RG, 20.12.1879 - V 31/79

Daten
Fall: 
Possessorische Besitzanspruch
Fundstellen: 
RGZ 1, 131
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
20.12.1879
Aktenzeichen: 
V 31/79
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • Stadt- und Kreisgericht Magdeburg.
  • Appellationsgericht daselbst.
Stichwörter: 
  • Der possessorische Besitzanspruch

Hat derjenige, welchem eine Sache körperlich übergeben worden ist, in Ansehung der aus dem Besitze entspringenden Rechte den Vorzug vor dem, welcher vorher den Besitz durch constitutum possessorium erlangt hatte?

Tatbestand

Das Reichsgericht hat die von dem Beklagten gegen das zweite Urteil eingelegte Nichtigkeitsbeschwerde zurückgewiesen aus folgenden, den Sachverhalt ergebenden

Gründe

"Nach der Feststellung des Appellationsrichters liegt folgendes Sachverhältnis vor:
Der Kläger hat mittels schriftlichen Vertrages vom 8. April 1876 von dem Viktualienhändler H. St. eine Drehrolle für 600 Mark gekauft. Hinsichtlich der Übergabe lautet der §. 3 des Vertrages:

Die Übergabe der gekauften Gegenstände hat zur Zufriedenheit des Käufers stattgefunden; es gestattet indessen Käufer dem Verkäufer die ordnungsmäßige Benutzung der Gegenstände auf unbestimmte Zeit von heute ab, und hat letzterer dem ersteren hierfür eine Entschädigung von sechs Mark zu zahlen.

Der Beklagte bestreitet, daß durch diese Abreden die Übergabe bewirkt ist und behauptet seinerseits, Eigentümer der Drehrolle zu sein, weil er dieselbe von den St.'schen Eheleuten mittels Vertrages vom 1. Oktober 1877 gekauft und übergeben erhalten habe. Er befindet sich jetzt im Besitz derselben.

Der Appellationsrichter erachtet den Anspruch des Klägers auf Herausgabe der Rolle für begründet. Die von dem Beklagten gegen diese Entscheidung erhobenen Angriffe sind verfehlt.

Die erste Beschwerde geht dahin, daß der Appellationsrichter die Abreden im §. 8 des Vertrages vom 8. April 1876 zu Unrecht für ausreichend gehalten habe, um die Übergabe darzuthun. Hierzu habe es, führt Beklagter aus, der Besitzergreifung bedurft, welche nicht durch Willenserklärung, sondern nur dadurch, daß dem Erwerber das physische Vermögen, mit Ausschließung anderer über die Sache zu verfügen, übertragen wurde, erlangt werden konnte. Die gerügte Verletzung des A.L.R.'s I. 7. §§. 1 bis 3, 58; I. 11. §. 77; I. 10. §. 1 liegt jedoch nicht vor.

Der Besitz wird nicht allein durch körperliche Übergabe, sondern nach A.L.R. I. 7. § 70 ff. in den gesetzlich bestimmten Fällen auch durch bloße Willensäußerung übertragen. Insbesondere gilt nach § 71 die Übergabe des Besitzes für vollzogen, wenn der bisherige Besitzer seinen Willen, die Sache nunmehr für einen anderen in seiner Gewahrsam zu halten, rechtsgültig erklärt. Mietet oder pachtet, sagt §. 73 a. a. O. weiter, der bisherige Eigentümer eines Grundstückes dasselbe von einem anderen, so vertritt dieser Vertrag zugleich die Stelle der Einräumung des vollständigen Besitzes. Der Appellationsrichter durfte deshalb, auch wenn keine körperliche Übergabe stattgefunden hatte, den Besitz der Drehrolle auf den Kläger übertragen ansehen, sofern die Bedingungen zur Anwendung des A.L.R.'s I. 7. §§. 70 bis 73 vorliegen. Er bejaht dies, weil er der Ausführung in der Klage zustimmt, wonach in dem §. 3 a. a. O. zwischen dem Kläger und St. verabredet ist, daß letzterer - der bisherige Eigentümer und Verkäufer - die Rolle mietsweise behalten solle. Die Annahme, daß der §. 3 alle wesentlichen Merkmale des Mietsvertrages enthält, kann nicht für rechtsirrtümlich erachtet werden. Dem Verkäufer ist die Benutzung der Rolle gegen einen bestimmten Preis gestattet. Es liegen deshalb die Erfordernisse des A.L.R.'s I. 21. § 258 vor. Eine bestimmte Dauer des Vertrages braucht nicht verabredet zu werden (§. 340 ebendas.). Den Appellationsrichter trifft sonach nicht der Vorwurf der Gesetzesverletzung, wenn er annimmt, daß durch constitutum possessorium der Besitz der Rolle auf den Kläger übergegangen ist.

