RG, 08.03.1913 - I 161/12
Zu den Begriffen der Bearbeitung und der freien Benutzung eines Werkes im Sinne der §§ 12 und 13 LitUrhG. vom 19. Juni 1901.
Sachverhalt
Der Kläger ist Alleinerbe des im Jahre 1897 verstorbenen französischen Dichters M., der das Lustspiel „L’Attaché d’Ambassade“ im Druck veröffentlicht hat. Das Lustspiel ist von F. ins Deutsche übersetzt worden. Die Beklagten haben von den Textdichtern und dem Komponisten der Operette „Die lustige Witwe“ das ausschließliche Recht erworben, dieses Stück im Deutschen Reiche aufzuführen. Die Klage ist darauf gestützt, daß der Text der Operette eine unselbständige Bearbeitung des vorerwähnten Lustspiels sei, das im Deutschen Reiche Urheberrechtsschutz genieße. Die Klage hatte in beiden Vorinstanzen keinen Erfolg; auch die Revision ist zurückgewiesen worden.
Gründe
„Die Revision richtet sich dagegen, daß das Berufungsgericht den Text der Operette für eine unter zufälliger freier Benutzung des Lustspiels entstandene eigentümliche Schöpfung erklärt hat; sie sucht darzulegen, daß der Operettentext nur eine Bearbeitung des Lustspiels im Sinne des § 12 LitUrhG. sei, und daß die abweichende Ansicht des Berufungsgerichts auf Rechtsirrtum beruhe. Diese Rüge erscheint indes nicht begründet.
Nach §§ 11 Abs. 2, 12 Abs. 1 LitUrhG. erstreckt sich die dem Urheber des Bühnenwerkes zustehende ausschließliche Befugnis zur öffentlichen Aufführung auch auf Bearbeitungen des Werkes. Diese Bestimmung erfährt eine Ergänzung durch § 13 Abs. 1 a.a.O., wonach die freie Benutzung des Werkes zulässig ist, wenn dadurch eine eigentümliche Schöpfung hervorgebracht wird. Daß im vorliegenden Falle die Verfasser der Operette das Lustspiel benutzt haben, wird von den Beklagten nicht in Abrede gestellt. Bestritten wird von ihnen aber, daß die Benutzung über das vom Gesetze für zulässig erklärte Maß hinausgegangen sei. Nach den obenerwähnten Gesetzesvorschriften kann die Operette, auch wenn für das Lustspiel urheberrechtlicher Schutz im Deutschen Reiche besteht, unabhängig von der Zustimmung des Klägers aufgeführt werden, sofern einerseits die Verfasser des Operettentextes sich in den Grenzen der freien Benutzung des Lustspiels gehalten haben, anderseits die Operette den an eine eigentümliche Schöpfung zu stellenden Anforderungen genügt. Ob diese Voraussetzungen zutreffen, hat das Revisionsgericht selbständig zu prüfen, da die Begriffe „freie Benutzung“ und „eigentümliche Schöpfung“ rechtlicher Art sind und deshalb eine Gesetzesverletzung vorliegen würde, wenn das Berufungsgericht einen Irrtum begangen hätte, als es bei Vergleichung der Texte des Lustspiels und der Operette die Benutzung des Lustspiels für eine „freie“ und den Operettentext für eine „eigentümliche Schöpfung“ erklärte.
Über den Unterschied zwischen der „Bearbeitung“ und der „freien Benutzung“ eines Bühnenwerkes hat sich der jetzt erkennende Senat bereits in dem Urteile Entsch. Des RG.’s in Zivils.Bd. 63 S. 158, das einen ähnlich liegenden Fall betraf, ausgesprochen. Dort hat es als Gegensatz zu einer zu einer zulässigen freien Benutzung eine solche Nachbildung des Werkes bezeichnet, die sich von ihrem Vorbilde nur durch unwesentliche Veränderungen oder Zusätze unterscheidet, die, in der Hauptsache die Identität des Werkes unberührt lassend, nur als eine Reproduktion des Originals bezeichnet werden kann. Ob diese Bestimmung des Begriffs der Bearbeitung nicht vielleicht zu eng gefaßt ist, kann hier dahingestellt bleiben. Eine in allen Fällen passende Begriffsbestimmung für eine scharfe Scheidung zwischen der Bearbeitung der freien Benutzung des Werkes wird kaum zu finden sein, vielmehr wird in jedem einzelnen Falle zu erwägen sein, ob der Verfasser des neuen Werkes von der Darstellung und den Gedanken des älteren Urhebers sich so weit losgelöst hat, daß es billig erscheint, seine Tätigkeit als eine selbständige literarische Leistung aufzufassen.
