EuGH, 19.02.2009 - C-228/06
Leitsätze
1. Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG–Türkei, der vorsieht, dass die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen, hat unmittelbare Wirkung. Diese Bestimmung enthält nämlich eine klare, präzise und nicht an Bedingungen geknüpfte, eindeutige Stillhalteklausel, die eine Verpflichtung der Vertragsparteien begründet, die rechtlich eine reine Unterlassungspflicht ist. Folglich können sich türkische Staatsangehörige, auf die die Bestimmung anwendbar ist, vor den nationalen Gerichten auf die Rechte, die sie ihnen verleiht, berufen.
Ferner können sich türkische Fernfahrer, die bei einem in der Türkei ansässigen Unternehmen beschäftigt sind, das rechtmäßig Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat erbringt, wirksam auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls berufen, da der Dienstleistungserbringer ohne Beschäftigte seine Dienstleistungen nicht erbringen könnte.
(vgl. Randnrn. 45-46)
2. Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG–Türkei, der vorsieht, dass die Vertragsparteien untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen, ist dahin auszulegen, dass er es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlangen, die dort Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen wollen, wenn ein solches Visum zu jenem Zeitpunkt nicht verlangt wurde.
Diese Bestimmung verbietet nämlich allgemein die Einführung neuer Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Niederlassungsfreiheit oder des freien Dienstleistungsverkehrs durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls, also am 1. Januar 1973, in dem betreffenden Mitgliedstaat galten.
Hinsichtlich türkischer Staatsangehöriger, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats von der Dienstleistungsfreiheit nach dem Assoziierungsabkommen Gebrauch machen wollen, ist eine nationale Regelung, die diese Tätigkeit von der Erteilung eines Visums abhängig macht, das von Gemeinschaftsangehörigen nicht verlangt werden kann, geeignet, die tatsächliche Ausübung dieser Freiheit zu beeinträchtigen, und zwar insbesondere aufgrund des zusätzlichen und wiederholten Verwaltungs- und finanziellen Aufwands, den die Erlangung einer solchen Erlaubnis, deren Gültigkeit zeitlich befristet ist, mit sich bringt. Wird zudem der Visumantrag abgelehnt, hindert eine solche Regelung die Ausübung dieser Freiheit.
Demnach hat eine solche Regelung, die am 1. Januar 1973 nicht bestand, zumindest zur Folge, die Ausübung der im Assoziierungsabkommen garantierten wirtschaftlichen Freiheiten durch türkische Staatsangehörige strengeren Voraussetzungen als denjenigen zu unterwerfen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten. Unter diesen Umständen stellt eine solche Regelung eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls für das Recht türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in der Türkei dar, in dem betreffenden Mitgliedstaat frei Dienstleistungen zu erbringen.
Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die nationale Regelung lediglich die Umsetzung einer Vorschrift des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts ist. Insoweit verlangt es der Vorrang der von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Übereinkommen vor den Rechtsakten des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts, Letztere nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesen Übereinkommen auszulegen.
Dagegen verwehrt die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls zum Assoziierungsabkommen EWG–Türkei enthaltene Stillhalteklausel nicht den Erlass von Vorschriften, die in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Gemeinschaftsangehörige Anwendung finden.
(vgl. Randnrn. 47, 55-59, 61-62 und Tenor)
Parteien
In der Rechtssache C‑228/06
betreffend ein Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 234 EG, eingereicht vom Oberverwaltungsgericht Berlin‑Brandenburg (Deutschland) mit Entscheidung vom 30. März 2006, beim Gerichtshof eingegangen am 19. Mai 2006, in dem Verfahren
Mehmet Soysal,
Ibrahim Savatli
gegen
Bundesrepublik Deutschland,
Beteiligte:
Bundesagentur für Arbeit,
erlässt
DER GERICHTSHOF (Erste Kammer)
unter Mitwirkung des Kammerpräsidenten P. Jann sowie der Richter M. Ilešič, A. Tizzano, A. Borg Barthet und J.‑J. Kasel (Berichterstatter),
Generalanwalt: M. Poiares Maduro,
Kanzler: K. Sztranc-Sławiczek, Verwaltungsrätin,
aufgrund des schriftlichen Verfahrens und auf die mündliche Verhandlung vom 8. Oktober 2008,
unter Berücksichtigung der Erklärungen
– von Herrn Soysal und Herrn Savatli, vertreten durch Rechtsanwalt R. Gutmann,
– der deutschen Regierung, vertreten durch M. Lumma und J. Möller als Bevollmächtigte,
– der dänischen Regierung, vertreten durch R. Holdgaard als Bevollmächtigten,
– der griechischen Regierung, vertreten durch G. Karipsiadis und T. Papadopoulou als Bevollmächtigte,
– der slowenischen Regierung, vertreten durch T. Mihelič als Bevollmächtigte,
– der Kommission der Europäischen Gemeinschaften, vertreten durch M. Wilderspin und G. Braun als Bevollmächtigte,
aufgrund des nach Anhörung des Generalanwalts ergangenen Beschlusses, ohne Schlussanträge über die Rechtssache zu entscheiden,
folgendes
Urteil
Entscheidungsgründe
1. Das Vorabentscheidungsersuchen betrifft die Auslegung von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 (ABl. L 293, S. 1) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (im Folgenden: Zusatzprotokoll).
