RG, 25.10.1912 - V 487/12
1. Inwiefern muß ein als Urkunde in Betracht gezogener Gegenstand auf eine bestimmte Person als Aussteller hinweisen, um als Urkunde gelten zu können?
2. Kommt es darauf an, daß sich derjenige, dem gegenüber von der Urkunde Gebrauch gemacht wird, unter dem Aussteller eine bestimmte Person vorstellen kann?
3. Sog. "versteckte Anonymität".
Sachverhalt
Am 3. Dezember 1911 sollte im Hause des Gastwirts O. in M. ein Ball stattfinden. Kurz vorher schrieb der Angeklagte an das Landratsamt in St. folgenden Brief:
An Landratsamt.
Bei Gastwirt O. in M. ist Sonntag Clubball. Im selben Hause sind zwei Mädchen an Dephteritis krank. Wie ist es? Liegt keine Gefahr vor? Kann der Ball abgehalten werden? Es scheint mir bedenklich. Wo ist die Polizei?
Schomaker.
Die Strafkammer sprach den Angeklagten von der Anklage wegen Urkundenfälschung frei. Auf die Revision der Staatsanwaltschaft wurde in Übereinstimmung mit dem Antrag des Oberreichsanwalts das Urteil aufgehoben.
Gründe
"Die Strafkammer verneint Urkundenfälschung lediglich mit der Begründung, daß die den Gegenstand der Anklage bildende, vom Angeklagten hergestellte Eingabe insofern keine Urkunde sei, als sie ihrem Inhalt und ihrer Unterzeichnung nach nicht auf eine bestimmt Person als Aussteller hinweise. Sie nimmt an, daß ein Fall sogenannter Versteckter Anonymität vorliege, und leitet diese daraus her, daß der unterzeichnete Name "Schomaker" in dortiger Gegend sehr häufig wiederkehre und daß es im Dorfe M., auf das sich der Inhalt des Schriftstücks bezieht, allein 7 bis 8 Familien dieses Namens gebe. "Der Inhalt der Urkunde habe mithin den Empfänger völlig im unklaren darüber gelassen, wen er sich unter dem Absender vorzustellen habe: der Fall sei nicht anders zu beurteilen, als wenn in einer großen Stadt jemand ein mit "Müller" oder "Schulze" unterzeichnetes Schreiben an eine Behörde absende."
Diese Ausführung ist nicht frei von Rechtsirrtum. Die Anforderung, die die Strafkammer an die begrifflichen Voraussetzungen einer Urkunde stellt, gehen zu weit.
Allerdings hat das Reichsgericht stets an dem Erfordernis festgehalten, daß der als Urkunde in Betracht kommende Gegenstand auf eine bestimmte Person als Aussteller hinweist.
Entsch. in Strafs. Bd. 34 S. 205, Bd. 36 S. 129, Bd. 38 S. 248, Bd. 40 S. 217.
Dies ist aber nicht dahin zu verstehen, daß aus der Urkunde allein und unmittelbar erkennbar sein müsse, welche zur Zeit der Ausstellung lebende Person die Urkunde ausgestellt hat. Außer dem Inhalt der Urkunde und außer der etwaigen Unterschrift, ihrer Art, Form und sonstigen Beschaffenheit, dürfen vielmehr bei der Frage, ob die Urkunde einen solchen Hinweis enthält, die begleitenden Umstände mit herangezogen werden insbesondere die mit dem Inhalte der Urkunde gegebenen tatsächlichen und rechtlichen Beziehungen. Selbst wenn die Urkunde eine Unterschrift aufweist, was begrifflich nicht notwendig ist, und wenn die Unterschrift den vollen Namen des Ausstellers wiedergibt, wird eine Prüfung dieser Art in mehr oder minder umfassender Weise kaum zu entbehren sein, zumal im Rechtsleben gar nicht vorausgesetzt werden kann und - nach den Zwecken einer Urkunde - auch gar nicht vorausgesetzt zu werden braucht, daß es überhaupt nur einen einzigen Träger eben dieses Namens gibt. Dabei ist aber der weiteren Tatsache Rechnung zu tragen, daß im Rechtsleben rechtsgeschäftliche oder sonst rechtserhebliche Schriftstücke vielfach auch nur mit dem Zunamen des Ausstellers gezeichnet werden, wodurch der Hinweis auf dessen Person jedenfalls unbestimmter wird. Gleichwohl kann solchen Schriftstücken nicht mit der Behauptung mangelnder Erkennbarkeit des Ausstellers die Eigenschaft einer Urkunde versagt werden. Die aufgestellten Gesichtspunkte führen endlich dazu, daß einem derartigen Schriftstück, selbst wenn es nur mit dem Vornamen des Ausstellers oder mit den Anfangsbuchstaben seines Namens oder ähnlich gezeichnet ist, nicht grundsätzlich die Bedeutung einer Urkunde abgesprochen werden darf.
Weitergehende Anforderungen sind auch an eine fälschlich angefertigte, eine unechte Urkunde, nicht zu stellen. Es kommt nur darauf an, daß die als fälschlich angefertigt in Betracht zu ziehende Urkunde den Anschein einer echten erwecken soll, also u.a. in dem vorstehend dargelegten Sinne auf eine bestimmte Person als Aussteller hinweist. Ob das im einzelnen Falle zutrifft, wird allerdings wesentlich Tatfrage sein. Allein die Strafkammer hat bei deren Beurteilung ersichtlich einen unrichtigen Maßstab angelegt.