Die zweite Beschwerde geht dahin, daß Beklagter, dem der Besitz körperlich übertragen ist, die Eigentumsansprüche des Klägers, welcher den Besitz nur durch constitutum possessorium erlangt hat, ausschließe. Es wird Verletzung des A.L.R.'s I. 5. §. 47; I. 10. §§. 22, 23; I. 7. §§. 74, 71, 58, 59 behauptet. Auch dieser Angriff erscheint verfehlt, wenn auch der Nichtigkeitsbeschwerde zugegeben werden muß, daß der Fall des A,L.R.'s I. 5. §. 47 nicht vorliegt. Das Citat ist ohne Bedeutung und beruht anscheinend auf einem Schreibfehler.

Der weiter behauptete Vorzug der körperlichen Übergabe vor dem constitutum possessorium besteht nicht. Das Landrecht kennt vier Arten der Besitzübertragung: durch körperliche Übergabe (I. 7. §§. 58 bis 60), durch Zeichen (§§. 62 bis 65), durch Anweisung (§§. 66 bis 68), und durch bloße Willensäußerung (§§. 70 bis 73).

In dem sich unmittelbar anschließenden §. 74 wird bestimmt:
Der, welchem eine Sache körperlich übergeben worden, hat, in Ansehung der aus dem Besitze entspringenden Rechte den Vorzug vor dem, welchem die Übergabe bloß durch Anweisung oder Zeichen geschehen ist.

Der Wortsinn dieser Vorschrift bietet zu Zweifeln keinen Anlaß. Der Vorzug, welchen das Gesetz der körperlichen Übergabe gewährt, wird auf die beiden Arten der Übergabe durch Zeichen und durch Anweisung beschränkt. In Übereinstimmung hiermit verordnet §. 75, daß beim Streite mehrerer, welche die Übergabe bloß durch Zeichen oder Anweisung erhalten haben, sich keiner die Rechte des Besitzes gegen den anderen anmaßen darf. Die dann folgende Bestimmung (§. 76), daß die Sache so lange in gerichtlichen Beschlag genommen werden soll, bis das Recht zum Besitze entschieden ist, kann ebenfalls nur von dem Falle, daß keinem Prätendenten körperlich oder durch Willensäußerung tradiert ist, verstanden werden.

Der Grund für die Vorschrift des §. 74 läßt sich auch nicht schwer finden. Nach §. 62 a. a. O. können bei der symbolischen Übergabe die Zeichen, abgesehen von den gesetzlichen Ausnahmen, willkürlich gewählt werden. Sie müssen jedoch (§. 63) von der einen Seite die Absicht, den Besitz zu erledigen, und von der andern, denselben zu ergreifen, hinlänglich andeuten. Aber auch dann soll die symbolische Übergabe von der Beschaffenheit sein, daß der körperlichen Besitznehmung ferner nichts im Wege steht (§. 64).

Diese Vorschriften weisen darauf hin, daß der Gesetzgeber die Möglichkeit in's Auge gefaßt hat, die gebrauchten Zeichen könnten zur Bewirkung der Übergabe nicht ausreichend sein.

Ein ähnlicher Zweifel ist bei der körperlichen Übergabe aus Hand in Hand (§. 61), und ebenso bei der Übergabe durch bloße Willensäußerung nicht denkbar. In letzterem Falle erachtet das Gesetz mit Abgabe der vorgeschriebenen Erklärung die Tradition für vollzogen (§§. 70, 71). Ein Bedürfnis, die Rechte derjenigen, denen in unvollkommener, nicht ausreichender Weise tradiert ist, gesetzlich zu regeln, waltete deshalb nur bei der sogenannten symbolischen Übergabe ob. Hier lag der Gedanke nahe, eine Tradition, welche dem Erwerber nicht die wirkliche Herrschaft über die Sache gewährt, sondern deren Besitznehmung durch einen andern zuläßt, gegen die körperliche Übergabe aus Hand in Hand zurücktreten zu lassen.

