EuGH, 11.08.1995 - C-431/92

Daten
Fall: 
Wärmekraftwerk Großkrotzenburg
Fundstellen: 
EuGH Slg. 1995, I-2189; NJW 1996, 1735; DVBl 1996, 424; BB 1995, 951; NVwZ 1996, 369
Gericht: 
Europäischer Gerichtshof
Datum: 
11.08.1995
Aktenzeichen: 
C-431/92
Entscheidungstyp: 
Urteil
Stichwörter: 
  • Vertragsverletzung eines Mitgliedstaats - Nichtanwendung einer noch nicht umgesetzten Richtlinie durch die Behörden - Richtlinie 85/337/EWG des Rates - Prüfung der Umweltverträglichkeit von Projekten - Wärmekraftwerk Großkrotzenburg - Genehmigung zur Errichtung eines neuen Kraftwerksblocks.

Leitsätze

1. Bei Wahrnehmung der ihr in den Artikeln 155 und 169 des Vertrages eingeräumten Zuständigkeiten braucht die Kommission kein spezifisches Rechtsschutzinteresse nachzuweisen. Artikel 169 soll nämlich nicht die eigenen Rechte der Kommission schützen. Dieser fällt kraft ihres Amtes im allgemeinen Interesse der Gemeinschaft die Aufgabe zu, die Ausführung des Vertrages und der auf dessen Grundlage von den Organen erlassenen Vorschriften durch die Mitgliedstaaten zu überwachen und etwaige Verstösse gegen die sich hieraus ergebenden Verpflichtungen aufzudecken, damit sie abgestellt werden. In Anbetracht ihrer Rolle als Hüterin des Vertrages ist die Kommission daher allein für die Entscheidung zuständig, ob es angebracht ist, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, und im Hinblick auf welche dem betroffenen Mitgliedstaat zuzurechnende Handlung oder Unterlassung dieses Verfahren zu eröffnen ist.

Ein Mitgliedstaat, der eine Gemeinschaftsrichtlinie nicht innerhalb der vorgeschriebenen Frist umgesetzt hat und gegen den eine Vertragsverletzungsklage nicht wegen dieser Untätigkeit, sondern wegen der Nichterfuellung einer sich aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtung in einem konkreten Fall erhoben wurde, kann sich nicht darauf berufen, daß er die für die Umsetzung dieser Richtlinie erforderlichen Maßnahmen noch nicht erlassen habe, um aufgrund dessen Einwendungen gegenüber der Zulässigkeit der Klage und damit gegenüber der Prüfung des Antrags auf Feststellung dieses Verstosses durch den Gerichtshof zu erheben.

Er kann die Unzulässigkeit einer Klage, die darauf gestützt ist, daß er in einem konkreten Fall die sich für ihn aus der Richtlinie ergebenden Verpflichtungen nicht erfuellt habe, und deren Begründetheit also aufgrund einer Auslegung der Richtlinie im Hinblick auf die Verpflichtungen, die sie den Mitgliedstaaten auferlegt, zu beurteilen ist, auch nicht daraus ableiten, daß die streitigen Vorschriften der Richtlinie keine individuellen Rechte für den einzelnen begründeten, da die Frage, ob für den einzelnen die Möglichkeit besteht, sich auf die Richtlinie zu berufen, mit einer solchen Klage nichts zu tun hat.

2. Die Richtlinie 85/337 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten, und zwar insbesondere ihr Artikel 12 Absatz 1, ist dahin auszulegen, daß sie es einem Mitgliedstaat, der sie nach dem 3. Juli 1988, dem Tag des Ablaufs der Umsetzungsfrist, in seine nationale Rechtsordnung umgesetzt hat, verwehrt, ein nach diesem Stichtag begonnenes Genehmigungsverfahren für ein Projekt von den durch die Richtlinie aufgestellten Verpflichtungen zu befreien. In diesem Zusammenhang ist der Zeitpunkt der förmlichen Stellung des Antrags auf Genehmigung das einzige zulässige Kriterium für die Bestimmung des Zeitpunktes der Einleitung des Verfahrens, da es dem Grundsatz der Rechtssicherheit entspricht und geeignet ist, die praktische Wirksamkeit der Richtlinie zu erhalten; ausgeschlossen sind damit informelle Kontakte und Unterredungen zwischen den zuständigen Behörden und dem Projektträger.

