RG, 25.03.1919 - III 494/18

Daten
Fall: 
Arzneimittel
Fundstellen: 
RGZ 95, 204
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
25.03.1919
Aktenzeichen: 
III 494/18
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 

* LG Elberfeld
* OLG Düsseldorf

Stichwörter: 

* Krankenkassen und Apotheken.

1. Sind Verbandstoffe Arzneimittel im Sinne des § 376 Abs. 3 der Reichsversicherungsordnung?
2. Darf eine Krankenkasse für den Bezug der Kassenmitglieder aus einer Apotheke die vorherige Abstempelung der ärztlichen Verordnung durch die Kasse vorschreiben?
3. Stellt die Befugnis der Kassenmitglieder zum Bezug aus einer Apotheke ein Rechtsverhältnis zwischen Apotheke und Kasse dar?

Sachverhalt

Der Regierungspräsident in Düsseldorf hatte durch Bekanntmachung vom 22. Dezember 1913 gemäß § 376 Abs. 3 RVO. bestimmt, daß die Mitglieder der Krankenkassen im Regierungsbezirke Düsseldorf gewisse Arzneimittel, darunter Verbandstoffe (Watte, Mull, Gaze, Binden) zu einem von ihm festgesetzten Höchstpreise auch von den Apotheken gegen Bezahlung durch die Kasse beziehen dürfen. Der Kläger hat solche Mittel, insbesondere Verbandstoffe, auf rote Rezeptformulare der Beklagten an deren Mitglieder geliefert und fordert Bezahlung. Die Beklagte lehnt Zahlung ab, weil die Rezeptformulare nicht vorher von ihr gestempelt waren, und will auf Widerklage festgestellt wissen, daß sie nicht verpflichtet sei, dem Kläger Brillen, Bruchbänder, Bandagen, Bäder, Verbandstoffe, insbesondere Verbandwatte, Verbandmull, Mullbinden, Cambricbinden, Gazebinden und Guttaperchapapier und alle anderen ärztlichen Verordnungen, soweit es sich nicht um Arzneien (Medikamente) handelt, zu bezahlen, welche ihre Mitglieder vom Kläger geliefert erhalten haben, ohne daß das vorgelegte Rezeptformular von ihr abgestempelt war.

§ 8 Nr. 4 der Krankenordnung der Beklagten bestimmt nämlich unter der Überschrift "Entnahme der ärztlich verordneten Arzneien und Heilmittel" folgendes:

"Brillen, Bruchbänder, Bandagen, Bäder, Massagen und alle anderen ärztlichen Verordnungen, soweit es sich nicht um Arzneien (Medikamente) handelt, sind, sofern solche an der Kasse nicht abgegeben werden, von solchen Lieferanten zu entnehmen, die vom Vorstande zur Lieferung zugelassen sind. Die Kosten hierfür werden aber nur dann von der Kasse bezahlt, wenn die Verordnung vorher mit dem Genehmigungsstempel der Kasse versehen worden ist".

In Ausführung dieser Bestimmung führte die Beklagte zunächst Rezeptformulare mit dem Aufdrucke "Gegen diese Anweisung werden die Arzneien und Verbandstoffe im Kassenlokal oder in den Drogerien, aber nicht in der Apotheke verabfolgt"; diese Formulare wurden als Weisungen, die darauf abzielten, die im Interesse der kranken Mitglieder ergangene Anordnung vom 22. Dezember 1913 gegenstandslos zu machen, vom Regierungspräsidenten unter dem 21. Dezember 1914 für unstatthaft erklärt. Sodann gab die Beklagte Rezeptformulare aus mit dem Aufdrucke "Vor Entnahme der ärztlichen Verordnung sind die Mitglieder verpflichtet, diesen Schein an der Kasse zur Abstempelung vorzulegen" oder "Achtung! Die Mitglieder sind verpflichtet, diesen Schein an der Kasse zur Abstempelung vorzulegen. Erst nach der Abstempelung verpflichtet sich die Kasse zur Bezahlung der ärztlichen Verordnung." Auf solche Formulare, jedoch ohne Abstempelung, hatte der Kläger ärztlich verordnete Mittel an Mitglieder der Beklagten abgegeben. Die Beklagte erklärt im Rechtsstreite, daß sie den liefernden Apotheken nur bei Benutzung abgestempelter Formulare Zahlung zu leisten habe und leiste.

Die Instanzen haben die Klage zugesprochen und die Widerklage abgewiesen.

In der Revisionsinstanz führte die Beklagte aus, nach Wortlaut, Verkehrsauffassung und wissenschaftlichen Äußerungen seien Verbandstoffe keine Arzneimittel; unter solchen seien nur chemisch wirksame Stoffe zu verstehen. Die Verfügung des Regierungspräsidenten vom 22. Dezember 1913 sei sonach insoweit ungültig. Von einem Drucke auf die Mitglieder könne keine Rede sein; im Gegenteile sei ihnen nur eine Bequemlichkeit geboten, nämlich Gelegenheit, die Arzneimittel von der Beklagten selbst zu beziehen und sich dadurch den Gang zur Apotheke zu sparen. Irrtümlich endlich sei die Abweisung der Widerklage als einer wegen Mangels eines Feststellungsinteresses unzulässigen.