2. Dieses Ersuchen ergeht im Rahmen eines die Visumpflicht für türkische Fernfahrer im grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr betreffenden Rechtsstreits der türkischen Staatsangehörigen M. Soysal und I. Savatli gegen die Bundesrepublik Deutschland.
Rechtlicher Rahmen
Gemeinschaftsrecht
Assoziation EWG–Türkei
3. Gemäß seinem Art. 2 Abs. 1 ist Ziel des Abkommens zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei, das am 12. September 1963 in Ankara von der Republik Türkei sowie von den Mitgliedstaaten der EWG und der Gemeinschaft unterzeichnet und durch den Beschluss des Rates 64/732/EWG vom 23. Dezember 1963 (ABl. 1964, Nr. 217, S. 3685) im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde (im Folgenden: Assoziierungsabkommen), eine beständige und ausgewogene Verstärkung der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen zwischen den Vertragsparteien zu fördern, u. a. im Bereich der Arbeitskräfte durch die schrittweise Herstellung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer (Art. 12 des Assoziierungsabkommens) und durch die Aufhebung der Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit (Art. 13 des Abkommens) und des freien Dienstleistungsverkehrs (Art. 14 des Abkommens), um die Lebenshaltung des türkischen Volks zu verbessern und später den Beitritt der Türkei zur Gemeinschaft zu erleichtern (vierter Erwägungsgrund und Art. 28 des Abkommens).
4. Zu diesem Zweck umfasst das Assoziierungsabkommen eine Vorbereitungsphase, die es der Republik Türkei ermöglichen soll, ihre Wirtschaft mit Hilfe der Gemeinschaft zu festigen (Art. 3 des Abkommens), eine Übergangsphase, während deren die schrittweise Errichtung einer Zollunion und die Annäherung der Wirtschaftspolitiken gewährleistet werden (Art. 4 des Abkommens), und eine Endphase, die auf der Zollunion beruht und eine verstärkte Koordinierung der Wirtschaftspolitiken der Vertragsparteien einschließt (Art. 5 des Abkommens).
5. Art. 6 des Assoziierungsabkommens lautet:
„Um die Anwendung und schrittweise Entwicklung der Assoziationsregelung sicherzustellen, treten die Vertragsparteien in einem Assoziationsrat zusammen; dieser wird im Rahmen der Befugnisse tätig, die ihm in dem Abkommen zugewiesen sind.“
6. Art. 8 des Assoziierungsabkommens, der in dessen Titel II („Durchführung der Übergangsphase“) enthalten ist, bestimmt:
„Zur Verwirklichung der in Artikel 4 genannten Ziele bestimmt der Assoziationsrat vor Beginn der Übergangsphase nach dem in Artikel 1 des Vorläufigen Protokolls geregelten Verfahren die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Durchführung der Bestimmungen bezüglich der einzelnen Sachbereiche des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft, die zu berücksichtigen sind; dies gilt insbesondere für die in diesem Titel enthaltenen Sachbereiche sowie für Schutzklauseln aller Art, die sich als zweckmäßig erweisen.“
7. Die Art. 12 bis 14 des Assoziierungsabkommens sind ebenfalls in dessen Titel II, Kapitel 3 („Sonstige Bestimmungen wirtschaftlicher Art“), enthalten.
„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [39 EG], [40 EG] und [41 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Freizügigkeit der Arbeitnehmer schrittweise herzustellen.“
„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [43 EG] bis [46 EG] und [48 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit aufzuheben.“
„Die Vertragsparteien vereinbaren, sich von den Artikeln [45 EG], [46 EG] und [48 EG] bis [54 EG] leiten zu lassen, um untereinander die Beschränkungen des freien Dienstleistungsverkehrs aufzuheben.“
11. Art. 22 Abs. 1 des Assoziierungsabkommens sieht vor:
„Zur Verwirklichung der Ziele des Abkommens und in den darin vorgesehenen Fällen ist der Assoziationsrat befugt, Beschlüsse zu fassen. Jede der beiden Parteien ist verpflichtet, die zur Durchführung der Beschlüsse erforderlichen Maßnahmen zu treffen. …“
12. Das Zusatzprotokoll, das nach seinem Art. 62 Bestandteil des Assoziierungsabkommens ist, legt gemäß seinem Art. 1 die Bedingungen, die Einzelheiten und den Zeitplan für die Verwirklichung der in Art. 4 des Abkommens vorgesehenen Übergangsphase fest.