Im übrigen ist Anhang I Nummer 2 der Richtlinie, dem zufolge Projekte betreffend Wärmekraftwerke mit einer Wärmeleistung von mindestens 300 MW systematisch einer Prüfung unterzogen werden müssen, dahin auszulegen, daß dies unabhängig davon erfolgen muß, ob sie eigenständig ausgeführt werden, einer bestehenden Anlage hinzugefügt werden oder gar mit dieser in einem engen funktionellen Zusammenhang stehen. Ein derartiges Projekt, das im Zusammenhang mit einer bestehenden Anlage steht, kann somit nicht der in Nummer 12 des Anhangs II aufgeführten Kategorie "Änderung von Projekten des Anhangs I" zugeordnet werden, für die nur die Möglichkeit einer Prüfung vorgesehen ist.

Schließlich erlegen Artikel 2 ° der eine Verpflichtung für die in den einzelnen Mitgliedstaaten für die Genehmigung der Projekte zuständigen Behörden aufstellt, einige von diesen einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen ° , Artikel 3 ° der den Inhalt der Prüfung festlegt, die Faktoren aufzählt, denen hierbei Rechnung zu tragen ist und der zuständigen Behörde ein gewisses Ermessen hinsichtlich der geeigneten Art und Weise der Durchführung der Prüfung nach Maßgabe jedes Einzelfalls einräumt ° und Artikel 8 der Richtlinie ° der die betreffenden nationalen Behörden verpflichtet, die während des Prüfungsverfahrens eingeholten Angaben im Rahmen des Genehmigungsverfahrens zu berücksichtigen ° , ohne auf die Einzelheiten einzugehen, den zuständigen nationalen Behörden unmißverständlich die Pflicht auf, bestimmte Projekte einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen.

Entscheidungsgründe

1 Die Kommission hat mit Klageschrift, die am 23. Dezember 1992 bei der Kanzlei des Gerichtshofes eingegangen ist, gemäß Artikel 169 EWG-Vertrag Klage erhoben auf Feststellung, daß die Bundesrepublik Deutschland dadurch gegen ihre Verpflichtungen aus den Artikeln 5 und 189 EWG-Vertrag in Verbindung mit der Richtlinie 85/337/EWG des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (ABl. L 175, S. 40; im folgenden: Richtlinie), insbesondere deren Artikel 2, 3 und 8, verstossen hat, daß sie mit Bescheid vom 31. August 1989 die Errichtung eines neuen Kraftwerksblocks des Wärmekraftwerks Großkrotzenburg ohne vorherige Umweltverträglichkeitsprüfung genehmigt hat.

2 Die Richtlinie wurde auf der Grundlage der Artikel 100 und 235 des Vertrages erlassen. Nach ihrer ersten Begründungserwägung wird in "den Aktionsprogrammen der Europäischen Gemeinschaften für den Umweltschutz ... bekräftigt, daß bei allen technischen Planungs- und Entscheidungsprozessen die Auswirkungen auf die Umwelt so früh wie möglich berücksichtigt werden müssen". In der elften Begründungserwägung heisst es ausserdem: "Die Umweltauswirkungen eines Projekts müssen mit Rücksicht auf folgende Bestrebungen beurteilt werden: die menschliche Gesundheit zu schützen, durch eine Verbesserung der Umweltbedingungen zur Lebensqualität beizutragen, für die Erhaltung der Artenvielfalt zu sorgen und die Reproduktionsfähigkeit des Ökosystems als Grundlage allen Lebens zu erhalten."

