BVerfG, 04.10.1965 - 1 BvR 112/63

Daten
Fall: 
Ersatzdienstverweigerer
Fundstellen: 
BVerfGE 19, 135; BayVBl 1965, 411; DÖV 1965, 767; DVBl 1965, 874; JZ 1965, 716; MDR 1965, 974; NJW 1965, 2195
Gericht: 
Bundesverfassungsgericht
Datum: 
04.10.1965
Aktenzeichen: 
1 BvR 112/63
Entscheidungstyp: 
Beschluss
Instanzen: 
  • OLG Stuttgart, 08.02.1963 - 1 Ss 29/63

Die Pflicht des Kriegsdienstverweigerers, einen Ersatzdienst zu leisten, verletzt nicht das Grundrecht der Gewissensfreiheit (Art. 4 Abs. 1 und 3 GG, Art. 12 Abs. 2 GG).

Beschluss

des Ersten Senats vom 4. Oktober 1965 gemäß § 24 BVerfGG
- 1 BvR 112/63 -
in dem Verfahren über die Verfassungsbeschwerde des Fliesenlegers G... - Bevollmächtigter: Rechtsanwalt ... - gegen 1. das Urteil des Amtsgerichts Leonberg vom 30. Juli 1962 - Ds 135/62 - 2. das Urteil des Landgerichts Stuttgart vom 26. Oktober 1962 - 4 Ns 1061/62 - 3. das Urteil des Oberlandesgerichts Stuttgart vom 8. Februar 1963 1 Ss 29/63.
Entscheidungsformel:

Die Verfassungsbeschwerde wird verworfen.

Gründe

I.

1. Der Beschwerdeführer ist Mitglied der Glaubensgemeinschaft "Zeugen Jehovas". Er wurde durch Bescheid des Prüfungsausschusses für Kriegsdienstverweigerer als Kriegsdienstverweigerer anerkannt. Der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung berief ihn darauf zur Dienstleistung bei dem staatlichen Erziehungsheim Sinsheim ein. Der Beschwerdeführer trat aber den Ersatzdienst nicht an.

Das Amtsgericht Leonberg verurteilte den Beschwerdeführer durch Urteil vom 30. Juli 1962 - Ds 135/62 - wegen Dienstflucht zu einer Gefängnisstrafe von zwei Monaten. Berufung und Revision des Beschwerdeführers waren ohne Erfolg.

2. Mit der Verfassungsbeschwerde, die der Beschwerdeführer gegen die im Rubrum genannten Urteile erhoben hat, rügt er die Verletzung des Art. 4 Abs. 1 GG. Die Bestrafung eines Zeugen Jehovas wegen Ersatzdienstverweigerung sei schon deshalb verfassungswidrig, weil sowohl die Spezial- als auch die Generalprävention in einem solchen Falle auf eine Nötigung, gegen das Gewissen zu handeln, hinauslaufe. Art. 4 Abs. 1 GG sei ohne Gesetzesvorbehalt gewährleistet; auch die Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG könnten nicht herangezogen werden. Art. 12 Abs. 2 GG könne Art. 4 Abs. 1 GG nicht einschränken, weil keine Norm des Grundgesetzes für sich allein betrachtet werden könne; es müsse vielmehr stets die Verflochtenheit mit den Grundentscheidungen der Verfassung beachtet werden. Art. 4 Abs. 1 GG habe aber ein materielles Übergewicht gegenüber der Dienstleistungspflicht gemäß Art. 12 Abs. 2 GG. Ebensowenig könne aus Art. 4 Abs. 3 GG eine Einschränkung des Art. 4 Abs. 1 GG hergeleitet werden. Vielmehr sei dieses Grundrecht seinem materiellen Gehalt nach überhaupt nicht einschränkbar, ohne daß die Bundesrepublik Deutschland die Grundentscheidung ihrer Verfassung aufgebe, die sie als freiheitlich und demokratisch kennzeichne. Schließlich verstoße die Freistellung der Zeugen Jehovas auch nicht gegen den Gleichheitssatz, denn bei den anderen Pflichtigen liege kein Gewissenskonflikt vor.

II.

