der Mieterstromverträge geändert: Sie wurde von einem auf zwei Jahre angepasst. Begrüßenswert ist ebenfalls, dass die Maximalvertragsdauer nunmehr nur dann gilt, sofern es sich beim Stromkunden um einen Verbraucher handelt.

Kehrseite dieser Deregulierung ist, dass Anlagenbetreiber und Letztverbraucher fortan nicht einem Unternehmensverbund angehören dürfen (Anlagenbetreiber müssen diesbezüglich eine Eigenerklärung abgeben). Hiermit sollen etwaige Förderungsmissbräuche verhindert werden.

Sowohl im Rahmen der gewerblichen als auch der Wohnraumvermietung wurde bislang häufig aufgrund der bestehenden regulatorischen Hürden auf die Inanspruchnahme des Mieterstromzuschlags verzichtet. Der geringe Förderbetrag rechtfertigte oft nicht die damit einhergehenden Verwaltungs- und Beratungskosten. Durch die genannten Liberalisierungen wird das Mietstrommodell nun insgesamt attraktiver.

Die neue Gemeinschaftliche Gebäudeversorgung

Ein neues Liefermodell ist mit der "Gemeinschaftlichen Gebäudeversorgung" (§ 42b Abs. 1 EnWG) eingeführt worden. Das Modell steht unabhängig neben dem Mieterstrommodell und soll aufgrund der Befreiung vieler Lieferantenpflichten eine bürokratiearme Lieferung von Solarstrom innerhalb eines Gebäudes ermöglichen. Insbesondere besteht für den Betreiber der Gebäudestromanlage (Solaranlage) keine Pflicht zur Reststromlieferung.

Allein aufgrund der viertelstündlichen Messung (Strombezugsmengen des Letztverbrauchers müssen viertelstündlich gemessen werden), der Bestimmung des Aufteilungsschlüssels und der Zuordnung der Mengen zu den einzelnen Kunden stellen sich aber durchaus komplexe Fragen der Umsetzung.

Mieterstrom oder Gemeinschaftliche Gebäudeversorgung?

Die Gemeinschaftliche Gebäudeversorgung (§ 42b EnWG) soll neben dem Mieterstrom (§ 42a EnWG) ein eigenständiges Modell für den erzeugungsnahen Verbrauch von Strom aus PV-Anlagen werden. Im Gegensatz zum Mieterstromlieferanten muss der Stromlieferant bei der Gemeinschaftlichen Gebäudeversorgung keine Vollversorgung anbieten. Dadurch entfällt die Pflicht, einen Vertrag über den Bezug von Reststrom für die Mieter abzuschließen und über eine Mischkalkulation abzurechnen. Aufgrund dieser und der Befreiungen von einigen Lieferantenpflichten ist bei der Gemeinschaftlichen Gebäudeversorgung – in Abgrenzung zum Mieterstrommodell – jedoch auch keine zusätzliche Förderung der gelieferten Strommengen vorgesehen. Die Einspeisung von Überschussstrom in das Netz wird dennoch wie gewohnt nach dem EEG vergütet, sofern nicht die unentgeltliche Abnahme gewählt wird.

Die Gemeinschaftliche Gebäudeversorgung könnte sich daher als unkompliziertere Versorgungsalternative, insbesondere in Wohn- oder gemischt genutzten Gebäuden, etablieren.

Direktvermarktung und Unentgeltliche Abnahme

Die Direktvermarktung von Überschussstrom stellte bislang eine Hürde für viele Projektierer dar, die ihre Anlagen absichtlich unterdimensionierten, um die Pflicht zur Direktvermarktung zu umgehen. Diese Pflicht greift nunmehr erst bei Anlagen mit einer installierten Leistung ab 200 kWp.

Solaranlagen im Segment 100 – 200 kWp können nun der unentgeltlichen Abnahme als Vermarktungsform zugeordnet werden. Für den eingespeisten Strom erhalten die Anlagenbetreiber keine Vergütung, müssen ihn aber auch nicht direktvermarkten lassen. Es liegt auf der Hand, dass diese Vermarktungsform nur dann sinnvoll ist, wenn ein sehr hoher dezentraler Verbrauch des Solarstroms absehbar ist.

Fazit

Insbesondere Gewerbeimmobilien bieten mit ihren großen Dachflächen ein bislang kaum ausgeschöpftes Flächenpotential für PV-Anlagen. Mit dem Solarpaket I werden wichtige Verbesserungen für die dezentrale Stromversorgung im Gebäudebereich umgesetzt. Es sorgt für eine Entbürokratisierung, öffnet weitere Dachflächenpotentiale und ermöglicht mehr Teilhabe durch Erweiterung der Lieferungsoptionen von Projektierern.

Dieses Potenzial kann jedoch noch weiter ausgeschöpft werden: So stehen, auch nach Meinungen der Verbände aus der jüngsten Anhörung des Ausschusses für Klimaschutz und Energie am 22. April 2024, noch einige Weichenstellungen aus. Zu diesen gehört etwa ein Rechtsrahmen für das Energy-Sharing, die Bemessung der Direktvermarkungsgrenze nach eingespeister Strommenge und eine Konkretisierung der Voraussetzungen für das Gewerbesteuerprivileg.

Nach dem Solarpaket I das Solarpaket II!

Einen Beitrag zu weiteren Verbesserungen für Solaranlagen finden Sie hier.

Dr. Christof Aha
Dr. Malaika Ahlers
Anton Buro
Leopold Linden

Solarpaket I - Weitere Verbesserungen für Solaranlagen

Fr, 26.04.2024 - 14:00

Wir berichteten zu den wichtigsten Neuerungen des Solarpakets I aus dem Blickwinkel der dezentralen Stromversorgung. Aber auch im Bereich der Projektierung von weiteren Solaranlagen sieht das Solarpaket I eine Reihe von Deregulierungen und Anreizen vor:

Flexibler Einsatz von Batteriespeichern

Mit der Einführung der Änderungsanträge der Koalition wurde eine Flexibilisierungsoption für den Einsatz von Stromspeichern im EEG aufgenommen:

Bisher wurde allein der Strom aus Erneuerbaren Energien (EE-Strom), der aus einem Batteriespeicher in das Netz eingespeist wurde, gefördert, wenn der Batteriespeicher ausschließlich und ganzjährig mit Strom aus EE-Strom geladen wurde. Das Solarpaket I sieht nunmehr im neuen § 19 Abs. 3a EEG vor, dass der EE-Strom auch dann gefördert werden kann, wenn der einspeisende Batteriespeicher nicht ganzjährig mit EE-Strom geladen wird. Der Betreiber des Stromspeichers kann unterjährig fünfmal den Betriebsmodus seines Speichers wechseln, wobei jeder Zeitabschnitt mindestens zwei Monate andauern muss. Für Zeiträume in denen ausschließlich EE-Strom eingespeichert wird, bleibt die Eigenschaft als EE-Anlage und somit der Anspruch auf EEG-Vergütung bestehen.

Ausschreibung von größeren Anlagen

Die maximale Gebotsmenge von Solaranlagen im ersten Segment ist von 20 auf 50 MWp angehoben worden. Diese begrüßenswerte Änderung erlaubt es Projektierern, Anlagen fördern zu lassen, die aufgrund von Skaleneffekten kosteneffizienter sind.
Opt-Out-Regelung für benachteiligte Gebiete

Die Stromerzeugung aus Solaranlagen wird u. a. dann gefördert, wenn sich die Anlagen auf einem sog. "benachteiligten Gebiet" befinden. Bislang hatten die Bundesländer die Möglichkeit, ihre benachteiligten Gebiete für die Erzeugung von EE-Strom zu öffnen, aber waren hierzu nicht verpflichtet (sog. "Opt-In-Regelung").

Diese Regelung ist nun in ein Opt-Out umgekehrt worden: Benachteiligte Flächen sind nun gesetzlich (und daher ohne Zustimmung der Bundesländer) als geöffnet zu bewerten. Mindestens ein Prozent der landwirtschaftlichen Flächen eines Bundeslandes müssen bis Ende des Jahres 2030 geöffnet werden. Danach steigt der Mindestanteil auf 1,5 Prozent. Werden diese Schwellenwerte überschritten, kann das Bundesland bestimmte benachteiligte Gebiete wieder für die Stromerzeugung aus Erneuerbaren Energien schließen.

Überdies sind die benachteiligten Gebiete nunmehr auch für Freiflächenanlagen geöffnet, die nicht an Ausschreibungen teilnehmen. Damit können benachteiligte Flächen auch durch Projektierer kleiner Anlagen (Nennleistung unter 750 kWp) beansprucht werden.

Duldungspflicht für den Netz- und Leitungsausbau

Projektierer von Solaranlagen können mit Einführung des Solarpakets I von den Nutzungsberechtigten öffentlicher Grundstücke verlangen, dass diese die Errichtung von Leitungen dulden. Dies soll maßgeblich zur Beschleunigung von Erneuerbaren-Energien-Projekten und dem Netzausbau beitragen. Der ursprüngliche Gesetzesentwurf hatte noch vorgesehen, dass grundsätzlich alle (also auch private) Grundstückseigentümer dieser Duldungspflicht unterliegen sollten.

In ähnlicher Weise ist auch im neuen § 11b EEG ein Recht zur Überfahrt und Überschwenkung während der Errichtung und des Rückbaus von Windenergieanlagen auf Grundstücken in öffentlicher Hand vorgesehen.

Neues Ausschreibungsverfahren für besondere Anlagen

Besondere Anlagen (Agri-PV, Anlagen auf Parkplätzen etc.) waren bislang bei der Ausschreibung ihrer Leistung benachteiligt, da die Grundkosten dieser Projekte typischerweise höher ausfallen als Anlagen auf leicht bebaubaren Freiflächen. Um diesem Effekt entgegenzuwirken, wird es nach Inkrafttreten des Solarpakets I möglich sein, besondere Anlagen im ersten Segment gesondert auszuschreiben.

Da Projektierer von besonderen Anlagen nicht mehr mit konventionellen Freiflächenanlagen konkurrieren müssen, werden hier neue Flächenpotenziale für landwirtschaftliche Flächen, Parkplätze, sowie Grünland und Moorböden geöffnet.

Fazit

Das Solarpaket I enthält einige wichtige Änderungen, die zusammengenommen zur Beschleunigung des Photovoltaikausbaus führen werden.

Auch hier gilt: Nach dem Solarpaket I ist vor dem Solarpaket II. Es stehen noch einige Deregulierungen und Gesetzesanreize aus, um das vollständige, für das Erreichen der europäischen und nationalen Klimaziele erforderliche, Ausbaupotenzial zu erreichen.

Dr. Christof Aha
Dr. Malaika Ahlers
Anton Buro
Leopold Linden

Brutto = Netto?! Kein Einkommensteuerabzug auf Gewinne aus der Veräußerung einer Mitarbeiterbeteiligung

Di, 16.04.2024 - 14:00

Der Bundesfinanzhof hat geklärt, unter welchen Voraussetzungen der Gewinn aus der Veräußerung von Mitarbeiterbeteiligungen nicht der Einkommensteuer unterfällt. Damit können Arbeitgeber Mitarbeiterbeteiligungen nun rechtssicher so gestalten, dass die Gewinnrealisierung einkommensteuerfrei bleibt.