3 Artikel 1 der Richtlinie bestimmt:

"(1) Gegenstand dieser Richtlinie ist die Umweltverträglichkeitsprüfung bei öffentlichen und privaten Projekten, die möglicherweise erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt haben.
(2) Im Sinne dieser Richtlinie sind:
Projekt:
° die Errichtung von baulichen oder sonstigen Anlagen,
...
Genehmigung:
Entscheidung der zuständigen Behörde oder der zuständigen Behörden, aufgrund deren der Projektträger das Recht zur Durchführung des Projekts erhält.
(3) Die zuständige(n) Behörde(n) ist (sind) die Behörde(n), die von den Mitgliedstaaten für die Durchführung der sich aus dieser Richtlinie ergebenden Aufgaben bestimmt wird (werden).
..."

4 Artikel 2 sieht vor:

"(1) Die Mitgliedstaaten treffen die erforderlichen Maßnahmen, damit vor der Erteilung der Genehmigung die Projekte, bei denen insbesondere aufgrund ihrer Art, ihrer Grösse oder ihres Standortes mit erheblichen Auswirkungen auf die Umwelt zu rechnen ist, einer Prüfung in bezug auf ihre Auswirkungen unterzogen werden.
Diese Projekte sind in Artikel 4 definiert.
(2) Die Umweltverträglichkeitsprüfung kann in den Mitgliedstaaten im Rahmen der bestehenden Verfahren zur Genehmigung der Projekte durchgeführt werden oder, falls solche nicht bestehen, im Rahmen anderer Verfahren oder der Verfahren, die einzuführen sind, um den Zielen dieser Richtlinie zu entsprechen.
..."

5 Artikel 3 lautet:

"Die Umweltverträglichkeitsprüfung identifiziert, beschreibt und bewertet in geeigneter Weise nach Maßgabe eines jeden Einzelfalls gemäß den Artikeln 4 bis 11 die unmittelbaren und mittelbaren Auswirkungen eines Projekts auf folgende Faktoren:

° Mensch, Fauna und Flora,
° Boden, Wasser, Luft, Klima und Landschaft,
° die Wechselwirkung zwischen den unter dem ersten und dem zweiten Gedankenstrich genannten Faktoren,
° Sachgüter und das kulturelle Erbe."

6 Artikel 4 legt fest:

"(1) Projekte der in Anhang I aufgeführten Klassen werden ... einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen.
(2) Projekte der in Anhang II aufgezählten Klassen werden einer Prüfung gemäß den Artikeln 5 bis 10 unterzogen, wenn ihre Merkmale nach Auffassung der Mitgliedstaaten dies erfordern.
..."

7 Im Anhang I sind unter Nummer 2 u. a. "Wärmekraftwerke ... mit einer Wärmeleistung von mindestens 300 MW" genannt. Anhang II Nummer 12 bezieht sich u. a. auf die "Änderung von Projekten des Anhangs I".

8 Artikel 5 betrifft die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten zu ergreifen haben, um sicherzustellen, daß der Projektträger bestimmte, im Anhang III genannte Angaben vorlegt. Artikel 6 bezieht sich auf die Maßnahmen, die die Mitgliedstaaten zu treffen haben, damit die Behörden, die von dem betreffenden Projekt berührt sein könnten, konsultiert werden und damit die Öffentlichkeit unterrichtet wird und Gelegenheit erhält, sich zu äussern. Artikel 8 bestimmt: "Die ... eingeholten Angaben sind im Rahmen des Genehmigungsverfahrens zu berücksichtigen."

9 Nach Artikel 12 Absatz 1 der Richtlinie hatten die Mitgliedstaaten die erforderlichen Maßnahmen zu treffen, um der Richtlinie innerhalb von drei Jahren nach ihrer Bekanntgabe nachzukommen. Da die Richtlinie am 3. Juli 1985 bekanntgegeben wurde, ist diese Frist am 3. Juli 1988 abgelaufen.

10 Aus den Akten geht hervor, daß die Richtlinie in der Bundesrepublik Deutschland verspätet durch das am 1. August 1990 in Kraft getretene Gesetz vom 12. Februar 1990 (BGBl. I S. 205) umgesetzt worden ist.