Die Verfassungsbeschwerde ist offensichtlich unbegründet, da der Beschwerdeführer nicht zur Verweigerung des Ersatzdienstes berechtigt ist.

1. Er kann sich gegenüber der Einführung der Ersatzdienstpflicht nicht auf Art. 12 Abs. 2 Satz 4 GG berufen. Diese Vorschrift bestimmt, daß das Gesetz, das hinsichtlich des Ersatzdienstes "das Nähere regelt", die Freiheit der Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigen darf. Der Vorbehalt der freien Gewissensentscheidung bezieht sich also nicht auf die Ersatzdienstpflicht als solche, sondern lediglich auf die nähere vom Beschwerdeführer nicht angegriffene Regelung. Er soll sicherstellen, daß diese nähere Regelung nicht so gestaltet wird, daß sie den Kriegsdienstverweigerer abschreckt und damit auf seine Entscheidung, den Wehrdienst zu leisten oder zu verweigern, einen unzulässigen Druck ausübt.

Diese Auslegung wird durch die Entstehungsgeschichte der Vorschrift bestätigt. Satz 2 bis 4 des Art. 12 Abs. 2 sind durch das Gesetz zur Ergänzung des Grundgesetzes vom 19. März 1956 (BGBl. I S. 111) in das Grundgesetz eingefügt worden. Sie gehen auf einen Vorschlag zurück, den der Abgeordnete Dr. Adolf Arndt am 20. Februar 1956 im Bundestagsausschuß für Rechtswesen und Verfassungsrecht gemacht hat (Protokoll Nr. 110 S. 9) und der ohne wesentliche Änderung Gesetz geworden ist. Zur Begründung des Hinweises auf die Freiheit der Gewissensentscheidung hat der Abgeordnete Dr. Arndt ausgeführt:

"Die Festlegung, daß die Gewissensentscheidung nicht beeinträchtigt werden dürfe, sei im Hinblick auf immer wieder erhobene Forderungen nach künstlichen Erschwerungen der Gewissensentscheidung und Gewissensproben - Himmelfahrtskommando, Blindgängerentschärfung, Minensuche usw. - erforderlich." (a.a.O. S. 10)

Eine Erweiterung des bereits in Art. 4 Abs. 3 GG gewährleisteten Grundrechts war mit dem Vorschlag nicht beabsichtigt.

2. Gegenüber der in Art. 12 Abs. 2 GG ausdrücklich für zulässig erklärten Ersatzdienstpflicht kann sich der Beschwerdeführer auch nicht unmittelbar auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen. Art. 4 Abs. 3 GG regelt die Wirkungen der Gewissensfreiheit im Bereich der Wehrpflicht abschließend (vgl. BVerfGE 12, 45 [53 f.]). Anders wäre es nicht verständlich, daß Art. 4 Abs. 3 das Zwangsverbot ausdrücklich auf den Kriegsdienst "mit der Waffe" beschränkt. Es würde dem offensichtlichen Sinn dieser Regelung widersprechen, wenn man ein Verbot des Zwanges zum Kriegsdienst "ohne Waffe" unmittelbar aus Art. 4 Abs. 1 GG ableiten wollte. Um so weniger kann sich ein Wehrpflichtiger gegenüber der Einberufung zum Ersatzdienst, der nicht einmal notwendig Kriegsdienst sein muß, auf Art. 4 Abs. 1 GG berufen.

Wenn dem Beschwerdeführer gegenüber der Ersatzdienstpflicht die Berufung auf die Gewissensfreiheit versagt wird, so widerspricht das auch nicht dem Umstand, daß Art. 4 keine Beschränkung der Gewissensfreiheit vorsieht. Es handelt sich hier um eine Pflicht, die in der Verfassung selbst vorgesehen ist. Art. 4 und Art. 12 stehen in diesem Zusammenhang gleichwertig nebeneinander, so daß von einem formal höheren Rang einer dieser Verfassungsbestimmungen nicht die Rede sein kann (vgl. auch BVerfGE 3, 225 [231 f.]; 12, 45 [52 f.]). Die fundamentale Bedeutung des Grundrechts der Gewissensfreiheit steht einer solchen Begrenzung durch die Verfassung selbst nicht entgegen.