RG, 23.12.1879 - III 196/79

Daten
Fall: 
Schutzvorrichtungen für Mitarbeiter
Fundstellen: 
RGZ 1, 271
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
23.12.1879
Aktenzeichen: 
III 196/79
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Kreisgericht Ravensburg.
  • Landesoberhandelsgericht Stuttgart.
Stichwörter: 
  • Anforderungen an einen Fabrikunternehmer im Hinblick auf Schutzvorrichtungen für Mitarbeiter

Ist ein Fabrikunternehmer nach §. 107 (jetzt 120) der Reichsgewerbeordnung nur verpflichtet, diejenigen Schutzvorrichtungen in seiner Fabrik zu treffen, welche geeignet sind, einen absoluten Schutz gegen die mit dem Fabrikbetriebe verbundenen Gefahren zu gewähren, oder auch solche Schutzvorrichtungen, welche geeignet sind, diese Gefahren in erheblichem Grade zu vermindern?

Tatbestand

Der Kläger war in der Eisengießerei der Beklagten als Eisengießer angestellt. Bei Gelegenheit einer ihm am 13. Juli 1876 von dem mit der Leitung des Geschäftes beauftragten Gießermeister H. aufgetragenen Arbeit, dem Abfassen flüssigen Eisens mit einem Handlöffel, wurde Kläger durch ausspritzende Sternchen am rechten Auge verletzt, und seine Arbeitskraft durch diese Verletzung dauernd vermindert. Eine dieserhalb beim Kreisgerichte zu Ravensburg erhobene Entschädigungsklage wurde abgewiesen.

Zur Begründung der Berufung machte Kläger u. a. geltend, es liege auch ein Verschulden der Fabrikinhaber selbst vor, weil sie es unterlassen hatten, die zur Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit nötigen Schutzvorrichtungen in ihrer Fabrik einzuführen, indem sie versäumt, Schutzbrillen den Arbeitern zu liefern. Das Berufungsgericht verfügte Beweiserhebung darüber:

"ob eine Schutzbrille die geeignete Vorrichtung sei, um die Augen eines mit Abfassung von flüssigem Eisen an einem Kugel-Ofen beauftragten Gießers gegen das Ausspritzen von Eisenteilchen oder sog. Sternchen zu schützen",

und erkannte nach Erhebung des Beweises die Beklagten schuldig, dem Kläger denjenigen Schaden zu ersetzen, welcher demselben durch den in der Fabrik derselben am 13. Juli 1876 erlittenen Unfall entstanden sei.

Gegen diese Entscheidung hat die Beklagte die Nichtigkeitsklage erhoben und dieselbe u. a. auf Art. 733 Nr. 15 der Civilprozeßordnung für das Königreich Württemberg vom 3. April 1868 gestützt, weil der Berufungsrichter bei der Feststellung einer aus §. 107 der Reichsgewerbeordnung abgeleiteten Schadensersatzpflicht sich geirrt habe, sofern er angenommen habe, es genüge festzustellen,

  1. daß eine Einrichtung fehle, ohne daß es nötig sei zu beweisen und festzustellen, daß der Gewerbeunternehmer deren Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit gekannt habe oder habe kennen müssen,
  2. daß eine Schutzvorrichtung geeignet sei, die Gefahr zu vermeiden, ohne daß es nötig wäre zu beweisen und festzustellen, daß ein bestimmter Unfall durch deren Nichtanwendung eingetreten sei.

Durch die erste Annahme habe der Berufungsrichter für den Schuldbeweis, durch die zweite für den Schadensbeweis in unstatthafter Weise eine Rechtsvermutung aufgestellt.

Das Reichsgericht hat die Nichtigkeitsklage aus folgenden Gründen verworfen:

Gründe

... "Da nach Artikel 733 Ziffer 15 eine Nichtigkeit vorliegt, wenn bei Beurteilung des der Entscheidung als Thatbestand zu Grunde gelegten Ergebnisses der Verhandlung und Beweisführung ein Rechtssatz verletzt, unrichtig ausgelegt oder falsch angewendet worden ist, die Feststellungen des Berufungsgerichtes über das Ergebnis der Verhandlungen und der Beweisführung daher bei Prüfung der Nichtigkeitsklage zu Grunde zu legen sind, so erscheint auch die Rüge der Verletzung von Rechtssachen und insbesondere der aufgestellten Sätze nicht gerechtfertigt.