11 Aufgrund einer Beschwerde, der zufolge das Regierungspräsidium Darmstadt als zuständige Behörde mit Bescheid vom 31. August 1989 die Genehmigung zur Errichtung eines neuen Kraftwerksblocks mit einer Leistung von 500 MW des Wärmekraftwerks Großkrotzenburg erteilt habe, ohne eine Umweltverträglichkeitsprüfung gemäß der Richtlinie durchgeführt zu haben, forderte die Kommission die Bundesrepublik Deutschland mit Schreiben vom 15. Mai 1990 gemäß Artikel 169 des Vertrages zur Stellungnahme auf. In diesem Schreiben wies sie darauf hin, daß die betreffende Genehmigung sich auf ein Projekt der Errichtung eines Wärmekraftwerks im Sinne des Anhangs I Nummer 2 der Richtlinie beziehe und daß somit eine Umweltverträglichkeitsprüfung gemäß Artikel 4 Absatz 1 der Richtlinie erforderlich sei.

12 Da sie ihre Bedenken durch die Angaben der Bundesrepublik Deutschland in deren Antwortschreiben vom 16. und 17. August 1990 nicht ausgeräumt sah, richtete die Kommission mit Schreiben vom 25. September 1991 eine mit Gründen versehene Stellungnahme an die Bundesrepublik Deutschland, auf die diese mit Schreiben vom 27. Januar 1992 antwortete. Diese Antwort stellte die Kommission nicht zufrieden. Sie hat daher die vorliegende Klage erhoben.

Zur Zulässigkeit

13 Die Bundesrepublik Deutschland macht mit einer ersten Einrede der Unzulässigkeit der Klage geltend, daß der Klageantrag zu unbestimmt sei, soweit die Feststellung begehrt werde, daß gegen die Richtlinie und "insbesondere" gegen die Artikel 2, 3 und 8 der Richtlinie verstossen worden sei. Nur ein Verstoß gegen die ausdrücklich benannten Bestimmungen der Richtlinie könne jedoch in Betracht kommen, während die allgemeine Rüge einer Zuwiderhandlung gegen die Richtlinie ausgeschlossen sei.

14 Dieser Einrede kann nicht stattgegeben werden.

15 Die ausdrückliche Nennung der Artikel 2, 3 und 8 der Richtlinie im Klageantrag hat es der beklagten Regierung ermöglicht, zweifelsfrei zu erkennen, daß der Vorwurf eines Verstosses gegen eben diese Bestimmungen erhoben wurde. Im gegebenen Zusammenhang wurde das Adverb "insbesondere" im Sinne von "nämlich" verwendet, um genau diejenigen Artikel der Richtlinie zu benennen, die nicht eingehalten worden waren. Es konnte daher nicht den Eindruck erwecken, die Klage erstrecke sich auch auf Verstösse gegen andere, nicht benannte Bestimmungen der Richtlinie, und somit auch keine Ungewißheit über den Umfang des Streitgegenstands begründen.

16 Die Bundesrepublik Deutschland hat in der mündlichen Verhandlung zweitens vorgetragen, der Verstoß gegen Artikel 2 der Richtlinie sei im Tenor der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht aufgeführt und erstmals in der Klageschrift geltend gemacht worden. Da der Gegenstand der Klage nach ständiger Rechtsprechung durch das vorprozessuale Verfahren eingegrenzt werde, sei die Rüge des Verstosses gegen diese Bestimmung somit unzulässig.

17 Diese Einrede ist zurückzuweisen.

18 Zwar wird Artikel 2 der Richtlinie im Tenor der mit Gründen versehenen Stellungnahme nicht ausdrücklich aufgeführt, doch wird er in deren Text unter den von der Kommission angeführten Bestimmungen genannt.