Sie erkennt an, daß das unter die Eingabe gesetzte Wort Schomaker nicht etwa zur Berufsbezeichnung des Ausstellers dient, sondern daß es sich als Personennamen darstellt und damit jedenfalls auf eine Person, die diesen Namen trägt, hinweist. Sie findet den Hinweis in den von ihr angestellten Erwägungen nur zu unbestimmt. Dabei läßt sie sich ganz augenscheinlich von der Vorstellung beeinflussen, daß, wenn in einer großen Stadt jemand ein mit "Müller" oder "Schulze" unterzeichnetes Schreiben an eine Behörde absendet, ein solches Schreiben nicht als eine fälschlich angefertigte Urkunde angesehen werden könne. Das ist in solcher Allgemeinheit nicht richtig.
Für die Beurteilung der Urkundeneigenschaft würde es zunächst keinen rechtlichen Unterschied begründen, ob sich solchergestalt unterzeichnete Schriftstücke als Eingaben an Behörden oder als rechtsgeschäftliche Erklärungen darstellen. Wollte man den Satz der Strafkammer aber mit Bezug auf rechtsgeschäftliche Erklärungen gelten lassen, so würde darin die Voraussetzung liegen, daß die Träger des Namens "Müller" oder "Schulze" oder anderer häufig wiederkehrender Namen in großen Städten auch echte rechtsgeschäftliche Urkunden, zu deren Unterzeichnung sie sich lediglich ihres Zunamens bedienen, nicht anfertigen könnten, daß m.a.W. Schriftstücke rechtsgeschäftlicher Art, die sie nur mit ihrem Zunamen zeichnen, keine Urkunden wären. Davon kann nach dem Gesagten keine Rede sein. Für die Annahme einer fälschlich angefertigten Urkunde ist aber nach dem Ausgeführten nichts weiter erforderlich, als daß sich diese als die Nachahmung einer echten Urkunde gibt, d.h. daß, soweit das Erfordernis des Hinweises auf eine bestimmte Person als Aussteller in Betracht kommt, der aus ihr zu entnehmende Hinweis, unter Voraussetzung ihrer Echtheit, hinreichen würde, sie als Urkunde zu kennzeichnen. Es ist darum genügend, wenn sie den Eindruck hervorruft, eine bestimmte Person, die den daruntergesetzten Namen trägt, wolle sich zu ihr als Aussteller bekennen, sich als ihr Aussteller erkennbar machen.
Ob diese Person wirklich ermittelt werden kann, ist rechtlich ohne Belang. Wie das Reichsgericht in ständiger Rechtsprechung annimmt, braucht die Person, hinsichtlich deren durch die fälschlich angefertigte Urkunde der Anschein erweckt werden soll, daß sie deren Aussteller ist, weder zu leben, noch gelebt zu haben; sie kann vielmehr auch lediglich vorgetäuscht (singiert) sein.
Entsch. in Straff. Bd. 5 S. 151, Bd. 8 S. 187.
Deshalb kommt es auch nicht darauf an, ob sich der "Empfänger" einer Urkunde, wovon der Erstrichter ausgeht, unter ihrem Absender eine bestimmte Person vorstellen kann: er braucht diese Person, selbst wenn sie lebt oder gelebt haben sollte, weder zu kennen, noch von ihr zu wissen.
Aus diesen Gründen wird ein - fälschlich angefertigtes - Schriftstück, das einen sich als Unterschrift einer Person gebenden Namen trägt, wenn sonst die Voraussetzungen einer Urkunde vorliegen, in der Regel als Urkunde betrachtet werden müssen.
Anders liegt die Sache allerdings dann, wenn nach den besonderen stets näher darzulegenden Umständen des Einzelfalls durch die Urkunde trotz ihrer Unterzeichnung mit einem Personennamen gar nicht der Eindruck erweckt werden soll, als rühre sie von einer der Individualität nach bestimmten Person dieses Namen her, wenn vielmehr ersichtlich nur auf irgend einen, gleichviel welchen der vielleicht sehr zahlreichen Träger des unterschriebenen Namens hingewiesen wird. In einem solchen Falle käme die Unterschrift nach der Urkunde und dem Eindruck, den sie hervorrufen soll, sachlich einer gattungs- oder klassenmäßigen Bezeichnung des Ausstellers gleich; sie besagte soviel, als "ein Träger des Namen Müller oder Schulze". So verstanden, würde eine Unterschrift dieser Art nichts wesentlich anderes bedeuten, als die Unterschrift "eine Bürger der Stadt", "ein Mitglied der Gemeinde", "ein akademisch Gebildeter" u. dgl. Alsdann könnte sog. versteckte Anonymität angenommen werden.
Urteil des erkennenden Senats vom 31. März 1908 g. Sch. 5. D. 150/08 (Goltd. Arch. Bd. 55 S. 310).
Das Urteil bietet nicht die Gewähr, daß diese rechtlichen Gesichtspunkte darin Beachtung gefunden haben. Es unterlag daher der Aufhebung."
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RG, 25.10.1912 - V 48712 - RGSt 46, 297.pdf | 74.86 KB |