EuGH, 22.03.2012 - C-567/10
Parteien
In der Rechtssache C‑567/10
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV, eingereicht vom Verfassungsgerichtshof (Belgien) mit Entscheidung vom 25. November 2010, beim Gerichtshof eingegangen am 3. Dezember 2010, in dem Verfahren
Inter-Environnement Bruxelles ASBL,
Pétitions-Patrimoine ASBL,
Atelier de Recherche et d’Action Urbaines ASBL
gegen
Region Brüssel-Hauptstadt
erlässt
DER GERICHTSHOF (Vierte Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten J.‑C. Bonichot, der Richterin A. Prechal, des Richters L. Bay Larsen, der Richterin C. Toader (Berichterstatterin) und des Richters E. Jarašiūnas,
Generalanwältin: J. Kokott,
Kanzlerin: R. Şereş, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 27. Oktober 2011,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– der Inter-Environnement Bruxelles ASBL, der Pétitions-Patrimoine ASBL und der Atelier de Recherche et d’Action Urbaines ASBL, vertreten durch J. Sambon, avocat,
– der belgischen Regierung, vertreten durch T. Materne als Bevollmächtigten im Beistand von J. Sautois, avocate,
– der tschechischen Regierung, vertreten durch M. Smolek und D. Hadroušek als Bevollmächtigte,
– der Regierung des Vereinigten Königreichs, vertreten durch H. Walker als Bevollmächtigte,
– der Europäischen Kommission, vertreten durch P. Oliver und A. Marghelis als Bevollmächtigte,
nach Anhörung der Schlussanträge der Generalanwältin in der Sitzung vom 17. November 2011
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme (ABl. L 197, S. 30).
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines Rechtsstreits zwischen der Inter-Environnement Bruxelles ASBL, der Pétitions-Patrimoine ASBL und der Atelier de Recherche et d’Action Urbaines ASBL, Vereinigungen ohne Gewinnerzielungsabsicht nach belgischem Recht, einerseits und der Region Brüssel-Hauptstadt andererseits, dem eine Klage auf Nichtigerklärung einiger Bestimmungen der Ordonnanz vom 14. Mai 2009 zur Abänderung der Ordonnanz vom 13. Mai 2004 zur Ratifizierung des Brüsseler Raumordnungsgesetzbuches ( Belgisches Staatsblatt vom 27. Mai 2009, S. 38913, im Folgenden: Ordonnanz von 2009) zugrunde liegt.
Rechtlicher Rahmen
Unionsrecht
Richtlinie 2001/42
3. Die Ziele der Richtlinie 2001/42 sind insbesondere ihrem Art. 1 zu entnehmen:
„Ziel dieser Richtlinie ist es, im Hinblick auf die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen und dazu beizutragen, dass Umwelterwägungen bei der Ausarbeitung und Annahme von Plänen und Programmen einbezogen werden, indem dafür gesorgt wird, dass bestimmte Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, entsprechend dieser Richtlinie einer Umweltprüfung unterzogen werden.“
4. Die Pläne und Programme werden in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 wie folgt definiert:
„Im Sinne dieser Richtlinie bezeichnet der Ausdruck
a) ‚Pläne und Programme‘: Pläne und Programme, einschließlich der von der Europäischen Gemeinschaft mitfinanzierten, sowie deren Änderungen,
– die von einer Behörde auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene ausgearbeitet und/oder angenommen werden oder die von einer Behörde für die Annahme durch das Parlament oder die Regierung im Wege eines Gesetzgebungsverfahrens ausgearbeitet werden und
– die aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen“.
5. Art. 3 der Richtlinie 2001/42, der ihren Geltungsbereich festlegt, sieht vor:
„(1) Die unter die Absätze 2 bis 4 fallenden Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, werden einer Umweltprüfung nach den Artikeln 4 bis 9 unterzogen.