19 Die Bundesrepublik Deutschland macht drittens geltend, die Klage sei unzulässig, weil im Verfahren nach Artikel 169 des Vertrages nur die Nichtumsetzung oder eine nicht ordnungsgemässe Umsetzung einer Richtlinie geahndet werden könne, nicht aber bloß, wie hier, die Nichtanwendung einer noch nicht umgesetzten Richtlinie in einem konkreten Fall. Ein Vertragsverletzungsverfahren solle den betroffenen Mitgliedstaat anhalten, gegenwärtige Verstösse gegen den Vertrag abzustellen. Da die Bundesrepublik Deutschland die Richtlinie inzwischen umgesetzt habe, habe die Kommission kein Rechtsschutzinteresse mehr, zumal das parallel von ihr eingeleitete Verfahren zur Feststellung der nicht ordnungsgemässen Umsetzung der Richtlinie noch nicht zu einer Klage beim Gerichtshof geführt habe.

20 Diese Einrede der Unzulässigkeit ist ebenfalls zurückzuweisen.

21 Bei der Wahrnehmung der ihr in den Artikeln 155 und 169 des Vertrages eingeräumten Zuständigkeiten braucht die Kommission kein spezifisches Rechtsschutzinteresse nachzuweisen. Artikel 169 soll nämlich nicht die eigenen Rechte der Kommission schützen. Dieser fällt kraft ihres Amtes im allgemeinen Interesse der Gemeinschaft die Aufgabe zu, die Ausführung des Vertrages und der auf seiner Grundlage von den Organen erlassenen Vorschriften durch die Mitgliedstaaten zu überwachen und etwaige Verstösse gegen die sich hieraus ergebenden Verpflichtungen feststellen zu lassen, damit sie abgestellt werden (Urteile vom 4. April 1974 in der Rechtssache 167/73, Kommission/Frankreich, Slg. 1974, 359, Randnr. 15, und vom 10. Mai 1995 in der Rechtssache C-422/92, Kommission/Deutschland, Slg. 1995, I-0000, Randnr. 16).

22 In Anbetracht ihrer Rolle als Hüterin des Vertrages ist die Kommission daher allein für die Entscheidung zuständig, ob es angebracht ist, ein Vertragsverletzungsverfahren einzuleiten, und wegen welcher dem betroffenen Mitgliedstaat zuzurechnenden Handlung oder Unterlassung dieses Verfahrens zu eröffnen ist. Sie kann beim Gerichtshof daher die Feststellung einer Vertragsverletzung mit dem Vorbringen beantragen, daß das mit der Richtlinie bezweckte Ergebnis in einem bestimmten Fall nicht erreicht worden sei.

23 Im vorliegenden Fall ist das Vorbringen, mit dem der beklagte Staat die Unzulässigkeit der Klage geltend macht, im wesentlichen auf den Gesichtspunkt beschränkt, daß er im streitigen Zeitpunkt noch nicht mit der Umsetzung der Richtlinie begonnen hatte. Ein Mitgliedstaat kann aber gegenüber der Prüfung eines Antrags auf Feststellung eines Verstosses gegen eine bestimmte, sich aus der Richtlinie ergebende Verpflichtung durch den Gerichtshof nicht einwenden, daß er die für die Umsetzung dieser Richtlinie erforderlichen Maßnahmen noch nicht erlassen habe.

24 Die Bundesrepublik Deutschland trägt schließlich vor, nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes komme den Bestimmungen einer Richtlinie unmittelbare Wirkung nur dann zu, wenn diese dem einzelnen individuelle Rechte einräumten. Die Artikel 2, 3 und 8 der Richtlinie begründeten jedoch keine derartigen individuellen Rechte. Da die Kommission selbst nicht geltend mache, daß durch den beanstandeten Genehmigungsbescheid individuelle Rechtspositionen einzelner Bürger aus der Richtlinie unbeachtet gelassen würden, sei eine unmittelbare Anwendung der Bestimmungen der Richtlinie ausgeschlossen, unabhängig davon, ob sie unbedingt und hinreichend genau seien. Die deutsche Verwaltung sei daher nicht verpflichtet gewesen, sie vor der Umsetzung der Richtlinie unmittelbar anzuwenden. Die Klage sei somit unzulässig.

