RG, 15.11.1879 - I 108/79

Daten
Fall: 
Wirkung des Auflösungsbeschlusses und der Liquidation einer Genossenschaft
Fundstellen: 
RGZ 1, 10
Gericht: 
Reichsgericht
Datum: 
15.11.1879
Aktenzeichen: 
I 108/79
Entscheidungstyp: 
Urteil
Instanzen: 
  • KG Jauer.
  • Appellationsgericht Breslau.

Hat der Auflösungsbeschluß und die Liquidation einer Genossenschaft auch dann noch die Wirkung, die Genossenschaft von der Auszahlung des ausgetretenen Genossenschafters zu befreien, wenn beides erst nach Ablauf von drei Monaten seit dem Austritte desselben erfolgt ist?

Gründe

"Der Appellationsrichter hat die gegen den verklagten Vorschuß-Kassen-Verein -- eine eingetragene Genossenschaft -- erhobene Klage auf Auszahlung der vom Kläger als Mitglied des Vereines erworbenen Stammanteile zur Zeit abgewiesen, obwohl thatsächlich festgestellt ist, daß Kläger am 2. Januar 1877 seine Mitgliedschaft gekündigt und dadurch nach den Vereinsstatuten, wie auch vom Beklagten nicht bestritten ist, an sich das Recht erlangt hatte, die Herauszahlung dieser Anteile am 2. Januar 1878 zu verlangen. Der alleinige Grund dieser Entscheidung besteht darin, daß, weil unstreitig der verklagte Verein am 30. November 1878 seine Liquidation beschlossen habe und dieser Beschluß in das Genossenschaftsregister eingetragen sei, der Kläger nach §. 39 Abs. 3 und §. 47 a und b des Reichsgenossenschaftsgesetzes vom 4. Juli 1868 seinen Anspruch zur Zeit nicht geltend machen könne, sondern eventuell erst nach Beendigung der Liquidation, indem es unerheblich sei, daß der Beschluß der Liquidation erst nach dem Austritte des Klägers aus dem Vereine gefaßt sei.

Der dem Appellationsrichter dieserhalb in der Nichtigkeitsbeschwerde gemachte Vorwurf der Verletzung des §. 39 des Genossenschaftsgesetzes erscheint als begründet.

Nach Abs. 2 dieses Paragraphen haben die aus der Genossenschaft ausgetretenen oder ausgeschlossenen Genossenschafter sowie die Erben verstorbener Genossenschafter, wenn der Gesellschaftsvertrag nichts Anderes bestimmt, zwar keinen Anspruch an den Reservefonds und das sonst vorhandene Vermögen der Genossenschaft, sind aber berechtigt zu verlangen, daß ihnen ihr Geschäftsanteil, wie er sich aus den Büchern ergiebt, binnen drei Monaten nach ihrem Ausscheiden ausgezahlt werde. In Abs. 3 heißt es sodann: ,

Gegen diese Verpflichtung kann sich die Genossenschaft nur dadurch schützen, daß sie ihre Auflösung beschließt und zur Liquidation schreitet.

Diese letztere Bestimmung hat offenbar den Zweck, die Genossenschaft gerade den bereits ausgeschiedenen Genossenschaftern gegenüber zu schützen, wie der Appellationsrichter unter Bezugnahme auf die Entscheidung des R.O.H.G.'s in Bd. 20 Nr. 76 S. 294 fg. mit Recht bemerkt. Den Ausführungen der letzteren gegen die einschränkende Auslegung des Abs. 3 des §. 39 dahin, daß nur ein bis zum Ausscheiden des betreffenden Genossenschafters gefaßter Auflösungsbeschluß die Genossenschaft schütze, ist lediglich beizutreten.

Im vorliegenden Falle handelt es sich aber um die Frage, ob der Auflösungsbeschluß und die Liquidation auch dann noch die im §. 39 Abs. 3 gedachte Wirkung herbeiführen, wenn sie erst nach Ablauf der in dem vorausgegangenen Abs. 2 vorgeschriebenen Frist von drei Monaten erfolgen, so daß es der Genossenschaft jederzeit, d. h. bis zur wirklichen Zahlung des Guthabens des ausgeschiedenen Genossenschafters, freistehen würde, denselben auf das Ergebnis der Liquidation zu verweisen. Diese, in jener Entscheidung des R.O.H.G.'s offen gelassene Frage ist im Einklange mit zwei späteren, gegen den jetzigen Beklagten ergangenen Entscheidungen des R.O.H.G.'s (Bd. 25 Nr. 61 S. 240) zu verneinen.