(2) Vorbehaltlich des Absatzes 3 wird eine Umweltprüfung bei allen Plänen und Programmen vorgenommen,
a) die in den Bereichen Landwirtschaft, Forstwirtschaft, Fischerei, Energie, Industrie, Verkehr, Abfallwirtschaft, Wasserwirtschaft, Telekommunikation, Fremdenverkehr, Raumordnung oder Bodennutzung ausgearbeitet werden und durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung der in den Anhängen I und II der Richtlinie 85/337/EWG aufgeführten Projekte gesetzt wird oder
b) bei denen angesichts ihrer voraussichtlichen Auswirkungen auf Gebiete eine Prüfung nach Artikel 6 oder 7 der Richtlinie 92/43/EWG für erforderlich erachtet wird.
(3) Die unter Absatz 2 fallenden Pläne und Programme, die die Nutzung kleiner Gebiete auf lokaler Ebene festlegen, sowie geringfügige Änderungen der unter Absatz 2 fallenden Pläne und Programme bedürfen nur dann einer Umweltprüfung, wenn die Mitgliedstaaten bestimmen, dass sie voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben.
(4) Die Mitgliedstaaten befinden darüber, ob nicht unter Absatz 2 fallende Pläne und Programme, durch die der Rahmen für die künftige Genehmigung von Projekten gesetzt wird, voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben.
(5) Die Mitgliedstaaten bestimmen entweder durch Einzelfallprüfung oder durch Festlegung von Arten von Plänen und Programmen oder durch eine Kombination dieser beiden Ansätze, ob die in den Absätzen 3 und 4 genannten Pläne oder Programme voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben. Zu diesem Zweck berücksichtigen die Mitgliedstaaten in jedem Fall die einschlägigen Kriterien des Anhangs II, um sicherzustellen, dass Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, von dieser Richtlinie erfasst werden.
…“
6. Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie 2001/42 bestimmt:
„Ist eine Umweltprüfung nach Artikel 3 Absatz 1 durchzuführen, so ist ein Umweltbericht zu erstellen; darin werden die voraussichtlichen erheblichen Auswirkungen, die die Durchführung des Plans oder Programms auf die Umwelt hat, sowie vernünftige Alternativen, die die Ziele und den geografischen Anwendungsbereich des Plans oder Programms berücksichtigen, ermittelt, beschrieben und bewertet. Welche Informationen zu diesem Zweck vorzulegen sind, ist in Anhang I angegeben.“
7. In Anhang I dieser Richtlinie, der die zur Erstellung des Umweltberichts erforderlichen „Informationen gemäß Artikel 5 Absatz 1“ aufführt, heißt es:
„Die Informationen, die gemäß Artikel 5 Absatz 1 nach Maßgabe von Artikel 5 Absätze 2 und 3 vorzulegen sind, umfassen
…
b) die relevanten Aspekte des derzeitigen Umweltzustands und dessen voraussichtliche Entwicklung bei Nichtdurchführung des Plans oder Programms;
…“
Nationales Recht
8. Art. 13 des durch die Ordonnanz von 2009 geänderten Brüsseler Raumordnungsgesetzbuchs (Code bruxellois de l’aménagement du territoire, im Folgenden: CoBAT), der die verschiedenen Kategorien von Plänen aufführt, die für die Region Brüssel-Hauptstadt vorgesehen sind, sieht vor:
„In folgenden Plänen wird die Entwicklung der Region … vorgezeichnet und ihre Raumordnung festgelegt:
1. regionaler Entwicklungsplan;
2. regionaler Flächennutzungsplan;
3. kommunale Entwicklungspläne;
4. besonderer Flächennutzungsplan.“
9. Hinsichtlich der Annahme von besonderen Flächennutzungsplänen bestimmt Art. 40 CoBAT:
„Jede Gemeinde der Region nimmt entweder aus eigener Initiative oder innerhalb der ihr durch die Regierung auferlegten Frist besondere Flächennutzungspläne an.“
10. Bezüglich der Aufhebung dieser Pläne sieht Art. 58 CoBAT vor:
„Der Gemeinderat kann aus eigener Initiative oder auf einen gemäß den Bestimmungen von Artikel 51 eingereichten Antrag hin beschließen, einen besonderen Flächennutzungsplan für die Gesamtheit oder einen Teil seines Gebiets aufzuheben.