In dieser Hinsicht lassen sich auch nicht, wie die Revision im Anschluß an ein von Professor K. dem Kläger geliefertes Privatgutachten vermeint, die patentrechtlichen Grundsätze über Abhängigkeitserfindungen auf das wesentlich anders gestaltete Gebiet des Urheberrechtsschutzes für literarische Erzeugnisse übertragen. Jedem Patente liegt gemeinhin ein bestimmter erfinderischer Gedanke, der eine gewerbliche Verwertung gestattet, zugrunde. Für diesen Gedanken, wenn er in einem besonderen technischen Verfahren oder in einem technischen körperlichen Erzeugnis seinen Niederschlag gefunden hat, erhält der Patentinhaber durch das Patent einen Schutz, der sich über das ausdrücklich geschützte Verfahren oder Erzeugnis hinaus auf alle sonstigen Verfahren oder Erzeugnisse erstreckt, in denen der erfinderische Gedanke des Patentinhabers in irgend einer Weise wiederkehrt und sich eine Abhängigkeit von dem Gedanken des Erfinders zeigt. Wesentlich anders ist aber die Rechtslage bei dem Urheberrechtsschutze von Schriftwerken. Hier handelt es sich gewöhnlich nicht um den Schutz für einen einzelnen schöpferischen Gedanken, sondern für eine vielseitige geistige Arbeit, die in einer mehr oder minder umfassenden schriftlichen Ausarbeitung ihren äußeren Ausdruck erhalten hat. Geschützt wird hier dem Urheber das Schriftwerk in seiner Gesamtheit, und zwar abweichend vom Patentrechte dergestalt, daß nicht jede Ausnutzung der Gedanken des Urhebers eine Rechtsverletzung darstellt, vielmehr jedermann eine freie Benutzung gestattet ist, die eine eigentümliche Schöpfung zur Folge hat. Mithin herrscht auf dem Schutzgebiete des literarischen Urheberrechts größere Bewegungsfreiheit, als auf dem patentrechtlichen.
Im vorliegenden Falle stellt ein Vergleich zwischen der F.schen Übersetzung des Lustspiels und dem vollständigen Textbuche der Operette außer Zweifel, daß die Verfasser der Operette den allgemeinen Grundgedanken des Stückes, eine große Anzahl der auftretenden Personen, in den beiden ersten Akten im wesentlichen auch den Gang der Handlung und im Dialoge zahlreiche Redewendungen, insbesondere witzige und zugkräftige, aus dem Lustspiele hergenommen haben. In anderer Hinsicht aber sind sie vollständig selbständige Wege gegangen, die es geboten erscheinen lassen, den Text der Operette in seiner Gesamtheit als ein mit dem Lustspiel nur durch freie Benutzung zusammenhängendes Werk aufzufassen. Ausscheiden muss hierbei freilich die Umgestaltung der äußeren Form, der Übergang vom Lustspiel zur Operette. Denn durch die anderweite Formgebung und die dadurch bedingt Änderung des Textes wird die Annahme einer bloßen Bearbeitung keineswegs ausgeschlossen. Aber auch darüber hinaus würde die Operette den Charakter einer Bearbeitung des Lustspiels allein deswegen noch nicht verlieren, weil sie Neuerungen enthält, die das durch die Umsetzung in eine Operette bedingte Maß erheblich überschreiten. Entscheidend kann vielmehr nur der Gesichtspunkt sein, ob die Neugestaltung der Operette in so hohem Maße Ausfluß der selbständigen Denktätigkeit ihrer Verfasser ist, daß demgegenüber die Entlehnungen aus dem Lustspiel als unwesentlich in den Hintergrund treten.
Dies nimmt das Revisionsgericht in Übereinstimmung mit dem Vorderrichter und der von diesem zur Begutachtung der Streifrage herangezogenen literarischen Sachverständigenkammer an. Wichtig ist hierbei namentlich, daß die Handlung, die sich in dem Lustspiel auf dem Boden eines dem heutigen Geschmacke nicht mehr zusagenden Intrigenspiels bewegt und als ernsthaften Hintergrund die Verspöttelung der früheren deutschen kleinstaatlichen Verhältnisse und der Pariser Gesellschaft aus der Zeit des zweiten Kaiserreichs zeigt, von alledem in der Operette vollständig absieht und sich in einer von den Regeln strenger Logik losgelösten Zusammenreihung burlesker Szenen erschöpft. Mit Rücksicht hierauf sowie auf den Ersatz deutscher durch südslawische Verhältnisse sind die Charaktere der in den Hauptrollen auftretenden Personen gänzlich umgestaltet worden; zugleich ist dem gesamten Stücke, das ein karrikiertes Bild heutigen Pariser Lebens wiederspiegelt, ein lebhaftes, zügelloses Gepräge gegeben worden. Dem überall hervortretenden leichtfertigen, in das Schlüpfrige übergehenden Tone passen sich die zahlreichen übermütigen Couplets, die einen beträchtlichen Teil des ganzen Textbuchs ausmachen, günstig und wirkungsvoll an. Der Gang des Stückes ist in eine möglichst kurze und drastische Handlung zusammengedrängt. Der letzte Akt der Operette ist neu erfunden; die Lösung ist eine ganz andere geworden.
Alle diese Umstände drücken dem Texte der Operette im Vergleiche zu dem Inhalte des Lustspiels den Stempel einer selbständigen Leistung der Verfasser auf und lassen es gerechtfertigt erscheinen, in deren Tätigkeit nicht eine Bearbeitung, sondern nur eine freie Benutzung des Lustspiels zu sehen. Weiter aber begründen sie auch die Annahme, daß der Operettentext eine eigentümliche Schöpfung im Sinne des § 13 Abs. 1 LitUrhG. darstellt. Denn abgesehen von der Änderung der äußeren Form hat das Textbuch der Operette einerseits durch die erhebliche Umarbeitung der aus dem Lustspiele herübergenommenen Bestandteile, anderseits durch die im Vordergrunde stehenden selbständigen Zutaten der Verfasser eine so eigenartige Gestaltung erhalten, daß ihm der Charakter eines neuen und eigentümlichen Bühnenwerkes nicht versagt werden kann.“
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RG, 08.03.1913 - I 16112 - RGZ 82, 16.pdf | 147.01 KB |