RG, 15.11.1879 - I 27/79
Aufhebung eines Vertragsverhältnisses wegen veränderter Umstände. Bedeutung der Worte "von dem noch nicht erfüllten Vertrage" in A.L.R. I. 5. §. 378.
Tatbestand
Der Kläger hat von dem Verklagten ein Inventar zum Restaurationsbetriebe für 800 Mark gekauft und auf diesen Preis 300 Mark angezahlt. Diese angezahlte Summe fordert er in dem vorliegenden Prozesse deswegen zurück, weil ihm nach dem Vertragsschlusse und der Anzahlung die Konzession zum Restaurationsbetriebe versagt und hierin nach den konkreten Umständen des Falles eine gemäß A.L.R.'s I.5. §. 378 zum Rücktritte von dem noch nicht erfüllten Vertrage berechtigende Veränderung der Umstände zu finden sei.
Der Richter erster Instanz hat den Verklagten nach dem Klagantrage verurteilt. Der Appellationsrichter dagegen hat auf Klagabweisung erkannt, und zwar deswegen, weil der Kläger durch die Anzahlung der 300 Mark den Vertrag zum Teil erfüllt habe; während der §. 378 a. a. O. dahin auszulegen sei, daß nur im Falle der noch von keinem der Kontrahenten, auch nur zum Teil, verwirklichten Vertragserfüllung die Befugnis eines Kontrahenten, von dem Vertrage wegen veränderter Umstände zurückzutreten, entstehen könne. - Gegen die Entscheidung zweiter Instanz hat der Kläger die Nichtigkeitsbeschwerde eingelegt und dieselbe auf Verletzung des §. 378 a. a. O. gegründet.
Gründe
Diesem zutreffenden Angriffe erliegt das Appellationsurteil. Das Allgem. Landrecht enthält (I. 5. §. 377) folgende Bestimmung: Außer dem Falle einer wirklichen Unmöglichkeit kann, wegen veränderter Umstände die Erfüllung eines Vertrages in der Regel nicht verweigert werden.
Im Anschlusse hieran lautet der §. 378:
Wird jedoch durch eine solche unvorhergesehene Veränderung die Erreichung des ausdrücklich erklärten, oder aus der Natur des Geschäfts sich ergebenden Endzweckes beider Teile unmöglich gemacht, so kann jeder derselben von dem noch nicht erfüllten Vertrage wieder abgehen.
Schon diese Wortfassung des §. 378 spricht gegen die Interpretation des Appellationsrichters. Ein Vertrag ist nur dann erfüllt, wenn die aus ihm entspringenden Leistungen vollständig verwirklicht sind. So lange diese vollständige Verwirklichung nicht gethätigt worden, ist der Vertrag ein noch nicht erfüllter. Für dieses Verständnis jener Gesetzesstelle spricht jedenfalls entscheidend ihre Entstehungsgeschichte.
In dem gedruckten Entwurfe eines Allgemeinen Gesetzbuches für die preußischen Staaten lauten die §§. 267, 268, Titel 2, Teil II:
§. 267. Wegen veränderter Umstände kann nur vor gänzlicher Erfüllung des Vertrags auf dessen Wiederaufhebung angetragen werden.
§. 268. Aber auch alsdann findet ein solcher Antrag nur insoweit statt, als die Umstände dergestalt verändert worden, daß der Hauptzweck des Vertrags nicht ferner erreicht werden kann.
Der Oberappellationsgerichtssenat (welchem der Entwurf zum Berichte über etwaige Bedenken zugefertigt war) beantragte die Streichung der Bestimmungen über die Vertragsaufhebung wegen veränderter Umstände.