13. Das Zusatzprotokoll enthält einen Titel II („Freizügigkeit und Dienstleistungsverkehr“), der in seinem Kapitel I die „Arbeitskräfte“ und in seinem Kapitel II das „Niederlassungsrecht, Dienstleistungen und Verkehr“ betrifft.
14. Art. 36 des Zusatzprotokolls, der zu Kapitel I gehört, sieht vor, dass die Freizügigkeit der Arbeitnehmer zwischen den Mitgliedstaaten der Gemeinschaft und der Türkei nach den Grundsätzen des Art. 12 des Assoziierungsabkommens zwischen dem Ende des zwölften und dem Ende des zweiundzwanzigsten Jahres nach dem Inkrafttreten des Abkommens schrittweise hergestellt wird und dass der Assoziationsrat die hierfür erforderlichen Regeln festlegt.
15. Art. 41 des Zusatzprotokolls, der in Titel II Kapitel II enthalten ist, lautet:
„(1) Die Vertragsparteien werden untereinander keine neuen Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs einführen.
(2) Der Assoziationsrat setzt nach den Grundsätzen der Artikel 13 und 14 des Assoziierungsabkommens die Zeitfolge und die Einzelheiten fest, nach denen die Vertragsparteien die Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit und des freien Dienstleistungsverkehrs untereinander schrittweise beseitigen.
Der Assoziationsrat berücksichtigt bei der Festsetzung der Zeitfolge und der Einzelheiten für die verschiedenen Arten von Tätigkeiten die entsprechenden Bestimmungen, welche die Gemeinschaft auf diesen Gebieten bereits erlassen hat, sowie die besondere wirtschaftliche und soziale Lage der Türkei. Die Tätigkeiten, die in besonderem Maße zur Entwicklung der Erzeugung und des Handelsverkehrs beitragen, werden vorrangig behandelt.“
16. Es steht fest, dass der Assoziationsrat, der durch das Assoziierungsabkommen eingeführt wurde und aus Mitgliedern der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Rates der Europäischen Union und der Kommission der Europäischen Gemeinschaften einerseits und Mitgliedern der türkischen Regierung andererseits zusammengesetzt ist, bisher keinen Beschluss auf der Grundlage des Art. 41 Abs. 2 des Zusatzprotokolls erlassen hat.
17. Art. 59 des Zusatzprotokolls, der in Titel IV („Allgemeine und Schlussbestimmungen“) enthalten ist, lautet:
„In den von diesem Protokoll erfassten Bereichen darf der Türkei keine günstigere Behandlung gewährt werden als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander auf Grund des Vertrages zur Gründung der Gemeinschaft einräumen.“
Die Verordnung (EG) Nr. 539/2001
18. Art. 1 Abs. 1 der Verordnung (EG) Nr. 539/2001 des Rates vom 15. März 2001 zur Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind (ABl. L 81, S. 1), bestimmt:
„Die Staatsangehörigen der Drittländer, die in der Liste in Anhang I aufgeführt sind, müssen beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein.“
19. Aus Anhang I ergibt sich, dass die Republik Türkei zu den Staaten gehört, die in der Liste aufgeführt sind, aus der dieser Anhang besteht.
20. Nach dem ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 539/2001 gehört die Aufstellung der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige beim Überschreiten der Außengrenzen der Mitgliedstaaten im Besitz eines Visums sein müssen, sowie der Liste der Drittländer, deren Staatsangehörige von dieser Visumpflicht befreit sind, gemäß Art. 61 EG „zu den flankierenden Maßnahmen, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem freien Personenverkehr in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts stehen“.
Nationales Recht
21. Aus der Vorlageentscheidung geht hervor, dass türkische Staatsangehörige, die wie die Kläger des Ausgangsverfahrens im grenzüberschreitenden Güterverkehr in Deutschland für nicht mehr als zwei Monate tätig waren, bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls für diesen Mitgliedstaat am 1. Januar 1973 keine Einreiseerlaubnis für das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland benötigten. Gemäß § 1 Abs. 2 Nr. 2 der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes in der Fassung vom 12. März 1969 (BGBl. I S. 207) waren diese türkischen Staatsangehörigen berechtigt, ohne Visum nach Deutschland einzureisen.
22. Für türkische Staatsangehörige gilt erst seit dem Inkrafttreten der Elften Verordnung zur Änderung der Verordnung zur Durchführung des Ausländergesetzes vom 1. Juli 1980 (BGBl. I S. 782) eine allgemeine Visumpflicht.