25 Auch dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.

26 Die Kommission wirft der Bundesrepublik Deutschland mit ihrer Klage vor, in einem konkreten Fall die sich unmittelbar aus der Richtlinie ergebende Verpflichtung zur Prüfung der Umweltverträglichkeit des betreffenden Projekts nicht erfuellt zu haben. Es stellt sich daher die Frage, ob die Richtlinie dahin auszulegen ist, daß sie die behauptete Verpflichtung aufstellt. Diese Frage hat mit der ° in der Rechtsprechung des Gerichtshofes anerkannten ° Möglichkeit für den einzelnen, sich gegenüber dem Staat unmittelbar auf unbedingte sowie hinreichend klare und genaue Vorschriften einer nicht umgesetzten Richtlinie zu berufen, nichts zu tun.

27 Da alle Unzulässigkeitsgründe zurückgewiesen wurden, ist die Klage für zulässig zu erklären.

Zur Begründetheit

Zeitliche Geltung der Richtlinie

28 Im Urteil vom 9. August 1994 in der Rechtssache C-396/92 (Bund Naturschutz in Bayern u. a., Slg. 1994, I-3717, Randnrn. 19 und 20) hat der Gerichtshof entschieden, daß die Richtlinie, unabhängig von der Frage, ob sie es einem Mitgliedstaat gestattet, vor dem Stichtag 3. Juli 1988 begonnene und bereits laufende Genehmigungsverfahren von der Umweltverträglichkeitsprüfung auszunehmen, jedenfalls für nach diesem Zeitpunkt begonnene Verfahren der Einführung einer solchen Ausnahmeregelung entgegensteht.

29 Wie sich im vorliegenden Fall aus den Akten ergibt, ist der Antrag auf Genehmigung des streitigen Projekts vom Projektträger, der PreussenElektra AG, am 26. Juli 1988, also nach dem 3. Juli 1988, beim Regierungspräsidium Darmstadt gestellt worden. Folglich konnte das Genehmigungsverfahren für das fragliche Projekt grundsätzlich nicht von der in der Richtlinie vorgeschriebenen Umweltverträglichkeitsprüfung ausgenommen werden.

30 Die deutsche Regierung trägt jedoch vor, dem förmlichen Genehmigungsantrag vom 26. Juli 1988, mit dem sämtliche Unterlagen für das Projekt eingereicht worden seien, sei eine Vorphase vorangegangen, die einen wesentlichen Teil des Genehmigungsverfahrens ausmache. In dieser Vorphase, die am 18. Mai 1987 begonnen habe, habe es der zuständigen Behörde oblegen, den Projektträger im Hinblick auf die Antragstellung und den Inhalt des Antrags zu beraten. Es hätten mehrere Unterredungen stattgefunden, an denen auch Fachbehörden teilgenommen hätten. Ferner sei das Vorhaben am 7. März 1988 gemäß dem Hessischen Landesplanungsgesetz bei der zuständigen Behörde angezeigt worden.

31 Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.

32 Informelle Kontakte und Unterredungen zwischen der zuständigen Behörde und dem Projektträger können nämlich, auch wenn sie den Inhalt und die beabsichtigte Stellung eines Antrags auf Genehmigung eines Vorhabens betreffen, für die Zwecke der Durchführung der Richtlinie nicht als zuverlässiges Kriterium für die Bestimmung des Zeitpunktes der Einleitung des Verfahrens herangezogen werden. Der Zeitpunkt der förmlichen Antragstellung ist daher das einzige zulässige Kriterium. Dieses Kriterium entspricht dem Grundsatz der Rechtssicherheit und ist geeignet, die praktische Wirksamkeit der Richtlinie zu erhalten. Diese Auffassung hat der Gerichtshof im übrigen in seinem Urteil Bund Naturschutz (a. a. O., Randnr. 16) vertreten.