Suarez aber sagte in der Revisio monitorum:
"Die clausula rebus sic stantibus ganz mit Stillschweigen zu übergehen, scheint nicht ratsam. An und für sich hat dieselbe in der Natur der Sache ihren vollkommenen Grund und hebt die großen Unbilligkeiten, welche aus einem uneingeschränkten Bestehen auf Erfüllung der Verträge in unzähligen Fällen entstehen. Überhaupt setzt der Oberappellationssenat auf die Unverbrüchlichkeit der Verträge einen zu großen Wert; und wenn man ihm folgen wollte, so würde oft summum jus summa injuria werden. Eben weil die clausula rebus sic stantibus häufig gemißbraucht wird, sind Bestimmungen darüber nötig, und es kommt also nur auf die Prüfung dieser Bestimmungen an. Daß diese Lehre mit der von der Unmöglichkeit der Erfüllung coincidiere, ist offenbar unrichtig. Dagegen (sagt Suarez weiter) sei es wohl richtig und führe solches zu einer etwas näheren Bestimmung des §. 267 des Entwurfes, daß nur eine solche Veränderung der Umstände in Rücksicht kommen könne, welche nach geschlossenem Kontrakte, vor dessen Erfüllung von beiden Seiten, und dergestalt sich ereignet habe, daß solche tempore initi cotractus nicht voraus zu sehen war."
Diese Principien liegen der Modifikation zu Grunde, welche den Bestimmungen der §§. 267 fg. des gedruckten Entwurfes in den §§. 377 fg. des Allgemeinen Gesetzbuches für die preußischen Staaten gegeben und in das Allgemeine Landrecht aufgenommen ist.
Der preußische Gesetzgeber geht ersichtlich davon aus, daß die Vertragswillens-Vereinigung sich bethätigt auf der vergegenwärtigten Grundlage der bestimmten, zur Zeit des Vertragsschlusses bestehenden thatsächlichen Verhältnisse unter stillschweigender Voraussetzung des die Erreichung des praktischen Endzweckes (dessen Realisierbarkeit, als vorgestellte, sei es ausgesprochenermaßen, sei es mit sonstiger Evidenz, die Vertragswillens-Vereinigung herbeiführte) ermöglichenden Fortbestandes, beziehungsweise Fortentwickelung, jener Verhältnisse; so daß es nur als eine Konsequenz des auf praktische Verwirklichung abzielenden Vertragswillens erscheint, daß das kontrahierte Rechtsverhältnis ex tunc resolviert sein solle, wenn unerwartet der thatsächliche Boden der Verwirklichung jenes Verhältnisses vor dessen vollständiger Bethätigung sich derartig verändern sollte, daß die bei dem Vertragschluß vorausgesetzte Realisierbarkeit des praktischen Endzweckes der Kontrahenten nicht mehr bestehe. Natürlich darf nicht etwa ein schuldhafter Verzug des Rücktretenden die vollständige Vertragserfüllung gehindert und den gekennzeichneten Einschluß der Veränderung der Umstände vor der vollständigen Vertragserfüllung ermöglicht haben. Diese Auffassung in dieser Allgemeinheit ist dem rein römischen Recht allerdings fremd, war aber in den Schriften der gemeinrechtlichen Praktiker zur Herrschaft gelangt, ist auch in neuester Zeit von Ahrens in seiner Rechtsphilosophie lebendig vertreten, und klingt auch hinein in die neuere civilistische Lehre von der Voraussetzung.
Das Allgemeine Landrecht gestaltet dieses Grundprincip aus zu weiten und komplizierten Normen in den §§. 377 bis 384 seines allgemeinen Vertragstitels, welche es dann bei einzelnen Vertragsgattungen in den späteren Titeln restringiert, während die späteren Gesetzbücher sich dahin entschieden haben, solche allgemeine Normen als Regeln für alle Vertragsverhältnisse nicht aufzustellen, sondern durch Normen für einzelne Vertragsarten dem Einflusse der Veränderung der Umstände nur ein enges, scharf begrenztes Geltungsgebiet zu verstatten. (Vgl. §. 864 des sächs. Bürgerl. Gesetzb.)