Das Landes-Oberhandelsgericht hat auf Grund der Würdigung des Ergebnisses der Beweiserhebung festgestellt, daß zwar durch den Gebrauch von Schutzbrillen den Arbeitern in der Fabrik der Beklagten kein absoluter Schutz gegen die Gefahren beim Gießen gewährt werde, daß aber durch dieses Schutzmittel die Gefahren erheblich vermindert werden, und hat, unter Bezugnahme auf §. 107 der Reichsgewerbeordnung in der Unterlassung der Anwendung von Schutzbrillen, welche zu den im §. 107 erwähnten Einrichtungen gehören, ein Verschulden der Beklagten, beziehungsweise der mit der Leitung und Beaufsichtigung des Betriebes und der Arbeiten beauftragten Personen gefunden und hieraus die Haftbarkeit der Beklagten für den durch Unterlassung dieser Vorsichtsmaßregeln entstandenen Schaden gefolgert. Es hat ferner festgestellt, daß dafür, im vorliegenden Falle würde durch Anwendung der Brille der Unfall nicht verhindert worden sein, keinerlei Anzeichen vorliege, und daß von der Beklagten in dieser Richtung wesentliches nicht vorgebracht sei. Durch die aus den festgestellten Thatsachen gezogenen rechtlichen Folgerungen hat der Berufungsrichter die von Nichtigkeitsklägerin hervorgehobenen Rechtssätze nicht verletzt, namentlich keine Rechtsvermutungen für den Schaden und für den Schuldbeweis aufgestellt. Das Berufungsgericht gründet die Verurteilung der Beklagten auf §. 2 des Haftpflichtgesetzes vom 7. Juni 1871, denn es hebt ausdrücklich hervor, daß ein Verschulden der mit der Leitung des Fabrikbetriebes und der Beaufsichtigung der Arbeiter beauftragten Personen vorliege, und daß hierdurch die Haftpflicht der Beklagten begründet werde. Dasselbe stellt ferner fest, daß der dem Kläger zugefügte Schade die Folge der Unterlassung der Anwendung der Schutzbrillen sei.

Mit Recht geht dabei das Landes-Oberhandelsgericht davon aus, daß nach §. 107 der Reichsgewerbeordnung ein Fabrikunternehmer nicht nur verpflichtet sei, diejenigen Schutzvorrichtungen in seiner Fabrik zu treffen, welche geeignet sind, einen absoluten Schutz gegen die mit dem Fabrikbetriebe verbundenen Gefahren zu gewähren, sondern auch solche, welche geeignet sind, diese Gefahren in erheblichem Grade zu vermindern, und also, wenn auch nicht immer, so doch der Regel nach, die Beschädigung der Arbeiter zu verhüten. Denn in §. 107 ist bestimmt, der Fabrikunternehmer sei verpflichtet, alle diejenigen Einrichtungen auf seine Kosten herzustellen und zu unterhalten, welche mit Rücksicht auf die besondere Beschaffenheit des Gewerbebetriebes und der Fabrikstätte zu thunlichster Sicherung der Arbeiter gegen Gefahr für Leben und Gesundheit notwendig sind. Daß zu diesen Einrichtungen vorliegend die Schutzbrillen gehören, hat der Berufungsrichter festgestellt. Die Kenntnis des Gewerbeunternehmers von der Notwendigkeit oder Zweckmäßigkeit der betreffenden Schutzvorrichtung ist nicht Voraussetzung für die Anwendbarkeit des Gesetzes, es ist vielmehr Pflicht des Unternehmers, nach denjenigen Einrichtungen sich zu erkundigen, welche für denjenigen Gewerbebetrieb, in welchem er Arbeiter beschäftigt, zum thunlichsten Schutze derselben notwendig und geeignet sind. Nach Lage der Sache kann übrigens auch nicht bezweifelt werden, daß der Beklagten beziehungsweise ihren mit Leitung des Fabrikbetriebes beauftragten Vertretern bekannt gewesen, daß durch den Gebrauch der Schutzbrillen die Gefahren beim Gießen vermindert werden, da sie selbst behauptet hat, daß in allen Gießereien diese Schutzbrillen angewendet werden, und aus dem Nichtgebrauche derselben dem Kläger den Vorwurf gemacht hat, daß er durch Außerachtlassen der gewöhnlichen Vorsichtsmaßregeln den Unfall durch eigenes Verschulden herbeigeführt habe.

Das Landes-Oberhandelsgericht geht ferner nicht, wie Nichtigkeitsklägerin vermeint, davon aus, daß es eines Beweises des Kausalzusammenhanges zwischen dem Verschulden eines Beauftragten der Beklagten in seinen Dienstverrichtungen und dem eingetretenen Unfalle nicht bedürfe. Es stellt zwar nicht positiv fest, daß im Falle der Anwendung der Schutzbrille der Schaden verhütet sein würde, sondern nur, daß dafür, der Unfall würde nicht verhindert sein, wenn auch die Schutzbrille benutzt wäre, nichts vorliege. Diese Feststellung ist auch genügend. Denn die Feststellung, daß absolut der Unfall nicht eingetreten sein würde, ist nicht möglich, wenn es sich um solche Schutzvorrichtungen handelt, welche nur einen relativen Schutz gewähren. Geht man von dem von dem Berufungsgerichte festgestellten Tatbestande aus, so wäre es Sache der Beklagten gewesen darzulegen, daß trotz des Gebrauches der Schutzbrille die Beschädigung des Klägers nicht verhütet sein würde."