23. Dass türkische Staatsangehörige wie die Kläger des Ausgangsverfahrens bei der Einreise nach Deutschland im Besitz eines Visums sein müssen, ergibt sich gegenwärtig aus § 4 Abs. 1 und § 6 des Aufenthaltsgesetzes vom 30. Juli 2004 (BGBl. I S. 1950), das das Ausländergesetz ersetzt hat und am 1. Januar 2005 in Kraft getreten ist, und aus Art. 1 Abs. 1 in Verbindung mit Anhang I der Verordnung Nr. 539/2001.
24. § 4 („Erfordernis eines Aufenthaltstitels“) Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes bestimmt:
„Ausländer bedürfen für die Einreise und den Aufenthalt im Bundesgebiet eines Aufenthaltstitels, sofern nicht durch Recht der Europäischen Union oder durch Rechtsverordnung etwas anderes bestimmt ist oder auf Grund des Abkommens vom 12. September 1963 zur Gründung einer Assoziation zwischen der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft und der Türkei … ein Aufenthaltsrecht besteht. Die Aufenthaltstitel werden erteilt als
1. Visum (§ 6),
2. Aufenthaltserlaubnis (§ 7),
3. Niederlassungserlaubnis (§ 9).“
„(1) Einem Ausländer kann
1. ein Schengen-Visum für die Durchreise oder
2. ein Schengen-Visum für Aufenthalte von bis zu drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an (kurzfristige Aufenthalte)
erteilt werden, wenn die Erteilungsvoraussetzungen des Schengener Durchführungsübereinkommens und der dazu ergangenen Ausführungsvorschriften erfüllt sind. In Ausnahmefällen kann das Schengen-Visum aus völkerrechtlichen oder humanitären Gründen oder zur Wahrung politischer Interessen der Bundesrepublik Deutschland erteilt werden, wenn die Erteilungsvoraussetzungen des Schengener Durchführungsübereinkommens nicht erfüllt sind. In diesen Fällen ist die Gültigkeit räumlich auf das Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland zu beschränken.(2) Das Visum für kurzfristige Aufenthalte kann auch für mehrere Aufenthalte mit einem Gültigkeitszeitraum von bis zu fünf Jahren mit der Maßgabe erteilt werden, dass der Aufenthaltszeitraum jeweils drei Monate innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an nicht überschreiten darf.
(3) Ein nach Absatz 1 Satz 1 erteiltes Schengen-Visum kann in besonderen Fällen bis zu einer Gesamtaufenthaltsdauer von drei Monaten innerhalb einer Frist von sechs Monaten von dem Tag der ersten Einreise an verlängert werden. Dies gilt auch dann, wenn das Visum von einer Auslandsvertretung eines anderen Schengen-Anwenderstaates erteilt worden ist. Für weitere drei Monate innerhalb der betreffenden Sechsmonatsfrist kann das Visum nur unter den Voraussetzungen des Absatzes 1 Satz 2 verlängert werden.
(4) Für längerfristige Aufenthalte ist ein Visum für das Bundesgebiet (nationales Visum) erforderlich, das vor der Einreise erteilt wird. Die Erteilung richtet sich nach den für die Aufenthaltserlaubnis, die Niederlassungserlaubnis … geltenden Vorschriften. …“
Ausgangsverfahren und Vorlagefragen
26. Der Vorlageentscheidung ist zu entnehmen, dass Herr Soysal und Herr Savatli türkische Staatsangehörige mit Wohnsitz in der Türkei sind und dass sie bei einer im grenzüberschreitenden Güterverkehr tätigen türkischen Gesellschaft als Fahrer von Lastkraftwagen angestellt sind, die einer deutschen Gesellschaft gehören und in Deutschland zugelassen sind.
27. Bis zum Jahr 2000 hatte die Bundesrepublik Deutschland den Klägern des Ausgangsverfahrens auf entsprechende Anträge hin jeweils mehrmals Visa für die Einreise als Fahrer von Lastkraftwagen mit türkischem Kennzeichen und zur Erbringung von Dienstleistungen in Deutschland erteilt.
28. Nachdem die Betroffenen mit in Deutschland zugelassenen Lastkraftwagen angetroffen worden waren, lehnte das deutsche Generalkonsulat in Istanbul ihre in den Jahren 2001 und 2002 eingereichten Visa-Anträge ab.
29. Herr Soysal und Herr Savatli erhoben vor dem Verwaltungsgericht Berlin Klage gegen die Ablehnungen der Visa-Anträge und beantragten, festzustellen, dass sie als Fernfahrer, die Dienstleistungen im grenzüberschreitenden Güterverkehr erbringen, berechtigt sind, visumfrei nach Deutschland einzureisen. Hierzu stützen sie sich auf die „Stillhalteklausel“ des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, nach der für sie keine ungünstigeren Bedingungen für die Einreise in das deutsche Hoheitsgebiet gelten dürften als jene, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls für die Bundesrepublik Deutschland, also am 1. Januar 1973, gegolten hätten. Eine Visumpflicht für die Einreise zum Zweck der von ihnen ausgeübten Tätigkeit habe zu diesem Zeitpunkt noch nicht bestanden, sondern sei erst 1980 eingeführt worden. Darüber hinaus komme der Stillhalteklausel Vorrang gegenüber der in der Verordnung Nr. 239/2001, die nach dem 1. Januar 1973 erlassen worden sei, vorgeschriebenen Visumpflicht zu.
30. Gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin vom 3. Juli 2002, mit dem ihre Klagen abgewiesen wurden, legten Herr Soysal und Herr Savatli Berufung beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg ein, nach dessen Ansicht die Entscheidung des bei ihm anhängigen Rechtsstreits von der Auslegung des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls abhängt.
31. Hierzu führt das vorlegende Gericht aus, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens als türkische Fernfahrer von einem Unternehmen mit Sitz in der Türkei beschäftigt würden, das rechtmäßig Dienstleistungen in Deutschland erbringe. Insbesondere übten sie ihre Tätigkeit für die deutsche Gesellschaft, auf die die für die Gütertransporte verwendeten Lastkraftwagen zugelassen seien, nicht im Rahmen einer nach den deutschen Rechtsvorschriften erlaubnispflichtigen Arbeitnehmerüberlassung aus, denn das arbeitsbezogene Weisungsrecht gegenüber den betroffenen Arbeitnehmern stehe auch während der Dauer ihres Einsatzes für die deutsche Gesellschaft in wesentlichem Umfang der türkischen Gesellschaft zu, bei der sie beschäftigt seien.
32. Ferner folge aus dem Urteil des Gerichtshofs vom 21. Oktober 2003, Abatay u. a. (C‑317/01 und C‑369/01, Slg. 2003, I‑12301, Randnr. 106), dass sich türkische Arbeitnehmer wie die Kläger des Ausgangsverfahrens in Bezug auf die ausgeübte Beschäftigung auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls berufen könnten.
33. Schließlich sei es solchen Arbeitnehmern, die in Deutschland im grenzüberschreitenden Güterkraftverkehr tätig gewesen seien, bei Inkrafttreten dieses Protokolls gestattet gewesen, ohne Visum in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einzureisen; eine Visumpflicht sei erst am 1. Juli 1980 in das deutsche Recht eingeführt worden.
34. Bislang liege jedoch noch keine Rechtsprechung des Gerichtshofs zu der Frage vor, ob die Einführung einer Visumpflicht durch das nationale Ausländerrecht oder das Gemeinschaftsrecht eine „neue Beschränkung“ des freien Dienstleistungsverkehrs im Sinne von Art. 41 Abs. 1 Zusatzprotokoll sei.
35. Zum einen sprächen die Randnrn. 69 und 70 des Urteils des Gerichtshofs vom 11. Mai 2000, Savas (C‑37/98, Slg. 2000, I‑2927), zwar für die Auslegung, wonach Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls als umfassendes Verschlechterungsverbot auch in Bezug auf das allgemeine Einreise- und Aufenthaltsrecht zu verstehen sei, so dass lediglich darauf abzustellen sei, ob die betreffende Maßnahme bezwecke oder bewirke, dass die Situation eines türkischen Staatsangehörigen hinsichtlich der Niederlassungs- oder der Dienstleistungsfreiheit strengeren Bedingungen als denjenigen unterworfen werde, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls gegolten hätten (vgl. in diesem Sinne Urteile Abatay u. a., Randnr. 116). Gegen diese Auslegung werde jedoch eingewandt, dass diese Bestimmung keine Zementierung der allgemeinen mitgliedstaatlichen Regelungsbefugnis bedeuten könne, die sich in irgendeiner Weise auf die Situation türkischer Staatsangehöriger auswirken könnte.
36. Zum anderen habe sich der Gerichtshof – auch wenn der Wortlaut des Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, der sich an die „Vertragsparteien“ richte, für die Auffassung spreche, dass die in dieser Bestimmung enthaltene Stillhalteklausel nicht nur für die Vorschriften der Mitgliedstaaten, sondern auch für die des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts gelte – zu dieser Frage noch nicht geäußert.
37. Vor diesem Hintergrund hat das Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg das Verfahren ausgesetzt und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorgelegt:
1. Ist Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls so auszulegen, dass eine Beschränkung des freien Dienstleistungsverkehrs darin zu sehen ist, dass ein türkischer Staatsangehöriger, der für ein türkisches Unternehmen im grenzüberschreitenden Verkehr auf einem in Deutschland zugelassenen Lastkraftwagen als Fahrer tätig ist, für die Einreise nach Deutschland aufgrund der § 4 Abs. 1, § 6 des Aufenthaltsgesetzes und des Art. 1 Abs. 1 der Verordnung Nr. 539/2001 im Besitz eines Schengen-Visums sein muss, während er im Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls sichtvermerksfrei in die Bundesrepublik Deutschland einreisen durfte?
