EuGH, 21.02.1991 - 143/88
- Leitsätze
- Entscheidungsgründe
- Zur Aussetzung der Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts
- Zur Verletzung des Verfahrens nach Artikel 201 EWG-Vertrag
- Zur Vereinbarkeit der Verordnung Nr. 1914/87 mit der Grundverordnung
- Zum Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot
- Zum Verbot der Belastung eines Wirtschaftszweigs mit Risiken, die innerhalb einer Marktorganisation Fremdrisiken darstellen, sowie mit unzumutbaren finanziellen Belastungen
- Zur Diskriminierung
- Zur Verletzung des Eigentums und der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit
- Kostenentscheidung
- Tenor
Leitsätze
1. Artikel 189 EWG-Vertrag schließt es nicht aus, daß die nationalen Gerichte die Vollziehung eines nationalen Verwaltungsakts, der aufgrund einer Gemeinschaftsverordnung erlassen wurde, aussetzen.
Artikel 185 EWG-Vertrag gibt nämlich dem Kläger im Rahmen einer Nichtigkeitsklage das Recht, eine Aussetzung der Durchführung der angefochtenen Handlung zu beantragen, und dem Gerichtshof die Befugnis, sie zu gewähren. Die Kohärenz des Systems des vorläufigen Rechtsschutzes verlangt somit, daß das nationale Gericht die Vollziehung eines nationalen Verwaltungsakts aussetzen kann, wenn dieser auf einer Gemeinschaftsverordnung beruht, deren Rechtmässigkeit bestritten wird und deren Ungültigkeit nur der Gerichtshof feststellen kann.
Im übrigen hat der Gerichtshof, um die praktische Wirksamkeit des Artikels 177 sicherzustellen, den nationalen Gerichten, die ihm Auslegungsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt haben, um über die Vereinbarkeit eines nationalen Gesetzes mit dem Gemeinschaftsrecht entscheiden zu können, bereits die Möglichkeit zuerkannt, die Anwendung dieses Gesetzes auszusetzen. Der vorläufige Rechtsschutz, den das Gemeinschaftsrecht den Bürgern vor den nationalen Gerichten sichert, muß unabhängig davon derselbe sein, ob sie die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht oder die Gültigkeit abgeleiteten Gemeinschaftsrechts rügen, da diese Rüge in beiden Fällen auf das Gemeinschaftsrecht selbst gestützt ist.
Ein nationales Gericht darf die Vollziehung unter solchen Umständen nur aussetzen, wenn es erheblichen Zweifel an der Gültigkeit der Gemeinschaftsverordnung hat und die Frage dieser Gültigkeit, sofern der Gerichtshof mit ihr noch nicht befasst ist, diesem selbst vorlegt, wenn die Entscheidung dringlich ist und dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden droht, und wenn das Gericht das Interesse der Gemeinschaft angemessen berücksichtigt. Diese Berücksichtigung verlangt, daß das nationale Gericht prüft, ob der fraglichen Gemeinschaftsverordnung nicht jede praktische Wirksamkeit genommen wird, wenn sie nicht sofort angewandt wird. Wenn die Aussetzung der Vollziehung ein finanzielles Risiko für die Gemeinschaft darstellt, muß das nationale Gericht im übrigen die Möglichkeit haben, vom Antragsteller hinreichende Sicherheiten zu verlangen.
2. Die mit der Verordnung Nr. 1914/87 eingeführte besondere Tilgungsabgabe für Zucker fällt unter die "Abgaben, die im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker vorgesehen sind" im Sinne des Beschlusses 85/257 des Rates über das System der eigenen Mittel der Gemeinschaften, da sie die bei Erlaß dieses Beschlusses bestehenden Abgaben ergänzt. Selbst wenn sie eine Finanzierungsabgabe im Sinne des Beschlusses 85/257 gewesen wäre, hätte das Verfahren des Artikels 201 EWG-Vertrag für ihren Erlaß nicht angewandt werden müssen. Als haushaltsrechtliche Maßnahme sollte dieser Beschluß nämlich die in den Haushalt der Gemeinschaft einzusetzenden eigenen Mittel bestimmen und nicht die für die Festsetzung von Zöllen, Steuern, Abschöpfungen, anderen Abgaben und sonstigen Formen von Einnahmen zuständigen Gemeinschaftsorgane.
3. Der Grundsatz der Rechtssicherheit verbietet es zwar im allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen; dies kann aber ausnahmsweise dann anders sein, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist.
So verhielt es sich, als die Verordnung Nr. 1914/87 vom 2. Juli 1987 im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker eine besondere Tilgungsabgabe für das am 30. Juni 1987 abgelaufene Wirtschaftsjahr einführte.
Der Grundsatz der vollständigen Finanzierung der gemeinsamen Marktorganisation durch die Erzeuger konnte nämlich nur beachtet werden, wenn diese alle Lasten des laufenden Wirtschaftsjahres einschließlich derer zu tragen hatten, die auf aussergewöhnlichen Vorgängen beruhten, deren Einfluß erst nach Ablauf des Wirtschaftsjahres genau festgestellt werden konnte. Im übrigen waren die Erzeuger davon unterrichtet, daß sie für dieses Wirtschaftsjahr eine zusätzliche Finanzierung würden erbringen müssen.
4. Die gemeinsame Marktorganisation für Zucker beruht auf dem Grundsatz der vollständigen Eigenfinanzierung durch die Erzeuger. Die besondere Tilgungsabgabe für das Wirtschaftsjahr 1986/87 wurde in Anwendung dieses Grundsatzes und zu dem Zweck eingeführt, einer aussergewöhnlichen Kostensteigerung zu begegnen, die ihren Ursprung in Schwankungen des Weltmarkts hatte, auf dem die Erzeuger der Gemeinschaft einen Teil ihrer Erzeugung absetzen müssen und denen erhöhte Aufwendungen für die Ausfuhrerstattungen entsprachen. Als Kehrseite der Vorteile, die die gemeinsame Marktorganisation mit sich bringt, hat diese Abgabe keine unverhältnismässigen finanziellen Lasten für die Erzeuger zur Folge, da diese den grösseren Teil dieser Abgabe auf die Verkäufer von Zuckerrüben oder Zuckerrohr abwälzen konnten. Ihrem Wesen nach kann sie nicht als Verstoß gegen das Eigentumsrecht angesehen werden. Ihr wesentliches Ziel und ihre Merkmale verbieten es, sie als unverhältnismässigen und nicht tragbaren Eingriff anzusehen, der die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit der Erzeuger in ihrem Wesensgehalt antastet.