Urteil des Bundesfinanzhofs vom 14.12.2023 – VI R 1/21

Sachverhalt

Der Kläger war leitender Angestellter einer GmbH und nahm an einem Managementbeteiligungsprogramm teil. In diesem Rahmen wurde er im Jahr 2006 Kommanditist einer neu gegründeten, rein vermögensverwaltenden Manager-KG. Sodann erwarb die Manager-KG Anteile an der S-Kapitalgesellschaft (S). S hielt Anteile an einer Tochtergesellschaft (T). Letztere war unmittelbar an der GmbH beteiligt, für die der Kläger arbeitete. Bei Beendigung ihres Arbeitsverhältnisses mussten die Kommanditisten aus der Manager-KG ausscheiden und ihre Beteiligung an der Manager-KG – bewehrt mit sog. Bad- und Good-Leaver-Klauseln –verkaufen und übertragen.

Im Jahr 2007 wurde T in die Y-AG umgewandelt. Später kaufte S ihre Anteile von der Manager-KG zurück und gewährte als Gegenleistung eine dem Kapitalanteil der Manager-KG entsprechende Anzahl an Aktien der Y-AG.

Für das Jahr 2007 gab der Kläger den Erlös aus der Veräußerung der über die Manager-KG gehaltenen Anteile an S im Gegenzug für wertgleiche Aktien der Y-AG nicht an. Das zuständige Finanzamt war jedoch der Auffassung, bei diesem Rückkauf habe der Kläger einen Gewinn erzielt, der als Arbeitslohn von dritter Seite zu versteuern sei.
Nach erfolglosem Einspruch gegen den geänderten Einkommenssteuerbescheid erhob der Kläger Klage vor dem zuständigen FG. Dieses gab der Klage statt. Der BFH hat die Revision des beklagten FA zurückgewiesen.

Das Urteil des BFH v. 14.12.2023 (VI R 1/21)

Der BFH kam zu dem Ergebnis, dass der Gewinn aus der Veräußerung der Mitarbeiterbeteiligung nicht der Einkommensteuer unterliege. Der Veräußerungsgewinn sei nämlich kein Arbeitslohn. Zudem sei der Veräußerungsgewinn im Streitfall auch keiner anderen Einkunftsart zuzurechnen.

Im Kern ging es bei der gerichtlichen Auseinandersetzung darum, ob der Kläger durch den Veräußerungsgewinn als Differenz zwischen dem Rückkaufpreis (Wert der Aktien bei Übertragung) und den Anschaffungskosten der Beteiligung (Einlage in die Manager-KG) Arbeitslohn erlangt hat. Entscheidend für das Ergebnis des BFH ist hierbei der Umstand, dass der Kläger die Kommanditbeteiligung zwar verbilligt erworben hat, die ein Jahr spätere Veräußerung gegen Aktien der Y-AG allerdings zu marktüblichen Konditionen erfolgte.

Grundsätzlich zählen auch andere geldwerte Vorteile zum Arbeitslohn. Im Falle der Übertragung einer Beteiligung liegen diese nach ständiger Rechtsprechung des BFH nicht in der übertragenen Beteiligung selbst, sondern in der Verbilligung, also in dem Preisnachlass, der bei Erwerb gewährt wird. Ein Erwerb zum marktüblichen Preis stellt dagegen keinen solchen geldwerten Vorteil dar. Daher könne auch die Veräußerung einer Beteiligung zum Markpreis keinen geldwerten Vorteil begründen. Ein solcher könne nur vorliegen, soweit der Mitarbeiter bei der Veräußerung an seinen Arbeitgeber einen Überpreis erziele.

Voraussetzung für die steuerrechtliche Behandlung als Arbeitslohn ist nach ständiger Rechtsprechung des BFH weiter, dass der geldwerte Vorteil für eine Beschäftigung gewährt wird, also durch das individuelle Dienstverhältnis veranlasst ist, ohne dass ihm eine Gegenleistung für eine konkrete (einzelne) Dienstleistung des Arbeitnehmers zugrunde liegen muss. Der Vorteil ist durch das individuelle Dienstverhältnis veranlasst, wenn er dem Empfänger mit Rücksicht auf das Dienstverhältnis zufließt und sich als Ertrag der nichtselbstständigen Arbeit darstellt.

Nach diesen Maßstäben gelangte der BFH zu dem Ergebnis, dass der Veräußerungsgewinn weder ein geldwerter Vorteil noch durch das Dienstverhältnis veranlasst sei. Ein geldwerter Vorteil hinsichtlich der Veräußerung fehle, da der Kläger die Aktien an der Y-AG nicht verbilligt erlangt habe. Zudem sei der Veräußerungsgewinn (in Form der Aktien) nicht durch das Dienstverhältnis veranlasst. Denn der Kläger habe mit seiner Beteiligung an der Manager-KG ein Sonderrechtsverhältnis begründet, das neben seinem Arbeitsverhältnis zu der GmbH bestand. Dem stehen nach Auffassung des BFH auch die vertraglich vereinbarten "Leaver-Klauseln" nicht entgegen. Zwar verknüpfen diese den Fortbestand des Beteiligungsverhältnisses mit dem Fortbestand des Arbeitsverhältnisses. Allerdings verfolgen derartige Klauseln lediglich den Zweck, die Mitarbeiter durch ihre Beteiligung an das Unternehmen zu binden und sie an der Gewinnentwicklung teilhaben zu lassen.

Der Gewinn durch die spätere Veräußerung der Gesellschaftsanteile an der S sei vor diesem Hintergrund nicht "für" eine Beschäftigung gewährt, sondern beruhe allein auf dem neben dem Arbeitsverhältnis bestehenden Sonderrechtsverhältnis. Der Umstand, dass der Kläger die Anteile an der Manager-KG ursprünglich vergünstigt erworben habe, ändere daran nichts. Denn der (verbilligte) Erwerb und die Veräußerung der Beteiligung seien zwei unterschiedliche, steuerlich voneinander getrennt und unabhängig zu betrachtende Sachverhalte. Ob dem Kläger zum Zeitpunkt der Anschaffung/des Erwerbs der Kommanditbeteiligung im Jahr 2006 durch die Verbilligung ein entsprechender geldwerter Vorteil zugeflossen ist, war deshalb ohne Bedeutung für den zu entscheidenden Fall, da dies für die Einkommensteuerfestsetzung des Streitjahres 2007 nicht berücksichtigt werden konnte.

Nach dem Erwerb eintretende Wertänderungen seien darüber hinaus regelmäßig nicht mehr durch das Arbeitsverhältnis, sondern durch das Sonderrechtsverhältnis "Beteiligung" veranlasst.

Etwas anderes könne dann gelten, wenn bei der Veräußerung ein marktunüblicher Überpreis erzielt werde. In diesem Fall könne der über das Marktübliche hinausgehende geldwerte Vorteil auch bei Bestehen eines Sonderrechtsverhältnisses durch das Arbeitsverhältnis des Steuerpflichtigen veranlasst sein und deshalb zu Arbeitslohn führen.
Die Frage, ob dem Kläger zum Zeitpunkt der Anschaffung/des Erwerbs der Kommanditbeteiligung im Jahr 2006 aufgrund der Verbilligung ein geldwerter Vorteil zugeflossen ist, war für den vorliegenden Fall nicht entscheidend, da dies für die Einkommensteuerfestsetzung des Streitjahres 2007 ohne Bedeutung war.

Anmerkungen für die Praxis

Die Entscheidung des BFH schafft eine begrüßenswerte Klarheit und Planungssicherheit bei der Besteuerung bzw. Steuerfreiheit von echten Mitarbeiterbeteiligungen (als Arbeitslohn). Für eine Vermeidung der Besteuerung der Mitarbeiterbeteiligung als Arbeitslohn sind sowohl die Erwerbsvorgang als auch der Veräußerungsvorgang von Bedeutung: Erwirbt der Arbeitnehmer die Anteile verbilligt, stellt diese Verbilligung einen zu versteuernden geldwerten Vorteil dar. Die Steuerlast kann bei Vorliegen der Voraussetzungen der Steuerbefreiung aus § 3 Nr. 39 EstG allerdings verringert werden. Der steuerfreie Höchstbetrag wurde zum 01.01.2024 auf EUR 2000 angehoben. Veräußert der Arbeitnehmer die Anteile später wieder an den Arbeitgeber zu einem marktunüblichen Überpreis, ist auch dieser Überpreis ein einkommensteuerpflichtiger Vorteil, der in der Regel in einem inneren Zusammenhang mit dem Arbeitsverhältnis steht. Erfolgt die Veräußerung hingegen zu marktüblichen Konditionen, ist der Veräußerungsgewinn durch die eingetretene Wertänderung regelmäßig nicht durch das Arbeitsverhältnis veranlasst, sondern dem Marktgeschehen geschuldet und nicht als Arbeitslohn zu versteuern.

Ganz steuerfrei bleibt der (durch die Wertsteigerung der Anteile) erzielte Gewinn jedoch meistens nicht: Kapitalerträge sind nach den §§ 17, 20 und 23 EStG steuerbar. Die Besteuerung nach § 17 EStG greift nicht, wenn die Beteiligung weniger als 1 % der Anteile ausmacht. Bei Beteiligungen über 1 % innerhalb der letzten fünf Jahre greift das Teileinkünfteverfahren (nur 60% der Kapitaleinkünfte werden versteuert). Der Steuertatbestand des § 23 EStG greift nicht, wenn die Anteile über ein Jahr gehalten werden. Potenziell verbleibt dann noch die Abgeltungssteuer nach § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 EStG bei Veräußerung einer Beteiligung von unter 1 % im Privatvermögen. Diese ist pauschal mit 25 % bemessen und damit in der Regel günstiger als die Besteuerung der Gewinne als Arbeitslohn.

Die gänzliche Steuerfreiheit der Gewinne des Klägers ergab sich daraus, dass § 20 EStG nur für Anteile anzuwenden ist, die ab 2009 erworben wurden. § 17 Abs. 1 Satz 1 EStG war nicht einschlägig, da der Kläger eine Beteiligung unter 1 % hielt.

Damien Heinrich
Dr. Christian Osbahr

Dieser Blogbeitrag erscheint ebenso im Haufe Wirtschaftsrechtsnewsletter. Zur besseren Lesbarkeit wird in dem vorliegenden Beitrag auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulin verwendet, wobei alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

Berufung eines Dritten auf die fehlende Eintragung der Abberufung eines Geschäftsführers gem. § 15 Abs. 1 HGB

Di, 16.04.2024 - 14:00

BGH, Urteil vom 09.01.2024 – II ZR 220/22

Ein Dritter kann sich gemäß § 15 Abs. 1 HGB nur dann nicht auf die fehlende Eintragung einer eintragungspflichtigen Tatsache im Handelsregister berufen, wenn er positive Kenntnis von der einzutragenden Tatsache hat; ein Kennenmüssen oder eine grob fahrlässige Unkenntnis schadet demgegenüber nicht.

