RG, 25.11.1879 - III 5/79
Verpflichtung zur Fortentrichtung stiftungsmäßiger Leistungen bei Umwandlung der bezugsberechtigten Anstalt.
Tatbestand
Bis zum J. 1812 bestanden in H. zwei höhere Schulen, eine unter dem reformierten Konsistorium stehende "hohe Landesschule", und ein unter dem lutherischen Konsistorium stehendes "lutherisches Gymnasium". Die an letzterem angestellten Lehrer bezogen aus dem Hauptkirchenärar der Johanniskirche zu H. bestimmte Besoldungen. Im J. 1812 verwandelte die damalige Regierung die hohe Landesschule in ein Gymnasium, das lutherische Gymnasium in eine Bürger- und Realschule, und überwies der letzteren die bis dahin aus dem Kirchenärar gezahlten Beiträge. Im J. 1818 fand eine weitere, aus den nachfolgenden Entscheidungsgründen ersichtliche Vereinbarung statt.
Im J. 1873 ging die Realschule von dem Staate auf die Stadt H. über. Fortan verweigerten die Vertreter des Kirchenärars die Fortentrichtung der bisher geleisteten Beiträge. Die in den Rechtsweg verwiesene Stadt erhob hierauf gegen das Kirchenärar Klage. In erster Instanz erfolgte eine Verurteilung, in zweiter eine Klagabweisung. In dritter Instanz wurde das erstinstanzliche Urteil wieder hergestellt aus folgenden Gründen:
Gründe
"Das Hauptkirchenärar der Johanniskirche zu H. bildet ein in den letzten beiden Jahrhunderten für kirchliche Zwecke geschaffenes Stiftungsvermögen. Kirchliche Zwecke im Sinne vergangener Jahrhunderte umfaßten aber nicht allein Zwecke der Kirche im engeren Sinne, sondern auch Zwecke der Schule, indem die Schule als Zubehör der Kirche galt. In welchem Maße das fragliche Stiftungsvermögen einerseits für kirchliche Zwecke im engeren Sinne, andererseits für Schulzwecke bestimmt war, läßt sich, beim Mangel urkundlicher Nachweisung der der Stiftung ursprünglich gegebenen Bestimmung, nur nach dem Herkommen bemessen. In dieser Beziehung steht es fest, daß das Kirchenärar geraume Zeit bis zum Jahre 1812 bestimmte Beiträge für die Besoldung der Lehrer des lutherischen Gymnasiums zu H. leistete. Man muß hiernach annehmen, daß das Kirchenärar zur Leistung dieser Beiträge stiftungsmäßig verpflichtet war, wobei es völlig dahin gestellt bleiben kann, ob jenem Gymnasium eine selbständige juristische Persönlichkeit beizulegen war oder nicht.
Im Jahre 1812 wurde von der damaligen Regierung des Großherzogtums Frankfurt das lutherische Gymnasium aufgehoben, an dessen Stelle eine Realschule errichtet, und dieser die bisher dem Gymnasium geleisteten Beiträge des Kirchenärars überwiesen. Indem die Staatsregierung so verfuhr, machte sie nur von den ihr staatsrechtlich zustehenden Rechten Gebrauch. Es stand ohne Zweifel in dem Ermessen der Staatsregierung, ob sie das, eine öffentliche Schule bildende, lutherische Gymnasium nach Maßgabe der Orts- und Zeitverhältnisse fortbestehen lassen oder aufheben wollte. Hob sie dasselbe auf, so erwuchs für sie staatsrechtlich das Recht und die Pflicht, über das stiftungsmäßig dieser Anstalt zukommende Vermögen Bestimmung zu treffen, und dasselbe, wenn möglich, zu Zwecken, welche der ursprünglichen Stiftung nahe kamen, zu verwenden. Und wenn sie demgemäß für die Verwendung der bisher dem Gymnasium gezahlten Beiträge die an der Stelle des Gymnasiums geschaffene Realschule wählte, so läßt sich hierin nicht, mit dem Appellationsgerichte, eine bloße staatsrechtliche Zwangsauflage erkennen, und zwar um so weniger, als, wie das Appellationsgericht selbst hervorhebt, damals von keiner Seite auch nur ein Zweifel über die Fortdauer der bisherigen Vertragspflicht des Kirchenärars auftauchte.
Jene Überweisung hat aber noch eine besondere Bestätigung gefunden in der Vereinbarung, welche die Vertreter der Kirche und Schule unter landesherrlicher Genehmigung im Jahre 1818 getroffen haben. Es war streitig geworden, ob auch die aus dem Kirchenärar zu zahlenden Besoldungen derjenigen Lehrer, welche zugleich in der Kirche Dienste zu leisten hatten, auf den Schulfonds übergehen sollten. Es wurde vereinbart, daß diese Besoldungen ohne Einschränkung der Kirche vorbehalten bleiben sollen, jedoch nur für die Lebenszeit der fraglichen Lehrer, nach deren Abgange eine anderweite Ausgleichung unterhandelt werden solle. "Insofern" wurde die fragliche Vereinbarung ausdrücklich als Provisorium bezeichnet. Zugleich aber wurde darin die - nicht provisorische - Bestimmung getroffen, daß diejenigen Besoldungen, welche sonst an den Rektor und Prorektor abgegeben worden, - und diese sind es gerade, um welche in dem gegenwärtigen Prozesse es sich handelt - dem Schulfonds überlassen werden sollen. Auch in diesem Vorgange ist ein Zeugnis für die allseitig bewußte Rechtmäßigkeit jener Überweisung enthalten.
Auf Grund jener Überweisung und dieser weiteren Vereinbarung sind dann die fraglichen Beiträge zwei Menschenalter hindurch an die Realschule geleistet worden; und zwar für den größten Teil dieses Zeitraumes unter der Herrschaft einer Verfassung, welche ausdrücklich die Vorschrift enthielt, daß da, wo der stiftungsmäßige Zweck einer Stiftung nicht mehr zu erreichen stehe, das Stiftungsvermögen gleichwohl nicht zum Staatsvermögen gezogen, sondern für ähnliche Zwecke verwendet werden solle. (§. 138 der Kurhessischen Verfassungs-Urkunde vom 5. Januar 1831.) Auch während dieses langdauernden Zeitraumes ist die Rechtmäßigkeit des Bezuges jener Beiträge seitens der Realschule, so viel ersichtlich, niemals angezweifelt worden; und es ist solchergestalt diese Verwendung als eine stiftungsmäßige durch ein erneuertes Herkommen befestigt.
Endlich hat das Verhältnis auch nicht dadurch eine Änderung erfahren, daß durch eine Vereinbarung zwischen Staat und Stadt die Realschule auf die letztere übergegangen ist. Vielmehr knüpft sich hieran nur die Folge, daß nunmehr die Stadt die stiftungsmäßigen Rechte der Schule geltend zu machen berufen ist.
Bei dieser Sachlage kann die Rechtmäßigkeit des Bezuges der fraglichen Beiträge seitens der von der Klägerin vertretenen Schule und die Verpflichtung des verklagten Ärars, solche fortzuentrichten, nicht bezweifelt werden. Am wenigsten kann dies aus dem vom Appellationsgerichte besonders hervorgehobenen Gesichtspunkte geschehen, daß die Realschule nicht mehr, gleich dem früheren Gymnasium, den Charakter einer lutherischen Schule besitze, nachdem in H. der Gegensatz der Kirchen lutherischer und reformierter Konfession durch die im Jahre 1818 erfolgte Einigung beider zu einer unierten Kirche längst zu bestehen aufgehört hat."