RG, 23.12.1879 - III 188/79
Hat die nachträgliche Zuerkennung einer Zuchthausstrafe gegen den Rentenberechtigten die Aufhebung der Rente für die Dauer der Strafhaft zur Folge?
Tatbestand
Der Arbeiter U. war im Juli 1872 in der Maschinenfabrik der Firma W. & Co. durch Herabfallen eines sog. Holländers erheblich verletzt und nach längerem Krankenlager arbeits- und erwerbsunfähig geworden. Er erhob Klage auf Entschädigung nach §§. 2 u. 3 H.Pfl.G. und wurde Beklagte unterm 24. Mai 1876 rechtskräftig schuldig erkannt, dem Kläger vom 13. Juli 1872 an, "so lange dessen Arbeitsunfähigkeit dauere", wöchentlich 10 M. 50 Pfg. Rente zu zahlen.
Im Juni 1878 ist U. wegen Meineides in eine zweijährige Zuchthausstrafe verurteilt worden, die er seitdem verbüßt.
Dies veranlaßte die Rentenpflichtige, mit einer Widerklage aufzutreten, in welcher sie unter Berufung auf §. 7 Abs. 2 H.Pfl.G. beantragte, sie während der Dauer der Strafhaft von der Zahlung der Rente zu entbinden.
Die erste Instanz hat diese Widerklage mit Bezug auf eine Entscheidung des Reichsoberhandelsgerichtes (Entsch. Bd. 23 Nr. 15 S. 46 fg.) verworfen, die zweite Instanz - auf eingeholtes Erachten der Juristenfakultät zu Halle - nach dem Klagantrage erkannt. In den Gründen des letzteren Erkenntnisses wurde erwogen:
Gründe
"Die Bitte um zeitweise Suspension der Entschädigungszahlung stütze sich auf Widerlegung der Präsumtion, daß der rentenberechtigte Verletzte ohne die erlittene Verletzung auch in Zukunft arbeits- und erwerbsthätig sein werde, während solche in dem von dem Reichsoberhandelsgerichte entschiedenen Falle auf die Behauptung gegründet worden sei, die rentenberechtigte Frauensperson, welche durch die Verletzung arbeitsunfähig geworden, würde, auch wenn sie die Verletzung nicht erhalten hätte, dennoch in bestimmter Zeit nach Eintritt ihrer so verursachten Arbeitsunfähigkeit, infolge Schwangerschaft ohnehin zur Arbeit außer Stande gewesen sein."
Auf Oberappellation des Widerbeklagten bestätigte das Reichsgericht das zweite Erkenntnis aus folgenden Gründen:
"Nach §. 3 Abs. 2 des Reichsgesetzes vom 7. Juni 1871 besteht der einem bei dem Betriebe einer Eisenbahn oder einer Fabrik verletzten Menschen zu leistende Schadensersatz in dem Ersatze des Vermögensnachteiles, welchen der Verletzte durch die infolge der Verletzung eingetretene Erwerbsunfähigkeit oder Verminderung der Erwerbsfähigkeit erleidet. Es gehört mithin zu den Voraussetzungen eines solchen Schadensersatzanspruches nicht bloß eine bestimmte Erwerbsthätigkeit des Verletzten, sondern auch der Umstand, daß der Verletzte die Möglichkeit eines Erwerbes habe, also, aller Voraussicht nach, ohne die erlittene Körperverletzung im Stande gewesen sei, für die Zukunft durch Verwertung seiner Kräfte Erwerb zu ziehen. Daraus folgt aber, daß, wenn dem Verletzten als Ersatz für den zukünftigen Erwerb nach Maßgabe des §. 7 Abs. l H.Pfl.G. eine Rente zugebilligt worden ist, und der Verpflichtete auf Grund des §. 7 Abs. 2 die Aufhebung oder Minderung dieser Rente fordert, weil diejenigen Verhältnisse, welche die Zuerkennung der Rente bedingt hatten, sich wesentlich geändert haben, die Ersatzpflicht in Wegfall kommt, sobald Umstände eintreten, welche, wären sie von Anfang an vorhanden gewesen, einen Ersatzanspruch ausgeschlossen hätten.
Es ist nicht zweifelhaft, daß sowohl eine freiwillige als auch eine rechtmäßig erzwungene, mit der Körperverletzung selbst außer allem Zusammenhange stehende, Erwerbsunthätigkeit des Verletzten für die Dauer dieses Zustandes die Zuerkennung einer Rente hindert, deshalb muß eine solche Unthätigkeit auch die Aufhebung des Rentenbezuges herbeiführen, wenn sie nach dem den haftpflichtigen Betriebsunternehmer verurteilenden Erkenntnisse eintritt.
Mit Recht hat danach die vorige Instanz angenommen, daß die Widerklägerin für die Zeit, während welcher der Widerbeklagte die gegen ihn ausgesprochene zweijährige Zuchthausstrafe verbüße, zur Zahlung der festgesetzten Rente nicht verpflichtet sei.
Zwar ist die Widerklägerin zur Zahlung der Rente für die Dauer der "Arbeitsunfähigkeit" des Widerbeklagten schuldig erkannt worden den, und es wendet mit Bezug hierauf der letztere ein, daß seine Arbeitsfähigkeit auch während der Strafhaft fortdauere. Allein abgesehen davon, daß nach den Entscheidungsgründen der im Urteile gebrauchte Ausdruck: "Arbeitsunfähigkeit" als gleichbedeutend mit "Erwerbsunfähigkeit" zu nehmen ist, steht jene Entscheidung selbst auf keinen Fall der Anwendung des §. 7 Abs. 2 H.Pfl.G. entgegen.
Unbeachtlich ist die Ausführung des Oberappellanten, daß er die Entschädigungsrente nicht nur zum eigenen Unterhalte nötig habe, sondern auch zu demjenigen seiner Familie aufwenden müsse und tatsächlich verwendet habe. Denn der Familie des U. steht gesetzlich ein Entschädigungsanspruch dem haftpflichtigen Betriebsunternehmer gegenüber nicht zu.
Ob Oberappellant, wenn ihn die fragliche Körperverletzung nicht betroffen haben würde, in der Lage gewesen wäre, sich durch Beteiligung bei den in der Strafanstalt eingeführten Arbeiten einen Überverdienst zu sichern (vgl. §. 15 St.G.B.), und ob etwa hieraus ein Schadensersatzanspruch an die Widerklägerin in einer bestimmten Höhe abgeleitet werden könnte, muß dahingestellt bleiben, da sich Widerbeklagter auf Umstände, welche zur Rechtfertigung einer solchen Forderung dienen könnten, überhaupt nicht bezogen hat.
Aus den Verhandlungen erhellt nicht, ob die Widerklägerin bereits vor Beginn, bezw. während der Dauer dieses Prozesses die Zahlung der dem Widerbeklagten zuerkannten Rentenbeträge eingestellt hat; die Klagbitte geht auch nur dahin: "die Widerklägerin von der Verpflichtung zur Rentenzahlung während der Dauer der Strafhaft des Widerbeklagten zu entbinden". Mit Rücksicht hierauf ist hervorzuheben, daß durch das gegenwärtige Erkenntnis keine Entscheidung darüber getroffen werden soll, ob die Widerklägerin nach §. 7 Abs. 2 S. 1 H.Pfl.G. zur Zurückforderung etwaiger für die Vergangenheit bereits bezahlter Rentenbeträge berechtigt sei."