2. Wenn die Frage zu 1 zu bejahen ist, muss Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin gehend ausgelegt werden, dass die in Nr. 1 genannten türkischen Staatsangehörigen für die Einreise nach Deutschland keinen Sichtvermerk benötigen?
Zur Zuständigkeit des Gerichtshofs
38. Die deutsche Regierung ist der Auffassung, dass das vorliegende Ersuchen um Vorabentscheidung „unzulässig“ sei, weil die vorgelegten Fragen die Gültigkeit einer auf Titel IV des Dritten Teils des EG-Vertrags gestützten Verordnung des Rates beträfen und der Gerichtshof von einem Gericht angerufen werde, das kein Gericht, dessen Entscheidungen nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden könnten, im Sinne von Art. 68 Abs. 1 EG sei.
39. Dieser Auffassung kann nicht gefolgt werden.
40. Wie sich nämlich bereits aus dem Wortlaut der vom vorlegenden Gericht gestellten Fragen ergibt, beziehen sich diese ausdrücklich und ausschließlich auf die Auslegung des Rechts der Assoziation EWG–Türkei und insbesondere auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls.
41. Daher ist der Gerichtshof wirksam nach Art. 234 EG angerufen worden (vgl. Urteil vom 20. September 1990, Sevince, C‑192/89, Slg. 1990, I‑3461, Randnrn. 8 bis 11 und die dort angeführte Rechtsprechung), so dass der Umstand, dass das vorlegende Gericht nicht zu den in Art. 68 Abs. 1 EG, der eine Ausnahme von Art. 234 EG darstellt, bezeichneten Gerichten gehört, unerheblich ist.
42. Der Gerichtshof ist demnach für die Entscheidung über die vom Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg vorgelegten Fragen zuständig.
Zu den Vorlagefragen
43. Mit seinen beiden Fragen, die zusammen zu prüfen sind, fragt das vorlegende Gericht, ob Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass er es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls verbietet, das Erfordernis eines Visums für die Einreise türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats einzuführen, wenn diese dort für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen Dienstleistungen erbringen wollen.
44. Vorab ist daran zu erinnern, dass die Kläger des Ausgangsverfahrens türkische Fernfahrer sind, die in der Türkei wohnen, bei einer in diesem Staat ansässigen Gesellschaft für internationalen Güterkraftverkehr beschäftigt sind und regelmäßig Transporte zwischen diesem Land und Deutschland mit in Deutschland zugelassenen Lastkraftwagen durchführen. Hierzu hat das vorlegende Gericht festgestellt, dass sowohl diese Transporte als auch die Tätigkeiten der Fahrer bei deren Durchführung völlig rechtmäßig sind.
45. Um die genaue Tragweite von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls in einer Situation wie der des Ausgangsverfahrens zu ermitteln, ist zunächst daran zu erinnern, dass diese Bestimmung nach ständiger Rechtsprechung unmittelbare Wirkung hat. Sie enthält nämlich eine klare, präzise und nicht an Bedingungen geknüpfte, eindeutige Stillhalteklausel, die eine Verpflichtung der Vertragsparteien begründet, die rechtlich eine reine Unterlassungspflicht ist (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 46 bis 54 und 71 zweiter Gedankenstrich, Abatay u. a., Randnrn. 58, 59 und 117 erster Gedankenstrich, und vom 20. September 2007, Tum und Dari, C‑16/05, Slg. 2007, I‑7415, Randnr. 46). Folglich können sich türkische Staatsangehörige, auf die die Bestimmung anwendbar ist, vor den nationalen Gerichten auf die Rechte, die sie ihnen verleiht, berufen (vgl. u. a. Urteile Savas, Randnr. 54, und Tum und Dari, Randnr. 46).
46. Sodann können sich türkische Fernfahrer wie die Kläger des Ausgangsverfahrens, die bei einem in der Türkei ansässigen Unternehmen beschäftigt sind, das rechtmäßig Dienstleistungen in einem Mitgliedstaat erbringt, wirksam auf Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls berufen, da der Dienstleistungserbringer ohne Beschäftigte seine Dienstleistungen nicht erbringen könnte (vgl. Urteil Abatay u. a., Randnrn. 106 und 117 fünfter Gedankenstrich).
47. Schließlich ist nach ständiger Rechtsprechung zwar die in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltene Stillhalteklausel nicht aus sich heraus geeignet, türkischen Staatsangehörigen allein auf der Grundlage des Gemeinschaftsrechts ein Niederlassungsrecht und ein damit einhergehendes Aufenthaltsrecht zu verleihen, und kann ihnen auch weder ein Recht auf freien Dienstleistungsverkehr noch ein Recht zur Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats verschaffen (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 64 und 71 dritter Gedankenstrich, Abatay u. a., Randnr. 62, und Tum und Dari, Randnr. 52). Eine solche Klausel verbietet jedoch allgemein die Einführung neuer Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung dieser wirtschaftlichen Freiheiten durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in dem betreffenden Mitgliedstaat galten (vgl. Urteile Savas, Randnrn. 69 und 71 vierter Gedankenstrich, Abatay u. a., Randnrn. 66 und 117 zweiter Gedankenstrich, sowie Tum und Dari, Randnrn. 49 und 53).
