BGH, 10.10.1979 - 3 StR 281/79 (S)
Zu den Voraussetzungen für die Annahme eines Verbots, die Niederschrift über die Aussage eines Zeugen vor der Polizei zu verwerten, wenn der Zeuge deswegen für das Gericht nicht erreichbar ist, weil eine Behörde dazu erforderliche Auskünfte verweigert.
Tenor
Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wird das Urteil des Landgerichts Frankfurt am Main vom 18. April 1979 mit den Feststellungen aufgehoben.
Die Sache wird zu neuer Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Rechtsmittels, an eine andere Strafkammer des Landgerichts zurückverwiesen.
Gründe
Das Landgericht hat den Angeklagten von dem Vorwurf der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung (§ 129 StGB) freigesprochen. Hiergegen richtet sich die auf die Verletzung förmlichen Rechts gestützte Revision der Staatsanwaltschaft. Das Rechtsmittel, das von dem Generalbundesanwalt vertreten wird, ist begründet.
I.
Der Tatverdacht gegen den Angeklagten beruht auf den Angaben eines früheren Mitgliedes der Vereinigung, die er unterstützt haben soll, des Zeugen M. In der Hauptverhandlung sind Auszüge aus Niederschriften über dessen polizeiliche Vernehmungen verlesen worden. Die Gründe des die Verlesung anordnenden Gerichtsbeschlusses lauten:
"Die Verlesung kann erfolgen, weil der Zeuge in absehbarer Zeit gerichtlich nicht vernommen werden kann (§ 251 II StPO). Sein Aufenthaltsort ist von der Kammer nicht zu ermitteln. In dem hier anhängigen Verfahren gegen A. (5/23 KLs 4 Js 1269/76), in dem der Zeuge M. ebenfalls benötigt wird, hat der Vorsitzende der Kammer sämtliche Innen- und Justizminister/-senatoren der Bundesländer, den Präsidenten des BKA und den Generalbundesanwalt um Auskunft über den Aufenthaltsort bzw. die ladungsfähige Anschrift des Zeugen gebeten. Diese Stellen haben der Kammer im März 1979 jeweils mitgeteilt, der Aufenthaltsort bzw. die ladungsfähige Anschrift des Zeugen sei nicht bekannt. Das Kriminalamt Hamburg hat darüberhinaus durch Fernschreiben vom 20.3.1979 mitgeteilt, der Zeuge M. sei am 15.2.1979 aus der Strafhaft mit der Entlassungsanschrift: "ohne feste Wohnung" entlassen worden. Auf erneute Anfrage hat die Justizbehörde Hamburg geantwortet, weitere Auskünfte würden nicht erteilt, weil dies die Gefahr von Straftaten gegen das Leben des Zeugen erhöhen würde und damit die öffentliche Aufgabe, solche Straftaten zu verhindern, gefährdet wäre. Der Staatsschutzkammer des LG Karlsruhe ist der Aufenthaltsort des Augen ebenfalls nicht bekannt, so daß auch dort ein Verfahren ohne richterliche Vernehmung des Zeugen M. durchgeführt werden mußte."
Das Landgericht hat die Einlassung des Angeklagten, der den Tatvorwurf bestreitet, nicht für widerlegt erachtet, weil es sich wegen des aus dem Rechtsstaatsprinzip hergeleiteten Gebots des fairen Verfahrens gehindert glaubte, die verlesenen Aussagen des Zeugen zu verwerten oder die Verhörspersonen zu vernehmen. Dadurch, daß die "Strafverfolgungsbehörden" den Zeugen dem Gericht bewußt vorenthielten, hätten sie, so meint die Strafkammer, dem Angeklagten die Chance genommen, auf den Inhalt der Aussagen des Zeugen im Rahmen einer Vernehmung vor dem erkennenden Gericht Einfluß zu nehmen. Zur Sicherung eines fairen justizförmigen Verfahrens durch eine unabhängige Rechtsprechung sei es "unerläßlich zu verhindern, daß ein entscheidender Teil der Beweisaufnahme letztlich nicht mehr vom Gericht, sondern von den Strafverfolgungsbehörden unter Ausschluß des Angeklagten durchgeführt wird".
II.
Diese Verfahrensweise beanstandet die Revision zu Recht. Sie verletzt - diese Rüge ist dem auf § 251 Abs. 2 StPO gestützten Vorbringen der Beschwerdeführerin zu entnehmen - die Vorschrift des § 261 StPO.