5. Die besondere Tilgungsabgabe für das Wirtschaftsjahr 1986/87, die im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker eingeführt wurde, hatte zum Ziel, aussergewöhnliche Verluste zu tilgen, die durch die Gewährung erhöhter Ausfuhrerstattungen für den Absatz der Gemeinschaftsüberschüsse auf den Drittlandsmärkten hervorgerufen wurden. Daß diese Abgabe den über die A-Quote hinaus erzeugten Zucker verhältnismässig stärker belastete, kann nicht als durch Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag verbotene Diskriminierung angesehen werden. Aller Zucker nämlich, der über die A-Quote hinaus produziert wird, erzeugt Überschüsse. Diese Überschüsse können regelmässig nur durch Ausfuhr in Drittländer abgesetzt werden. Sie führen daher zu Erstattungen, die den Haushalt der Gemeinschaft belasten.
Entscheidungsgründe
1 Das Finanzgericht Hamburg hat dem Gerichtshof mit Beschluß vom 31. März 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 20. Mai 1988, gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag zwei Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt, von denen die eine die Befugnis nationaler Gerichte, im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts auszusetzen, und die andere die Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 1914/87 des Rates vom 2. Juli 1987 zur Einführung einer besonderen Tilgungsabgabe für Zucker im Wirtschaftsjahr 1986/87 (ABl. L 183, S. 5) betrifft.
2 Diese Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Zuckerfabrik Süderdithmarschen AG (Antragstellerin) und dem Hauptzollamt Itzehö. Mit Bescheid vom 19. Oktober 1987 setzte das Hauptzollamt Itzehö für die Antragstellerin eine besondere Tilgungsabgabe in Höhe von 1 982 942,66 DM für das Zuckerwirtschaftsjahr 1986/87 fest.
3 Diese Abgabe, die mit der auf Artikel 43 EWG-Vertrag gestützten Verordnung Nr. 1914/87 eingeführt worden war, dient der vollständigen Tilgung der Verluste, die die Gemeinschaft im Zuckersektor in dem vom 1. Juli 1986 bis zum 30. Juni 1987 laufenden Wirtschaftsjahr erlitten hatte. Diese Verluste beruhten auf besonders hohen Ausfuhrerstattungen, die die Gemeinschaft während dieses Wirtschaftsjahres zu erbringen hatte, um den Absatz der gemeinschaftlichen Überschussproduktion an Zucker in Drittländern zu sichern.
4 Gegen den Bescheid des Hauptzollamts Itzehö legte die Antragstellerin Einspruch ein, der zurückgewiesen wurde. Daraufhin beantragte sie beim Finanzgericht Hamburg, die Vollziehung des Abgabenbescheids auszusetzen. Weiter erhob sie vor demselben Gericht Anfechtungsklage gegen diesen Bescheid. Zur Begründung trug sie im wesentlichen vor, die Verordnung Nr. 1914/87, auf die das Hauptzollamt seinen Bescheid gestützt habe, sei ungültig.
5 Das Finanzgericht hat die Vollziehung des Abgabenbescheids des Hauptzollamts Itzehö ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1) a) Ist Artikel 189 Unterabsatz 2 des EWG-Vertrags dahin auszulegen, daß die allgemeine Geltung der Verordnungen in den Mitgliedstaaten die Befugnisse der nationalen Gerichte nicht ausschließt, die Wirksamkeit eines auf einer Verordnung beruhenden Verwaltungsakts im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes einstweilen bis zur Entscheidung in der Hauptsache auszusetzen?
b) Im Falle der Bejahung der Frage zu 1) a): Unter welchen Voraussetzungen können die nationalen Gerichte vorläufigen Rechtsschutz gewähren? Gilt hierfür ein gemeinschaftsrechtlicher Maßstab, gegebenenfalls welcher? Oder richtet sich der vorläufige Rechtsschutz nach nationalem Recht?
2) Ist die Verordnung (EWG) Nr. 1914/87 des Rates vom 2. Juli 1987 über die Einführung einer besonderen Tilgungsabgabe für Zucker im Wirtschaftsjahr 1986/87 gültig? Insbesondere, ist die genannte Verordnung deshalb ungültig, weil sie gegen das Verbot rückwirkender Geltung belastender Verordnungen verstösst?
6 Das Finanzgericht Hamburg hat weiter das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes über die Vorlagefragen ausgesetzt.
7 Das Finanzgericht Düsseldorf hat mit Beschluß vom 19. Oktober 1988, beim Gerichtshof eingegangen am 20. März 1989, dem Gerichtshof gemäß Artikel 177 EWG-Vertrag fünf Fragen zur Gültigkeit der genannten Verordnung Nr. 1914/87 zur Vorabentscheidung vorgelegt.
8 Diese fünf Fragen stellen sich in einem Rechtsstreit zwischen der Zuckerfabrik Söst GmbH (Klägerin) und dem Hauptzollamt Paderborn. Mit Bescheid vom 20. Oktober 1987 setzte das Hauptzollamt Paderborn für die Klägerin eine besondere Tilgungsabgabe in Höhe von 1 675 013,71 DM fest.
9 Hiergegen legte die Klägerin erfolglos Einspruch ein. Anschließend stellte sie Antrag auf Aussetzung der Vollziehung des Bescheids des Hauptzollamts Paderborn beim Finanzgericht Düsseldorf. Dort erhob sie auch Anfechtungsklage. Antrag und Klage begründete sie ebenso wie die Antragstellerin im verbundenen Verfahren damit, die Verordnung über die besondere Tilgungsabgabe, auf die der Bescheid des Hauptzollamts Paderborn gestützt sei, sei ungültig.