48. Der Gerichtshof hat daher entschieden, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls es verbietet, in das nationale Recht eines Mitgliedstaats das – bei Inkrafttreten des Protokolls für diesen Staat nicht bestehende – Erfordernis einer Arbeitserlaubnis für die Erbringung von Dienstleistungen durch ein in der Türkei ansässiges Unternehmen und seine Beschäftigten, die türkische Staatsangehörige sind, in diesem Mitgliedstaat einzuführen (Urteil Abatay u. a., Randnr. 117 sechster Gedankenstrich).
49. Der Gerichtshof hat ferner festgestellt, dass diese Bestimmung von dem Zeitpunkt an, zu dem das Zusatzprotokoll in Kraft getreten ist, auch neuen Beschränkungen der Ausübung der Niederlassungsfreiheit entgegensteht, die die materiell- und/oder verfahrensrechtlichen Voraussetzungen für die Aufnahme türkischer Staatsangehöriger im Hoheitsgebiet des fraglichen Mitgliedstaats betreffen, die sich dort zur Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit niederlassen wollen (Urteil Tum und Dari, Randnr. 69).
50. In diesen Rechtssachen ging es um die Frage, ob nationale Regelungen, mit denen für türkische Staatsangehörige für die Einreise in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats oder die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit strengere materiell- und/oder verfahrensrechtliche Voraussetzungen als diejenigen eingeführt wurden, die für sie in dem betreffenden Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten, als neue Beschränkungen im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls angesehen werden konnten.
51. Darum geht es auch im Ausgangsverfahren. Aus der Vorlageentscheidung ergibt sich nämlich, dass türkische Staatsangehörige wie die Kläger des Ausgangsverfahrens, die Dienstleistungen im internationalen Güterkraftverkehr für ein türkisches Unternehmen erbringen, bei Inkrafttreten des Zusatzprotokolls für die Bundesrepublik Deutschland, also am 1. Januar 1973, berechtigt waren, zu diesem Zweck ohne Visum in das Hoheitsgebiet dieses Mitgliedstaats einzureisen.
52. Erst seit dem 1. Juli 1980 schreibt das deutsche Ausländerrecht für Drittstaatsangehörige einschließlich türkischer Staatsangehöriger, die solche Tätigkeiten in Deutschland ausüben wollten, ein Visum vor. Gegenwärtig ist für türkische Staatsangehörige wie die Kläger des Ausgangsverfahrens die Visumpflicht für die Einreise nach Deutschland im Aufenthaltsgesetz enthalten, das die Durchführungsverordnung zum Ausländergesetz mit Wirkung ab 1. Januar 2005 ersetzt hat.
53. Mit dem Aufenthaltsgesetz wird zwar nur ein Akt des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts, hier die Verordnung Nr. 539/2001, in dem betreffenden Mitgliedstaat umgesetzt, die, wie sich aus ihrem ersten Erwägungsgrund ergibt, eine flankierende Maßnahme ist, die in unmittelbarem Zusammenhang mit dem freien Personenverkehr in einem Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts steht, und auf der Grundlage von Art. 62 Nr. 2 Buchst. b Ziff. i EG erlassen wurde.
54. Es trifft auch zu, wie die Kommission in der mündlichen Verhandlung bemerkt hat, dass die Voraussetzungen für ein Schengen-Visum wie das nach § 4 Abs. 1 und § 6 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes gegenüber den Voraussetzungen, die in Deutschland zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls in diesem Mitgliedstaat für türkische Staatsangehörige in der Situation der Kläger des Ausgangsverfahrens galten, bestimmte Vorteile aufweisen. Während nämlich ein türkischer Staatsangehöriger nur ein auf das deutsche Hoheitsgebiet beschränktes Einreiserecht hatte, räumt ihm ein nach § 6 Abs. 2 des Aufenthaltsgesetzes erteiltes Visum Freizügigkeit im Gebiet aller Staaten ein, die Parteien des am 14. Juni 1985 in Schengen (Luxemburg) von den Regierungen der Staaten der Benelux-Wirtschaftsunion, der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik unterzeichneten Übereinkommens betreffend den schrittweisen Abbau der Kontrollen an den gemeinsamen Grenzen (ABl. 2000, L 239, S. 13) sind; dieses Übereinkommen wurde durch die Unterzeichnung eines Durchführungsübereinkommens am 19. Juni 1990 in Schengen (ABl. 2000, L 239, S. 19) konkretisiert, das Kooperationsmaßnahmen zur Sicherung des Schutzes des Gebiets aller Vertragsparteien als Ausgleich für den Wegfall der Binnengrenzen vorsieht.
