RG, 27.03.1917 - V 97/17
1. Zum Begriff der Gesamturkunde.
2. Kann ein von einem Brauereikutscher über Lieferungen an einen Kunden geführtes Bierbuch als Urkunde angesehen werden?
Sachverhalt
Der Angeklagte ist beim Bürgerlichen Brauhaus in H. als Kutscher bedienstet. Seit Jahren fuhr er im Auftrag des Brauhauses der Schankwirtin O. Bier zu. Die Lieferungen schrieb er in ein von der Schankwirtin verwahrtes Bierbuch ein. Dieses Bierbuch bildete "die Unterlage für die der Schankwirtin O. gelieferten Mengen". Auf einer Seite ließ er die letzte Reihe frei und setzte die Eintragungen auf der nächsten Seite fort. An der so freigebliebenen Stelle trug er nachträglich eine, wie er wußte, von ihm nicht bewirkte Lieferung von 1 hl 51 l Bier ein. Tatsächlich hat er die aufgeführte Bierlieferung anderweitig verwendet und das erhaltene Geld einbehalten. Damit spiegelte er der Brauerei vor, daß die Lieferung durch ihn an die Schankwirtin O. erfolgt sei, versetzte sie hierüber in Irrtum und bestimmte sie dadurch zur Einklagung des Kaufpreises gegenüber der die Zahlung verweigernden Schankwirtin O. In diesem Rechtsstreit erklärte er sich dann zur Zahlung des ausstehenden Betrags und zur Übernahme sämtlicher Prozeßkosten bereit.
Das Landgericht führt weiter aus, daß er das Bierbuch, eine zum Beweise von Rechten und Rechtsverhältnissen erhebliche Privaturkunde, durch die Einfügung der Lieferung unter die fortlaufenden Einträge in rechtswidriger Absicht verfälscht habe. Von diesem habe er zum Zwecke der Täuschung der Schankwirtin O. Gebrauch gemacht, indem er ihr das Buch alsdann zurückgab, um in ihr den Glauben zu erwecken, die Lieferung sei geschehen, und sie zu bewegen, den Kaufpreis an die Brauerei zu entrichten und sich selbst in dem Besitze des durch anderweitige Verwertung des Bieres ihm zugeflossenen Geldes zu erhalten. Damit habe er sich einen bewußt rechtswidrigen Vermögensvorteil verschaffen wollen. Durch die Täuschung der Brauerei sei auch das Vermögen der O. von ihm vorsätzlich beschädigt worden, da er diese mit einer wenngleich anfechtbaren Schuldverbindlichkeit belastet und in die Lage gebracht habe, einen Rechtsstreit führen zu müssen, der Ansprüche ihrer Prozeßvertreter wider sie begründete.
Das rechtfertigt die Verurteilung des Angeklagten wegen gewinnsüchtiger Privaturkundenfälschung, begangen in Tateinheit mit Betrug.
Gründe
Verfälscht ist nach der Auffassung der Strafkammer von ihm das Bierbuch. Damit wird die Annahme einer fälschlichen Anfertigung oder Verfälschung eines Einzeleintrags abgelehnt. Mit Recht. Denn die Einschaltung der erdichteten Lieferung war, allen Beteiligten offensichtlich, von dem wahren Aussteller bewirkt; davon, daß mit ihr der Schein erweckt werden sollte und erweckt worden wäre, als rühre die urkundliche Erklärung von einer anderen Person her, kann deshalb nicht die Rede sein. Ebensowenig liegt eine Verfälschung dieses oder eines anderen Eintrags vor. Denn es ist nicht nachgewiesen, daß der Angeklagte daran etwas verändert und so den falschen Schein hervorgerufen oder hervorzurufen versucht hatte, als ob irgend eine seiner einzelnen Beurkundungen einen anderen Inhalt habe. Kommt hiernach als möglicher Gegenstand der Fälschung in der Tat nur das Bierbuch als Ganzes in Frage, so ist der Strafkammer auch darin nicht entgegenzutreten, daß dieses unter den obwaltenden Verhältnissen eine zum Beweise von Rechten oder Rechtsverhältnissen erhebliche Privaturkunde darstelle.