Die vorentwickelte Auslegung des §. 378 a. a. O. entspricht der herrschenden Doktrin und bisherigen oberstrichterlichen Judikatur des preußischen Rechtes. (Vgl. Bornemann, System 2. Ausg. §. 165 S. 361/362 T. II; Temme, Lehrb. des preuß. Privatr. 2. Ausg. T. I §. 149 S. 416; Heydemann, Einl. in das System des preuß. Civilr. T. I S. 268, 269; Förster, Theorie und Praxis, 3. Aufl. T.I §.87 S. 516; Dernburg, Lehrb. des preuß. Privatr. 1. Ausg. Bd. II §. 100 S. 217-219; Erkenntnis des preuß. Obertribunals, III. Senat, vom 23. Nov. 1853, Entscheidungen Bd. XXVI Nr. 35 S. 239; Erkenntnis des R.O.H.G.'s, III. Senat, vom 14. Februar 1878, Entsch. Bd. 23 Nr. 70 S. 201.)
Allerdings hat Koch ( ohne Motivierung in seinem Kommentar zum Allgemeinen Landrecht, unter Begründung in seinem Recht der Forderungen T. II §. 137 S. 505-508 2. Ausg.) zu verteidigen versucht, daß im Falle des §. 378 erstens demjenigen Kontrahenten, welcher seinerseits vollständig die ihm obliegende Vertragsleistung erfüllt habe ( auch bei mangelnder Erfüllung seitens des anderen Kontrahenten) der Rücktritt nicht freistehe, zweitens, daß der Zurücktretende, welcher teilweise erfüllt habe, das Geleistete nicht condicieren dürfe. Diese Restriktion beruht aber auf der willkürlichen Unterstellung, daß der Gesetzgeber in den §§. 377 fg. beabsichtigt habe, nur ein Klagerecht auf Befreiung von einer noch geschuldeten Leistung zu regeln. Es werden dabei (von dem Gesetzgeber nirgendwie angedeutete) Unterscheidungen in das Gesetz hineingetragen, auch widerspricht der erste Grundsatz (auf seiner eigenen Grundlage) den Worten des Gesetzes, namentlich dem Worte "jeder" im §. 378, während der zweite Grundsatz zu einem dem einfachen Rechtsgefühle widersprechenden Ergebnisse führt.
Das in sich verfehlte Appellationsgerichtsurteil konnte also auch nicht auf Grund des letzten von Koch verteidigten Grundsatzes aufrecht gehalten werden. Schließlich führt auch die freie Prüfung des ganzen Prozeßstoffes nicht zu einer solchen Aufrechthaltung, sondern zur Vernichtung des Erkenntnisses zweiter Instanz und zur Bestätigung der (den Verklagten nach dem Klagantrage verurteilenden) erstinstanzlichen Entscheidung.
Der Verklagte hat ausdrücklich zugestanden, daß der Mietsvertrag und der Kaufvertrag vom 27. Juli 1877 zu dem Zwecke des Betriebes des Restaurationsgeschäftes abgeschlossen wären. Er betont selbst, daß die Sachen nur verkauft "und gekauft seien", weil sie in den vermieteten Keller paßten.
Es steht ferner (infolge der unterlassenen Erklärung über den deferierten Eid) gegen den Verklagten durch Kontumaz fest, daß die Kontrahenten bei dem Kontraktschluß als alleinigen Endzweck des Kaufvertrages ausdrücklich erklärt haben die Verwendung der gekauften Sachen zum Restaurationsbetriebe in den dazu gemieteten Kellerräumen des dem Verklagten zugehörigen Hauses. In den Vertragsurkunden vom 27. Juli 1877 sind bezeichnet der Mietsgegenstand "als Kellerräume zum Restaurationsbetriebe" und das Kaufobjekt "als das in jenen Kellerräumen befindliche Inventar zum Restaurationsbetriebe". Im §.13 des Mietsvertrages ist bestimmt, daß der Vertrag sofort aufgehoben sein solle, wenn der Mieter ein anderes Gewerbe als das dem Vermieter angezeigte (d. h. "das Gewerbe als Restaurateur") betreibe. Die Zahlung des Mietszinses ist im §. 20 in eine Beziehung zu der Abzahlung des Kaufpreises gesetzt. Der Vermieter hat sich nach Verfügung der Concession zum Restaurationsbetriebe für den Kläger wiederholt nach Restaurateuren, als Mietern, umgesehen.