Die Regierung kann unter den in Artikel 54 erwähnten Bedingungen und durch einen mit Gründen versehenen Erlass die völlige oder teilweise Aufhebung eines besonderen Flächennutzungsplans beschließen.
In diesem Fall fordert sie den Gemeinderat auf, dies gemäß diesem Abschnitt zu tun, und sie legt die Fristen fest, innerhalb deren der Gemeinderat ihr den Beschluss zur Aufhebung des besonderen Flächennutzungsplans, zur Eröffnung der öffentlichen Untersuchung und zur Weiterleitung der vollständigen Akte im Hinblick auf die Genehmigung des Aufhebungsbeschlusses gemäß Artikel 61 unterbreiten muss.
Falls der Gemeinderat die Aufforderung der Regierung abgewiesen oder die ihm auferlegten Fristen nicht eingehalten hat, kann die Regierung an seiner Stelle den besonderen Flächennutzungsplan gemäß den in diesem Abschnitt vorgesehenen Verfahren aufheben.“
11. Außerdem bestimmt Art. 59 CoBAT:
„Der Gemeinderat nimmt einen Beschlussentwurf zur Aufhebung eines besonderen Flächennutzungsplans mit einem Plan des betreffenden Gebiets im Falle einer teilweisen Aufhebung und einem Bericht zur Rechtfertigung der Aufhebung des besonderen Flächennutzungsplans anstelle seiner Abänderung an und unterbreitet ihn einer öffentlichen Untersuchung. In dem in Artikel 58 letzter Absatz erwähnten Fall wird der vorgenannte Bericht durch die Regierung erstellt.
Diese wird sowohl durch Aushang als auch durch eine Mitteilung im Belgischen Staatsblatt und in mindestens drei französischsprachigen Zeitungen und drei niederländischsprachigen Zeitungen, die in der Region verteilt werden, bekannt gegeben gemäß den durch die Regierung festgelegten Modalitäten.
Die öffentliche Untersuchung dauert dreißig Tage. Beschwerden und Anmerkungen werden innerhalb dieser Frist an das Bürgermeister- und Schöffenkollegium gerichtet und dem Protokoll über den Abschluss der Untersuchung beigefügt. Dieses wird durch das Bürgermeister- und Schöffenkollegium innerhalb von fünfzehn Tagen nach Ablauf der Frist für die öffentliche Untersuchung erstellt.“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
12. Wie aus dem Vorabentscheidungsersuchen ersichtlich, haben die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens ihre beim Verfassungsgerichtshof erhobene Klage auf Nichtigerklärung einiger Bestimmungen der Ordonnanz von 2009 damit begründet, dass die Art. 58 und 59 CoBAT nicht mit der Richtlinie 2001/42 vereinbar seien, da sie bei völliger oder teilweiser Aufhebung eines besonderen Flächennutzungsplans nicht die Erstellung eines Umweltberichts vorsähen.
13. Zum Aufhebungsverfahren machen die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens vor dem nationalen Gericht geltend, Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 erfasse zwar formal nur die Annahme und Änderung der Flächennutzungspläne, die Richtlinie sei jedoch zur Wahrung ihrer praktischen Wirksamkeit dahin auszulegen, dass sie auch für die Aufhebung dieser Pläne gelte. Im konkreten Fall verändere die Aufhebung eines besonderen Flächennutzungsplans den Kontext, in dem städtebauliche Genehmigungen erteilt würden, und sei geeignet, den Rahmen für die Genehmigungen künftiger Projekte zu verändern.
14. Außerdem seien „Pläne und Programme“ im Sinne von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 allgemein diejenigen, die in den nationalen Rechts- oder Verwaltungsvorschriften vorgesehen seien, und nicht nur diejenigen, die nach diesen Vorschriften zwingend erlassen werden müssten. Es entspreche nicht dem Ziel und der praktischen Wirksamkeit der Richtlinie 2001/42, einen Aufhebungsakt, dessen – wenn auch fakultative – Annahme erfolgt sei, von ihrem Geltungsbereich auszunehmen.