1. Nach dem in der genannten Vorschrift zum Ausdruck kommenden Grundsatz der umfassenden Beweiswürdigung ist das Gericht verpflichtet, alle in der Hauptverhandlung erhobenen Beweise zu würdigen und seinem Urteil zugrundezulegen, sofern nicht im Einzelfall ausnahmsweise ein Beweisverwertungsverbot entgegensteht. Das Landgericht hat nicht etwa den Inhalt der verlesenen Aussage des Zeugen M. als zur Überführung des Angeklagten nicht ausreichend angesehen - was nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung möglich gewesen wäre -, sondern hat es von vornherein abgelehnt, dieses in die Hauptverhandlung eingeführte Beweismittel auf seinen Beweiswert zu überprüfen. Dazu fehlte ihm die verfahrensrechtliche Befugnis, da die tatsächlichen Voraussetzungen eines Beweisverwertungsverbots nicht festgestellt sind.
2. Allerdings ist dem Landgericht zuzugeben, daß es Fälle gibt, in denen der Grundsatz des fairen Verfahrens es gebieten kann, auf die Verwertung eines Beweismittels ganz zu verzichten (BGHSt 24, 125 [131]). Das gilt auch für polizeiliche Niederschriften über Zeugenvernehmungen, die, wenn sie als Ersatz für die Zeugenvernehmung in der Hauptverhandlung dienen sollen, grundsätzlich ein schlechteres Beweismittel darstellen als diese. Das rechtsstaatliche Erfordernis, nach Möglichkeit den Zeugen selbst zu vernehmen, findet seinen Ausdruck nicht nur in dem Grundsatz der persönlichen Vernehmung durch das Gericht (§ 250 StPO), sondern auch in Artikel 6 Abs. 3 Buchst. d MRK und § 240 StPO, wonach der Angeklagte das Recht hat, Fragen an die Zeugen zu stellen oder stellen zu lassen.
Die Pflicht des Gerichts, die Wahrheit durch die Vernehmung der Tatzeugen in der Hauptverhandlung zu erforschen, wird indes in vielfacher Hinsicht begrenzt. Das Gesetz sieht ausdrücklich vor, daß unter bestimmten Voraussetzungen richterliche Vernehmungsniederschriften und unter noch engeren Voraussetzungen auch Niederschriften über andere, also auch polizeiliche Vernehmungen, ja sogar schriftliche Äußerungen des Zeugen als Beweismittel verwendet werden (§ 251 StPO). Eine dieser Voraussetzungen ist die Unerreichbarkeit des Zeugen für das Gericht. Daß sie auf der Weigerung einer Behörde beruht, ihr Wissen von dem Aufenthalt des Zeugen mitzuteilen oder ihren Angehörigen die Aussage über Umstände zu genehmigen, auf die sich ihre Pflicht zur Amtsverschwiegenheit bezieht, macht grundsätzlich keinen Unterschied. Aus § 54 StPO ergibt sich, daß der Gesetzgeber eine solche Beschränkung der Aufklärungsmöglichkeiten zuläßt. Das Rechtsstaatsprinzip wird dadurch noch nicht ohne weiteres verletzt, weil die Pflicht des Gerichts, die dann noch verbleibenden Beweismittel besonders sorgfältig auf ihre Überzeugungskraft zu überprüfen (§ 261 StPO; vgl. BGHSt 17, 382 [385 f.], in aller Regel ein faires Verfahren gewährleistet.
Anders kann es allerdings liegen, wenn die Behörde, die Hinweise auf den Aufenthalt des Zeugen geben könnte, diese dem Gericht nicht nur - wie es in dem angefochtenen Urteil ausgedrückt wird - "bewußt vorenthält", sondern wenn dieses Verhalten willkürlich oder jedenfalls mißbräuchlich erscheint. Es würde dem Gebot des fairen Verfahrens widersprechen, die Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung durch die Verlesung der Niederschriften über seine früheren Aussagen vor der Polizei zu ersetzen, ohne daß Gründe geltend gemacht und im Rahmen des Möglichen belegt werden, die das Gericht in den Stand versetzen zu prüfen, ob dies unumgänglich ist. Im Hinblick auf die Pflicht des Gerichts, von Amts wegen die Wahrheit zu erforschen (§ 244 Abs. 2 StPO), muß es sich jedoch umfassend und nachdrücklich darum bemühen, die Behörde zu einer möglichst weitgehenden Erfüllung des gerichtlichen Ersuchens zu bewegen, bevor es willkürliches oder mißbräuchliches Verhalten annimmt und daraus ein Beweisverwertungsverbot herleitet. Dabei wird zu beachten sein, daß die grundgesetzlich verankerte Pflicht zur Gewährung eines rechtsstaatlichen Verfahrens (Art. 20 Abs. 3 GG) sich auch auf den Umfang der Amtshilfepflicht der Behörden (Art. 35 GG) auswirkt. Diese haben deshalb grundsätzlich dazu beizutragen, daß dem Gericht möglichst gute Beweismittel zur Verfügung stehen.