10 Mit Beschluß vom 10. Februar 1988 hat das Finanzgericht Düsseldorf dem Antrag der Klägerin auf Aussetzung der Vollziehung des Bescheids des Hauptzollamts Paderborn wegen ernstlicher Zweifel an der Rechtswirksamkeit der Verordnung über die besondere Tilgungsabgabe stattgegeben.
11 Mit Beschluß vom 19. Oktober 1988 hat das Finanzgericht das Hauptsacheverfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1) Ist die Verordnung Nr. 1914/87 zur Einführung einer besonderen Tilgungsabgabe für Zucker im Wirtschaftsjahr 1986/87 (ABl. L 183 vom 3. Juli 1987, S. 5) deshalb unwirksam, weil es sich bei der besonderen Tilgungsabgabe um eine Finanzierungsabgabe handelt, die nur auf der Grundlage des Artikels 201 EWG-Vertrag eingeführt werden durfte?
Hilfsweise:
2) Ist die Einführung der besonderen Tilgungsabgabe durch die Verordnung Nr. 1914/87 des Rates für das Wirtschaftsjahr 1986/87 mit der Begrenzung der Eigenfinanzierung in Artikel 28 der Verordnung Nr. 1785/81 sowie mit dem Grundsatz des ungestörten Rechtsetzungssystems der Gemeinschaft vereinbar?Hilfsweise:
3) Ist die Einführung der besonderen Tilgungsabgabe für Zucker im Wirtschaftsjahr 1986/87 mit dem Verbot der Belastung eines Wirtschaftszweiges mit Risiken, die innerhalb einer Marktorganisation Fremdrisiken darstellen, sowie mit dem Grundsatz des Verbots unzumutbarer finanzieller Belastungen vereinbar?Hilfsweise:
4) Verstösst Artikel 1 der Verordnung Nr. 1914/87 zur Einführung einer besonderen Tilgungsabgabe für Zucker im Wirtschaftsjahr 1986/87 gegen das Diskriminierungsverbot (Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag), indem B-Zucker mit einer erheblich höheren Abgabe belastet wird als A-Zucker?Hilfsweise:
5) Verstösst die Verordnung Nr. 1914/87 zur Einführung einer besonderen Tilgungsabgabe für Zucker im Wirtschaftsjahr 1986/87 in solchen Fällen gegen die im Gemeinschaftsrecht geltenden Grundrechte des Eigentumsschutzes und der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit, wenn diese nicht mehr aus den erwirtschafteten Gewinnen, sondern nur aus Rücklagen finanziert werden können und dadurch eine Existenzbedrohung eintritt?
12 Weitere Einzelheiten des Sachverhalts in den beiden Verfahren, des einschlägigen Gemeinschaftsrechts, des Verfahrensablaufs und der beim Gerichtshof eingereichten schriftlichen Erklärungen finden sich in den Sitzungsberichten, auf die verwiesen wird. Der Akteninhalt ist im folgenden nur insoweit wiedergegeben, als die Begründung des Urteils dies erfordert.
13 Wie die mündliche Verhandlung bestätigt hat, sind beide Rechtssachen hinsichtlich ihres Gegenstands ähnlich und hängen zusammen. Sie sind daher gemäß Artikel 43 Verfahrensordnung für die Zwecke des Urteils zu verbinden.
Zur Aussetzung der Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts
Der Grundsatz
14 Das Finanzgericht Hamburg fragt der Sache nach zunächst, ob Artikel 189 Absatz 2 EWG-Vertrag nationalen Gerichten die Befugnis versagt, die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts auszusetzen.
15 Für eine solche Befugnis spricht nach Ansicht des Finanzgerichts Hamburg, daß die Aussetzung der Vollziehung nur die Möglichkeit der Verwirklichung des nationalen Verwaltungsakts aufschiebe und die Gültigkeit der Gemeinschaftsverordnung nicht in Frage stelle. Dagegen spreche - und das sei der Grund für die Frage -, daß die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes, die weitreichende Auswirkungen haben könne, die volle Wirksamkeit der Verordnungen in allen Mitgliedstaaten gemäß Artikel 189 Absatz 2 in Frage stellen könne.
16 Artikel 189 Absatz 2 EWG-Vertrag kann den Rechtsschutz nicht verkürzen, der den Bürgern nach Gemeinschaftsrecht zusteht. Der gemeinschaftsrechtlich gewährleistete Rechtsschutz umfasst in den Fällen, in denen die verwaltungsmässige Durchführung von Gemeinschaftsverordnungen nationalen Stellen obliegt, das Recht der Bürger, die Rechtmässigkeit dieser Verordnungen vor dem nationalen Gericht inzident zu bestreiten und dieses zur Befassung des Gerichtshofes mit Vorlagefragen zu veranlassen.
17 Dieses Recht wäre gefährdet, wenn der Bürger trotz des Vorliegens bestimmter Voraussetzungen solange nicht in der Lage wäre, eine Aussetzung der Vollziehung zu erreichen und damit für sich der Verordnung einstweilen die Wirksamkeit zu nehmen, als es an einem Urteil des Gerichtshofes fehlt, der allein befugt ist, die Ungültigkeit einer Gemeinschaftsverordnung festzustellen (vgl. Urteil vom 22. Oktober 1987 in der Rechtssache 314/85, Foto-Frost, Slg. 1987, 4199, Randnr. 20).
18 Wie der Gerichtshof in seinem Urteil vom 22. Oktober 1987 (Foto-Frost, a. a. O., Randnr. 16) ausgeführt hat, stellt das Vorabentscheidungsersuchen zur Beurteilung der Gültigkeit, ebenso wie die Nichtigkeitsklage, eine Form der Kontrolle der Rechtmässigkeit der Handlungen der Gemeinschaftsorgane dar. Im Rahmen einer Nichtigkeitsklage gibt nun Artikel 185 EWG-Vertrag dem Kläger das Recht, eine Aussetzung der Durchführung der angefochtenen Handlung zu beantragen, und dem Gerichtshof die Befugnis, sie zu gewähren. Die Kohärenz des Systems des vorläufigen Rechtsschutzes verlangt somit, daß das nationale Gericht die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts aussetzen kann, wenn dessen Rechtmässigkeit bestritten wird.