Hintergrund

Bestimmte Tatsachen, unter anderem die Bestellung und die Abberufung von Geschäftsführern einer GmbH, müssen ins Handelsregister eingetragen werden. Solange dies nicht erfolgt ist, können die einzutragenden Tatsachen Dritten nicht entgegengehalten werden, es sei denn, dass diese positive Kenntnis von der jeweiligen Tatsache hatten. Der BGH hatte sich in seiner Entscheidung vom 9. Januar 2024 (u.a.) mit der Frage zu befassen, welche Anforderungen an die positive Kenntnis eines Dritten von der Abberufung eines Geschäftsführers zu stellen sind.

Sachverhalt

In dem vom BGH entschiedenen Fall war die Klägerin, eine GmbH, Eigentümerin eines Grundstücks, das ihren einzigen wesentlichen Vermögensgegenstand darstellte. Auf einer Gesellschafterversammlung der Klägerin stimmte die Mehrheitsgesellschafterin entgegen die Stimmen der Minderheitsgesellschafterin, die Einberufungsmängel geltend machte, für die Abberufung eines Geschäftsführers aus wichtigem Grund. Der Versammlungsleiter stellte im Anschluss das Zustandekommen des Beschlusses fest.

Zwei Tage später verkaufte die Klägerin, vertreten durch den betreffenden Geschäftsführer, der im Handelsregister noch als solcher eingetragen war, das Grundstück der Klägerin an die Beklagte. Die Klägerin behauptet, dass die Beklagte bereits zu diesem Zeitpunkt Kenntnis von der Existenz des Abberufungsbeschlusses hatte. Zugunsten der Beklagten wurden Auflassungsvormerkungen ins Grundbuch eingetragen.

Das Landgericht hat die Klage auf Zustimmung zur Löschung der Auflassungsvormerkungen abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist erfolglos geblieben. Mit ihrer Revision verfolgte die Klägerin die Verurteilung der Beklagten zur Zustimmung zur Löschung der Vormerkungen weiter.

Entscheidung des BGH

Der BGH hat das Berufungsurteil aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Zur Begründung führte der BGH aus, dass der Geschäftsführer bei der Beurkundung des Kaufvertrags zwar nicht mehr über organschaftliche Vertretungsmacht verfügt habe, da er durch den Gesellschafterbeschluss wirksam abberufen worden sei. Die Klägerin müsse sich aber gemäß § 15 Abs. 1 HGB so behandeln lassen, als habe die Vertretungsmacht beim Vertragsschluss noch fortbestanden. Solange die Eintragung der Abberufung ins Handelsregister nicht erfolgt sei, werde der Rechtsverkehr durch diese Vorschrift geschützt.

Selbst im Falle unterstellter Kenntnis der Beklagten von der Existenz der Beschlussfassung über die Abberufung verlöre die Beklagte diesen Schutz nicht. Denn die Berufung auf die fehlende Eintragung einer eintragungspflichtigen Tatsache sei einem Dritten nur dann verwehrt, wenn er positive Kenntnis von der einzutragenden Tatsache, in diesem Fall der wirksamen Abberufung, habe. Ein Kennenmüssen oder eine grob fahrlässige Unkenntnis genügten dagegen nicht. Der BGH betonte, dass zwischen der Kenntnis vom Abberufungsbeschluss und der Kenntnis von der wirksamen Abberufung zu differenzieren sei. Hier habe die Beklagte Kenntnis von zwischen den Gesellschaftern der Klägerin bestehenden Meinungsverschiedenheiten über die Wirksamkeit der Abberufung gehabt. Aufgrund hierdurch ausgelöster Zweifel habe die Beklagte daher keine positive Kenntnis von der Wirksamkeit der Abberufung gehabt, weshalb sie sich grundsätzlich auf § 15 Abs. 1 HGB berufen könne.
Allerdings komme laut dem BGH ein für die Beklagte erkennbarer Missbrauch der Vertretungsmacht durch den Geschäftsführer in Betracht. Dies hätte zur Folge, dass die Beklagte aus dem formal zustande gekommenen Kaufvertrag keine Rechte herleiten könnte.

Die Grundsätze des Missbrauchs der Vertretungsmacht gelten auch im Anwendungsbereich des § 15 Abs. 1 HGB. Der BGH führte aus, dass der Geschäftsführer aufgrund der besonderen Bedeutsamkeit des Verkaufs des Grundstücks gemäß § 49 Abs. 2 GmbHG dazu verpflichtet gewesen wäre, eine Gesellschafterversammlung einzuberufen und die Zustimmung der Gesellschafter zum Verkauf einzuholen. Schließlich habe das Grundstück den einzigen wesentlichen Vermögensgegenstand der Klägerin dargestellt. Indem der Geschäftsführer dies unterlassen habe, habe er die im Innenverhältnis maßgeblichen Grenzen seiner nach Rechtsscheingrundsätzen als fortbestehend fingierten Vertretungsmacht überschritten.

Das Berufungsgericht habe indes keine ausreichenden Feststellungen dazu getroffen, ob dieser Missbrauch der Vertretungsmacht durch den Geschäftsführer für die Beklagte erkennbar gewesen sei. Das sei dann der Fall, wenn die Beklagte gewusst habe oder es sich ihr geradezu habe aufdrängen müssen, dass er seine Vertretungsmacht missbrauchte. Da hierzu tatsächliche Feststellungen des Berufungsgerichts fehlten, hat der BGH das Urteil aufgehoben und zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen.

Anmerkungen und Praxistipp

Die Entscheidung des BGH macht deutlich, dass die Abberufung eines Geschäftsführers unverzüglich zur Eintragung in das Handelsregister anzumelden ist. Solange dies nicht erfolgt ist, können Dritte sich grundsätzlich auf die bestehende Eintragung des abberufenen Geschäftsführers berufen, sofern sie keine positive Kenntnis von den abweichenden Tatsachen haben. An die positive Kenntnis von der Abberufung werden indes sehr hohe Anforderungen gestellt. So kann diese bereits dann fehlen, wenn der abberufene Geschäftsführer selbst Zweifel an einer wirksamen Abberufung äußert. Das kann selbst dann gelten, wenn der Geschäftspartner Kenntnis von der Existenz des Abberufungsbeschlusses hat.

Kommt ein Missbrauch der sich noch aus dem Handelsregister ergebenden Geschäftsführerstellung durch den abberufenen Geschäftsführer in Betracht, sollte daher in Erwägung gezogen werden, die erfolgte Abberufung gegenüber Geschäftspartnern zu kommunizieren, um diesen gegenüber die Anwendung des § 15 Abs. 1 HGB auszuschließen bzw. zumindest den Anwendungsbereich der Grundsätze zum Missbrauch der Vertretungsmacht zu eröffnen. Dies sollte in nachweisbarer Form, bspw. per Einwurf-Einschreiben oder E-Mail erfolgen, um im Streitfall die positive Kenntnis des Geschäftspartners von der erfolgten Abberufung darlegen zu können.

Dr. Moritz Jenne
Simon Schuler

Dieser Blogbeitrag erscheint ebenso im Haufe Wirtschaftsrechtsnewsletter. Zur besseren Lesbarkeit wird in dem vorliegenden Beitrag auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulin verwendet, wobei alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

Eine automatische Wertsicherungsklausel ist wegen einer Kombination von Staffel- und Indexmiete nicht zwingend unwirksam

Mo, 15.04.2024 - 14:00

OLG Brandenburg: Urteil vom 27.06.2023, Az. 3 U 88/22

Der Fall

Die Parteien streiten über die Erhöhung der Miete für ein gewerbliches Mietobjekt. Die Miete war für die ersten vier Mietjahre gestaffelt und betrug seit Mai 2004 monatlich EUR 1.989,95 netto. In dem Mietvertrag vom 28.02.2001 vereinbarten die Parteien zudem folgende Indexierungsklausel:

„Für den Fall, dass sich der monatlich vom zuständigen Bundesamt festgelegte Lebenshaltungsindex aller privaten Haushalte in Deutschland im Vergleich zum Stand Mai 2004 auf der Basis 1995 = 100 künftig um mehr als 10 % ändert, sind beide Parteien berechtigt, Verhandlungen über die Neufestsetzung des Mietzinses zu verlangen. Sofern eine Einigung über die künftige Miethöhe zwischen den Parteien nicht zustande kommt, entscheidet ein von der zuständigen Industrie- und Handelskammer zu benennender Schiedsgutachter gem. § 317 BGB nach billigem Ermessen, und zwar insbesondere auch darüber, ob überhaupt und ggf. in welcher Höhe eine Änderung der Miete eintreten soll. Die Entscheidung des Schiedsgutachters ist für beide Parteien bindend, wobei die Mietänderung nicht größer sein darf als die Veränderung des Lebenshaltungskostenindexes (…)
Berechnungsgrundlage ist jeweils die geltende Miete einschließlich der bereits stattgefundenen Veränderungen.
Die Wertsicherung beginnt mit Ende des dritten Mietjahres zu laufen, also mit dem 01. Mai 2004.
Sollte das zuständige Bundesamt die Weiterführung dieses Indexes ganz oder teilweise einstellen, so tritt an seine Stelle der entsprechende Nachfolgeindex bzw. ein Index, der die von den Vertragsparteien beabsichtigte Wertsicherung des Mietzinses in gleichem Umfang gewährleistet wie der zuletzt für sie maßgeblich gewesene Index.“

Mit Schreiben vom 07.09.2020 verlangte der Kläger die Zustimmung der Beklagten zu einer Erhöhung der monatlich geschuldeten Nettomiete ab dem 01.10.2020 auf EUR 2.453,61. In dem Aufforderungsschreiben wurde darauf hingewiesen, dass bei fehlender Zustimmung ein Gutachten gemäß Mietvertrag in Auftrag gegeben werde.
Die Beklagte stimmte dem nicht zu, weshalb der Kläger ein Schiedsgutachten beauftragte, ob und in welcher Höhe eine Änderung der Miete möglich ist. Ausweislich des Gutachtens des Sachverständigen war unter Berücksichtigung der Entwicklung der Lebenshaltungskosten eine Mieterhöhung von 487,50 Euro netto gerechtfertigt.
Die Beklagte lehnte die Zustimmung zur Mieterhöhung des Gutachters ab und zahlte weiterhin die zuvor vereinbarte Monatsmiete von EUR 1.989,45 netto zuzüglich Nebenkostenvorauszahlung und Umsatzsteuer. Denn die Beklagte war der Ansicht, dass die Preisanpassungsklausel aufgrund einer Kombination von Staffel- und Indexklausel unwirksam sei, unter anderem, da sich die Miete aufgrund der Staffeln überproportional steigere - ohne, dass bei rückgängigem Index eine Reduzierung der Miete möglich sei.

Die Folgen

Das Landgericht hat die Beklagte antragsgemäß verurteilt. Zur Begründung ihrer Entscheidung hat die Zivilkammer angeführt, die vom Kläger verlangte Miete sei wirksam aufgrund des Schiedsgutachtens auf EUR 2.477,49 festgesetzt worden. Die vereinbarte Indexierungsklausel verstoße weder gegen das Preisklauselgesetz, noch gegen § 307 BGB. Die Kammer stellte dar, dass es sich um eine Leistungsvorbehaltsklausel handelt, die deshalb nicht unter das Verbot des § 1 PrKlG falle, weil die Anpassung gerade nicht automatisch erfolge, sondern ein Ermessensspielraum bestehe.