Zwar beschränkt sich hierbei das angefochtene Urteil auf die kurze Bemerkung, das Buch bilde die Unterlage für die der O. gelieferten Mengen Bieres. Aus dem Zusammenhang mit den sonstigen Ausführungen erhellt indes, daß der Erstrichter von den nämlichen Erwägungen ausgegangen ist, die in der Rechtsprechung des Reichsgerichts die Entwicklung des Rechtsbegriffs der Gesamturkunde und deren Einbeziehbarkeit in den Kreis der Gegenstände der Fälschungsverbrechen (§§ 267 flg., 348 flg. StGB), bestimmt haben Wie es einerseits üblich ist, eine Mehrzahl von Aufzeichnungen oder Eintragungen oder eine Reihe von Schriftstücken, die zu einem Ganzen vereinigt worden sind, in erster Linie als einzelne Urkunden zu würdigen, so ist es andererseits auch nicht ausgeschlossen, sie unter Umständen zusammengefaßt als einheitliche, in sich geschlossene Urkunde zu betrachten, die sich von jenen Einzelurkunden als eine für sich bestehende Gedankenäußerung abhebt, ein besonderes Rechtsgebilde verkörpert und als solches eine selbständige Bedeutung und formelle Beweiskraft für das Rechtsleben hat.
Erforderlich erscheint hierzu einmal, daß die Einrichtung, Herstellung und Führung der einheitlichen oder Gesamturkunde, sei es in Buch- oder anderer Form, auf Gesetz, Geschäftsbrauch oder Vereinbarung der Beteiligten beruht und nach Art und Inhalt eine gewisse Gewähr für die Geschlossenheit und Vollständigkeit der Sammlung aller auf einen bestimmten Bereich von Rechtsangelegenheiten bezüglichen Schriftstücke bietet, und sodann, daß mit deren Verbindung von den Beteiligten gerade bezweckt wird, gewisse Geschäftsbeziehungen, z.B. eine Reihe einzelner Rechtsgeschäfte oder Lieferungen, erschöpfend anzugeben und so ein einheitliches Bild des wechselseitigen Forderung- und Schuldverhältnisses zu schaffen. Eine solche zeitlich und fachlich ordnungsmäßig geführte Gesamturkunde soll und wird in der Regel den völligen oder doch unterstützenden Nachweis des Abschlusses der in ihr enthaltenen wie des Nichtabschlusses der in ihr nicht enthaltenen Rechtsgeschäfte ermöglichen. Von diesem Standpunkt aus sind Handelsbücher, darin befindliche Konten, echte Kontokorrente, Sparkassenbücher, öffentliche Register als Urkunden - neben den Einzeleintragungen - anerkannt und ist namentlich die Anwendbarkeit der vorgedachten Rechtsgrundsätze auch auf sogen. Beibücher in einem dem gegenwärtigen ähnlichen Bierlieferungsfall eingehend dargelegt worden. (RGSt. Bd. 48 S. 406; Bd. 49 S. 32; Bd. 31 S. 175).
In offenbarem Anschluß daran beurteilt die Strafkammer das vom Angeklagten geführte Bierbuch als eine in sich geschlossene Urkunde, die nach der Vereinbarung der Beteiligten den gesamten Bierbezug der O. im Wechselverhältnis der Brauerei, des Angeklagten und der Kundin durch fortlaufende Eintragungen des Bierfahrers nachzuweisen bestimmt und dazu auch geeignet war. In dieser ihrer rechtlichen Eigenschaft als Beurkundung einer an sich selbständigen und von den Einzeleinträgen unabhängigen beweiserheblichen Gedankenäußerung konnte sie daher durch die Einschiebung einer nicht erfolgten Lieferung mit dem Erfolg inhaltlich verändert werden, daß es fälschlich schien, als sei das so beurkundete Gesamtergebnis das von vornherein vorhanden gewesene. Die Verfälschung betraf mithin eine Urkunde im Sinne der § 267, § 268 Abs. 1 Nr. 1 StGB." ...
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RG, 27.03.1917 - V 9717 - RGSt 51, 36.pdf | 57.12 KB |