19 Im übrigen hat der Gerichtshof in seinem Urteil vom 19. Juni 1990 in der Rechtssache C-213/89 (Factortame, Slg. 1990, I-2433, 2466), das im Rahmen eines Verfahrens über die Vereinbarkeit eines nationalen Gesetzes mit dem Gemeinschaftsrecht erging, unter Berufung auf die praktische Wirksamkeit des Artikels 177 ausgeführt, daß das nationale Gericht, das ihm Auslegungsfragen zur Vorabentscheidung vorgelegt habe, um über diese Vereinbarkeit entscheiden zu können, die Möglichkeit haben müsse, vorläufigen Rechtsschutz zu gewähren und die Anwendung des beanstandeten nationalen Gesetzes auszusetzen, bis der Gerichtshof sein Auslegungsurteil gemäß Artikel 177 erlasse.
20 Der vorläufige Rechtsschutz, den das Gemeinschaftsrecht den Bürgern vor den nationalen Gerichten sichert, muß unabhängig davon derselbe sein, ob sie die Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Gemeinschaftsrecht oder die Gültigkeit abgeleiteten Gemeinschaftsrechts rügen, da diese Rüge in beiden Fällen auf das Gemeinschaftsrecht selbst gestützt ist.
21 Auf den ersten Teil der ersten Frage ist somit zu antworten, daß Artikel 189 EWG-Vertrag den nationalen Gerichten nicht die Befugnis versagt, die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts auszusetzen.
Die Voraussetzungen der Aussetzung
22 Das Finanzgericht Hamburg fragt weiter, unter welchen Voraussetzungen die nationalen Gerichte die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts aufgrund ihrer Zweifel an der Gültigkeit dieser Verordnung aussetzen können.
23 Die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts kann nur ausgesetzt werden, wenn die vom Antragsteller angeführten sachlichen und rechtlichen Gegebenheiten das nationale Gericht davon überzeugen, daß an der Gültigkeit der Gemeinschaftsverordnung, auf der der angefochtene Verwaltungsakt beruht, erhebliche Zweifel bestehen. Die Aussetzung rechtfertigt sich nämlich allein aus der Möglichkeit einer Feststellung der Ungültigkeit, die dem Gerichtshof vorbehalten ist.
24 Weiter muß die Aussetzung der Vollziehung vorläufig bleiben. Das nationale Gericht kann im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes die Vollziehung also nur aussetzen, bis der Gerichtshof über die Frage der Gültigkeit entschieden hat. Damit obliegt es ihm, sofern der Gerichtshof mit dieser Frage noch nicht befasst ist, diese selbst vorzulegen und dabei die Gründe anzugeben, aus denen es die Verordnung für ungültig hält.
25 Was die übrigen Voraussetzungen für die Aussetzung der Vollziehung von Verwaltungsakten anbelangt, so ist festzustellen, daß das Verfahrensrecht nationales Recht ist und daß sie in den nationalen Rechtsordnungen unterschiedlich geregelt sind, was die einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts gefährden kann.
26 Nun ist diese einheitliche Anwendung ein Grunderfordernis der gemeinschaftlichen Rechtsordnung. Hieraus folgt, daß jedenfalls für die Aussetzung der Vollziehung von auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden Verwaltungsakten im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes, das hinsichtlich der Antragstellung und der Sachverhaltsfeststellung dem nationalen Verfahrensrecht unterliegt, in allen Mitgliedstaaten einheitliche Regeln gelten müssen.
27 Da die Befugnis der nationalen Gerichte, die Vollziehung eines solchen Verwaltungsakts auszusetzen, der Befugnis des Gerichtshofes nach Artikel 185 im Rahmen von Klagen nach Artikel 173 entspricht, können diese Gerichte die Vollziehung nur unter den Voraussetzungen aussetzen, die für den Erlaß einer einstweiligen Anordnung durch den Gerichtshof gelten.
28 Insoweit ergibt sich aus einer ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofes, daß die Vollziehung eines angefochtenen Aktes nur ausgesetzt werden kann, wenn die Aussetzung dringend ist, wenn sie also vor der Entscheidung in der Hauptsache verfügt und wirksam werden muß, damit der Antragsteller keinen schweren und nicht wiedergutzumachenden Schaden erleidet.
29 Dringlichkeit ist dabei nur anzunehmen, wenn der vom Antragsteller geltend gemachte Schaden eintreten kann, bevor der Gerichtshof über die Gültigkeit der gerügten Gemeinschaftshandlung hat entscheiden können. Zur Art des Schadens hat der Gerichtshof wiederholt entschieden, daß ein reiner Geldschaden grundsätzlich nicht als nicht wiedergutzumachen anzusehen ist. Jedoch ist es Sache des jeweiligen Gerichts, im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes die Umstände des Falles zu untersuchen, mit dem es befasst ist. Dabei hat es zu prüfen, ob die sofortige Vollziehung des Verwaltungsakts, deren Aussetzung beantragt ist, dem Antragsteller irreversible Schäden zufügen könnte, die nicht mehr wiedergutzumachen wären, wenn die Gemeinschaftshandlung für ungültig erklärt werden müsste.
30 Im übrigen hat das nationale Gericht, das im Rahmen seiner Zuständigkeit Gemeinschaftsrecht anzuwenden hat, dessen volle Wirkung sicherzustellen; damit ist es bei Zweifeln an der Gültigkeit von Gemeinschaftsverordnungen verpflichtet, das Interesse der Gemeinschaft daran in Rechnung zu stellen, daß diese Verordnungen nicht vorschnell ausser Anwendung gelassen werden.
31 Dieser Verpflichtung wird das nationale Gericht im Rahmen des vorläufigen Rechtsschutzes nur gerecht, wenn es zu allererst prüft, ob der fraglichen Gemeinschaftsverordnung nicht jede praktische Wirksamkeit genommen wird, wenn sie nicht sofort angewandt wird.
32 Wenn die Aussetzung der Vollziehung ein finanzielles Risiko für die Gemeinschaft darstellt, muß das nationale Gericht im übrigen die Möglichkeit haben, von dem Antragsteller hinreichende Sicherheiten, etwa eine Kaution oder eine Hinterlegung, zu verlangen.