Die Berufung bleibt in der Sache ohne Erfolg. Das OLG hat die Entscheidung im Berufungsverfahren bestätigt. Die mietvertraglich vereinbarte Wertanpassungsklausel wurde nicht wegen einer unzulässigen Kombination von Staffel- und Indexmiete als unwirksam angesehen. Zudem stand der vereinbarten Erhöhung der Miete eine später eintretende Absenkung nicht entgegen. Das Gutachten stellte sich auch nicht als grob fehlerhaft i.S.v. § 319 Abs. 1 BGB dar.

Was ist zu tun?

Das Urteil stellt klar, dass bei der Kombination einer Staffel- und Indexklausel insbesondere darauf zu achten ist, dass eine Anpassung der Miete entsprechend der Indexveränderung in beide Richtungen – nach oben und nach unten - weiter möglich bleibt und nicht aufgrund der gleichzeitigen Vereinbarung einer Staffelmiete ausgeschlossen wird. Zudem sollte die Indexklausel erst dann anwendbar sein, wenn die letzte Staffelerhöhung bereits eingetreten ist, damit keine gleichzeitige Erhöhung erfolgt. Eine unangemessene Benachteiligung einer Partei würde sonst zur Angreifbarkeit der Preisklausel führen. Zu beachten ist ferner, dass der Auftrag zur Bestellung des Gutachters wirksam vereinbart wird und keine gemeinsame Auftragserteilung des Mieters und Vermieters erforderlich ist.

Anja Fischer

D&O-Versicherung: Abtretung von Freistellungsanspruch hemmt Verjährung des Haftungsanspruchs

Mo, 15.04.2024 - 14:00

Der durch einen Großbrand verursachte Schaden in einer Bäckerei wurde nur zum Teil von der Feuerversicherung übernommen. Der Betreiber der Bäckerei nahm daraufhin für den Restschaden ihren Geschäftsführer wegen Pflichtverletzung in Anspruch. Der Geschäftsführer trat seinen Freistellungsanspruch gegenüber der D&O-Versicherung an den Betreiber der Bäckerei ab.

Das OLG Schleswig hat in seinem Urteil vom 26.02.2024 (Az. 16 U 93/23) entschieden:

Durch eine Abtretung des Freistellungsanspruchs aus der D&O-Versicherung wird konkludent eine "Waffenstillstandsvereinbarung" (sog. "pactum de non petendo") zwischen der versicherten Person und der Versicherungsnehmerin geschlossen. Darüber hinaus bewirkt die Abtretung eine Verjährung der zugrundeliegenden Haftungsansprüche.

Verjährungshemmung neben Waffenstillstand (pactum de non petendo)

Das OLG Schleswig hat zunächst festgestellt, dass mit der Abtretung des Freistellungsanspruchs eines GmbH-Geschäftsführers aus der D&O-Versicherung wegen einer Pflichtverletzung gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG zugleich ein sog. "pactum de non petendo" geschlossen worden ist. Danach ist das geschädigte Unternehmen verpflichtet, solange nicht gegen den Geschäftsführer vorzugehen, wie die Möglichkeit besteht, von dem Versicherer in dem (infolge der Abtretung einheitlichen) Haftungs- und Deckungsprozess Ersatz des Schadens zu erhalten.

Nach Ansicht des OLG Schleswig ergibt sich hieraus, dass ein Haftungsprozess gegen den Geschäftsführer während dieser Zeit unzulässig ist und dementsprechend – durch konkludente Vereinbarung - auch die Verjährung des Haftungsanspruchs der Gesellschaft gegen den Geschäftsführer für die Dauer der Anspruchsverfolgung gegenüber dem Versicherer gehemmt sein muss.

D&O Versicherung: Haftungs- und Deckungsrechtsstreit

Eine D&O-Versicherung schließt in der Regel ein Unternehmen für seine Leitungsorgane ab. Ansprüche aus dieser D&O-Versicherung stehen dann nur diesen Leitungsorganen als versicherte Personen, nicht aber dem Unternehmen als Versicherungsnehmerin zu. Die Versicherungsnehmerin bzw. das geschädigte Unternehmen kann daher im Schadensfall nicht einfach den D&O-Versicherer unmittelbar auf Ersatz des Schadens in Anspruch nehmen. Vielmehr muss es die Ansprüche zunächst gegenüber der versicherten Person geltend machen und im Falle des Bestreitens in einem Haftungsprozess gerichtlich durchsetzen. Wird die versicherte Person in einem Haftungsprozess verurteilt, muss die Einstandspflicht des D&O-Versicherers noch in einem anschließenden Deckungsrechtsstreit geklärt werden. Dies bedeutet in der Regel einen hohen Zeit- und Kostenaufwand für sämtliche Beteiligte.

Praxisüblich: Direktprozess

In der Praxis wird daher der Haftungs- und Deckungsrechtstreit häufig in einem Prozess gebündelt. Dafür tritt die versicherte Person (also das in Anspruch genommene Leitungsorgan) seinen Freistellungsanspruch aus der D&O-Versicherung an die Versicherungsnehmerin (also das geschädigte Unternehmen) ab. Mit der Abtretung wandelt sich der Freistellungsanspruch in einen Zahlungsanspruch um. Im Folgenden kann die Versicherungsnehmerin den Haftungs- und Deckungsanspruch in einem einzigen Direktprozess gegenüber dem D&O-Versicherer geltend machen. Diesen Grundstein für die Abtretung des Feststellungsanspruchs legte der BGH schon im Jahre 2016 (vgl. BGH, Urteil vom 13.04.2016, IV ZR 304/13; BGH, Urteil vom 13.04.2016, IV ZR 51/14). Einige Folgefragen aber blieben lange Zeit ungeklärt. Nachdem das OLG Köln mit Urteil vom 21.11.2023 (Az. 9 U 206/22) erst kürzlich Fragen zur Beweislast beantwortete, entschied nun das OLG Schleswig welche weiteren Rechtsfolgen eine Abtretung von D&O-Ansprüchen haben kann.

Zugrundeliegender Fall am OLG Schleswig

Vor dem OLG Schleswig wurde folgender Fall verhandelt: Die Klägerin betreibt eine Bäckerei. Als die Bäckerei im August 2018 bei einem Brand beschädigt wurde, übernahm der Versicherer lediglich 38,5% des Schadens. Die Klägerin warf ihrem Geschäftsführer vor, er habe nicht für eine ausreichende Inhalts- und Betriebsunterbrechungsversicherung sowie Feuerversicherung gesorgt. Sie nahm den Geschäftsführer für den Restschaden in Anspruch. Im Januar 2020 trat der Geschäftsführer seine Freistellungsansprüche gegen den D&O-Versicherer an die Klägerin ab und die Klägerin machte ihren Schaden hiernach unmittelbar gegenüber dem D&O-Versicherer im Rahmen eines Direktprozesses geltend.

Fazit

Das OLG Schleswig leistet mit seinem Urteil einen wichtigen Beitrag in der Diskussion um die zahlreichen rechtlichen Problemstellungen, die durch die Abtretung von Freistellungsansprüchen aus einer D&O-Versicherung entstehen können. Hinsichtlich der Frage der Verjährung bestätigt das OLG Schleswig die in der Literatur verbreitete Auffassung und sorgt so für etwas mehr Rechtssicherheit.

Dr. Florian Weichselgärtner

D&O-Versicherung: Abtretung von Freistellungsanspruch hemmt Verjährung des Haftungsanspruch

Mo, 15.04.2024 - 14:00

Der durch einen Großbrand verursachte Schaden in einer Bäckerei wurde nur zum Teil von der Feuerversicherung übernommen. Der Betreiber der Bäckerei nahm daraufhin für den Restschaden ihren Geschäftsführer wegen Pflichtverletzung in Anspruch. Der Geschäftsführer trat seinen Freistellungsanspruch gegenüber der D&O-Versicherung an den Betreiber der Bäckerei ab.

Das OLG Schleswig hat in seinem Urteil vom 26.02.2024 (Az. 16 U 93/23) entschieden:

Durch eine Abtretung des Freistellungsanspruchs aus der D&O-Versicherung wird konkludent eine "Waffenstillstandsvereinbarung" (sog. "pactum de non petendo") zwischen der versicherten Person und der Versicherungsnehmerin geschlossen. Darüber hinaus bewirkt die Abtretung eine Verjährung der zugrundeliegenden Haftungsansprüche.

Verjährungshemmung neben Waffenstillstand (pactum de non petendo)

Das OLG Schleswig hat zunächst festgestellt, dass mit der Abtretung des Freistellungsanspruchs eines GmbH-Geschäftsführers aus der D&O-Versicherung wegen einer Pflichtverletzung gemäß § 43 Abs. 2 GmbHG zugleich ein sog. "pactum de non petendo" geschlossen worden ist. Danach ist das geschädigte Unternehmen verpflichtet, solange nicht gegen den Geschäftsführer vorzugehen, wie die Möglichkeit besteht, von dem Versicherer in dem (infolge der Abtretung einheitlichen) Haftungs- und Deckungsprozess Ersatz des Schadens zu erhalten.

Nach Ansicht des OLG Schleswig ergibt sich hieraus, dass ein Haftungsprozess gegen den Geschäftsführer während dieser Zeit unzulässig ist und dementsprechend – durch konkludente Vereinbarung - auch die Verjährung des Haftungsanspruchs der Gesellschaft gegen den Geschäftsführer für die Dauer der Anspruchsverfolgung gegenüber dem Versicherer gehemmt sein muss.

D&O Versicherung: Haftungs- und Deckungsrechtsstreit

Eine D&O-Versicherung schließt in der Regel ein Unternehmen für seine Leitungsorgane ab. Ansprüche aus dieser D&O-Versicherung stehen dann nur diesen Leitungsorganen als versicherte Personen, nicht aber dem Unternehmen als Versicherungsnehmerin zu. Die Versicherungsnehmerin bzw. das geschädigte Unternehmen kann daher im Schadensfall nicht einfach den D&O-Versicherer unmittelbar auf Ersatz des Schadens in Anspruch nehmen. Vielmehr muss es die Ansprüche zunächst gegenüber der versicherten Person geltend machen und im Falle des Bestreitens in einem Haftungsprozess gerichtlich durchsetzen. Wird die versicherte Person in einem Haftungsprozess verurteilt, muss die Einstandspflicht des D&O-Versicherers noch in einem anschließenden Deckungsrechtsstreit geklärt werden. Dies bedeutet in der Regel einen hohen Zeit- und Kostenaufwand für sämtliche Beteiligte.