55. Hinsichtlich türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens, die im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats von der Dienstleistungsfreiheit nach dem Assoziierungsabkommen Gebrauch machen wollen, ist jedoch eine nationale Regelung, die diese Tätigkeit von der Erteilung eines Visums abhängig macht, das von Gemeinschaftsangehörigen nicht verlangt werden kann, geeignet, die tatsächliche Ausübung dieser Freiheit zu beeinträchtigen, und zwar insbesondere aufgrund des zusätzlichen und wiederholten Verwaltungs- und finanziellen Aufwands, den die Erlangung einer solchen Erlaubnis, deren Gültigkeit zeitlich befristet ist, mit sich bringt. Wird zudem der Visumantrag wie im Ausgangsverfahren abgelehnt, hindert eine solche Regelung die Ausübung dieser Freiheit.
56. Demnach hat eine solche Regelung, die am 1. Januar 1973 nicht bestand, zumindest zur Folge, die Ausübung der im Assoziierungsabkommen garantierten wirtschaftlichen Freiheiten durch türkische Staatsangehörige wie die Kläger des Ausgangsverfahrens strengeren Voraussetzungen als denjenigen zu unterwerfen, die in dem betreffenden Mitgliedstaat zum Zeitpunkt des Inkrafttretens des Zusatzprotokolls galten.
57. Unter diesen Umständen stellt eine Regelung wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende eine „neue Beschränkung“ im Sinne von Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls für das Recht türkischer Staatsangehöriger mit Wohnsitz in der Türkei dar, in Deutschland frei Dienstleistungen zu erbringen.
58. Dieses Ergebnis wird nicht dadurch in Frage gestellt, dass die gegenwärtig in Deutschland geltende Regelung lediglich die Umsetzung einer Vorschrift des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts ist.
59. Insoweit genügt der Hinweis, dass es der Vorrang der von der Gemeinschaft geschlossenen völkerrechtlichen Übereinkommen vor den Rechtsakten des abgeleiteten Gemeinschaftsrechts verlangt, Letztere nach Möglichkeit in Übereinstimmung mit diesen Übereinkommen auszulegen (vgl. Urteil vom 10. September 1996, Kommission/Deutschland, C‑61/94, Slg. 1996, I‑3989, Randnr. 52).
60. Darüber hinaus kann auch dem vom vorlegenden Gericht angeführten Einwand nicht gefolgt werden, dass die Anwendung der in Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls enthaltenen Stillhalteklausel dazu führen würde, die dem Gesetzgeber zustehende Regelungsbefugnis zu zementieren.
61. Der Erlass von Vorschriften, die in gleicher Weise auf türkische Staatsangehörige und auf Gemeinschaftsangehörige Anwendung finden, steht nämlich nicht im Widerspruch zu dieser Klausel. Wenn im Übrigen solche Vorschriften für Gemeinschaftsangehörige gälten, nicht aber für türkische Staatsangehörige, befänden sich diese in einer günstigeren Position als jene, was offenkundig gegen Art. 59 des Zusatzprotokolls verstieße, wonach der Republik Türkei keine günstigere Behandlung gewährt werden darf als diejenige, die sich die Mitgliedstaaten untereinander aufgrund des Vertrags einräumen.
62. Nach alledem ist auf die vorgelegten Fragen zu antworten, dass Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls dahin auszulegen ist, dass er es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlangen, die dort Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen wollen, wenn ein solches Visum zu jenem Zeitpunkt nicht verlangt wurde.
Kosten
63. Für die Parteien des Ausgangsverfahrens ist das Verfahren ein Zwischenstreit in dem bei dem vorlegenden Gericht anhängigen Rechtsstreit; die Kostenentscheidung ist daher Sache dieses Gerichts. Die Auslagen anderer Beteiligter für die Abgabe von Erklärungen vor dem Gerichtshof sind nicht erstattungsfähig.
Tenor
Aus diesen Gründen hat der Gerichtshof (Erste Kammer) für Recht erkannt:
Art. 41 Abs. 1 des Zusatzprotokolls, das am 23. November 1970 in Brüssel unterzeichnet und durch die Verordnung (EWG) Nr. 2760/72 des Rates vom 19. Dezember 1972 im Namen der Gemeinschaft geschlossen, gebilligt und bestätigt wurde, ist dahin auszulegen, dass er es ab dem Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Protokolls verbietet, ein Visum für die Einreise türkischer Staatsangehöriger wie der Kläger des Ausgangsverfahrens in das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zu verlangen, die dort Dienstleistungen für ein in der Türkei ansässiges Unternehmen erbringen wollen, wenn ein solches Visum zu jenem Zeitpunkt nicht verlangt wurde.