33 Nach alledem ist auf den zweiten Teil der ersten Frage des Finanzgerichts Hamburg zu antworten, daß ein nationales Gericht die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts nur aussetzen darf,
- wenn es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der Gemeinschaftsverordnung hat und die Frage dieser Gültigkeit, sofern der Gerichtshof mit ihr noch nicht befasst ist, diesem selbst vorlegt,
- wenn die Entscheidung dringlich ist und dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden droht
- und wenn das Gericht das Interesse der Gemeinschaft angemessen berücksichtigt.
Zur Gültigkeit
34 Das Finanzgericht Hamburg hat an der Gültigkeit der Verordnung Nr. 1914/87 Zweifel, weil diese dem Rückwirkungsverbot widerspreche und dadurch gegen den Grundsatz der Rechtssicherheit verstosse.
35 Das Finanzgericht Düsseldorf hat seine Zweifel an der Gültigkeit der Verordnung in fünf Fragen zusammengefasst. Diese Zweifel bestehen an der Angemessenheit der Rechtsgrundlage für die Einführung der besonderen Tilgungsabgabe, an der Vereinbarkeit dieser Verordnung mit der Grundverordnung (EWG) Nr. 1785/81 des Rates vom 30. Juni 1981 über die gemeinsame Marktorganisation für Zucker (ABl. L 177, S. 4), an der Beachtung des Verbots der Belastung eines Wirtschaftszweiges mit Fremdrisiken sowie des Verbots unzumutbarer Belastungen und an der Einhaltung der Grundsätze des Eigentumsschutzes und der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit.
36 Die in den beiden Rechtssachen gestellten Fragen betreffen die möglichen Beanstandungen ein und derselben Verordnung unter verschiedenen Blickwinkeln; sie sind daher gemeinsam zu untersuchen.
Zur Verletzung des Verfahrens nach Artikel 201 EWG-Vertrag
37 Nach Auffassung des Finanzgerichts Düsseldorf kann eine Abgabe im Rahmen der gemeinsamen Agrarmarktorganisation nur dann auf der Grundlage des Artikels 43 EWG-Vertrag erlassen werden, wenn sie der Lenkung des Marktes dient. Lenkungsmaßnahmen seien aber nur für die Gegenwart und Zukunft möglich. Demgegenüber diene die besondere Tilgungsabgabe der Tilgung der Verluste eines abgelaufenen Wirtschaftsjahrs. Auch mache die besondere Tilgungsabgabe ausschließlich die Zuckerhersteller zu Abgabenschuldnern, obwohl eine Maßnahme zur Lenkung des Zuckermarktes in erster Linie die Zuckerrübenerzeuger treffen müsse. Damit stelle sich die besondere Tilgungsabgabe als Finanzierungsabgabe dar, die nur auf der Grundlage des Artikels 201 EWG-Vertrag wirksam eingeführt werden könne.
38 In Artikel 2 des Beschlusses des Rates vom 7. Mai 1985 über das System der eigenen Mittel der Gemeinschaften (85/257/EWG; ABl. L 128, S. 15), der im Zeitpunkt des Erlasses der beanstandeten Verordnung in Kraft stand, wird zwischen "Abgaben, die im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker vorgesehen sind" und die bereits eigene Mittel darstellen, und Einnahmen aus sonstigen gemäß den Verträgen im Rahmen einer gemeinsamen Politik eingeführten Abgaben unterschieden, die nur Eigenmittel werden, sofern das Verfahren des Artikels 201 EWG-Vertrag und der entsprechenden Bestimmungen der übrigen Gründungsverträge durchgeführt worden ist.
39 Angesichts der vorhersehbaren Entwicklungen der Zuckererzeugung und des Zuckermarktes der Gemeinschaft ist Artikel 2 Absatz 1 Buchstabe a des Beschlusses vom 7. Mai 1985 nicht dahin zu verstehen, daß er nur auf die bei seinem Erlaß vorgeschriebenen, also auf die in der Verordnung Nr. 1785/81 des Rates (Grundverordnung) festgelegten Abgaben, Anwendung fände. Da die besondere Tilgungsabgabe die bei Erlaß des Beschlusses vom 7. Mai 1985 bestehenden Abgaben ergänzt, fällt sie unter den Begriff der "Abgaben, die im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisation für Zucker vorgesehen sind", im Sinne dieses Beschlusses.
40 Jedenfalls aber ist hervorzuheben, wie es der Gerichtshof bereits in seinem Urteil vom 30. September 1982 in der Rechtssache 108/81 (Amylum/Rat, Slg. 1982, 3107) im Hinblick auf den Ratsbeschluß vom 21. April 1970 über die Ersetzung der Finanzbeiträge der Mitgliedstaaten durch eigene Mittel der Gemeinschaften (ABl. L 94, S. 19) getan hat, daß mit dem Beschluß vom 7. Mai 1985 als einer haushaltsrechtlichen Maßnahme die in den Haushalt der Gemeinschaft einzusetzenden eigenen Mittel bestimmt werden sollten und nicht die für die Festsetzung von Zöllen, Steuern, Abschöpfungen, anderen Abgaben und sonstigen Formen von Einnahmen zuständigen Gemeinschaftsorgane.
41 Demnach brauchte für den Erlaß einer Maßnahme wie der in der Verordnung Nr. 1914/87 vorgesehenen besonderen Tilgungsabgabe das Verfahren des Artikels 201 selbst dann nicht angewandt zu werden, wenn diese eine Finanzierungsabgabe sein sollte.
42 Die Frage, ob Artikel 43 EWG-Vertrag als Rechtsgrundlage für die Erhebung einer Abgabe dienen kann, die bereits abgeschlossene wirtschaftliche Vorgänge belasten soll, läuft auf die Frage hinaus, ob dieser Artikel die rückwirkende Einführung einer Abgabe gestattet. Damit geht diese Rüge in die des Verstosses gegen das Rückwirkungsverbot über, die noch zu prüfen sein wird.