Den genannten Erfordernissen ist das Landgericht nicht ausreichend gerecht geworden. Es hat ein Verwertungsverbot bereits aufgrund der bloßen Tatsache angenommen, daß die Behörden, die nach seiner Meinung den Aufenthaltsort des Zeugen M. kennen, ihr Wissen nicht preisgegeben haben. Das beruht auf Rechtsirrtum. Es liegt auf der Hand, daß es Situationen geben kann, in denen es unter keinen Umständen zu verantworten ist, die Anschrift eines Zeugen zu den Gerichtsakten mitzuteilen. Die Verweigerung der Mitteilung kann in solchen Fällen keine Verfahrenslage schaffen, die auf willkürlichem oder mißbräuchlichem Verhalten staatlicher Stellen beruht und deshalb zum Verbot der Verwendung vorhandener, wenn auch weniger beweiskräftiger Beweismittel führen muß. Im vorliegenden Fall steht außer Frage, daß der Zeuge M. durch sein Aussageverhalten die Feindschaft seiner früheren Tatgenossen auf sich gezogen hat und daß eine erhebliche Gefahr für sein Leben besteht, wenn sein jetziger Aufenthaltsort den noch in Freiheit befindlichen Mitgliedern der kriminellen Vereinigung, der er angehört hat, bekannt wird. Gegen die Verheimlichung seiner Anschrift können offensichtlich Bedenken aus dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens nicht erhoben werden.
Das bedeutet aber nicht, daß das Landgericht sich mit der Weigerung der Behörden, die Adresse des Zeugen mitzuteilen, ohne weiteres abfinden darf mit der Folge, daß auf die Niederschriften über die polizeilichen Vernehmungen zurückzugreifen ist. Es muß vielmehr versuchen, die zuständige Behörde zu einer substantiierten Äußerung über ihre Sicherheitsbedenken zu bewegen, und auf die Möglichkeit hinweisen, den Zeugen auf den Wegen zum Gericht und zurück sowie im Gericht selbst so zu sichern, daß er vor Anschlägen auf sein Leben geschützt ist (vgl. BGHSt 22, 311 [313]). Dabei könnte gegebenenfalls zugesichert werden, daß auf die Mitteilung der Anschrift des Zeugen ebenso verzichtet wird wie - im Falle einer Identitätsänderung - auf die Angabe seines jetzigen Namens. Dem stände § 68 StPO dann nicht entgegen, wenn nur so eine Vernehmung des Zeugen in der Hauptverhandlung und damit ein rechtsstaatlich besseres Verfahren ermöglicht werden kann. Ferner darf das Gericht nicht außer acht lassen, daß eine kommissarische Vernehmung geeignet sein kann, die Gefahren für den Zeugen in zumutbarer Weise einzugrenzen. Auf diesem Wege könnte möglicherweise ein Beweismittel geschaffen werden, das dem gegenwärtig allein zur Verfügung stehenden Polizeiprotokoll überlegen, wenn auch im Vergleich zur Vernehmung in der Hauptverhandlung geringerwertig sein wird. Erst wenn sich ergeben sollte, daß die zuständige Behörde ohne einen dem Gericht einleuchtend erscheinenden Grund jede weitere Zusammenarbeit bei der Erlangung eines möglichst guten Beweismittels verweigert, könnte an einen Mißbrauch oder gar an Willkür mit der Folge eines Beweisverwertungsverbots gedacht werden. Bei der Beurteilung, ob die Haltung der Behörde als mißbräuchlich gekennzeichnet werden kann, wird hier nicht außer Betracht bleiben dürfen, daß der Zeuge M. noch mehr als sechs Monate nach Anklageerhebung in Strafhaft saß und für eine in dieser Zeit durchgeführte Hauptverhandlung zur Verfügung gestanden hätte.
Nach alledem durfte das Landgericht nicht unter Berufung auf ein Beweisverwertungsverbot davon absehen, die verlesenen Vernehmungsniederschriften als Beweismittel zu würdigen. Auf dem Fehler beruht das Urteil. Es ist daher aufzuheben.
III.
In der neuen Hauptverhandlung wird das Landgericht sich im Sinne der obenstehenden Erwägungen um eine Vernehmung des Zeugen M. bemühen müssen. Der Senat weist darauf hin, daß die im Falle der Erfolglosigkeit solcher Bemühungen erneut zu prüfende Frage, ob die Voraussetzungen einer Verlesung der polizeilichen Niederschriften vorliegen, unter Berücksichtigung der gleichen Kriterien zu entscheiden sein wird, wie sie bei der Prüfung, ob ein Beweisverwertungsverbot aus dem Gesichtspunkt des fairen Verfahrens gegeben ist, zu beachten sind. Das Landgericht wird auch zu prüfen haben, ob die Aufklärungspflicht es gebietet, zusätzlich die Verhörspersonen zu vernehmen.