15. Nach Ansicht der Region Brüssel-Hauptstadt definiert ein Flächennutzungsplan nach seiner Aufhebung hingegen nicht mehr als solcher den normativen Rahmen für die Genehmigung von Projekten in dem betroffenen Gebiet. Insbesondere könne ein besonderer Flächennutzungsplan nach seiner Aufhebung nicht mehr im Sinne der Richtlinie 2001/42 als Plan angesehen werden, der für den Bereich der Raumordnung ausgearbeitet worden sei. Zudem gelte die Richtlinie nach ihrem Art. 2 Buchst. a nicht für Aufhebungsakte, die grundsätzlich fakultativ seien.
16. Das vorlegende Gericht stellt fest, dass die Bestimmungen über das Verfahren zur Ausarbeitung der besonderen Flächennutzungspläne, die eine öffentliche Untersuchung, die Befragung verschiedener Verwaltungen und Instanzen sowie die Erstellung eines Umweltberichts vorschrieben, auf das Verfahren zur Aufhebung dieser Pläne keine Anwendung fänden.
17. Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 erfasse zwar nicht die Aufhebung der Pläne, aus Art. 3 Abs. 2 Buchst. a dieser Richtlinie gehe jedoch hervor, dass eine Umweltprüfung nicht nur bei nationalen Rechtsakten, die die Raumordnung regelten, vorzunehmen sei, sondern auch bei jenen, die den Rahmen für die künftige Genehmigung von Projekten setzten. Daher müsse ein Rechtsakt der Regierung der Region Brüssel-Hauptstadt, der zu einem Gesamtpaket von Flächennutzungsplänen gehöre, diesem Verfahren auch unterzogen werden, wenn er bloß die Aufhebung der Pläne zum Gegenstand habe.
18. Zudem ergebe sich aus den Vorarbeiten zur Richtlinie 2001/42, dass diese nach Art. 2 Buchst. a zweiter Gedankenstrich nur für Pläne und Programme gelten solle, die aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften verlangt würden. Im vorliegenden Fall scheine Art. 40 CoBAT vorzuschreiben, dass jede Gemeinde der Region Brüssel-Hauptstadt besondere Flächennutzungspläne erstelle. Insoweit verträten die Parteien des Ausgangsverfahrens jedoch unterschiedliche Auffassungen. Außerdem betont das vorlegende Gericht, die kommunale Behörde könne sich in bestimmten Fällen weigern, einen besonderen Flächennutzungsplan auszuarbeiten.
19. In Anbetracht dieser unterschiedlichen Auslegungen der Richtlinie 2001/42 hat der belgische Verfassungsgerichtshof das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist die Definition der „Pläne un d Programme“ in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 dahin gehend auszulegen, dass sie ein Verfahren auf völlige oder teilweise Aufhebung eines Plans wie im Fall eines besonderen Flächennutzungsplans im Sinne der Art. 58 bis 63 CoBAT vom Anwendungsbereich dieser Richtlinie ausschließt?
2. Ist der Ausdruck „erstellt werden müssen“ in Art. 2 Buchst. a derselben Richtlinie dahin gehend aufzufassen, dass er Pläne, die zwar in Rechtsvorschriften vorgesehen sind, deren Annahme aber nicht verpflichtend ist, wie die besonderen Flächennutzungspläne im Sinne von Art. 40 CoBAT, von der Definition der „Pläne und Programme“ ausschließt?
Zu den Vorlagefragen
Vorbemerkungen
20. Vorab ist festzustellen, dass das wesentliche Ziel der Richtlinie 2001/42, wie es sich aus deren Art. 1 ergibt, darin besteht, dass Pläne und Programme, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, bei ihrer Ausarbeitung und vor ihrer Annahme einer Umweltprüfung unterzogen werden (Urteil vom 17. Juni 2010, Terre wallonne und Inter-Environnement Wallonie, C‑105/09 und C‑110/09, Slg. 2010, I‑5611, Randnr. 32).