Zunächst weist schon der Wortlaut des Gesetzes auf diese Auslegung hin. Denn obwohl §. 39 Abs. 3 eine Zeitbeschränkung nicht ausdrücklich enthält, so steht er doch in dem engsten Zusammenhange mit dem vorausgehenden Abs. 2, welcher den ausgetretenen und ausgeschlossenen Genossenschaftern sowie den Erben verstorbener Genossenschafter die Berechtigung erteilt, die Auszahlung ihres buchmäßigen Geschäftsanteiles binnen drei Monaten zu verlangen. Von einem Schutze gegen die dieser Berechtigung entsprechende Verpflichtung der Genossenschaft kann aber nach Ablauf dieser Frist füglich nicht mehr die Rede sein, da die Verpflichtung, binnen drei Monaten zu zahlen, dann bereits eingetreten ist, auch von einer Berechtigung der Genossenschafter kaum gesprochen werden könnte, wenn sich ihre Befugnis durch einen einseitigen Akt der Genossenschaft noch hinterher jederzeit willkürlich wieder beseitigen ließe. Wäre dies der Wille des Gesetzgebers gewesen, so würde er sich richtiger dahin haben ausdrücken müssen, daß er der Genossenschaft nur eine alternative Verpflichtung auferlegte, oder daß er ihr die Befugnis beilegte, sich von der prinzipalen Verpflichtung jederzeit durch den Beschluß der Auflösung und durch die Liquidation wieder zu befreien. Jedenfalls steht der Wortlaut des Gesetzes der Auslegung des Appellationsrichters nicht zur Seite und die erkennbare Absicht des Gesetzgebers steht ihm entschieden entgegen.

Denn während das Handelsgesetzbuch bei der offenen Handelsgesellschaft einem Gesellschafter aus wichtigen Gründen die Befugnis beilegt, jederzeit die Auflösung und Liquidation der Gesellschaft zu verlangen (Art. 125), und einen ausgeschiedenen oder ausgeschlossenen Gesellschafter die Auseinandersetzung mit der Gesellschaft auf Grund der Vermögenslage zur Zeit des Ausscheidens, resp. der Behandlung der Klage auf Ausschließung gewährt, wobei er sich zwar die Beendigung der laufenden Geschäfte nach dem Ermessen der verbleibenden Gesellschafter gefallen lassen muß, jedoch darüber Rechnungsablage verlangen kann (Art. 130), während es den ausscheidenden Kommanditisten in der letzteren Beziehung dem offenen Handelsgesellschafter gleichstellt (Art. 172) und während es dem Aktionär, welcher den Betrag seiner Aktie eingezahlt hat, freisteht, sich durch Veräußerung derselben seiner ferneren Beteiligung zu entschlagen, gewährt das Genossenschaftsgesetz dem ausscheidenden Genossenschafter und den Erben eines Genossenschafters, dessen Mitgliedschaft durch seinen Tod erloschen ist, analogische Befugnisse nicht. Es entzieht denselben ausdrücklich jeden Anspruch an den Reservefonds und das sonstige Vermögen der Genossenschaft und giebt ihnen vielmehr nur das Recht, die Auszahlung ihres Geschäftsanteiles, wie er sich aus den Büchern ergiebt, zu verlangen, wobei ihnen außerdem jeder selbständige Einfluß auf die Berechnungsart und Feststellung der Höhe dieses Geschäftsanteiles entzogen ist, da die Aufstellung der Bilanz und mithin auch die Abschreibung auf erlittene Verluste gesetzlich Sache der Organe der Genossenschaft ist, welche nicht schuldig sind, sich dem ausscheidenden Mitgliede, resp. dessen Erben gegenüber auf Erörterungen über den Grund und die Richtigkeit ihres hierbei eingeschlagenen Verfahrens einzulassen.

Vgl. Entsch. des R.O.H.G.'s Bd. 24 Nr. 112 S. 420.