Aus allen diesen ineinander greifenden Momenten folgt:
- Der Mietsvertrag und der Kaufvertrag vom 27. Juli 1877 sind (wenngleich jeder besonders beurkundet worden) nach dem erkennbaren Vertragswillen von beiden Parteien als untrennbar zusammenhängende Momente eines nur nach verschiedenen Richtungen gegliederten Verhältnisses gewollt.
- Nach den ausdrücklichen Erklärungen der Kontrahenten und der Natur des Geschäftes lag der Endzweck beider Kontrahenten in dem Restaurationsbetriebe durch den Kläger in den Lokalitäten des Beklagten mit dem gerade für dieses Lokal passenden Inventar. (Ein diesem Zwecke zu Grunde liegendes praktisches Vermögensinteresse des Verklagten läßt sich in mannigfacher Beziehung denken. Der kontinuierliche Betrieb der Restauration sicherte einen stetigen Kreis von Gästen und erhöhte dadurch mittelbar den Vermietungswert des Lokales; dazu konnte auch der Verbleib des gewohnten Inventars, namentlich des Billards, beitragen etc..)
- Nach der beide Verträge allseitig durchdringenden Intention beider Parteien sind diese Verträge nur geschlossen, unter Voraussetzung der erwarteten demnächstigen Erteilung der (im Keime zur Zeit des Vertragsschlusses, als Moment des existierenden Thatbestandes bestehend, vorgestellten) Concession zum Restaurationsbetriebe des Klägers; so daß beide Kontrahenten die Verträge nicht geschlossen haben würden, wenn sie vorhergesehen hätten, daß jener Keim sich nicht entwickeln, vielmehr die Concession versagt werden würde. Daraus folgt, daß die Resolvierung des ganzen Verhältnisses bei versagter Concession dem beiderseitigen Willen beim Vertragsschlusse wesentlich entspricht, daß die Reflektion auf den Restaurationsbetrieb keineswegs ein bloßes (für den Bestand der kontrahierten Rechtsgeschäfte unwesentliches) Motiv bildete.
Nach dem Mietsvertrage und dem Kaufvertrage sollte die Übergabe der Mietslokalitäten und des darin befindlichen verkauften Inventars am 1. August 1877 erfolgen, und an demselben Tage nicht etwa der ganze Kaufpreis, sondern nur ein Preisesteil von dreihundert Mark, der Restpreis dagegen in späteren Raten, zahlbar am 1. Januar, 1. April und 1. Juli 1878, berichtigt werden. Das Erkenntnis des Kreisausschusses auf Versagung der Concession zum Restaurationsbetriebe für den Kläger ist am 6. September 1877 abgefaßt. Hätte also (worüber die Parteien streiten) der Verklagte auch das Restaurationslokal dem Kläger mit dem darin befindlichen verkauften Inventar rechtzeitig übergeben, und wäre der Kläger mit der Preiseszahlung im Verzuge gewesen, so kann dieser Verzug doch nie ermöglicht haben, daß die wesentliche (den Endzweck beider Teile vereitelnde) Veränderung der Umstände vor vollständiger Erfüllung des Vertrages von beiden Teilen eingetreten sei. Ein Verzug des Klägers in der Preiseszahlung ist aber gar nicht eingetreten. Derselbe hat die erste Preisesrate rechtzeitig gezahlt. Die späteren Raten war er zu zahlen nicht verpflichtet, weil das Vertragsverhältnis zu ihrer Fälligkeitszeit resolviert war.
Der Thatbestand des A.L.R.'s I. 5. §. 378 ist also gegeben. Mit Recht ist der Kläger von dem Vertrage zurückgetreten.