Zur Vereinbarkeit der Verordnung Nr. 1914/87 mit der Grundverordnung
43 Unter Bezugnahme auf das Urteil des Gerichtshofes vom 29. März 1979 in der Rechtssache 113/77 (NTN Toyo Bearing Company/Rat, Slg. 1979, 1185) führt das Finanzgericht Düsseldorf aus, da der Rat in Artikel 28 der Grundverordnung einen Hoechstbetrag für die von den Zuckerherstellern zu tragenden Abgaben vorgesehen habe, könne er nicht mit einer anderen, ebenfalls unmittelbar auf Artikel 43 EWG-Vertrag gestützten Verordnung eine zusätzliche Abgabe einführen.
44 Die Grundverordnung und die beanstandete Verordnung Nr. 1914/87 wurden beide auf der Grundlage des Artikels 43 EWG-Vertrag erlassen. Damit kann die Verordnung Nr. 1914/87 - anders als die Verordnung, die in der mit Urteil vom 16. Juni 1987 entschiedenen Rechtssache 46/86 (Romkes, Slg. 1987, 2671) beanstandet worden war - nicht als Durchführungsverordnung zur Grundverordnung angesehen werden.
45 Der Rat kann eine nach Artikel 43 EWG-Vertrag erlassene Grundverordnung ändern, ergänzen oder aufheben, wenn die entsprechenden Bestimmungen in demselben Verfahren erlassen werden; er braucht diese Bestimmungen nicht in die Grundverordnung einzufügen.
46 Der Sachverhalt im vorliegenden Fall unterscheidet sich von dem, der dem Urteil vom 29. März 1979 (NTN Toyo Bearing Company, a. a. O.) zugrunde lag. Damals hatte der Rat nämlich nach Erlaß einer allgemeinen Verordnung, mit der eines der Ziele des Artikels 113 EWG-Vertrag verwirklicht werden sollte, in einer Durchführungsverordnung für einen Einzelfall Abweichungen von den allgemeinen Regeln vorgesehen.
47 Somit verbot die Grundverordnung dem Rat den Erlaß der Verordnung Nr. 1914/87 nicht, da er das Verfahren des Artikels 43 EWG-Vertrag einhielt.
Zum Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot
48 Nach Auffassung der Finanzgerichte Hamburg und Düsseldorf verstösst die Verordnung Nr. 1914/87 gegen das Rückwirkungsverbot, weil sie am 2. Juli 1987 und damit nach Ablauf des Wirtschaftsjahres 1986/87, das am 30. Juni 1987 endete und dessen Verluste sie tilgen soll, erlassen wurde. Damit knüpfe die Verordnung die Zahlung der Abgabe an einen abgeschlossenen Sachverhalt, nämlich an die Zuckerherstellung im besagten Wirtschaftsjahr. Im übrigen sei das berechtigte Vertrauen der Zuckerhersteller darauf verletzt worden, daß die in der Grundverordnung vorgesehenen Abgaben nicht erhöht würden oder zumindest in vollem Umfang auf die Zuckerrübenerzeuger abgewälzt werden könnten.
49 Der Gerichtshof hat bereits insbesondere in seinen Urteilen vom 25. Januar 1979 in den Rechtssachen 98/78 (Racke, Slg. 1979, 69) und 99/78 (Decker, Slg. 1979, 101) sowie vom 30. September 1982 in der Rechtssache 108/81 (Amylum, a. a. O.) festgestellt, daß der Grundsatz der Rechtssicherheit es zwar im allgemeinen verbietet, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen, daß dies aber ausnahmsweise dann anders sein kann, wenn das angestrebte Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist.
50 Zur ersten dieser Voraussetzungen ist auf einige sachliche und rechtliche Gegebenheiten hinzuweisen. Die Überschüsse, die sich aus dem Verhältnis von Zuckererzeugung und -verbrauch in der Gemeinschaft ergeben, müssen auf Drittlandsmärkten abgesetzt werden. Der Unterschied zwischen dem Weltmarktpreis und dem Preis in der Gemeinschaft wird durch eine Ausfuhrerstattung gedeckt. Nach der Grundverordnung sind die hieraus entstehenden finanziellen Belastungen vollständig von den Erzeugern zu tragen.
51 Um möglichst dicht an der wirtschaftlichen Realität zu bleiben und damit die Märkte zu stabilisieren, was eines der Ziele des Artikels 39 EWG-Vertrag ist, sah Artikel 28 der Grundverordnung vor, daß diese Abgaben grundsätzlich vor Ende des jeweiligen Wirtschaftsjahres und folglich auf der Grundlage des voraussichtlichen durchschnittlichen Verlustes aus den im laufenden Wirtschaftsjahr zu erfuellenden Ausfuhrverpflichtungen zu zahlen sei.
52 Doch ist der Einfluß bestimmter aussergewöhnlicher Vorgänge - im vorliegenden Fall des abrupten Verfalls des Dollars und der Weltzuckerpreise im Lauf des fraglichen Wirtschaftsjahrs - zum Zeitpunkt der Festlegung der Abgaben nicht mit hinreichender Genauigkeit vorherzusehen. In solchen Fällen ist es gerechtfertigt, erst nach Feststellung der vollen Auswirkungen solcher Ereignisse und damit gegebenenfalls nach dem Ablauf des Wirtschaftsjahres, in dem sie eingetreten sind, die von den Erzeugern zu finanzierenden Lasten festzulegen.
53 Hätte der Rat nach der Feststellung der Gesamtverluste des Wirtschaftsjahres 1986/87 keine Maßnahme zur Erhöhung der von den Erzeugern bereits geleisteten Abgaben getroffen, so hätte das verfolgte Ziel, die im Allgemeininteresse liegende Stabilisierung des Zuckermarktes insbesondere durch Ausfuhrerstattungen, nur durch Belastung des Gemeinschaftshaushalts erreicht werden können, obwohl die vollständige Finanzierung durch die Erzeuger ein Grundsatz der gemeinsamen Zuckermarktorganisation ist.
54 Somit durfte der Rat davon ausgehen, daß das im Allgemeininteresse angestrebte Ziel der Stabilisierung des gemeinschaftlichen Zuckermarktes die Anwendung der beanstandeten Verordnung auf das Wirtschaftsjahr 1986/87 verlangte. Die erste Voraussetzung dafür, daß eine Gemeinschaftsverordnung bereits vor ihrer Veröffentlichung Anwendung findet, liegt somit vor.