Die Revision wurde zurückgewiesen aus folgenden Gründen:

Gründe

1. "Schon der Wortlaut und Zusammenhang des § 376 Abs. 2, 3 RVO.- "solche einfachen Arzneimittel, welche sonst ohne ärztliche Verschreibung (im Handverkauf) abgegeben zu werden pflegen" - ergibt, daß alle zur unmittelbaren Krankheitsbehandlung nötigen oder üblichen Mittel, also auch Verbandstoffe, unter den Begriff der Arzneimittel fallen. Bei der Schöpfung des § 376 sind denn auch die Verbandstoffe als Arzneimittel von dem Regierungsvertreter ausdrücklich erwähnt worden. Die Auffassung des Regierungspräsidenten in den Verfügungen vom 22. Dezember 1913 und 21. Dezember 1914 trifft also zu.

2. § 8 Nr. 4 der Krankenordnung zielt schon nach dem Wortlaut unzweideutig darauf ab, die Apotheker von der Lieferung aller ärztlichen Verordnungen mit Ausnahme der eigentlichen Arzneien (Medikamente) gänzlich auszuschließen. Daran wird nichts geändert dadurch, daß die Beklagte in ihrem zweiten Rezeptformulare nicht mehr, wie in ihrem ersten, die Apotheken ausdrücklich ausschließt, auch nicht dadurch, daß die Beklagte erklärt, die auf solche Rezepte nach deren Abstempelung von Apotheken gelieferten Mittel zahlen zu wollen. Die Abstempelung soll die Mitglieder dazu zwingen, auf ihrem Wege vom Arzte zur Lieferstelle zunächst einen Gang zur Kasse der Beklagten einzuschieben und hier eine dem § 8 Nr. 4 der Krankenordnung entsprechende Beeinflussung entweder auf Entnahme vom Lager der Beklagten oder auf Bezug von den zugelassenen Lieferanten, bestimmten Drogisten, über sich ergehen zu lassen. Ein solcher Zwang schädigt die Interessen der zur Versorgung mit Arzneimitteln berechtigten Kassenmitglieder, insofern die Schnelligkeit der Versorgung notleidet und insofern die Freiheit der Auswahl, z. B. bei vorhandenem Glauben an die Vorzüglichkeit oder alleinige Zuverlässigkeit der Apothekerware, angetastet wird; und ein solcher Zwang schädigt insbesondere den Anspruch der Apotheken auf freie und ungehinderte Belieferung der Kassenmitglieder. Die Erklärung der Beklagten, Apothekenlieferungen auf abgestempelte Formulare - also Bezüge durch Kassenmitglieder, die trotz jenes Zwanges und trotz jener Beeinflussung doch die verordneten Mittel von einem Apotheker entnahmen. - zahlen zu wollen, ist nur ein der Beklagten aufgezwungener, die wahre Absicht und den durchschnittlichen Erfolg des Abstempelungszwanges verhüllender Notbehelf. Der Zweck der Abstempelung blieb die möglichst vollständige Ausschließung der Apotheker; sie richtet sich also direkt gegen die Verwirklichung der Verfügung des Regierungspräsidenten vom 22. Dezember 1913; auch sie will, wie der Aufdruck auf dem ersten Formulare, diese Verfügung gegenstandslos machen. Darum ist die Vorschrift der vorherigen Abstempelung und der entsprechende Aufdruck auf den Formularen unwirksam. Es kann im besonderen keine Rede davon sein, daß die Beklagte bestimmen dürfte, wer "Berechtigter" im Sinne des § 376 Abs. 3 RVO. sei. Mit diesem Worte ist nur die Berechtigung zur Versorgung mit Arzneimitteln gemeint (vgl. §§ 183, 216, 218, 219, 223, 556, 590, 592, 596, 614, 615 RVO.), und der Anspruch der Apotheken auf Zahlung durch die Kasse ist lediglich an den bei ihnen erfolgten Bezug der Arzneimittel durch die Kassenmitglieder geknüpft. Diesen Bezug durch hemmende Fesseln einzuschränken und zum letzten Ende zu unterbinden, verstößt gegen den die Apotheken gerade schützenden § 376 Abs. 3. Im beiderseitigen Interesse sollen die Apotheken durch die Anordnung der Verwaltungsbehörde freie Lieferanten der Kassenmitglieder werden, und es sollen die Vereinbarungen der Kassen mit anderen Personen (§ 375 Abs. 1) in ihrer Gesamtheit für den Verkehr zwischen Kassenmitgliedern und Apotheken durch § 376 Abs. 3 ausgeschaltet sein, nicht nur betreffend die Preise und sonstigen Vorzugsbedingungen, sondern auch betreffend die sonstigen zugehörigen Verkehrsabmachungen.

3. Der Berufungsrichter hält die Widerklage, auch soweit sie auf die Zukunft gerichtet ist, für unzulässig, da sie ein erst künftig mögliches Rechtsverhältnis zum Gegenstände habe.

Dem kann nicht gefolgt werden. Die durch § 376 Abs. 3 und die Anordnung des Regierungspräsidenten zwischen den Apotheken und der Kasse geschaffene Beziehung geht dahin, daß die Kasse bei Bezug durch Mitglieder den Apotheken Zahlung leisten muß. Diese Beziehung ist ein schon gegenwärtiges Rechtsverhältnis zwischen beiden, ein rechtliches Stammverhältnis, durch welches die zukünftigen, einzelnen Bezüge ohne weiteres ergriffen und geregelt werden. An der alsbaldigen Feststellung des Umfanges und der Tragweite dieses Stammverhältnisses hat die Beklagte ein offensichtliches rechtliches Interesse.

Die sachliche Abweisung der Widerklage ergibt sich jedoch, wie der Berufungsrichter selbst bemerkt, aus den Gründen der Klagabweisung."

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