Daß der Gesetzgeber auch diesen, dem ausscheidenden Genossenschafter den einzigen Ersatz für seine bisherige Miteigentumsquote am Genossenschaftsvermögen gewährenden Anspruch durch den Abs. 3 des §. 39 zu einem illusorischen habe machen wollen, läßt sich nicht annehmen. Dies würde aber der Fall sein, wenn durch diese Bestimmung der Genossenschaft das Recht verliehen wäre, sich zu jeder beliebigen späteren Zeit durch einen Auflösungsbeschluß und die Liquidation von jenem Anspruche zu liberieren und den ausscheidenden Genossenschafter beliebige Zeit darüber, ob er die Befriedigung seines Anspruches zu erwarten habe oder auf das Ergebnis der Liquidation verwiesen werde, im Ungewissen zu lassen. Der Sinn der Bestimmungen in Abs. 2 und 3 des §. 39 ist vielmehr augenscheinlich der, daß zwar in der Regel die Fortdauer der Genossenschaft durch das Ausscheiden einzelner Genossenschafter nicht gefährdet werden wird und diesen daher an sich ein sofort in Kraft tretendes Recht, als Gläubiger der Genossenschaft die (Berechnung und) Auszahlung ihres Geschäftanteiles zu verlangen, zustehen soll, daß aber der Genossenschaft nicht nur mit Rücksicht auf die von ihr vorab vorzunehmende, einen gewissen Zeitaufwand erfordernde Berechnung des Geschäftsanteiles eine angemessene Frist zur Auszahlung desselben erteilt, sondern bis zum Ablaufe dieser den Anspruch des ausscheidenden Genossenschafters betagenden Frist (mit Rücksicht darauf, daß unter gewissen Voraussetzungen allerdings das Interesse der bleibenden Genossenschafter und der Gläubiger der Genossenschaft die gänzliche Auflösung der letzteren und eine allgemeine Liquidation und Teilung des Genossenschaftsvermögens unter gleichmäßiger Behandlung sämtlicher Genossenschafter anstatt der Auszahlung der Geschäftsanteile an die ausscheidenden Genossenschafter erfordern kann) auch Gelegenheit zur Prüfung dieser Frage gegeben und die Wahl freigelassen werden soll, den Eintritt der Fälligkeit jenes Anspruches eines ausscheidenden Genossenschafters, überhaupt zu verhindern, so daß derselbe einstweilen -- d. h. bis zum Ablaufe der dreimonatlichen Frist -- nicht nur ein betagter, sondern auch durch die Nichtausübung der der Genossenschaft im Abs. 3 des §. 39 erteilten Befugniß bedingter ist. Die in Abs. 2 vorgesehene Fälligkeitsfrist ist mithin zugleich als eine Deliberationsfrist für die Genossenschaft anzusehen, durch deren Nichtbenutzung das Forderungsrecht des ausscheidenden Genossenschafters in demselben Momente ein unbetagtes und unbedingtes wird. Die Auslegung von Parisius in dem Kommentare zum preußischen Genossenschaftsgesetze S. 113 Note 116 und zum Reichsgenossenschaftsgesetze S. 359 Note 4, nach welcher die durch Ablauf der dreimonatlichen Frist bereits eingetretene Zahlungsverpflichtung wieder suspendiert wird, sobald die Genossenschaft (hinterher) ihre Auflösung beschließt, entbehrt jeder Motivierung und führt zu praktischen Konsequenzen, welche der Gesetzgeber unmöglich gewollt haben kann. Die (befugte) Geltendmachung des der Genossenschaft nach §. 39 Abs. 3 zustehenden Rechtes hat überhaupt nicht die Wirkung einer Hinausschiebung des Anspruches des ausgeschiedenen Genossenschafters auf Auszahlung seines Geschäftanteiles, sondern ist dazu bestimmt, diesen Anspruch ein für allemal dadurch zu beseitigen, daß derselbe in einem Anspruche auf das demnächstige tatsächliche Ergebnis der Liquidation umgewandelt wird, wie wenn der betreffende Genossenschafter nicht ausgeschieden wäre.

Die in Abs. 2 des §. 39 bezeichnete Frist bezieht sich hiernach auch auf die in Abs. 3 der Genossenschaft erteilte Befugnis; der Sinn des letzteren ist derselbe, wie der Schlußsatz des entsprechenden §. 55 des österreichischen Genossenschaftsgesetzes vom 9. April 1873, welcher lautet:

"insofern nicht bis dahin die Auflösung der Genossenschaft beschlossen ... ist" und bei welchem, soviel ersichtlich (vergl. Ausschußbericht S. 37), eine bewußte materielle Abweichung von dem deutschen Gesetze in dem hier fraglichen Punkte nicht anzunehmen ist.

Das angefochtene Erkenntnis des Appellationsrichters unterliegt demnach der Vernichtung. . .

Die dem Kläger nach §§. 12 und 39 des Genossenschaftsgesetzes und nach §§. 22 lit. f. der Statuten des verklagtischen Vereines den Gläubigern des letzteren gegenüber obliegende Haftung wird selbstverständlich durch den dem Kläger gegenüber dem Verklagten zustehenden Anspruch auf Auszahlung seiner Stammanteile an sich nicht berührt."