55 Ob auch die zweite der vorgenannten Voraussetzungen erfuellt ist, richtet sich danach, ob das Vorgehen des Rates, nämlich die Veröffentlichung der Verordnung Nr. 1914/87 am 2. Juli 1987, ein berechtigtes Vertrauen der Betroffenen in die in der Grundverordnung festgesetzten Abgabenhöchstsätze verletzt hat.
56 Die Streitparteien in den Ausgangsverfahren können sich jedoch nicht auf ein schutzwürdiges Vertrauen berufen.
57 Erstens konnten die Zuckererzeuger der elften Begründungserwägung der Grundverordnung entnehmen, daß sie die volle Finanzierung der Kosten, die sich aus dem Absatz des Überschusses ergeben, um den die Gemeinschaftserzeugung den Verbrauch übersteigt, selbst sicherzustellen hätten.
58 Zweitens hatte die Kommission am 9. September 1986 eine Bilanz mit dem Aktenzeichen VI PC 2 - 408 veröffentlicht, aus der sich klar ein wahrscheinliches Defizit für das Wirtschaftsjahr 1986/87 ergab.
59 Drittens wussten die Zuckererzeuger aufgrund der - vor dem Ende des Wirtschaftsjahrs erfolgten - Veröffentlichung des Vorschlags im Amtsblatt vom 3. April 1987 (ABl. C 89, S. 18), daß die Kommission dem Rat einen Verordnungsvorschlag über die Einführung einer besonderen Tilgungsabgabe für Zucker für das Wirtschaftsjahr 1986/87 vorgelegt hatte, der in die beanstandete Verordnung Nr. 1914/87 übernommen wurde.
60 Somit liegt kein Verstoß gegen das Rückwirkungsverbot vor.
Zum Verbot der Belastung eines Wirtschaftszweigs mit Risiken, die innerhalb einer Marktorganisation Fremdrisiken darstellen, sowie mit unzumutbaren finanziellen Belastungen
61 Nach Auffassung des Finanzgerichts Düsseldorf darf nur solchen Marktstörungen durch Maßnahmen im Rahmen der gemeinsamen Marktorganisationen abgeholfen werden, die mit dem Verhalten der Marktbürger zusammenhängen. In anderen Marktordnungsbereichen als der Zuckermarktordnung seien Risiken, die sich aus dem Verfall des Weltmarktpreises sowie des Dollars ergeben hätten, ausschließlich vom EAGFL finanziert worden. Das zeige, daß diese Risiken nach Auffassung des Gesetzgebers nicht zum Einflußbereich der Marktbürger gehörten und daher nicht zu ihren Lasten gehen könnten.
62 Sicherlich ist es richtig, daß solche Risiken zumeist vom EAGFL finanziert werden. Das ist jedoch vom EWG-Vertrag nicht vorgeschrieben; dieser sieht zwar in Artikel 40 Absatz 4 die Schaffung eines solchen Fonds vor, ohne aber vorzuschreiben, daß dieser an jeder Marktordnungsmaßnahme beteiligt sei. Daß für den Zuckersektor als einzigen Sektor der Grundsatz der Eigenfinanzierung gilt, findet, wie der Rat in Beantwortung einer Frage des Gerichtshofes ausgeführt hat, seinen Grund darin, daß in anderen Sektoren der Landwirtschaft die Erzeuger niedrigere Preisgarantien haben, was erklärt, daß sie mit der Finanzierung nicht belastet werden.
63 Weiter haben die gemeinschaftlichen Zuckererzeuger dank der Ausfuhrerstattungen für den Absatz eines Teils ihrer Erzeugung Zugang zum Weltmarkt. Die Risiken der Erzeuger sind im Hinblick auf diesen Weltmarkt zu würdigen. Umstände wie eine Überschusserzeugung von Zucker oder Schwankungen der Wechselkurse zwischen den europäischen Währungen und dem Dollar beeinflussen Angebot und Nachfrage und folglich den Preis dieses Erzeugnisses. Risiken, die mit diesen Umständen zusammenhängen, können daher für den betroffenen Markt nicht als Fremdrisiken angesehen werden.
64 Schließlich hat die besondere Tilgungsabgabe für die Zuckererzeuger jedenfalls keine unverhältnismässigen finanziellen Lasten zur Folge. Zum einen ist sie die Kehrseite der Vorteile, die sie aus den Ausfuhrerstattungen ziehen konnten, indem sie die über den Gemeinschaftsverzehr hinaus erzeugten Mengen absetzen konnten. Zum anderen können die Zuckerhersteller gemäß Artikel 1 Absatz 3 der Verordnung Nr. 1914/87 den grösseren Teil dieser Abgabe auf die Verkäufer von in der Gemeinschaft erzeugten Zuckerrüben oder Zuckerrohr abwälzen.
65 Die Bedenken des nationalen Gerichts greifen somit nicht durch.
Zur Diskriminierung
66 Das Finanzgericht Düsseldorf sieht eine durch Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag verbotene Diskriminierung in dem Umstand, daß die besondere Tilgungsabgabe B-Zucker-Erzeuger erheblich mehr belaste als A-Zucker-Erzeuger, obwohl es sich um das gleiche Produkt handele.
67 In der Grundverordnung werden für jedes Zuckerwirtschaftsjahr und für jedes Erzeugungsgebiet eine Grundmenge A und eine Grundmenge B festgelegt. Die Mitgliedstaaten verteilen ihre Grundmenge A als A-Quoten und ihre Grundmenge B als B-Quoten auf die Unternehmen. Die Summe der in einem Wirtschaftsjahr insgesamt zugewiesenen A-Quoten entspricht in etwa dem menschlichen Zuckerverzehr in der Gemeinschaft während dieses Wirtschaftsjahres. Der im Rahmen der A-Quote erzeugte Zucker (A-Zucker) und der im Rahmen der B-Quote erzeugte Zucker (B-Zucker) können in der Gemeinschaft frei gehandelt werden, wobei Preis und Absatz dank eines Interventionssystems garantiert sind. Sie können auch in dritte Länder ausgeführt werden, gegebenenfalls mit Hilfe einer Ausfuhrerstattung. Zucker, der ausserhalb der A- und B-Quoten eines Unternehmens erzeugt wird (C-Zucker), kann nur in Drittländern abgesetzt werden; eine Ausfuhrerstattung wird nicht gewährt.