Praxisüblich: Direktprozess

In der Praxis wird daher der Haftungs- und Deckungsrechtstreit häufig in einem Prozess gebündelt. Dafür tritt die versicherte Person (also das in Anspruch genommene Leitungsorgan) seinen Freistellungsanspruch aus der D&O-Versicherung an die Versicherungsnehmerin (also das geschädigte Unternehmen) ab. Mit der Abtretung wandelt sich der Freistellungsanspruch in einen Zahlungsanspruch um. Im Folgenden kann die Versicherungsnehmerin den Haftungs- und Deckungsanspruch in einem einzigen Direktprozess gegenüber dem D&O-Versicherer geltend machen. Diesen Grundstein für die Abtretung des Feststellungsanspruchs legte der BGH schon im Jahre 2016 (vgl. BGH, Urteil vom 13.04.2016, IV ZR 304/13; BGH, Urteil vom 13.04.2016, IV ZR 51/14). Einige Folgefragen aber blieben lange Zeit ungeklärt. Nachdem das OLG Köln mit Urteil vom 21.11.2023 (Az. 9 U 206/22) erst kürzlich Fragen zur Beweislast beantwortete, entschied nun das OLG Schleswig welche weiteren Rechtsfolgen eine Abtretung von D&O-Ansprüchen haben kann.

Zugrundeliegender Fall am OLG Schleswig

Vor dem OLG Schleswig wurde folgender Fall verhandelt: Die Klägerin betreibt eine Bäckerei. Als die Bäckerei im August 2018 bei einem Brand beschädigt wurde, übernahm der Versicherer lediglich 38,5% des Schadens. Die Klägerin warf ihrem Geschäftsführer vor, er habe nicht für eine ausreichende Inhalts- und Betriebsunterbrechungsversicherung sowie Feuerversicherung gesorgt. Sie nahm den Geschäftsführer für den Restschaden in Anspruch. Im Januar 2020 trat der Geschäftsführer seine Freistellungsansprüche gegen den D&O-Versicherer an die Klägerin ab und die Klägerin machte ihren Schaden hiernach unmittelbar gegenüber dem D&O-Versicherer im Rahmen eines Direktprozesses geltend.

Fazit

Das OLG Schleswig leistet mit seinem Urteil einen wichtigen Beitrag in der Diskussion um die zahlreichen rechtlichen Problemstellungen, die durch die Abtretung von Freistellungsansprüchen aus einer D&O-Versicherung entstehen können. Hinsichtlich der Frage der Verjährung bestätigt das OLG Schleswig die in der Literatur verbreitete Auffassung und sorgt so für etwas mehr Rechtssicherheit.

Dr. Florian Weichselgärtner

Die Form des Arbeitsvertrags

Mo, 15.04.2024 - 14:00

Ja was denn nun? Schriftlich, mündlich, qualifiziert elektronisch, konkludent, Textform oder einfach elektronisch? Welche Form muss für den Abschluss eines Arbeitsvertrags eingehalten werden. Die Regelungen und Änderungen des Nachweisgesetzes haben für weitere Verwirrung gesorgt.

Liebe Leserin, lieber Leser,

für die Bestimmung der zutreffenden Form eines Arbeitsvertrags muss zwischen den Regelungen unterschieden werden, einerseits für den Abschluss des Arbeitsvertrags selbst, andererseits für den Nachweis der Arbeitsbedingungen nach dem Nachweisgesetz. Mein Blog und damit in blog-form soll Klarheit in die Form des Arbeitsvertrags gebracht werden.

Form des Arbeitsvertrags selbst

Es gibt Arbeitnehmer, die seit viele Jahren für einen Arbeitgeber gegen Vergütung Arbeitsleistung erbringen und behaupten, sie hätten keinen Arbeitsvertrag. Damit meinen die Arbeitnehmer, dass sie keinen „schriftlichen“ Arbeitsvertrag abgeschlossen haben.

Arbeitsverträge konnten und können in jeder Form wirksam abgeschlossen werden, also auch mündlich oder konkludent. Um der Darlegungs- und Beweislast – bei Meinungsverschiedenheiten oder bei Streitigkeiten – nachkommen zu können, wird häufig eine dauerhaft wiedergabefähige Form gewählt, z.B. schriftlich oder elektronisch.

Die Schriftform ist hingegen gesetzlich in bestimmten Fällen als Wirksamkeitsvoraussetzung vorgesehen. Beispielsweise bei einer Befristungsabrede oder bei der Vereinbarung eines nachvertraglichen Wettbewerbsverbots.

Formerfordernis nach dem Nachweisgesetz

  • Die Umsetzung der europäischen Arbeitsbedingungen-Richtlinie führte zu Änderungen des Nachweisgesetzes 2022. Unter anderem sind nach § 2 Abs. 1 NachwG die Vertragsbedingungen schriftlich niederzulegen, die elektronische Form ist ausdrücklich ausgeschlossen. Verstöße sind bußgeldbewehrt. Damit wurde an sich die Schriftform für Arbeitsverträge in der Praxis durch die Hintertür im Nachweisgesetz eingeführt.
  • Aufgrund erheblicher Proteste gegen die insbesondere hinsichtlich der Digitalisierung nicht nachvollziehbaren Schriftform wurde im März 2024 ein Regierungsentwurf im Vierten Bürokratieentlastungsgesetz („BEG IV“) beschlossen. Danach soll auch ein in elektronischer Form nach § 126a BGB (qualifizierte elektronische Signatur) geschlossener Arbeitsvertrag nach dem Nachweisgesetz ausreichend sein.
  • Bereits Ende März 2021 wurde dann der Ersatz der Schriftform durch die Textform als geplante Änderung des Nachweisgesetzes wie folgt veröffentlicht: „im Nachweisgesetz [soll] künftig der Nachweis der wesentlichen Vertragsbedingungen in Textform ermöglicht werden, sofern das Dokument für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zugänglich ist, gespeichert und ausgedruckt werden kann und der Arbeitgeber einen Übermittlungs- oder Empfangsnachweis erhält“. Dadurch wird klargestellt, dass durch die Übermittlung des Nachweises in Textform den Anforderungen des Nachweisgesetzes vollumfänglich Genüge getan wird.

Ich wahre die Form und beende den Blog mit herzlichen (arbeitsrechtlichen) Grüßen aus München

Ihr Dr. Erik Schmid

Dieser Blog ist bereits im arbeitsrechtlichen Blog von Erik Schmid im Rehm-Verlag (www.rehm-verlag.de) erschienen.

 

Zur besseren Lesbarkeit wird in dem vorliegenden Beitrag auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulin verwendet, wobei alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

Artificial intelligence: what is more important than the AI Act?

Mi, 10.04.2024 - 14:00

The EU recently passed the EU Artificial Intelligence Act (AI Act) with much fanfare.

The Act is a milestone (see our blog post for more details). It is really relevant for providers and deployers of AI systems, especially those with high risks. However, most of the practical and legal issues associated with the use of AI are not regulated or even addressed in the law. They remain to be negotiated between the parties.

1. Internal: Clear rules

Wherever employees have access to the Internet, they use to at least experiment with AI, in particular to see what ChatGPT, Copilot, Claude, Dall-E, Midjourney and others can do. It has also become widely known that there can be risks for the company in using them. This has already cost some people their jobs. It is therefore all the more surprising that many companies still do not have internal guidelines on the correct use of artificial intelligence in the workplace. It is essential to regulate the handling of sensitive information and the use of the results of AI work, but ideally also responsibilities, accountability, and documentation requirements. One thing is certain: these systems will be used. A total ban would be impossible to enforce and would also hamper productivity.

2. Reliable contracts

Many organizations buy AI solutions from third parties or license software that includes AI. This should be governed using contracts that take into account the specific issues associated with the use of AI - not just outdated standard IT terms and conditions that are still silent on the subject of AI. Of course, there is nothing wrong with adapting outdated IT standard terms and conditions to the many new practical and legal requirements.

Some important challenges:

No licensee or user should rely on the legal compliance of generative AI systems (such as Chat GPT, etc.). In particular, it is questionable whether the data used for training has been obtained and used legally, especially with regard to data protection, personal rights and third party copyrights. This does not mean that a company should generally refrain from using such systems. But the distribution of risk must be properly regulated.

Artificial intelligence also sometimes produces undesirable results or exhibits strange behavior. For example, the results of AI generated work can infringe the rights of third parties. Rights clearance can be much more difficult here than with human-generated work, because the AI does not or cannot disclose which authors it has used in the first place (a particular problem: this makes proper disclosure of the use of open source code almost impossible and the use therefore inadmissible). There have also been reports of chatbots used on company websites that have literally fallen flat on their faces - because the chatbot gave customers rights that they would not have had under the contract. Finally, AI also makes mistakes, which can have unexpected consequences: With this in mind, some systems regularly accept a certain level of error tolerance. However, if the settings of an AI system, for example for fraud prevention, are so strict that it only approves a transaction if fraud can be ruled out 100%, it is unlikely to ever approve a transaction. At the same time, however, a more “tolerant” setting means a conscious acceptance of wrong decisions, which can, for example, invalidate the insurance cover that would exist for wrong human decisions.

In general, the point is that AI is effective but often operates in an opaque way and will sooner or later produce errors. It is therefore necessary to regulate contractually how the lack of transparency is dealt with and who bears the risk if it is not possible to determine where the error was made - and also what level of error probability is still acceptable.

The usual standards of intent and gross negligence found in most standard contracts are not useful here: both parties know that errors can occur. It is therefore necessary to regulate which errors are attributable to which party. This can be done, for example, in provisions on data quality, service levels and indemnity clauses. Of course, there is no boilerplate solution for every use of AI. However, it is important that the issue is considered and regulated appropriately.

It is also important to regulate the extent to which the AI can be 'trained' using the licensee's data, and whether other customers can also benefit from what the AI learns in this way. In the worst case, the data used for training could be disclosed to other customers or their end users of the AI, which could constitute a violation of privacy rights, intellectual property rights or trade secrets. If the licensee's dataset includes personal data, it generally must not be used to train the AI for other customers anyway.

In connection with the AI Act, the European Commission has also presented draft standard contractual clauses for the procurement of AI systems by public authorities (AI SCC). The requirements set out in the AI SCCs are intended to ensure that the contract terms comply with the requirements of the AI Act, with one version of the AI SCCs published for high-risk AI systems and one for non-high-risk AI systems.;

The AI SCCs cannot be used as the sole contractual basis for the use of AI, as many issues relevant to contract law (e.g. liability, intellectual property) are not addressed or are inadequately addressed. Nevertheless, the AI SCCs can provide useful points of reference for negotiating contractual terms, even between private companies.

3. HR software

As mentioned above, EU legislation on artificial intelligence will not apply across the board, but will impose specific obligations on providers and deployers of AI systems. However, there is one area of application that deserves special mention: Software in the HR sector is often considered a high-risk system, in particular recruitment tools (for the recruitment and selection of candidates or the placement of targeted job advertisements) and personnel management tools. High risk systems are subject to particularly strict requirements.

Dr Andreas Lober
Lennart Kriebel

Another article on the ten most important questions for useres of AI systems can be found under this link.

BFH zur Pensionsrückstellung beim Formwechsel: Jetzt besteht hoffentlich endlich Klarheit!

Mo, 08.04.2024 - 14:00

Der Bundesfinanzhof bestätigt mit Urteil vom 12.12.2023 (Az. VIII R 17/20), dass im Falle der formwechselnden Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft weder durch einen abweichenden Teilwertansatz ein Übernahmefolgegewinn/-verlust nach § 6 UmwStG entsteht noch eine Besteuerung des Mitunternehmers durch Umqualifizierung der Zuführungen zur Pensionsrückstellung vor dem Umwandlungsstichtag in Sondervergütungen steuerrechtlich angezeigt ist.