33 Somit ist davon auszugehen, daß das Genehmigungsverfahren für das streitige Projekt nach dem Stichtag 3. Juli 1988 eingeleitet wurde und damit der obligatorischen Umweltverträglichkeitsprüfung nach der Richtlinie unterlag.

Qualifizierung des streitigen Projekts

34 Die Bundesrepublik Deutschland, unterstützt von der Regierung des Vereinigten Königreichs, trägt vor, der neue Block des Wärmekraftwerks Großkrotzenburg stelle kein Projekt im Sinne des Artikels 4 Absatz 1 der Richtlinie dar, sondern eine Änderung eines Projekts. Er sei keineswegs eigenständig, sondern funktional abhängig von dem gesamten Kraftwerk. Die streitige Genehmigung beziehe sich also auf die Änderung eines bereits bestehenden Kraftwerks. Es handele sich um die Änderung eines Projekts im Sinne von Nummer 12 des Anhangs II der Richtlinie; bei einer solchen Änderung könnten die Mitgliedstaaten nach Artikel 4 Absatz 2 der Richtlinie eine Umweltverträglichkeitsprüfung durchführen, seien dazu aber nicht verpflichtet.

35 Nach Anhang I Nummer 2 der Richtlinie sind Projekte von Wärmekraftwerken mit einer Wärmeleistung von mindestens 300 MW systematisch einer Prüfung zu unterziehen. Dies gilt im Sinne dieser Vorschrift unabhängig davon, ob sie eigenständig ausgeführt werden, einer bestehenden Anlage hinzugefügt werden oder gar mit dieser in einem engen funktionnellen Zusammenhang stehen. Ein Zusammenhang mit einer bestehenden Anlage nimmt dem Projekt nicht seinen Charakter als "Wärmekraftwerk mit einer Wärmeleistung von mindestens 300 MW", so daß es der in Nummer 12 des Anhangs II aufgeführten Kategorie "Änderung von Projekten des Anhangs I" zuzuordnen wäre.

36 Unstreitig handelt es sich bei der fraglichen Anlage um einen Wärmekraftwerksblock mit einer Wärmeleistung von 500 MW. Sie stellt somit ein Projekt im Sinne von Artikel 4 Absatz 1 i. V. m. Anhang I der Richtlinie dar. Dieses Projekt musste gemäß der Richtlinie einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen werden.

Pflicht zur Vornahme der Prüfung aufgrund der Richtlinie

37 Die Bundesrepublik Deutschland trägt vor, die Artikel 2, 3 und 8 der Richtlinie, deren Nichteinhaltung ihr vorgeworfen werde, seien nicht so hinreichend klar und bestimmt, daß sie unmißverständlich eine konkrete Verpflichtung festlegen würden und damit von der nationalen Verwaltung von Amts wegen anzuwenden wären.

38 Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.

39 Artikel 2 der Richtlinie stellt eine unmißverständliche Verpflichtung für die in den einzelnen Mitgliedstaaten für die Genehmigung der Projekte zuständigen Behörden auf, bestimmte Projekte einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen. Artikel 3 legt den Inhalt der Prüfung fest, zählt die Faktoren auf, denen hierbei Rechnung zu tragen ist und räumt der zuständigen Behörde ein gewisses Ermessen hinsichtlich der geeigneten Art und Weise der Durchführung der Prüfung nach Maßgabe jedes Einzelfalls ein. Artikel 8 erlegt den betreffenden nationalen Behörden ferner die Pflicht auf, die während des Prüfungsverfahrens eingeholten Angaben im Rahmen des Genehmigungsverfahrens zu berücksichtigen.

40 Unabhängig von ihren Einzelheiten erlegen die fraglichen Vorschriften also den zuständigen nationalen Behörden unmißverständlich die Pflicht auf, bestimmte Projekte einer Umweltverträglichkeitsprüfung zu unterziehen.