68 Aus dieser Regelung ergibt sich, daß jedes Unternehmen, das über seine A-Quote und damit über seinen Anteil an der zum Gemeinschaftsverbrauch bestimmten Zuckererzeugung hinaus produziert, unumgänglich Überschüsse erzeugt, die regelmässig nur durch Ausfuhr in Drittländer abgesetzt werden können.
69 Wie bereits ausgeführt, hat nun die besondere Tilgungsabgabe zum Ziel, aussergewöhnliche Verluste zu tilgen, die durch die Gewährung erhöhter Ausfuhrerstattungen für den Absatz der Gemeinschaftsüberschüsse auf den Drittlandsmärkten hervorgerufen wurden.
70 Damit aber ist es gerechtfertigt, daß auf über die A-Quote hinaus erzeugten Zucker verhältnismässig höhere Abgaben erhoben werden.
71 Somit ist Artikel 40 Absatz 3 Unterabsatz 2 EWG-Vertrag nicht verletzt.
Zur Verletzung des Eigentums und der wirtschaftlichen Betätigungsfreiheit
72 Nach Auffassung des Finanzgerichts Düsseldorf sind das Grundrecht auf Eigentum und die Unternehmerfreiheit rechtswidrig beeinträchtigt, wenn ein Unternehmen Abgaben, die sich im Laufe eines Wirtschaftsjahres angehäuft hätten, nicht mehr aus dem im betreffenden Wirtschaftsjahr erwirtschafteten Gewinn finanzieren könne, sondern nur noch aus seinen Rücklagen, also aus seiner Substanz.
73 Der Gerichtshof hat bereits entschieden (vgl. insbesondere Urteil vom 11. Juli 1989 in der Rechtssache 265/87, Schräder, Slg. 1989, 2237, Randnr. 15), daß die Ausübung des Eigentumsrechts und die freie Berufsausübung namentlich im Rahmen einer gemeinsamen Marktorganisation Beschränkungen unterworfen werden können, sofern diese Beschränkungen tatsächlich dem Gemeinwohl dienenden Zielen der Gemeinschaft entsprechen und nicht einen im Hinblick auf den verfolgten Zweck unverhältnismässigen, nicht tragbaren Eingriff darstellen, der die so gewährleisteten Rechte in ihrem Wesensgehalt antastet.
74 Wie das Vereinigte Königreich zu Recht hervorgehoben hat, kann die Verpflichtung, eine Abgabe zu zahlen, nicht als Verstoß gegen das Eigentumsrecht angesehen werden.
75 Somit ist festzustellen, daß die besondere Tilgungsabgabe das Eigentum der Zuckerhersteller nicht verletzt.
76 Was die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit anbelangt, so wurde bereits ausgeführt, daß die besondere Tilgungsabgabe Zielen des Gemeinwohls dient, da sie verhindert, daß Verluste eines Wirtschaftssektors von der Gemeinschaft getragen werden. Diese Intervention kann nicht als unverhältnismässig angesehen werden. Die Abgabe, die teilweise auf die Zuckerrübenerzeuger abgewälzt werden kann, wurde mit dem wesentlichen Ziel eingeführt, die "Produktionsquotenregelung [nicht] vor dem vorgesehenen Termin abzuändern", wie die vierte Begründungserwägung der Verordnung Nr. 1914/87 besagt. Wie die Kommission zu Recht vorgetragen hat, hätte eine Verringerung der Quoten auf lange Sicht den Anteil der Zuckerhersteller der Gemeinschaft am Weltmarkt verringert und damit die Interessen der Zuckerhersteller und der Zuckerrübenerzeuger wesentlich stärker belastet.
77 Damit ist die wirtschaftliche Betätigungsfreiheit nicht verletzt.
78 Nach alledem ist den Finanzgerichten Hamburg und Düsseldorf zu antworten, daß die Prüfung der gestellten Fragen nichts ergeben hat, was die Gültigkeit der Verordnung Nr. 1914/87 des Rates vom 2. Juli 1987 zur Einführung einer besonderen Tilgungsabgabe für Zucker im Wirtschaftsjahr 1986/87 beeinträchtigen könnte.
Kostenentscheidung
Kosten
79 Die Auslagen der Italienischen Republik und des Vereinigten Königreichs sowie des Rates und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, die Erklärungen vor dem Gerichtshof abgegeben haben, sind nicht erstattungsfähig. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in den bei den vorlegenden Gerichten anhängigen Verfahren. Die Kostenentscheidung ist daher Sache dieser Gerichte.
Tenor
Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
auf die ihm vom Finanzgericht Hamburg mit Beschluß vom 31. März 1988 und vom Finanzgericht Düsseldorf mit Beschluß vom 19. Oktober 1988 vorgelegten Fragen für Recht erkannt:
1) Artikel 189 EWG-Vertrag versagt den nationalen Gerichten nicht die Befugnis, die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts auszusetzen.
2) Ein nationales Gericht darf die Vollziehung eines auf einer Gemeinschaftsverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsakts nur aussetzen, wenn es erhebliche Zweifel an der Gültigkeit der Gemeinschaftsverordnung hat und die Frage dieser Gültigkeit, sofern der Gerichtshof mit ihr noch nicht befasst ist, diesem selbst vorlegt, wenn die Entscheidung dringlich ist und dem Antragsteller ein schwerer und nicht wiedergutzumachender Schaden droht und wenn das Gericht das Interesse der Gemeinschaft angemessen berücksichtigt.
3) Die Prüfung der gestellten Fragen hat nichts ergeben, was die Gültigkeit der Verordnung (EWG) Nr. 1914/87 des Rates vom 2. Juli 1987 zur Einführung einer besonderen Tilgungsabgabe für Zucker im Wirtschaftsjahr 1986/87 beeinträchtigen könnte.