Dies bestimmt §. 74 a. a. O. Hätte der Gesetzgeber noch weiter gehen, und denselben Grundsatz auch bei der Übergabe durch Willensäußerung durchführen wollen, so wäre erforderlich gewesen, entweder diese Absicht im §. 74 zum Ausdrucke zu bringen, oder die Vorschriften über die Wirkung der Tradition durch Willensäußerungen in den §§. 70 und 71 zu modifizieren. Denn die Worte des §. 71: ist die Übergabe des Besitzes für vollzogen zu achten, lassen sich unmöglich mit der Annahme vereinigen, das Gesetz habe dem früheren Besitzer gestatten wollen, die hiermit angeordnete rechtliche Wirkung der abgegebenen Erklärung nachträglich durch einen von ihm vorgenommenen Akt aufzuheben. Ganz verschieden davon ist die Frage, ob der nach §§. 70 und 71 rechtlich erworbene Besitz durch Treulosigkeit des Inhabers demnächst verloren gehen kann.

Das frühere preußische Obertribunal hat in mehreren Entscheidungen die entgegenstehende Ansicht angenommen. Es wendet den §. 74 cit. auch auf den Besitzerwerb durch constitutum possessorium an.
Striethorst, Arch. Bd. 48 S. 21. Entsch. des Obertribunals Bd. 83 S. 1.

Zur Begründung wird ausgeführt, daß die Redaktoren, wie die Entstehungsgeschichte des Landrechtes ergebe, sowohl das constitutum possessorium, als die traditio brevi manu species traditionis symbolicae gehalten haben, und daß aus diesem Grunde die §§. 74 bis 76, welche in den früheren Entwürfen auf die Regeln über den Besitzerwerb durch Zeichen oder Anweisung folgten, hinter die Vorschriften über den Besitzerwerb durch Willensäußerung gestellt seien. Durch diese Umstellung sei zum Ausdrucke gebracht, daß die körperliche Übergabe den Vorzug vor der Übergabe durch Willensäußerung haben solle.

Schon der Umstand, daß der Wortlaut des §. 74 einer solchen Interpretation widerspricht, erregt Bedenken gegen ihre Nichtigkeit. Nach §. 46 der Einl. zum Landrechte soll der Richter den Gesetzen keinen anderen Sinn beilegen, als welcher aus den Worten und dem Zusammenhange derselben, oder aus dem nächsten unzweifelhaften Grunde des Gesetzes deutlich erhellt. Nur wenn er den Sinn des Gesetzes zweifelhaft findet, hat er nach den allgemeinen Regeln über Auslegung der Gesetze zu entscheiden (Anh. §. 2). Nimmt man aber auch an, daß schon der Ort, wo die Gesetzesvorschrift steht, einen derartigen Zweifel hervorruft, so folgt doch aus der Umstellung allein nicht, daß solche Vorschriften, welche nur für die eine Art der Tradition nach deutlichem Wortlaute gegeben sind, auch auf die andere Art angewendet werden müssen. Die Ansicht einzelner Redaktoren des Landrechtes, daß der Besitzerwerb durch Willensäußerung eine Art der symbolischen Übergabe enthalte, wird jetzt allseitig als eine unrichtige verworfen und darf nicht die Grundlage für eine weitere Rechtsentwickelung bilden. Indem geben die Materialien zum Tit. 7 T. I des Landrechtes nicht den geringsten Anhalt, daß die Redaktoren selbst die in den Entscheidungen des Obertribunales gezogene Konsequenz ihrer Ansicht beabsichtigt haben.

Die Umstellung ist vielmehr nur aus Gründen der legislativen Technik erfolgt. Das Obertribunal nimmt auch selbst Anstand, die ausgesprochene Ansicht vollständig durchzuführen. Obwohl der für dieselbe aufgestellte Grund gleichmäßig bei den beiden Formen der Übergabe durch Willensäußerung zutrifft, räumt es der körperlichen Übergabe einen Vorzug gegen die traditio brevi manu nicht ein (I. 7. §. 70).

Nimmt man hiernach an, daß der §. 74 I. 7 auf den Fall des Besitzerwerbes durch constitutum possessorium (§. 71 ebendas.) keine Anwendung findet, so fällt damit der vom Imploranten erhobene zweite Angriff. Eine Verletzung der §§. 22, 23 A.L.R. I. 10 hat nicht stattgefunden, da dem Imploraten der Besitz vor dem Imploranten eingeräumt ist. Die Nichtigkeitsbeschwerde muß deshalb als unbegründet zurückgewiesen werden."