21. Wenn eine solche Umweltprüfung von der Richtlinie 2001/42 verlangt wird, legt sie die Mindestanforderungen in Bezug auf die Ausarbeitung des Umweltberichts, die Durchführung von Konsultationen, die Berücksichtigung der Ergebnisse der Umweltprüfung sowie die Unterrichtung über die nach der Prüfung ergangene Entscheidung fest (Urteil Terre wallonne und Inter-Environnement Wallonie, Randnr. 33).
22. Art. 2 der Richtlinie 2001/42, der die Begriffsbestimmungen aufführt, auf die in der Richtlinie Bezug genommen wird, sieht vor, dass sie für Pläne und Programme gilt, die aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen und von einer Behörde auf nationaler, regionaler oder lokaler Ebene für die Annahme durch das Parlament oder die Regierung im Wege eines Gesetzgebungsverfahrens ausgearbeitet und/oder angenommen werden, sowie für deren Änderungen.
23. Das vorlegende Gericht ersucht den Gerichtshof, Art. 2 Buchst. a der Richtlinie sowohl in Bezug auf den Begriff des Aufhebungsakts (erste Vorlagefrage) als auch in Bezug auf den Begriff der Pläne und Programme, „die aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen“ (zweite Vorlagefrage), auszulegen.
Zur zweiten Vorlagefrage
24. Mit seiner zweiten Frage, die zunächst zu prüfen ist, da sie den Begriff der Pläne und Programme selbst betrifft, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob die in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 enthaltene Voraussetzung, dass die von dieser Bestimmung erfassten Pläne und Programme „aufgrund von Rechts- oder Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen“, dahin auszulegen ist, dass sie für Pläne und Programme wie die im Ausgangsverfahren fraglichen Flächennutzungspläne gilt, die in nationalen Rechtsvorschriften vorgesehen sind, deren Annahme durch die zuständige Behörde aber nicht verpflichtend ist.
25. Nach Ansicht der Klägerinnen des Ausgangsverfahrens birgt eine rein wörtliche Auslegung dieser Bestimmung dahin, dass Pläne und Programme, die in Rechts- oder Verwaltungsvorschriften lediglich vorgesehen seien, nicht in den Geltungsbereich der Richtlinie 2001/42 fielen, die doppelte Gefahr, dass Flächennutzungspläne, die normalerweise erhebliche Umweltauswirkungen auf das betroffene Gebiet hätten, nicht dem Prüfverfahren unterzogen würden, und dass angesichts der unterschiedlichen Formulierung der einschlägigen nationalen Regelungen keine einheitliche Anwendung dieser Richtlinie in den verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten gewährleistet sei.
26. Die belgische und die tschechische Regierung sowie die Regierung des Vereinigten Königreichs sind dagegen der Auffassung, dass sich nicht nur aus dem Wortlaut von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42, sondern auch aus den Vorarbeiten zu dieser Richtlinie ergebe, dass der Unionsgesetzgeber Verwaltungs- und Rechtsakte, die nicht durch Rechtsnormen vorgeschrieben seien, nicht dem mit dieser Richtlinie eingeführten Verfahren der Umweltverträglichkeitsprüfung habe unterziehen wollen.
27. Die Europäische Kommission vertritt die Auffassung, dass das „Muss“-Kriterium im Sinne des Art. 2 Buchst. a erfüllt sei, sobald eine Behörde der gesetzlichen Verpflichtung unterliege, einen Plan oder ein Programm auszuarbeiten oder anzunehmen. Dies scheine bei den Plänen, die von der Region Brüssel-Hauptstadt anzunehmen seien, der Fall zu sein.
28. Es ist davon auszugehen, dass einer Auslegung, die dazu führen würde, dass alle Pläne und Programme, insbesondere jene zur Flächennutzung, deren Erstellung in den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen durch Rechtsnormen geregelt wird, nur deshalb vom Geltungsbereich der Richtlinie 2001/42 ausgenommen wären, weil ihre Erstellung nicht unter allen Umständen verpflichtend ist, nicht gefolgt werden kann.