Prüfung des Vorliegens eines Verstosses gegen die Pflicht, eine Umweltverträglichkeitsprüfung vorzunehmen

41 Die Bundesrepublik Deutschland macht schließlich geltend, die zuständige Behörde habe das streitige Projekt aufgrund der seinerzeit geltenden nationalen Rechtsvorschriften, nämlich des Bundesimmissionsschutzgesetzes vom 15. März 1974, einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterzogen. Auch wenn diese Prüfung nicht förmlich auf die Richtlinie gestützt worden sei, habe sie doch de facto alle Anforderungen der Richtlinie eingehalten.

42 Die Kommission stellt nicht in Abrede, daß die Umweltverträglichkeit des streitigen Projekts einer gewissen Prüfung unterzogen worden ist. Diese Prüfung habe jedoch nicht den neuen Anforderungen der Richtlinie entsprochen, die strenger als die seinerzeit geltende nationale Regelung seien. Insbesondere habe sie nicht die Verpflichtung eingehalten, die Wechselwirkung zwischen den in Artikel 3 erster und zweiter Gedankenstrich der Richtlinie genannten Faktoren (Mensch, Fauna, Flora, Boden, Wasser, Luft, Klima und Landschaft) zu berücksichtigen, was eine gesamtheitliche Bewertung dieser Faktoren vorausgesetzt hätte.

43 Wie sich aus den Akten ergibt, hat in dem Verfahren zur Genehmigung des streitigen Projekts durch das Regierungspräsidium Darmstadt eine Prüfung seiner Auswirkungen auf die Umwelt stattgefunden. Insbesondere hat der Projektträger eine Reihe von Angaben über die Auswirkungen des Projekts auf die Umwelt vorgelegt, die von der Kommission selbst als ausreichend im Hinblick auf die Anforderungen des Artikels 5 und des Anhangs III der Richtlinie angesehen wurden. Diese Angaben bezogen sich auch auf die Wechselwirkung zwischen den in Artikel 3 der Richtlinie genannten Faktoren. Schließlich steht fest, daß sie der betroffenen Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden und daß diese Gelegenheit hatte, sich hierzu zu äussern. Unter diesen Umständen ist das Ziel einer Sensibilisierung der Öffentlichkeit für die Auswirkungen eines Projekts auf die Umwelt aufgrund konkreter Angaben des Projektträgers erreicht worden.

44 Aus dem strittigen Bescheid des Regierungspräsidiums Darmstadt vom 31. August 1989 sowie aus dessen Bericht vom 11. November 1991, der in Beantwortung der mit Gründen versehenen Stellungnahme erstellt wurde, ergibt sich ferner, daß diese Behörde die eingeholten Angaben und die Reaktionen der betroffenen Kreise in das Genehmigungsverfahrens einbezogen und bei ihrer Entscheidung über die Genehmigung des Projekts berücksichtigt hat.

45 In Anbetracht dessen hätte die Kommission im einzelnen darlegen müssen, in welchen konkreten Punkten die Anforderungen der Richtlinie im Genehmigungsverfahren für das streitige Projekt nicht erfuellt worden sind, und sie hätte die entsprechenden Beweise vorlegen müssen. Ihre Klage enthält keine derartigen, auf exakte Beweise gestützten näheren Angaben. Sie ist daher als unbegründet abzuweisen.

Kostenentscheidung

Kosten
46 Nach Artikel 69 § 2 der Verfahrensordnung ist die unterliegende Partei auf Antrag zur Tragung der Kosten zu verurteilen. Da die Bundesrepublik Deutschland nicht beantragt hat, der Kommission die Kosten aufzuerlegen, ist zu entscheiden, daß jede Partei ihre eigenen Kosten trägt. Nach Artikel 69 § 4 der Verfahrensordnung trägt auch das Vereinigte Königreich als Streithelfer seine eigenen Kosten.

Tenor

Aus diesen Gründen
hat
DER GERICHTSHOF
für Recht erkannt und entschieden:

1) Die Klage wird abgewiesen.

2) Alle Beteiligten, einschließlich des Streithelfers, tragen ihre eigenen Kosten.