Was der Bundesfinanzhof in diesem Fall zu entscheiden hatte, führt auf mehreren Ebenen zu einer Klarstellung.

Übernahme der Pensionsrückstellung zum Teilwert nach § 6a Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 EStG

Bislang war umstritten, mit welchem Wert die übernehmende Personengesellschaft die Pensionsrückstellung anzusetzen hat. In Teilen der Literatur wird die Ansicht vertreten, dass die übernommene Pensionsrückstellung für einen Gesellschafter-Geschäftsführer mit dem Teilwert nach § 6a Abs. 3 Nr. 2 EStG anzusetzen ist, da dieser nach der Umwandlung in eine Personengesellschaft ertragsteuerlich als Mitunternehmer und nicht mehr als Arbeitnehmer einzuordnen ist (Höfer/Veit/Verhuven in Höfer, Betriebsrentenrecht, Bd. II: Steuerrecht, Kap. 45 Rz 41; Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 42. Aufl., § 6a Rz 30). Damit würde bei jüngeren Gesellschafter-Geschäftsführern ein Übernahmeverlust und bei älteren ein Übernahmegewinn nach § 6 Abs. 1 Satz 1 UwStG entstehen. Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs entscheidet sich aber für die Bewertung nach § 6a Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 EStG, da die Dienstverhältnisse nicht beendet wurden, sondern lediglich deren ertragsteuerliche Bewertung sich geändert hat. Eine Korrektur hat daher nicht zu erfolgen. Dementsprechend entsteht auch kein Übernahmefolgegewinn gem. § 6 Abs. 1 und 2 UmwStG.

Keine Umqualifizierung von Zuführungen zur Pensionsrückstellung vor dem Umwandlungsstichtag in Sondervergütungen

Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs lehnt auch die Besteuerung der Zuführungen zur Pensionsrückstellung für Gesellschafter-Geschäftsführer in Bezug auf vor der Umwandlung liegende Zeiträume als Sondervergütungen ab.

Der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs betont, dass ein voller bzw. teilweiser Ansatz von Sondervergütungen in Fällen der formwechselnden Umwandlung einer Kapitalgesellschaft in eine Personengesellschaft für vor der Umwandlung erhaltene Versorgungsversprechen einer Rechtsgrundlage entbehrt. Insbesondere handelt es sich nicht um eine Vergütung i.S.d. §§ 18 Abs. 4 Satz 2, 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG. Dazu lässt sich bereits der Wortlaut der Vorschrift heranziehen, der nur "Vergütungen" des Mitunternehmers der Besteuerung unterwirft. Bei den Zuführungsbeträgen zu den Pensionsrückstellungen, die für einen Gesellschafter auf Ebene einer Kapitalgesellschaft gebildet wurden, handelt es sich jedoch nicht um solche Vergütungen. Die Ursache dieser liegt vielmehr allein in dem früheren Beschäftigungsverhältnis des Berechtigten zu der umgewandelten Kapitalgesellschaft. Sie vergüten nicht die Tätigkeit im Dienst der Personengesellschaft nach dem Formwechsel.

Als Argument für eine Aufteilung der Zuführungen in einen Teil vor der Umwandlung und nach der Umwandlung lässt der VIII. Senat des Bundesfinanzhofs auch das Argument der Finanzverwaltung, der Teilwert nach § 6a Abs. 3 Satz 2 Nr. 1 EStG setze sich bewertungssystematisch teilweise auch aus dem sog. future service zusammen, nicht gelten. Zwar geht in die Bewertung des Teilwerts auch ein Anwartschaftsbarwert mit ein, der zukunftsorientiert den Kapitalbedarf des Versorgungsverpflichteten ermittelt. Von diesem wird aber der sog. Prämienbarwert, d. h. der sich auf denselben Zeitpunkt ergebende Barwert noch zu erdienender Teilwertprämien, abgezogen. Damit wird für den versorgungsberechtigten Arbeitnehmer bewertungstechnisch jedes Jahr nur der Teil zurückgestellt, der erdient wurde. Diese Wirkweise berechtigt bei typisierender Betrachtung die Zuordnung der jährlichen Zuführungen zur jeweiligen jährlichen Arbeitsleistung des versorgungsberechtigten Arbeitnehmers. Damit sind Zuführungen vor dem Umwandlungsstichtag nicht der Tätigkeit als Mitunternehmer zuzurechnen. Ein Ansatz eines entsprechenden Ausgleichspostens in der Sonderbilanz des versorgungsberechtigten Mitunternehmers kann daher für alle Zuführungen vor dem Umwandlungsstichtag unterbleiben.

Der Formwechsel kann daher bei Beibehaltung der erteilten Versorgungszusage ertragsteuerneutral gestaltet werden. Es gilt aber zu beachten, dass bei einem entsprechenden Verzicht auf die Versorgungszusage ab dem Umwandlungsstichtag automatisch auf § 6a Abs. 3 Satz 2 Nr. 2 EStG umzustellen ist. Dies kann die oben beschriebenen Auswirkungen auf Pensionsrückstellung haben und zu einer Steuerbelastung führen.

Marcus Mische
Laura Wans

Zur besseren Lesbarkeit wird in dem vorliegenden Beitrag auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulin verwendet, wobei alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

Beihilfen für erneuerbare Energieanlagen auf dem Prüfstand des EuGH

Do, 04.04.2024 - 14:00

Rechtssache C-11/22 ("Est Wind Power OÜ ./. Elering AS")

Der Ausbau erneuerbarer Energien, der durch entsprechende Beihilfeprogramme gefördert werden soll, spielt spätestens seit dem "Green Deal" der Europäischen Kommission eine herausragende Rolle. In der hier besprochenen Vorabentscheidung vom 12. Oktober 2023 nahm der EuGH ausführlich zu den zwischen 2014 und 2020 wirksamen EU-Leitlinien für staatliche Umweltschutz- und Energiebeihilfen Stellung. Über die konkrete Leitlinie hinaus trifft der EuGH interessante Aussagen zum Rechtscharakter von Leitlinien sowie zu dem – auch im Zuwendungsrecht regelmäßig relevanten – Zeitpunkt des Beginns einer Maßnahme.

Sachverhalt

Das estnische Energieunternehmen Est Wind Power ("EWP") begann im Jahr 2004 mit Vorbereitungen für die Errichtung eines Windparks, bestehend aus 28 Windkraftanlagen. Zur Verwirklichung des Vorhabens schloss EWP einen Anschlussvertrag mit der betroffenen Gemeinde und zahlte rund EUR 500.000 an den estnischen Übertragungsnetzbetreiber Elering AS ("Elering") für die Bereitstellung eines Netzanschlusses. EWP installierte im Jahr 2008 auf dem erworbenen Gelände Windmessmasten im Wert von ca. EUR 200.000 und erwarb zwei Jahre später Erbbaurechte an allen betroffenen Grundstücken. Im Jahr 2016 veröffentlichte die Gemeinde Planungsbedingungen für den Windpark, woraufhin EWP einen Antrag auf Erteilung einer Baugenehmigung stellte. Das estnische Verteidigungsministerium verweigerte jedoch seine Zustimmung zum Vorhaben. Daraufhin versagte auch die Gemeindeverwaltung die beantragten Baugenehmigungen. Gegen beide Entscheidungen erhob EWP Klagen, die bei den nationalen Gerichten noch anhängig sind.

Trotzdem beantragte EWP im Jahr 2020 bei Elering einen Bescheid darüber, ob das Investitionsvorhaben die estnischen beihilferechtlichen Vorgaben für Erzeuger erneuerbarer Energien erfülle. Elering versagte den Bescheid mit der Begründung, dass EWP bis zum Stichtag (31. Dezember 2016) – unabhängig von den errichteten Windmessmasten und den erworbenen Grundstücken – nicht mit dem Projekt begonnen habe und daher nicht als "bestehender Erzeuger" im Sinne des estnischen Strommarktgesetzes gelte. Dagegen erhob EWP vor dem zuständigen estnischen Verwaltungsgericht Tallinn Klage, welches wiederum den EuGH im Wege der Vorabentscheidung zur Auslegung der europarechtlichen Regelungen aufrief.

Entscheidung des EuGH

Der Bau von Windmessmasten und Stromanschlüssen erfüllt nach Ansicht des EuGH die Voraussetzungen eines Maßnahmebeginns nicht.

Im Rahmen der Zulässigkeit entschied der EuGH zunächst, dass die Umweltschutz- und Energiebeihilfeleitlinien 2014-2020 zwar kein unmittelbar verbindliches Recht darstellen, jedoch über die unionsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes und der Gleichbehandlung mittelbare Außenwirkung entfalten. Der die Energiebeihilfen genehmigende Beschluss der Kommission nahm auf die Umweltschutz- und Energiebeihilfeleitlinien Bezug, sodass deren Regelungen für Estland gemäß Art 288 Abs. 4 AEUV verbindliches Unionsrecht wurden. Folglich wurden die Leitlinien in den Beschluss inkorporiert und entfalten unmittelbare Außenwirkung gegenüber Estland.

Der für die Gewährung einer Beihilfe erforderliche Anreizeffekt gemäß Art. 6 Abs. 1 der Allgemeinen Gruppenfreistellungsverordnung (AGVO) gilt nach Abs. 2 dann als erfüllt, wenn der Beihilfenempfänger vor "Beginn der Arbeiten" einen schriftlichen Antrag auf Förderung gestellt hat. Eine zentrale Vorlagefrage in der Sache betraf daher die Auslegung des Begriffs "Beginn der Arbeiten", wie er in Rn. 19 Abs. 44 der Umweltschutz- und Energiebeihilfeleitlinien 2014-2020 definiert ist. Der EuGH stellte fest, dass der Begriff dahingehend auszulegen ist, dass er (1.) den Beginn der Bauarbeiten für die Anlage eines Investitionsvorhabens, das die Erzeugung erneuerbarer Energie ermöglicht, umfasst und (2.) auch eine andere Verpflichtung erfasst, die nach ihrer Art und ihren Kosten das betreffende Investitionsvorhaben in ein solches Entwicklungsstadium geführt hat, dass es mit hoher Wahrscheinlichkeit fertig gestellt werden kann.

Zweitens ist der Begriff so zu verstehen, dass die zuständige nationale Behörde bei der Feststellung des Beginns der Arbeiten verpflichtet ist, eine Analyse des Entwicklungsstadiums des betreffenden Investitionsvorhabens und der Wahrscheinlichkeit seiner Fertigstellung im Einzelfall vorzunehmen, die sich nicht auf eine rein tatsächliche oder formale Beurteilung beschränken darf und je nach Fall eine eingehende wirtschaftliche Analyse erfordern kann.

Drittens stellte der Gerichtshof fest, dass der Begriff "Beginn der Arbeiten" es notwendigerweise erfordert, dass der Vorhabenträger des Projekts über einen Rechtsanspruch auf die Nutzung des Grundstücks, auf dem das betreffende Investitionsvorhaben verwirklicht werden soll, verfügt. Außerdem muss er eine staatliche Genehmigung für die Durchführung dieses Vorhabens besitzen.