29. Die von den erwähnten Regierungen vertretene Auslegung von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 hätte nämlich zur Folge, dass der Umfang der mit dieser Richtlinie eingeführten Prüfung der Umweltauswirkungen von Plänen und Programmen zur Raumordnung der Mitgliedstaaten erheblich beschränkt würde.
30. Folglich würde eine solche Auslegung von Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 dadurch, dass sie deren Geltungsbereich spürbar einschränken würde, dieser Richtlinie in Anbetracht ihres Ziels, ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen, teilweise die praktische Wirksamkeit nehmen (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 22. September 2011, Valčiukienė u. a., C‑295/10, noch nicht in der amtlichen Sammlung veröffentlicht, Randnr. 42). Diese Auslegung liefe somit dem Zweck der Richtlinie zuwider, der darin besteht, ein Prüfverfahren für Rechtsakte zu schaffen, die voraussichtlich erhebliche Umweltauswirkungen haben, die Kriterien und Modalitäten der Bodennutzung festlegen und normalerweise eine Vielzahl von Projekten betreffen, bei deren Durchführung die in diesen Rechtsakten vorgesehenen Regeln und Verfahren einzuhalten sind.
31. Daher sind im Sinne und zur Anwendung der Richtlinie 2001/42 als Pläne und Programme, die „erstellt werden müssen“ und deren Umweltauswirkungen somit unter den in der Richtlinie festgelegten Voraussetzungen einer Prüfung zu unterziehen sind, jene Pläne und Programme anzusehen, deren Erlass in nationalen Rechts- und Verwaltungsvorschriften geregelt ist, die die insoweit zuständigen Behörden und das Ausarbeitungsverfahren festlegen.
32. Demnach ist auf die zweite Vorlagefrage zu antworten, dass der in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 enthaltene Begriff der Pläne und Programme, „die aufgrund von Rechts- und Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen“, dahin auszulegen ist, dass er sich auch auf besondere Flächennutzungspläne wie den in der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung vorgesehenen bezieht.
Zur ersten Vorlagefrage
33. Mit seiner ersten Vorlagefrage möchte der Verfassungsgerichtshof wissen, ob die völlige oder teilweise Aufhebung eines unter die Richtlinie 2001/42 fallenden Plans oder Programms einer Umweltprüfung im Sinne von Art. 3 dieser Richtlinie unterzogen werden muss.
34. Die Klägerinnen des Ausgangsverfahrens und die Kommission betonen, dass die Aufhebung eines Flächennutzungsplans materielle und rechtliche Auswirkungen habe und somit als eine Planänderung anzusehen sei, die in den Geltungsbereich der Richtlinie 2001/42 falle.
35. Die belgische und die tschechische Regierung vertreten dagegen den Standpunkt, dass diese Richtlinie nicht für die Aufhebung eines Plans gelte, da sie zum einen nur Änderungsakte erfasse und zum anderen mit der Aufhebung keine Festlegung des rechtlichen Rahmens für die zu verwirklichenden Bodennutzungsprojekte einhergehe. Die Regierung des Vereinigten Königreichs schließt sich dieser Ansicht ausschließlich in Bezug auf Rechtsakte zur völligen Aufhebung an.
36. Hierzu ist zunächst mit dem vorlegenden Gericht festzustellen, dass in der Richtlinie 2001/42 nicht von Rechtsakten zur Aufhebung, sondern nur von solchen zur Änderung von Plänen und Programmen die Rede ist.
37. In Anbetracht des Ziels der Richtlinie 2001/42, das darin besteht, ein hohes Umweltschutzniveau sicherzustellen, sind die Bestimmungen, die den Geltungsbereich dieser Richtlinie abgrenzen, und insbesondere jene, die die Definitionen der von ihr erfassten Rechtsakte aufführen, jedoch weit auszulegen.