Praxishinweise

Die Entscheidung gibt hilfreiche Hinweise, wie der Begriff "Beginn der Arbeiten" im Sinne der Umweltschutz- und Energiebeihilfeleitlinien auszulegen ist. Diese Grundsätze dürften auch auf die aktuell geltenden Leitlinien für staatliche Klima-, Umweltschutz- und Energiebeihilfen 2022 übertragbar sein, da sich die Begriffsbestimmung in Rn. 19 Abs. 82 im Vergleich zu den Leitlinien 2014-2020 inhaltlich nicht geändert hat. Übergreifende Bedeutung haben darüber hinaus die Ausführungen des EuGH zur Rechtswirkung von Leitlinien der Kommission: Diese haben in der Auslegung von Art. 107 AEUV grundsätzlich zwar nur eine ermessenslenkende Innenwirkung, es kann jedoch im Einzelfall eine mittelbare Außenwirkung für den Beihilfeempfänger durch den Gleichbehandlungs- sowie Vertrauensgrundsatz entstehen.

Christopher Theis
Sascha Opheys

Ordnungsgemäße Preisaufklärung auch ohne Beteiligung des Bieters möglich

Do, 04.04.2024 - 14:00

Der Vergabesenat des Oberlandesgerichts Düsseldorf hat sich in einer kürzlich veröffentlichten Entscheidung (Beschluss vom 26. Oktober 2022,Verg 18/22) mit den vergaberechtlichen Anforderungen an eine ordnungsgemäße Aufklärung im Falle eines ungewöhnlich niedrig erscheinenden Angebots befasst. Trotz des eindeutigen Wortlauts des § 60 Abs. 1 Satz 1 VgV, wonach der Auftraggeber im Falle eines ungewöhnlich niedrigen Angebotes Aufklärung "verlangt", besteht nach Ansicht des OLG Düsseldorf keine Pflicht zur Einbeziehung des Bieters, wenn der öffentliche Auftraggeber aufgrund anderweitig gesicherter Erkenntnisse zu dem Ergebnis gekommen ist, dass es sich nicht um ein ungewöhnlich niedriges Angebot handelt. Die anderweitig gesicherten Erkenntnisse konnte der öffentliche Auftraggeber im gegenständlichen Vergabeverfahren aus der zu eigen gemachten Auswertung der Angebote und Bewertung der Preise durch ein externes sachverständiges Unternehmen ziehen.

Der Sachverhalt

Der Auftraggeber schrieb IT-Dienstleistungen zum Betrieb und Hosting eines Messengers mit Videokonferenztool aus. Gemäß der Wertungsmatrix waren als Zuschlagskriterien mit 40 Prozent der Preis und mit 60 Prozent die Qualität des Gesamtkonzepts vorgesehen. Für das Zuschlagskriterium Preis wurde darüber hinaus festgelegt, dass die Ermittlung der Wertungspunkte mittels linearer Interpolation unter Heranziehung des Wertungspreises nach Preisblatt erfolgen sollte. Hierbei sollte das günstigste Angebot 40 Punkte erhalten und jedes Angebot, das größer als das 1,5-fache des günstigsten Angebotes ist, 0 Punkte.

In dem Bewertungsmodell zum Wertungspreis hieß es:

"1. Messenger: Zur Ermittlung des Wertungspreises wird von 700.000 Nutzern ausgegangen. Es wird der durch den Anbieter genannte Monatspreis je 100 Nutzer herangezogen und ein Grundpreis Messenger ermittelt. Auf diesen wird der Mittelwert der Nachlassstaffel Messenger angewendet.

2. Videokonferenz-Plugin: Zur Ermittlung des Wertungspreises wird eine Nutzung von 700.000 Nutzern zu 2 vollen Stunden bei 20 Tagen im Monat betrachtet. Es wird der durch den Anbieter genannte Monatspreis je 100 Nutzer pro Stunde herangezogen und ein fiktiver Monatspreis für das Videokonferenz-Plugin ermittelt. Auf diesen wird der Mittelwert der Nachlassstaffel Videokonferenz angewendet."

Zu den tatsächlichen und erwarteten Nutzungszahlen erläuterte die Leistungsbeschreibung, dass aktuell ca. 700.000 Nutzer an ca. 1.800 Schulen den Messenger und zusätzlich ca. 600 Schulen das Videokonferenz-Plugin nutzen würden. Da sich das Videokonferenz-Plugin in der Einführung befände, existiere ein belastbares Mengengerüst derzeit noch nicht. Eine Annäherung der Nutzerzahlen an die des Messengers werde erwartet. Die maximale Nutzerzahl läge bei ca. 2.650.000.

Die Abrechnung im Laufe der Vertragsdurchführung sollte im Falle des Messengers anhand der registrierten Nutzer, im Falle des Videokonferenz-Plugins anhand der tatsächlichen Nutzer erfolgen.

Mit Schreiben vom 29. Juli 2021 teilte der Auftraggeber der Antragstellerin mit, dass ihr Angebot nicht berücksichtigt werden sollte, da dieses sowohl in dem Wertungskriterium des Preises als auch dem der Qualität unterlegen sei.

Die Antragstellerin erhob hiergegen Rüge – welcher der Auftraggeber nicht abhalf – und stellte parallel einen Antrag auf Nachprüfung.

Unter anderem rügte die Antragstellerin, dass das Angebot der Beigeladenen wegen eines ungewöhnlich niedrigen Preises von der Vergabestelle auf seine Auskömmlichkeit überprüft und sodann von dem Vergabeverfahren nach § 60 VgV ausgeschlossen hätte werden müssen. Zur Begründung führte die Antragstellerein an, dass es sich bei dem Angebot des Zuschlagsprätendenten entweder um ein Unterkostenangebot handeln müsse, die Vergabeunterlagen intransparent seien oder das Angebot die in den Vergabeunterlagen gesetzten Mindestanforderungen nicht erfülle. Anders sei die mehr als 50-prozentige Unterschreitung ihres eigenen bereits sehr wettbewerblich kalkulierten Angebotes nicht zu erklären.

Die Vergabekammer wies den Nachprüfungsantrag der Antragstellerin zurück. Hiergegen legte die Antragstellerin sofortige Beschwerde ein.

Die Entscheidung

Der Senat stellte fest, dass die sofortige Beschwerde zulässig, aber nicht begründet sei.

Das Angebot der Beigeladenen sei nicht als unauskömmlich auszuschließen gewesen. Denn die Preisprüfung sei ordnungsgemäß erfolgt und die Auftraggeberin in nicht zu beanstandender Weise zu dem Ergebnis gelangt, dass der geringe Angebotspreis der Beigeladenen zufriedenstellend aufgeklärt sei.

Zwar sei bei einer Preisaufklärung im Grundsatz eine eindeutig formulierte Anforderung an den Bieter zu richten, mit der Erläuterungen zu den angebotenen Preisen verlangt werde. Diese Vorgabe gelte jedoch nicht absolut. Sofern anderweitige gesicherte Erkenntnisse, die die Feststellung rechtfertigten, das Angebot eines Bieters sei nicht ungewöhnlich oder unangemessen niedrig, dürfe auf eine Aufklärung durch den betroffenen Bieter verzichtet werden. In diesen Fällen eine Aufklärung unter Einbeziehung des Bieters rein aus formalen Gründen zu fordern, überzeuge nicht und widerspräche dem Beschleunigungsgebot, dem Vergabeverfahren im Allgemeinen unterliegen. Zudem sei dies auch kein ressourcenschonender Umgang mit den zur Verfügung stehenden personellen und finanziellen Mitteln.

Vorliegend sei Teil der eingeholten fachtechnischen Bewertung ein Vergleich der einzelnen Angebotspositionen der Antragstellerin und der Beigeladenen gewesen. Hieraus sei der Angebotspreis der Beigeladenen als auskömmlich hervorgegangen.

Zugleich hielt der Senat auch nochmal fest, dass die Pflicht des öffentlichen Auftraggebers, in eine Preisprüfung einzutreten, sich nicht nur aus dem Preis- und Kostenabstand zu den Konkurrenzangeboten ergeben könne, sondern auch aus Erfahrungswerten, insbesondere aus Erkenntnissen aus vorangegangenen vergleichbaren Ausschreibungen oder aus einem Vergleich mit der eigenen Auftragswertschätzung des
Auftraggebers.

Praxistipp

Im hiesigen Fall setzt sich das OLG Düsseldorf mit den Anforderungen des § 60 Abs. 1 S. 1 VgV auseinander, welchen sich jeder öffentliche Auftraggeber regelmäßig zu stellen hat. Die Entscheidung des Senats spricht klare Worte, wenn sie auch den besonderen Fall der Einbeziehung sachverständiger Unterstützung bei der Angebotsauswertung betrifft. Sie unterstreicht jedoch zugleich, dass die Vorgabe des § 60 Abs. 1 S. 1 VgV keinen Selbstzweck erfüllt.

Wichtig ist, dass, wenn fachtechnische Bewertungen durch sachverständige Externe erfolgen, diese auch ausdrücklich einen Preisvergleich umfassen. Neben der Forderung einer Vornahme eines solchen Preisvergleiches, ist nachgelagert erforderlich, dass die Vergabestelle die fachtechnische Bewertung prüft und sich vor allem zu eigen macht. Vor dem Hintergrund, dass es für eine positive Preisaufklärung darauf ankommt, dass die Auskömmlichkeit der angebotenen Preise im Ergebnis der Preisaufklärung zur Überzeugung des Auftraggebers feststeht, ist der Entscheidung auch aus Sicht der Vergabepraxis zuzustimmen. Denn was sollten die Ausführungen des betreffenden Bieters zu den von ihm angebotenen Preisen noch zusätzlich bewirken, wenn der Auftraggeber bereits aus eigener bzw. der zu eigen gemachten Erkenntnis seines Fachberaters von der Auskömmlichkeit des Preisangebots überzeugt ist?

Die vom OLG Düsseldorf nunmehr akzeptierte Vorgehensweise dürfte allerdings nur für den Fall gelten, dass die Preisprüfung zu einem für den betreffenden Bieter positiven Ergebnis, also der Feststellung der Auskömmlichkeit, führt. Endet die Aufklärung durch Nutzung von Feststellungen und Informationen Dritter hingegen damit, dass Zweifel an der Auskömmlichkeit verbleiben, so wird der Auftraggeber in jedem Falle auch noch die Anhörung des Bieters selbst durchführen müssen, bevor er einen Ausschluss aufgrund Unauskömmlichkeit vornimmt. Dies gebietet zum einen bereits das vergaberechtliche Anhörungsgebot im Vorfeld negativer Entscheidungen, wie sie die Rechtsprechung z.B. auch im Vorfeld von Ausschlüssen nach den §§ 123 und 124 GWB verlangt. Zum anderen wird der Auftraggeber bei der Preisaufklärung die zunächst naheliegendste Möglichkeit, bestehende Zweifel an den ungewöhnlich niedrigen Preisen auszuräumen, nämlich die Anhörung des Bieters als deren "Urheber", nicht außer Acht lassen, wenn es darum geht, das Ergebnis belastbar abzurunden.