38. In diesem Zusammenhang ist nicht ausgeschlossen, dass bei einer völligen oder teilweisen Aufhebung eines Plans oder Programms mit erheblichen Umweltauswirkungen zu rechnen ist, da diese Aufhebung eine Änderung der für die betreffenden Gebiete vorgesehenen Planung bedeuten kann.
39. So kann ein Aufhebungsakt erhebliche Umweltauswirkungen haben, da ein solcher Rechtsakt, wie zum einen die Kommission und zum anderen die Generalanwältin in den Nrn. 40 und 41 ihrer Schlussanträge angemerkt haben, zwangsläufig eine Änderung des rechtlichen Bezugsrahmens mit sich bringt und daher die Umweltauswirkungen beeinflusst, die gegebenenfalls nach dem in der Richtlinie 2001/42 vorgesehenen Verfahren geprüft worden waren.
40. Wenn die Mitgliedstaaten einen Umweltbericht im Sinne von Art. 5 Abs. 1 der Richtlinie erstellen, müssen sie u. a. die Informationen über „die relevanten Aspekte des derzeitigen Umweltzustands und dessen voraussichtliche Entwicklung bei Nichtdurchführung des Plans oder Programms“ im Sinne von Anhang I Buchst. b der Richtlinie berücksichtigen. Daher ist die Aufhebung eines Plans oder Programms, da sie den bei Annahme des aufzuhebenden Rechtsakts geprüften Umweltzustand ändern kann, im Hinblick auf eine Prüfung ihrer etwaigen späteren Umweltauswirkungen zu berücksichtigen.
41. Folglich würde es in Anbetracht der typischen Merkmale und Wirkungen der Akte zur Aufhebung des Plans oder Programms den vom Unionsgesetzgeber verfolgten Zielen zuwiderlaufen und könnte der Richtlinie 2001/42 teilweise ihre praktische Wirksamkeit nehmen, wenn diese Rechtsakte als von ihrem Geltungsbereich ausgeschlossen angesehen würden.
42. Es ist aber auch darauf hinzuweisen, dass dies grundsätzlich dann nicht der Fall ist, wenn der aufgehobene Rechtsakt Teil einer Hierarchie von Raumordnungsrechtsakten ist, sofern diese Rechtsakte hinreichend genaue Bodennutzungsregeln vorsehen, selbst Gegenstand einer Umweltverträglichkeitsprüfung waren und davon ausgegangen werden darf, dass die Interessen, die die Richtlinie 2001/42 schützen soll, in diesem Rahmen hinreichend berücksichtigt worden sind.
43. Demnach ist auf die erste Vorlagefrage zu antworten, dass Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 dahin auszulegen ist, dass ein Verfahren zur völligen oder teilweisen Aufhebung eines Flächennutzungsplans wie das in den Art. 58 bis 63 CoBAT vorgesehene grundsätzlich in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt und somit ihren Bestimmungen über die Prüfung der Umweltauswirkungen unterliegt.
Kosten
44. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Tenor
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Vierte Kammer) für Recht erkannt:
1. Der in Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Juni 2001 über die Prüfung der Umweltauswirkungen bestimmter Pläne und Programme enthaltene Begriff der Pläne und Programme, „die aufgrund von Rechts- und Verwaltungsvorschriften erstellt werden müssen“, ist dahin auszulegen, dass er sich auch auf besondere Flächennutzungspläne wie den in der im Ausgangsverfahren fraglichen nationalen Regelung vorgesehenen bezieht.
2. Art. 2 Buchst. a der Richtlinie 2001/42 ist dahin auszulegen, dass ein Verfahren zur völligen oder teilweisen Aufhebung eines Flächennutzungsplans wie das in den Art. 58 bis 63 des Brüsseler Raumordnungsgesetzbuchs in der durch die Ordonnanz vom 14. Mai 2009 geänderten Fassung vorgesehenen grundsätzlich in den Geltungsbereich dieser Richtlinie fällt und somit ihren Bestimmungen über die Prüfung der Umweltauswirkungen unterliegt.