Julia Beckmann

Zur besseren Lesbarkeit wird in dem vorliegenden Beitrag auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulin verwendet, wobei alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.

Umsatzsteuerpflicht für Aufsichtsräte? Die Finanzverwaltung gibt nicht auf…

Mi, 03.04.2024 - 14:00
Immer wieder versucht die Finanzverwaltung die Einkünfte von Aufsichtsräten der Umsatzsteuer zu unterwerfen. Wenn es nach einem neueren Urteil des 9. Senats des Finanzgerichts Köln vom 15. November 2023 (Az. 9 K 1068/22) geht, aber ohne Erfolg.

Die Umsatzsteuer auf Aufsichtsratsvergütungen ist immer wieder Thema der deutschen Finanzgerichte und des Europäischen Gerichtshofs.

Die Entscheidung des Finanzgerichts Köln stellt klar, dass die Finanzgerichtsbarkeit hinsichtlich der Einordnung der Aufsichtsratstätigkeiten als umsatzsteuerpflichtige Umsätze eine andere Grenzziehung vornimmt wie die Finanzverwaltung. Dies gilt insbesondere für die Frage, ob variable Vergütungen wie z. B. Sitzungsgelder eine Selbständigkeit des Aufsichtsratsmitglieds begründen können. Denn die Finanzverwaltung nimmt bisher noch immer an, dass variable Vergütungen ab einem Anteil von 10% der Gesamtvergütung ein wirtschaftliches Risiko des tätigen Aufsichtsrats begründen und er deshalb als selbständig i. S. d. § 2 Abs. 1 UStG zu qualifizieren ist (Abschnitt 2.2 Abs. 3a UStAE). Der 9. Senat des Finanzgerichts Köln qualifiziert diese Sitzungsgelder aber als Teil der Festvergütung, so dass eine Selbständigkeit nach den Maßgaben der Finanzverwaltungsauffassung nicht vorliegt. Eine unternehmerische Tätigkeit des Aufsichtsratsmitglieds liegt daher in diesen Fällen nicht vor. Zweifelhaft ist dagegen die Argumentation des 9. Senats des Finanzgerichts Köln ein Handeln in fremdem Namen schließt eine Unternehmerstellung per se aus. Der EuGH hat eine Organstellung allein bisher nicht für die Ablehnung einer unternehmerischen Tätigkeit ausreichen lassen ((EuGH, Urteil vom 12.Juli 2001, Az. C-102/00 - Welthgrove BV, UR 2001, 533; Urteil vom 27. September 2001, Az. C-16/00 - Cibo, UR 2001, 500).

Diese Rechtsprechung des Finanzgerichts Köln, d. h. die Abgrenzung zwischen Festvergütung und variabler Vergütung, ist aber m. E. vor dem Hintergrund des Urteils des EuGH vom 21. Dezember 2023 in der Rechtssache „TP“ (Az. C-288/22, UR 2024, 55) obsolet. Denn der EuGH hat entschieden, dass eine variable Vergütung an ein Mitglied eines Kontrollorgans einer Gesellschaft niemals zu einem wirtschaftlichen Risiko dieses Mitglieds i. S. e. unternehmerischen Betätigung führen kann. Vielmehr setzt ein derartiges wirtschaftliches Risiko auch eine Beteiligung am Verlust der Gesellschaft voraus.

Interessant ist das Urteil des 9. Senat des Finanzgerichts Köln aber auch vor dem Hintergrund, dass dort die Auffassung vertreten wird, eine Berichtigung der geschuldeten Steuer kann infolge telelogischer Reduktion des § 14c Abs. 2 UStG auch dann ohne vorherige Rechnungskorrektur nach § 17 Abs. 1 UStG und Rückerstattung der vereinnahmten Umsatzsteuer an den Leistungsempfänger erfolgen, wenn der Leistungsempfänger nicht zum Vorsteuerabzug aus den gestellten Rechnungen berechtigt war. In diesem Fall fehlt es – genau wie bei Leistungen an Endverbraucher – an einer Gefährdung des Steueraufkommens. Dies bedeutet, dass der Kläger die Umsatzsteuern in den jeweiligen Veranlagungsjahren – also rückwirkend (ex tunc) – mit entsprechenden Zinsauswirkungen zurückfordern kann. Diese Rechtsfolge soll nach Überzeugung des Senats aber nur dann eintreten können, wenn die in der Vergangenheit gestellten Rechnungen mit Umsatzsteuerausweis auf einer gefestigten Rechtsprechung und Finanzverwaltungsauffassung beruhen, d. h. eine Rechtsprechungsänderung erfolgt ist. Nur dann soll es unzumutbar sein, den betroffenen Steuerpflichtigen am strengen Berichtigungsverfahren festzuhalten. Der XI. Senat des Bundesfinanzhofs wird entscheiden müssen, ob er sich dieser Argumentation anschließt.

In dieser Verfahrensweise des 9. Senats des Finanzgerichts Köln die Öffnung eines Tores zu unkontrollierbaren, rückwirkenden Umsatzsteuerrückforderungen zu erblicken, scheint vor dem Hintergrund der Argumentation in Bezug auf den konkreten Einzelfall übertrieben.

Marcus Mische

Der bekiffte Blog

Mi, 03.04.2024 - 14:00

Ich bin kein Kiffer. Ich bin Rechtsanwalt, Fachanwalt für Arbeitsrecht, Fußballfan, Familienvater, Blogger, Biertrinker, Organspender, Brillenträger, gelegentlicher Falschparker, aber kein Kiffer. Bei mir persönlich wird sich auch mit der Legalisierung von Cannabis nichts ändern. Die Legalisierung von Cannabis hat immerhin zu diesem Blog geführt, denn im Arbeitsverhältnis kann die Legalisierung von Cannabis zu Änderungen und Änderungsbedarf führen.

Liebe Leserin, lieber Leser,

am 22. März 2024 hat das vom Bundestag am 23. Februar 2024 verabschiedete Cannabisgesetz (CanG) den Bundesrat passiert. Das CanG trat damit zum 1. April 2024 in Kraft. Seit dem 1. April 2024 dürfen Erwachsene in bestimmten Mengen Cannabis besitzen. Das Gesetz zur Legalisierung von Cannabis selbst enthält keine Regelung, dass Cannabis am Arbeitsplatz verboten ist. Arbeitgebern ist zu raten, eindeutige Vorschriften festzulegen, damit das Verbot bzw. der Umfang eines etwaig zulässigen Konsums für alle Mitarbeiter klar geregelt ist.

Änderungen durch das CanG

Bisher war der Anbau und der Konsum von Cannabis und sein Wirkstoff Tetrahydrocannabinol (THC) verboten. Mit dem Cannabisgesetz (CanG) wird der kontrollierte Anbau und Konsum von Cannabis legalisiert.

Das CanG legalisiert zunächst den privaten Cannabiskonsum und -anbau, später den gemeinschaftlichen Cannabisanbau und nicht-gewerblichen Handel. Die Neu-Regelungen des CanG treten in zwei Stufen in Kraft. Seit dem 1. April 2024 ist der private Cannabiskonsum und -handel wie folgt erlaubt:

  • Erwachsene ab 18 Jahren dürfen bis zu 50 Gramm getrocknetes Cannabis besitzen und in der Wohnung aufbewahren.
  • Sie dürfen bis zu 25 Gramm getrocknetes Cannabis in der Öffentlichkeit mit sich tragen.
  • Sie dürfen bis zu drei Cannabispflanzen privat anbauen.

Ab dem 1. Juli 2024 wird der gemeinschaftliche Cannabisanbau und -handel wie folgt erlaubt sein:

  • Wer mindestens 18 Jahre alt ist und seit mindestens sechs Monaten in Deutschland lebt, darf sich mit anderen Personen in sogenannten Anbauvereinigungen zusammentun, um Cannabispflanzen zu ziehen und Cannabis zu erwerben.
  • Diese Einrichtungen dürfen nicht gewerblich und gewinnorientiert sein.
  • Jede Anbauvereinigung darf maximal 500 Mitglieder haben.
  • Jede Person darf nur in einer Vereinigung Mitglied sein.
  • Vereinigungen dürfen an jedes Mitglied maximal 25 Gramm am Tag und 50 Gramm pro Monat ausgeben. Für Mitglieder unter 21 Jahren liegt die maximale monatliche Agabemenge bei 30 Gramm.
Ist „Kiffen“ am Arbeitsplatz erlaubt?

Das CanG selbst enthält keine Regelung, dass Cannabis am Arbeitsplatz verboten ist. Der Konsum von Cannabis ist grundsätzlich legalisiert. Arbeitnehmer dürfen theoretisch – soweit die Arbeitsleistung nicht beeinträchtigt wird und Kollegen oder Kunden nicht gestört werden – auch am Arbeitsplatz oder zumindest in der Pause kiffen.

Dringende Empfehlung einer Regelung durch den Arbeitgeber

Arbeitgebern ist dringend zu raten, den Umgang mit Cannabis am Arbeitsplatz, auf dem Betriebsgelände und außerhalb des Betriebsgeländes, z.B. im Außendienst oder bei der Nutzung von Dienstfahrzeugen eindeutig zu regeln. In den meisten Betrieben gibt es bisher keine Regelungen zum Cannabis-Konsum.

Der Arbeitnehmer schuldet die vollständige und einschränkungslose Arbeitsleistung. Die Arbeitsleistung darf nicht durch Cannabis-Konsum beeinträchtigt werden. Drogenkonsum muss damit auch in der Freizeit so erfolgen, dass die Arbeitsfähigkeit ab Beginn der Arbeitszeit nicht beeinträchtigt ist. Etwas anderes gilt jedoch, wenn außerhalb der Arbeitszeit und außerhalb des Betriebsgeländes ein Bezug zwischen Cannabis-Konsum und Arbeitgeber hergestellt werden kann, z.B. durch Bilder/Videos auf einer Business-Plattform oder in Arbeitskleidung.

Der Arbeitgeber ist kraft arbeitgeberseitigem Weisungsrecht berechtigt, Inhalt, Ort und Zeit der Arbeitsleistung nach „billigem Ermessen“ zu regeln. Nach dem Weisungsrecht ist der Arbeitgeber – wie auch beim Alkohol – berechtigt, den Konsum von Cannabis und sonstiger Rauschmittel zu verbieten. Der Arbeitgeber ist kraft seiner Fürsorgepflicht insbesondere bei gefahrgeneigten Tätigkeiten zum Schutz von Leib, Leben und Eigentum der Arbeitnehmer, Kunden etc. verpflichtet, den Cannabis-Konsum zu verbieten.

Das war der bekiffte Blog. Herzliche (arbeitsrechtliche) Grüße aus München
Ihr Dr. Erik Schmid

Dieser Blog ist bereits im arbeitsrechtlichen Blog von Erik Schmid im Rehm-Verlag (www.rehm-verlag.de) erschienen. Zur besseren Lesbarkeit wird in dem vorliegenden Beitrag auf die gleichzeitige Verwendung männlicher und weiblicher Sprachformen verzichtet. Es wird das generische Maskulin verwendet, wobei alle Geschlechter gleichermaßen gemeint sind.